Dis.kursDas Magazin der - Volkshochschulen - Interview mit dem DVV-Vorsitzenden Martin Rabanus - Deutscher ...
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dis.kurs Ausgabe 3/2019 Das Magazin der Volkshochschulen Interview mit dem DVV- Vorsitzenden Martin Rabanus Dossier: Vielfalt und Diversity Planspiel zusammenleben. zusammenhalten
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, die Lange Nacht liegt hinter uns und ich möchte meinen Dank aussprechen an alle Volkshochschulen, die sich an der größten Publikumsaktion in unserer 100-jährigen Geschichte beteiligt haben. Gemeinsam konnten wir zeigen, dass Volkshochschulen für Vielfalt, Chancengerechtigkeit und Gemeinschaft stehen und wie sehr sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Dozentinnen und Dozenten vor Ort für diese Prinzipien engagieren. zusammenleben. zusammenhalten. war das gemeinsame Motto der Langen Nacht. An vielen Volkshochschulen widmet sich auch das aktuelle Herbst- und Wintersemester diesem Schwerpunkt. Das zeigt: Volkshochschulen haben die Herausforderungen angenommen, sich in einer immer diverser werdenden Ge- sellschaft für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts einzusetzen. Statt Trennendes in all unserer Unterschiedlichkeit zu suchen, müssen wir Vielfalt als Stärke erkennen. In einer sich ständig wandelnden Welt kann unsere Gesellschaft von verschiedenen kulturellen Hintergründen, Sprachen, Erfahrungen, Kompetenzen und Meinungen nur profitieren. Weil wir voneinan- der lernen und so auf Veränderungen in unserem Lebensumfeld besser reagie- ren können. Doch damit unsere Gesellschaft an ihrer Diversität zusammen wachsen kann, braucht es Bildung, Dialog und Beteiligung für alle Menschen. Volkshoch schulen sind hierfür die richtigen Orte – das hat die Lange Nacht der Volks hochschulen gezeigt, das zeigt der gemeinsame Semesterschwerpunkt, das zei- gen die Beispiele in unserem Dossier „Vielfalt und Diversity“ in diesem Heft. Auch über das Jubiläumsjahr hinaus soll der Beitrag der Volkshochschulen zu einer offenen, vielfältigen und starken Gesellschaft weiter im Fokus stehen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre. Ihr Ulrich Aengenvoort Verbandsdirektor des DVV. dis.kurs 03 | 2019
2 SCHLAGLICHT „Volkshochschulen als demo kratische Orte des Lernens sind heute wichtiger denn je.“ Interview mit Martin Rabanus [4] HINTERGRUND Große Sympathie für kleine Angebote jenseits der großen Medienmarken Lars Gräßer und Fabia Rombach [6] DOSSIER: VIELFALT UND DIVERSITY „Eine vhs, die Diversität nicht Die Volkshochschule Frechen berücksichtigt, verliert ihre in Regenbogenfarben Legitimation.“ Antje Laacks [28] Vom Hunderter zum Interview mit Prof. Dr. Alisha Tausender. Von der Grundbildung M. B. Heinemann [14] Zielgruppe: Mann. Männer- und zum Schulabschluss Vätertag an der vhs Karlsruhe Dr. Angela Rustemeyer [8] Vielfalt -Begegnung -Bildung Elke Hartmann [30] Dr. Beate Blüggel [17] Leitlinien für eine Inklusive Er Die Volkshochschule wird wachsenenbildung festgeschrieben ZWISCHENRUF bunter, jünger und männlicher Angelika Mede [32] Eine Glosse von Dr. Beate Blüggel [19] Authentizität und Lust an Bildung für Bildungsferne: Tafel der starken Meinung „Die Grenzen meiner Sprache be laden-Kunden gratis in vhs-Kursen Dr. Frauke Gerlach [10] deuten die Grenzen meiner Welt“ Eva Klotmann [34] Dr. Julia Dittrich [20] „Das beste Konzept für Volkshochschulen als sichere, Vielfalt bringt nichts, wenn den KOLUMNE wertschätzende Lernorte Worten keine Taten folgen.“ Meike Woller und Tania Hussein [22] Interview mit Ilse Emek [36] Seit 100 Jahren im Auftrag von Qualifikation und „Singen mit den Händen“: Ein Lern- und Begegnungsort Selbstbestimmung Martin Rabanus [12] die vhs Sign Singers für Menschen jeden Alters Caroline Minner [24] Kathrin Schöttel und Frank Hartmann [38] Weiterbildung, die sich an „Die vhs hat mir gezeigt, der Vielfalt orientiert dass man lernen muss, um Sonja Spoede [26] weiter zukommen.“ Christian Ziege [40] dis.kurs 03 | 2019
Inhalte 3 GUTE PRAXIS KURZ NOTIERT dis.kurs für Volkshochschulen als Abo per E-Mail bestellen Klima – Umwelt – Nachhaltigkeit: Präventionsarbeit als Querschnittsauf vhs for Future in Krefeld gabe – Kommunale Partnerschaft stärken: Volkshochschulen können dis.kurs in Dr. Inge Röhnelt [42] Einladung zum DVV-Fachaustausch [52] beliebiger Stückzahl bestellen – für das komplette Team und auf Wunsch auch Mehr öffentliche Präsenz und personelle Muss das Lesen und Schreiben für Freunde und Förderer in Politik und Ressourcen für die junge vhs [52] so schwer sein? Gesellschaft. Damit Sie die nächste Ursula Sanwald [44] Volkshochschule macht glücklich! Fest dis.kurs-Ausgabe zuverlässig erhalten, schrift zu „100 Jahre Volkshochschule“ [52] bestellen Sie Abos per E-Mail an Wenn die rebellische Jugendband Noch bis 31.12.2020: Hol dir deine info@ynot-gmbh.de oder per Fax an auf den Herrenkochclub trifft 06071 738 7119. Bildungsprämie! [53] Johanna Zander, Magda Langholz und Martin Händeler [46] Das neue Portal www.volkshochschule.de: Mitmachen erwünscht! [53] Impressum GELSESEN dis.kurs 3/2019 Erhellende Einsichten in die Das Magazin der Volkshochschulen Richtige Ergebnisse sind Erwachsenenbildung ISSN 1611-6712, Postvertriebsstück noch kein Garant für ein Von Sascha Rex [54] 26. Jahrgang Verständnis mathematischer Erscheint jeweils zum Ende des Quartals Zusammenhänge Preise für externe Leser/-innen: Andreas Baumann [48] GESICHTER DER VHS Einzelheft: € 6,50 Die Seele des Literaturkreises der Jahresabonnement: € 21,00 Multimedial das Lesen und Volkshochschule Rhein-Sieg Herausgeber: Schreiben üben Jacqueline Skvorc [56] Deutscher Volkshochschul-Verband e. V., Im Gespräch mit Doreen Nestler [50]] Obere Wilhelmstraße 32, 53225 Bonn Tel.: 0228 975 69-0, Fax: 0228 975 69-30 E-Mail: info@dvv-vhs.de Internet: www.volkshochschule.de Verantwortlich: Ulrich Aengenvoort, Verbandsdirektor Redaktion: Sabrina Basler, Juniorreferentin (-26) Simone Kaucher, Pressereferentin (-11) Sascha Rex, Grundsatzreferent (-60) Korrektur: Abo-Verwaltung: Sabrina Basler (-26) Anzeigen: Sabrina Basler (-26) Bei den Copyrightangaben im Beitrag „vhs sieht vhs“ von Rotraud Apetz in der Layout: LayoutManufaktur, Berlin letzten Ausgabe (S. 36/37) sind uns zwei Druck: SZ-Druck, Troisdorf bedauerliche Fehler unterlaufen: Das Foto Titel: Gudrun de Maddalena, Tuebingen „Holz-Bildhauerkurs“ wurde fotografiert von Silke Reupert. Fotograf des Bildes Umschlag-Gestaltung: Gastdesign, „EDV-Kurs“ ist Jürgen Peine. Wolfgang Gast dis.kurs 03 | 2019
4 „Volkshochschulen als demokratische Orte des Lernens sind heute wichtiger denn je.“ Interview mit dem neuen DVV-Vorsitzenden Martin Rabanus | Herr Rabanus, im Mai 2019 wurden Sie zum Martin Rabanus, seit © DBT/von Saldern neuen Vorsitzenden des DVV gewählt. Wie fällt Ihre Mai 2019 Vorsitzen- Bilanz nach 100 Tagen aus? der des DVV, lebt mit seiner Familie im Martin Rabanus: Nachdem ich mich in die Themen Rheingau-Taunus-Kreis und Funktionsweisen eingearbeitet habe, stelle ich (Hessen). Nach seinem fest, dass der DVV gut aufgestellt ist. Er arbeitet pro- Stu-dium der Polito- fessionell und unterstützt erfolgreich die DNA der logie, Jura, Soziologie Volkshochschulen, die da lautet: gesellschaftliche Teil- und Geschichte arbei- habe und politische Bildung durch ein breites Spekt- tete er als Referent für rum an qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten, die Bereiche Schule, in der Stadt wie auf dem Land, für jeden und jede. Kultur, Wissenschaft und Kunst bei der Ich danke dem Vorstand und der Geschäftsführung SPD-Fraktion im Hes- für die gute Unterstützung zu meinem Start. Wir ar- si-schen Landtag. Seit beiten gut zusammen, um die vor uns liegenden He- 2013 ist er Mitglied des rausforderungen politischer, gesellschaftlicher und Deut-schen Bundes- struktureller Natur zu meistern. Die hohe Qualität der tags und dort seit 2017 Am wichtigsten finde ich jedoch, dass sie für alle Arbeit des Verbands, der Landesverbände und der kultur- und me-dienpo- Menschen gleichermaßen zugänglich sind. Das senkt Volkshochschulen aufrechtzuerhalten und zukunfts- litischer Sprecher der die Hürden, auch mal an außergewöhnlichen oder fest zu machen, bedarf hin und wieder einer Be- SPD-Fraktion. Zudem besonders herausfordernden Kursen teilzunehmen standsaufnahme und Nachjustierung. Dafür möchte engagiert er sich im – und Gleichgesinnte dabei kennen zu lernen. Diese ich mich mit allen Beteiligten gemeinsam einsetzen. Unter-ausschuss für Angebotsvielfalt, die innovative Programmgestal- Auswärtige Kultur- und tung und das unermüdliche Engagement der Ehren- Bildungspolitik. und Hauptamtlichen in den Volkshochschulen will | Schon vor Ihrer Wahl zum DVV-Vorsitzenden en- ich auch in meiner Vorstandsarbeit weiter fördern. gagierten Sie sich ehrenamtlich im vhs-Umfeld, un- ter anderem im Vorstand der vhs Rheingau-Taunus. Welche Themen und Anliegen der vhs vor Ort neh- | Als Abgeordneter liegt Ihr thematischer Schwer- men Sie hieraus für Ihre Arbeit im DVV-Vorstand mit? punkt aktuell bei den Themen Kultur und Medien- politik sowie der Auswärtigen Kultur- und Bildungs- Die Volkshochschulen decken mit ihrem breit gefä- politik. Sehen Sie auf diesen Feldern Potenziale für cherten Angebot ein großes Spektrum an Themen die Volkshochschulen? ab, mit dem sie viele verschiedene Menschen zusam- menbringen, die ihren Wissensdrang und das Lernen Ja, in mehrfacher Hinsicht. Einerseits, weil ich als Kul- verbinden. Während meiner Zeit im Vorstand der tur- und Medienpolitiker weiß, wie wichtig die Ausei- vhs-Rheingau-Taunus habe ich immer wieder mit- nandersetzung und kritische Urteilsfähigkeit ist, bei- erlebt, wie gut die Volkshochschule auf aktuelle Ver- spielsweise im Umgang mit sozialen Medien, dem änderungen in der Gesellschaft und die Bedarfe der Internet als Informationsquelle und die Veränderun- Menschen reagieren kann. Das haben die vhs auch gen in der Kommunikation. Andererseits ist die Volks- 2015 mit dem flächendeckenden Aufbau von Integ- hochschule auch ein Hort der flächendeckenden kul- rations- und Sprachkursen bewiesen. Dies gilt sowohl turellen Bildung. Sie bringt Menschen zusammen, die für städtische wie auch für ländliche Regionen. sich mit Kultur auseinandersetzen wollen, wahlweise dis.kurs 03 | 2019
Schlaglicht 5 mit der eigenen oder mit zunächst fremden. Dafür ist gesellschaftlichen Zusammenhalts werden bundes- die Volkshochschule eine wichtige Vermittlerin. weit das Kursprogramm im Herbstsemester prägen. In der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind Einen Punkt will ich noch ansprechen: die drohende die Volkshochschulen ein wichtiger Akteur, was den digitale Spaltung der Gesellschaft. Ihr entgegenzu- wenigsten Bürgerinnen und Bürgern bekannt ist. Mit wirken, ist eine der größten Bildungsaufgaben der den breit gefächerten Angeboten für zertifizierte Gegenwart. Digitale Technologie durchdringt alle Deutschkurse im Ausland stärken sie unsere Mutter- Lebensbereiche und sorgt für eine grundlegende sprache, unterstützen ihre weltweite Anerkennung Veränderung auch des öffentlichen Diskurses und und Verbreitung sowie ihren Stellenwert. Besonders der politischen Willensbildung. Digitale Errungen- wichtig ist mir dabei DVV-International. Dieser „Ver- schaften, wie beispielsweise die sozialen Netzwerke, band im Verband“ leistet eine tolle Arbeit auf vier bergen die Chance auf breite Beteiligung an öffentli- Kontinenten, in 30 Ländern. Hier gibt es eine Fülle chen Debatten. Um dabei nicht Desinformation und von Anknüpfungspunkten zu meiner Arbeit in der Populismus Vorschub zu leisten, ist allerdings eine di- Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, und ich gitale Bildungsoffensive nötig, die die politische Ur- werde mich dafür einsetzen, dass die internationale teilsfähigkeit und Medienkompetenz der Menschen Arbeit weiter gestärkt wird. stärkt. Denn sowohl Ältere, als auch die Generation der Digital Natives haben vielfach Lernbedarf, um Fake News zu entlarven, realitätsverzerrenden Filter- | Welche Schwerpunkte sehen Sie darüber hinaus blasen zu entkommen und Hate Speech zu widerste- für die Verbandsarbeit der kommenden Jahre? hen. Die Volkshochschulen stehen bereit, um diese große Bildungsaufgabe zu übernehmen. Im Übrigen Volkshochschulen als demokratische Orte des Ler- aber wird das Arbeitsprogramm des Vorstandes ge- nens sind heute wichtiger denn je. In Zeiten gesell- meinsam in und mit den Gremien des DVV erarbeitet. schaftlicher Umbrüche und ausdifferenzierter Milieus, Dem will ich nicht vorgreifen. in Zeiten technologischen Fortschritts und kommu- nikativer Umwälzungen durch die sozialen Medien, in Zeiten einer immer weiter zusammenwachsenden | Neue Besen kehren gut, heißt es im Volksmund. Welt und neuer Herausforderungen demokratischer Was wollen Sie im Verband ändern? Gesellschaften braucht es mehr denn je Orte, die mit lebensbegleitender Bildung zur demokratischen Ge- Der DVV ist gut aufgestellt, politisch anerkannt und staltung unserer Gesellschaft beitragen. Das gemein- organisatorisch gefestigt. Der Bundesverband, die same Verständnis von unseren Grundwerten muss Landesverbände und auch die Volkshochschulen stets aufs Neue ausgehandelt werden. Menschen- sind in Gesellschaft und Politik präsent und akzep- würde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tiert. Das soll bei allen Veränderungen, die in den realisieren sich nicht im luftleeren Raum: Ihre Bedeu- kommenden Jahren anstehen, auch so bleiben. Da- tung muss immer wieder im Konkreten ausgestaltet für werde ich mich einsetzen. werden. Gerade hierbei kommt den Volkshochschu- len eine ganz besondere Bedeutung zu. Diese will ich Die Marke „Volkshochschule“ ist sehr bekannt und ge- stärken und unterstützen. nießt eine hohe Wertschätzung bei den Menschen. Dennoch ist die Differenz zwischen denen, die die Die Volkshochschulen stehen in einer langen Tra- Volkshochschulen kennen und schätzen, und den- dition, die die demokratische Bildung, die „Einmi- jenigen, die tatsächlich Angebote wahrnehmen, für schung“ jedes Einzelnen und das tägliche, demokra- mich zu hoch. Diese Lücke zu schließen, ist eine der tische Ringen um gute Lösungen zum Leitbild einer wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre. Es Erwachsenenbildung erklärt, die dem Gemeinwohl geht dabei vor allem darum, die nachkommenden dient und unsere freiheitliche Grundordnung mit Generationen für die Idee der vhs und für ihre Ange- Leben füllt. Als „Werkstätten der Demokratie“ hat der bote zu begeistern. Das wird nur gehen durch eine frühere Bundespräsident Joachim Gauck die Volks- vielerorts ja schon ganz hervorragend angelegte hochschulen bezeichnet. Im Jubiläumsjahr 2019 wol- Weiterentwicklung der Volkshochschulen zu „Dritten len die Volkshochschulen und ihre Verbände diese Orten“ für Lernen und Begegnung einerseits und den Die Fragen stellte Sabrina Rolle besonders unterstreichen und die Bedeutung Ausbau von digitalen Instrumenten andererseits. Bei- Basler, Juniorreferentin in der politischer Bildung in den Fokus rücken. Fragen des des gehört zusammen und widerspricht sich nicht. dis.kurs-Redaktion. dis.kurs 03 | 2019
6 Große Sympathie für kleine Angebote jenseits der großen Medienmarken Verleihung des Grimme Online Award 2019 Von Lars Gräßer und Fabia Rombach D ie Verleihung des Grimme Online Award am Abend des 19. Juni in der Kölner Flora setzte mit ihren Preisträgerinnen und Preisträgern ein Zeichen für die Kraft der Netz-Communities. Im Fotos: Gina Wetzeler / Grimme-Institut Gegensatz zur oftmals eher die Gemeinschaft zerset- zenden Kommunikationskultur im Netz, lenkte die Preisverleihung den Blick auf die hochwertigen und der Demokratie eher förderlichen Angebote im Netz – vor allem jenseits der großen Medienmarken. Eröffnet wurde die Gala durch Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach, die dem Abend einen politischen Grundton verlieh und deutlich machte: „Das Netz hat die kommunikativen Spielregeln der Politik unwider- ruflich geändert.“ Neben der Straße habe jede gesell- Gute Stimmung beim Grimme Online Award 2019 in der Kölner Flora schaftliche Bewegung mit den sozialen Medien ein wirkmächtiges Instrument: „Dies befruchtet den de- mokratischen Diskurs. Aber wir sind auch mit Hass Und Nathanael Liminski, Staatssekretär für Me- und Hetze konfrontiert, die in Gewalt münden kann“, dien und Chef der Staatskanzlei des Landes Nord- so Gerlach weiter. Darauf müsse sich die Politik und rhein-Westfalen, zitierte den Bundespräsidenten: die Gesellschaft in jeder Hinsicht einstellen, um zu „Wo die Sprache verroht, da ist die Straftat nicht weit.“ fordern: „Wir brauchen gemeinsame, neue Spielre- Deshalb dürfen wir das Netz nicht den Hassern und geln, auch wehrhafte.“ Hetzern überlassen, so Liminski, im Gegenteil: „Ille- gale Inhalte müssen konsequent verfolgt und die Urheber zur Rechenschaft gezogen werden. Und wir müssen die neuen Kommunikationsmöglichkeiten dazu nutzen, laut Stellung zu beziehen.“ „In diesem Jahrgang Nach dem ernsten Auftakt standen die Preisträge- haben sich die An- rinnen und Preisträger im Mittelpunkt. In der von gebote durchgesetzt, Siham El-Maimouni moderierten Gala überreichten die abseits großer prominente Preispatinnen und -paten – darunter En- Häuser entstanden tertainer Michel Abdollahi, Comedian Hazel Brugger, sind, als Teamwork Nachhaltigkeitsinfluencerin Louisa Dellert, Cartoo- nist Ralph Ruthe und der ARD-Meteorologe Karsten oder von Einzelper- Schwanke – die begehrten Trophäen an die acht sonen, manches Mal Jury-Favoriten und den Liebling des (Netz-)Publi- mithilfe der Crowd, kums. Musikalisch begleitet durch die experimentel- immer mit viel Leiden- len Klänge von Kaleo Sansaa – ein Mix aus Hip-Hop, Nathanael Liminski, Staatssekretär für Medien und Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, spricht sich schaft und oft ohne Indie, Soul und Dub – und in Anwesenheit von 280 gegen Hass im Netz aus große Ressourcen.“ Gästen. dis.kurs 03 | 2019
Hintergrund 7 Wer gehörte zu den Glücklichen? Etwa das Gemeinschaftsblog „Technik-Tagebuch“, welches seit über fünf Jahren die Veränderungen in der uns umgebenden Alltagstechnik beschreibt und reflektiert – Ergebnis der Arbeit von über 450 Autorinnen und Autoren. Mehr als doppelt so viele Menschen beteiligten sich am Gemeinschafts-Re- chercheprojekt „Wem gehört Hamburg?“, initiiert und durchgeführt vom „Hamburger Abendblatt“ und dem Recherchekollektiv „Correctiv“. Ergebnis: mehr Transparenz auf dem Hamburger Wohnungsmarkt und ein Vorbild für andere Recherchen, lobt die Jury: „Das Konzept des Crowd-Newsrooms ist für andere Städte, in denen man Gleiches untersucht, adaptier- bar – und bietet mit seiner netzpublizistischen Auf- bereitung auch in Partnermedien die Grundlage für die Debatte zu einem gesellschaftlich hoch relevan- Das Team von TINCON präsentiert den Preis mit Preispatin Hazel Brugger (2.v.l.) ten Thema.“ Dass starke Gemeinschaften auch für die Finanzie- rung von Angeboten herangezogen werden können, „In diesem Jahrgang [haben sich] die Angebote zeigen hingegen die „Krautreporter“ und auch „Bu- durchgesetzt […], die abseits der großen Häuser ent- terbrod und Spiele“. Letzteres ist das Ergebnis einer standen sind, als Teamwork oder von Einzelpersonen, crowdfinanzierten Recherchereise im zeitlichen Um- manches Mal mithilfe der Crowd, immer mit viel Lei- feld der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland. denschaft und oft ohne große Ressourcen.“ „Buterbrod und Spiele“ kann aber auch als Beispiel herangezogen werden für ein eher „kleines“ Ange- Belegen lässt sich dies – auch – anhand des „Mensch bot, hinter dem kein großes Medienhaus steht – und Mutta.“ Podcasts, anhand der Videoessays des You- doch Vorbildliches produziert wird. In den Worten Tube-Kanals „Ultralativ“ und des ebenfalls ausge- der Jury: zeichneten, kanalübergreifenden Satire-Formats „Krieg und Freitag“. Ein weiterer Preis ging an die Jugend-Netzkonferenz TINCON, die das Internet mit Blick auf die nachwachsende Generation zum Thema macht und so „einen Diskursraum für junge Menschen zwischen 13 und 21 Jahren“ eröffnet, so die Jury. Das Voting des Publikums konnte am Ende der You-Tube-Kanal „Einigkeit & Rap & Freiheit“ (sen- defähig für funk) für sich entscheiden, der bereits in diesem Jahr für den Grimme-Preis nominiert war. | Publikation zum Grimme Online Award Auch in diesem Jahr ist wieder eine Preispublikation erschienen, die in vollem Umfang kostenlos im Netz Lars Gräßer ist Pressesprecher verfügbar ist. Sie präsentiert nicht nur die diesjährigen des Grimme-Instituts, Gesell- Preisträgerinnen und Preisträger, sondern dreht sich im schaft für Medien, Bildung Magazinteil zudem um die Frage: Wie lassen sich hoch- und Kultur mbH. wertige Inhalte im Netz finanzieren? Bezug genommen wird dabei auf ein Projekt des Grimme-Forschungskollegs Fabia Rombach ist Studentin an der Universität zu Köln. der Sozialwissenschaften Moderatorin Siham El-Maimouni im Gespräch mit der Direk- Online unter: https://www.grimme-institut.de/publikatio- und absolviert ein Praktikum torin des Grimme-Instituts, Dr. Frauke Gerlach nen/grimme/ beim Grimme-Institut. dis.kurs 03 | 2019
8 Vom Hunderter zum Tausender. Von der Grundbildung zum Schulabschluss DVV-Rahmencurriculum Rechnen hilft bei Übergängen Von Dr. Angela Rustemeyer D er Juni 2019 ist heiß, auch in diesem Kursraum der Stuttgarter Volkshochschule. Dirk Boberg ist das nicht anzumerken. Freundlich erklärt der Mathematiklehrer die Bedeutung der Zeichen für „größer als“ und „kleiner als“, schreibt Beispiele mit einzelnen Zahlen und Termen an die Tafel. Boberg beginnt ganz am Anfang, betont noch ein- mal, dass mit der Größe einer Zahl die dahinterste- hende Menge gemeint ist, nicht die Schriftgröße, in der die Ziffer gerade an der Tafel dargestellt ist. Denn das ist Menschen, die Rechnen von Grund auf lernen müssen, oft nicht klar. Fotos: Gisela Lorenz/DVV) Mit seinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern er- probt Boberg zweimal pro Woche in einem Modell kurs Lehr- und Lernmaterialien zum DVV-Rahmen- curriculum Rechnen. Keine leichte Aufgabe: In Kursen wie diesem muss die Lehrkraft erst einmal heraus- finden, warum jemand das Größer- und das Kleiner zeichen verwechselt. Wird der richtige Gebrauch des In den Modellkursen arbeiten Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Aufgabenblättern aus dem DVV-Rahmencurriculum Rechnen. Zeichens zum Beispiel durch die unterschiedlichen Leserichtungen in der Herkunftssprache und im Deutschen erschwert? Oder fehlt tatsächlich das Ver- ein Rechen-Therapiezentrum wenden würden, weil ständnis für den Wert der Zahlen? „Rechenkenntnisse ihnen dafür das Geld fehlt. sind für die Beschäf- Rechenkenntnisse seien für die Beschäftigungsfähig- Rechnen für Alle in der tigungsfähigkeit heut- keit heutzutage unverzichtbar, sagt Nagel. „Die klas- schwäbischen Autostadt zutage unverzichtbar. sische Stenotypistin brauchte nicht zu rechnen, die Wolfgang Nagel, in der vhs Stuttgart verantwortlich Die klassische Ste- Projektsachbearbeiterin rechnet jeden Tag. Und in für die Grundbildung, hat den Kurs organisiert. Dass notypistin brauchte den Zuliefererbetrieben der Autoindustrie sind selbst es Erwachsene gibt, die nicht rechnen können, stellte nicht zu rechnen, am Band basale Rechenkenntnisse erforderlich.“ er fest, als er begann, sich um Lehrgänge zum Nach- die Projektsachbe- holen des Hauptschulabschlusses zu kümmern. Wer arbeiterin rechnet Rechnen lernen für den Job schwach im Rechnen ist, kann einen Kurs zur Vorbe- jeden Tag. Und in im Ostallgäu reitung auf den Lehrgang besuchen. Daneben bie- den Zulieferbetrie- tet Nagel auch Rechenkurse für Menschen an, die Sichtbarer Wohlstand und eine Arbeitslosenquote keinen Schulabschluss nachholen wollen oder kön- ben der Autoindustrie unter drei Prozent: der Region Ostallgäu geht es gut. nen. Es gefällt ihm, dass die DVV-Materialien schon sind selbst am Band Damit das so bleibt, müssen die Menschen bei der bei einem sehr frühen Stadium des mathematischen basale Rechenkennt- Planung ihrer Bildungsbiographie begleitet werden, Denkens ansetzen, beim Übergang vom Zählen zum nisse erforderlich“. meint der Programmverantwortliche für Berufliche Rechnen. Mit Angeboten auf diesem Niveau unter- Wolfgang Nagel, Bildung Jürgen Wendlinger von der vhs Kaufbeuren. stützt die vhs Stuttgart auch Personen, die sich nie an vhs Stuttgart Das Ostallgäu müsse seinen Dienstleistungssektor, dis.kurs 03 | 2019
Hintergrund 9 der vor allem auch viele Unternehmen im Gesund- Modellstandorte heitswesen und in der Gastronomie umfasst, weiter Insgesamt acht Volkshoch- schulen haben die Materia- unterstützen. Dafür werden Arbeitskräfte gesucht: in lien zum DVV-Rahmencur- der Pflege, in Hotels und Gaststätten, auch in Einzel- riculum Rechnen erprobt: handel und Handwerk. „Aber die Arbeitgeber können • vhs Berlin-Pankow, nicht jeden nehmen“, meint Bildungsberater Wend- • vhs Bochum, linger: Ein Mindestmaß an fachlicher Qualifikation sei • vhs Kaufbeuren, Voraussetzung, ebenso elementare deutsche Sprach- • vhs Kempten, kenntnisse und grundlegende Kenntnisse im Rech- • vhs Landkreis Konstanz, nen bzw. in der Mathematik. Darum hat Wendlinger • vhs Schwäbisch-Gmünd, in Kooperation mit dem Jobcenter Ostallgäu im be- • vhs München und • vhs Stuttgart. nachbarten Marktoberdorf den Modellkurs „Rech- nen im Beruf“ eingerichtet. In diesem Kurs werden DVV-Materialien für den elementaren Rechenunter- richt erprobt. Die Teilnehmer*innen sind mehrheit- lich Zugewanderte, die einen Job suchen. Kursleiter Stefan Rau trifft sich mit den jungen Frauen und Männern vierzehn Tage lang immer vormittags in der vhs-Filiale. Draußen, gleich gegenüber, eine Mit haptischem Material üben die Teilnehmerinnen und Teil- florierende Konditorei, seit Generationen von dersel- nehmer das Bündeln von Mengen und den Aufbau mehrstel- ben Familie geführt. Drinnen entwickeln sich Perso- liger Zahlen. nalressourcen. Die haben Namen und unterschiedli- chen Lernbedarf. Mit den Aufgabenblättern des DVV und mit haptischem Material üben die Teilnehme- In den Räumen nebenan sitzen an diesem Tag etliche rinnen und Teilnehmer bei Stefan Rau das Bündeln junge Erwachsene über den Prüfungsaufgaben für von Mengen und den Aufbau mehrstelliger Zahlen. den Hauptschulabschluss. In Bochum ist die Arbeits- Einige sind schnell, bündeln bald spielend im Hun- losenquote um rund fünf Prozentpunkte höher als derterblock, bekommen die Überschreitung der Zeh- im Ostallgäu, aber wer qualifiziert ist, hat jetzt gute ner glatt hin und leiten am Schluss selbständig den Aussichten. Elke Dietinger und Ute Vielhaber-Jesse, Übergang von den Hundertern zu den Tausendern Programmverantwortliche für Schulabschlüsse und ab. Ein anderer versteht die Stellenwert-Tabelle erst Grundbildung an der vhs, möchten, dass noch mehr am Ende der Stunde. junge Leute auf dem modernen Bochumer Arbeits- markt bestehen können. Darum bieten sie die Schul- abschlusslehrgänge an. Ziel: Zweiter Bildungsweg – Rechnen im Ex-Revier Viele der jungen Erwachsenen, die ihren Hauptschul- Angelika Pöppel unterrichtet seit Jahren im Haus der abschluss an der vhs nachholen wollen, sind in der vhs in der Bochumer Baarestraße. Die Straße ist be- Schule an Mathematik gescheitert. „Mathe konnte ich nannt nach einem Gründervater der Montan-Indust- noch nie“: Diesen Satz hören Dietinger und Vielha- rie, die heute Denkmalstatus hat. In ihrem Modellkurs ber-Jesse immer wieder. Der Kurs mit den DVV-Ma- muss Pöppel an diesem Morgen sechzehn junge Er- terialien, in dem Zusammenhänge zwischen Zahlen wachsene zu einem produktiven Gespräch über das und Rechenverfahren noch einmal von Grund auf er- Verhältnis von Brüchen, Dezimalzahlen und Prozent- klärt werden, bietet die Chance, Mathe endlich doch sätzen animieren. Sie zeichnet eine Tabelle aus dem zu verstehen. DVV-Material an die Tafel, ermuntert ihre Schüler*in- nen, an einem Sommerabend Pizza zu bestellen und David Kollosche, Professor für Didaktik der Mathema- in wechselnden Konstellationen aufzuteilen. Später tik an der PH Vorarlberg in Österreich, hört zu und wenden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das diskutiert mit. Sein Team besucht alle Modellkurse, Gelernte in praktischen Übungen mit Waage und Li- um zu untersuchen, wie das DVV-Material bei Lehr- termaß an. Nicht alle sind konzentriert. Aber einige kräften und Teilnehmer*innen ankommt. Das Feed- Dr. Angela Rustemeyer leitet bleiben nach Unterrichtsschluss und nehmen sich back des Wissenschaftlers fanden die Praktiker*innen das Projekte Rahmencurri gemeinsam noch ein Aufgabenblatt vor. jedenfalls gut. Weiterer Austausch ist erwünscht. | culum Transfer beim DVV. dis.kurs 03 | 2019
10 Zwischenruf Authentizität und Lust an der starken Meinung Wie das Netz unsere kommunikativen Spielregeln verändert Von Dr. Frauke Gerlach F ünf Jahrzehnte haben wir nun schon „dieses Instagram und You- nicht nur das: Die Anschlussfähigkeit an öffentliche Internet“. Vor dreißig Jahren begann das Be- Tube der (Pre-) Teens Kommunikation ist heute unfassbar leicht. Jeder Like wegtbild die seinerzeit nahezu textbasierte von Friederike von Gross / oder Dislike zahlt unmittelbar auf Personen, Botschaf- Renate Röllecke (Hrsg.), u.a. Netzkommunikation zu revolutionieren. Mit einer mit ersten Ergebnissen aus ten oder Produkte ein. Es entstehen wirkmächtige Live-Webcam aufgenommen – in der Auflösung von dem Grimme-Forschungs- Communitys, die – im Positiven wie Negativen – Ein- 128 x 128 Pixeln –, gilt der „Trojan Room Coffee Pot“ kolleg „YouTuber-Videos, fluss auf die öffentliche Meinungsbildung nehmen, Peers und politische Orien- als erstes Bewegtbild im Netz. tierung von Jugendlichen“.. wo zu Hass und Hetze und manchmal auch zu Ge- walt aufgerufen wird, ebenso wie zu nachhaltigem Wir schreiben das Jahr 1991, es gibt noch keine öf- Handeln mit Blick auf die sich ankündigende Klima- fentlich zugänglichen sozialen Netzwerke. Die Mög- katastrophe. lichkeiten des digitalen Bewegtbildes kündigen sich aber bereits an: An der Universität in Cambridge ist Politik muss anders eine Webcam auf eine Kaffeemaschine gerichtet kommuniziert werden und kann drei Bilder pro Minute aufnehmen. Wissen- schaftler in anderen Räumen können so sehen, ob sie Im Zuge dessen verändern sich unsere Gesellschaft schnell sein müssen, um sich den letzten Rest aus der und ihre kommunikativen Spielregeln. Noch ver- Kaffeekanne zu sichern. Im November 1993 schaf- suchen wir zu begreifen, welche Auswirkungen fen es die Bilder dann sogar ins World-Wide-Web. dies auf Politik, Medien und Wirtschaft und unsere privaten Lebensbereiche haben wird. Da wir mit- ten in den Veränderungsprozessen stehen, fällt de- Werte im Wandel ren Bewertung noch schwer. Gleichzeitig wird der Acht Jahren später wird mit „Bitfilm“ die erste Be- gesellschaftliche Anspruch immer deutlicher for- wegtbild-Plattform mit dem Grimme-Online-Award muliert, dass wir das Netz und seine gesellschaft- ausgezeichnet, der in diesem Jahr ins Leben gerufen lichen Dimensionen gestalten (wollen) und nicht wurde. Die Grimme-Jury zeichnete die Seite deshalb umgekehrt – ein Anspruch, den ich absolut teile. aus, „weil sie neue Wege beschreitet, aus Konsumen- Eingeräumt werden muss: Regeln, Werte und kom- ten Produzenten zu machen. Bitfilm ermöglicht be- munikative Mechanismen aus dem analogen Zeit- reits heute eine Vision dessen, was das Internet in Zu- alter haben ihre Gültigkeit (noch) nicht verloren, kunft kann und sein wird,“ so die Jury im Jahr 2001. allerdings sind auch sie dem ständigen Wandel un- terworfen. Immer deutlicher zeichnet sich hingegen Im April 2005 wurde diese „Vision“ zur Wirklichkeit, ab, dass Politik anders kommuniziert werden kann das Video „me at the zoo“ auf YouTube hochgeladen. und muss. Diese Veränderung scheint unumkehrbar. Stück für Stück erfolgte der Infrastrukturausbau, der Dabei will ich nicht den Blick auf Twitter und den Ver- Nutzerinnen und Nutzer zu Hause und unterwegs er- „Regeln, Werte und lust integrativer Kommunikationsformen lenken oder möglicht, an der Netzkommunikation aktiv teilneh- kommunikative Me- davon sprechen, dass Vertraulichkeit gestern war und men zu können und zwar mit allen Ausdrucksmitteln, chanismen aus dem Schnelligkeit nicht immer den gewünschten politi- die uns zur Verfügung stehen: Sprache, Schrift, Musik, schen Effekt erzielt. analogen Zeitalter Foto, Icons und das bewegtes Bild. haben ihre Gültigkeit (noch) nicht verloren, Politische Meinungsbildung Was ist geschehen? Eine grundlegende Verände- allerdings sind auch jenseits etablierter Medienformate rung und Beschleunigung der kommunikativen Raum-Zeit-Dimension! Wenn wir wollen, sind wir in sie dem ständigen Es soll um das bewegte Bild und seine Akteure gehen Echtzeit mit dem gesamten Globus verbunden. Und Wandel unterworfen.“ – vor allem im Netz. Hier sind Öffentlichkeiten ent- dis.kurs 03 | 2019
Zwischenruf 11 Meinungsstarkes Infotain- ment für ein überwiegend junges Publikum: Das Foto: Arkadiusz Goniwiecha/Grimme-Institut Facebook-Format Deutsch- Foto: Jens Becker/ Grimme-Institut land3000 mit Host Eva Schulz (Foto links oben, m.) war für einen Grimme Online Award nominiert. Bereits 2014 wurde das Interview- format Jung & Naiv von und mit Tilo Jung (Foto rechts oben) mit einem Award aus- gezeichnet. Der YouTuber LeFloid alias Florian Mundt (Foto links unten, m.) konnte Meinung (Studie: Kai-Uwe Hugger u.a., Grimme-For- sich im selben Jahr über den schungskolleg an der UzK). Wechseln YouTuber aller- Publikumspreis freuen. dings in klassische Medien, in ein stärker redaktionell geprägtes Format, verlieren sie urplötzlich ihre Au- thentizität. Fast scheint es, als ob die (professionelle- ren) Produktionsbedingungen negativ zurückwirken, zumindest für jüngere Zielgruppen. Foto: Jens Becker/ Grimme-Institut Die Kraft der Selbstwirksamkeit Authentizität und Lust an der starken Meinung darf man auch Rezo zusprechen, der mit seinem Video „Zerstörung der CDU“ vermutlich nicht nur junge Zielgruppen erreicht hat, sondern dessen Folgen und Resonanzen vor allem „die Politik“ und „die Medien“ standen, die sich im Prinzip außerhalb der etablierten vor neue Herausforderungen stellte. Letztlich ist ein Systeme bewegen und doch auf sie Einfluss nehmen. solcher epidemisch anmutender – viraler – Prozess Sie haben einen relevanten Einfluss vor allem auf die auch nicht absehbar, der an die Logik des Netzes an- politische Meinungsbildung Jugendlicher und jun- schließt: individuelle, global zugängliche Kommuni- ger Erwachsener und unterscheiden sich deutlich kation in Echtzeit, verbunden mit der Möglichkeit, von etablierten Medienformaten im TV-, Radio- und dass die Nutzer sofort in den Austausch einsteigen Printbereich, arbeiten aber zum Teil auf ausgezeich- und selbst zu Akteuren werden (können). Selbstwirk- netem Niveau. Hierzu zählen „LeFloid“ mit Florian samkeit wird hier unmittelbar gemeinsam mit an- Mundt, „Jung & Naiv“ mit Thilo Jung, „Deutschland deren erfahren. Dabei spielt das bewegte Bild eine 3.000“ mit Eva Schulz oder ganz aktuell Rezo, um nur herausgehobene Rolle, denn es beeinflusst unsere mal einige Beispiele zu nennen – die Liste ließe sich Wahrnehmung, Wertung und Empathie unmittelbar. fortsetzen. Die drei Erstgenannten sind im Rahmen des Grimme-Online-Awards bereits nominiert wor- Die Wirkmacht des Netzes wird von politischen Ak- den, die Akteure der nicht mehr ganz so neuen Öf- teuren aber immer noch unterschätzt, dies offen- fentlichkeiten sind auch bei Grimme angekommen. barte der Umgang mit Rezo. Es gibt die Wirkmacht „LeFloid“ konnte 2014 einen Publikumspreis erringen, der Straße, wie aktuell in Hongkong und hierzulande im gleichen Jahr „Jung & Naiv“ sogar einen Jurypreis. bei „Fridays for Future“. Und es gibt die Wirkmacht Andere YouTuber folgten. des Netzes, wobei sich beides gegenseitig verstär- ken kann – Stichwort #fridaysforfuture. Beide For- Authentizität und men der politischen Meinungsäußerung sind durch das Grundgesetz geschützt, sind eine lebendige Selbstbestimmung überzeugen Form im demokratischen Meinungsbildungsprozess, Und jenseits von Grimme? Befragt man Jugendli- bei denen es auch darum geht oder gehen muss, Dr. Frauke Gerlach ist Direk- che, was die Faszination ausmacht, dann ist es de- Andersdenkende auszuhalten. Aber auch das hat torin des Grimme Instituts ren Authentizität, die Echtheit und das Unverstellte, Grenzen: Die Grenzen sind dort zu ziehen, wo es um geflüchtete Jugendliche ins die Selbstbestimmung und die Lust an der starken Hetze und Gewalt im Netz wie auf der Straße geht. | Leben. dis.kurs 03 | 2019
12 Kolumne © DBT/von Saldern Seit 100 Jahren im Auftrag von Qualifikation und Selbstbestimmung Der Blick in die Geschichte weist den Weg zur Zukunftsfähigkeit der vhs Die zurückliegende Lange Nacht der Volkshochschu- Waren 1919 der Aufbau des demokratischen Grund- len am 20. September 2019 war ein voller Erfolg! Im verständnisses und die Qualifizierung der Menschen 100. Jubiläumsjahr der ersten Volkshochschulgrün- für die industrialisierte Wirtschaft und Gesellschaft dungen in der Weimarer Republik haben die über 400 zentrale Bildungsziele, so geht es heute vor allem um teilnehmenden Einrichtungen deutlich gemacht: die die Stärkung des Demokratieverständnisses gegen Volkshochschulen sind eine starke Säule der Bildung populistisches und antidemokratisches Gedanken- und des Zusammenhalts in Deutschland. Ihre Ge- gut sowie um die (Weiter-)Bildung der Bürgerinnen schichte zeigt, dass ihre zwei grundlegenden Aufga- und Bürger für die digitalisierte Welt des 21. Jahrhun- benfelder – Qualifikation und Selbstbestimmung der derts. Damals wie heute gilt: Demokratie kann man Bürgerinnen und Bürger – noch immer aktuell sind. erlernen – und die Volkshochschulen werden auch in Zukunft dazu einen wichtigen Beitrag für unsere Der besondere Stellenwert der Bildungseinrichtung Gesellschaft leisten. Volkshochschule wird erstmals durch die Aufnahme der Erwachsenenbildung (und somit der Volkshoch- Die Lange Nacht der Volkshochschulen und die schulen) in die Weimarer Reichsverfassung von 1919 Teilnahme der über 400 Volkshochschulen in ganz deutlich. Die Verfassungsgeber erkannten bereits da- Deutschland stehen stellvertretend für das tagtäg- mals, dass für die Bürgerinnen und Bürger Bildung der liche Engagement der rund 200.000 ehren- und Weg zur persönlichen Entfaltung ist, um eine offene, hauptamtlichen Mitarbeitenden in den Volkshoch- demokratisch stabile Gesellschaft zu bilden. In den schulen Deutschlands. Gerade im Jubiläumsjahr 2019 vhs-Kursheften dieser Zeit fanden sich entsprechend wird deutlich, dass die Volkshochschulen im Selbst- oft Veranstaltungen zur „gesellschaftlich-politischen verständnis, den gesellschaftlichen Zusammenhalt Bildung“. Sich orientierend an den Prinzipien der Auf- zu stärken, handeln – und dies auch in Zukunft tun klärung, setzte sich die Volkshochschulbewegung werden. Darin gilt es sie zu unterstützen. von Beginn an für Wissensvermittlung ein, um, ba- sierend auf der Vernunft, althergebrachte und über- holte Vorstellungen und Ideologien von Staat und Gesellschaft aufzubrechen. Gleichsam bot sie den Menschen Qualifizierungsangebote für die Heraus- Ihr forderungen der fortschreitenden Industrialisierung. Martin Rabanus dis.kurs 03 | 2019
Zwischenruf 13 CEWE FOTOBUCH Für die schönsten Momente NEU: Erhabene Highlights durch elegante Gold- und Silberveredelung oder Effektlack VHS und CEWE… gemeinsam erfolgreich • bundesweit mehr als 800 VHS Kurse im Jahr mit dem Thema „Schritt für Schritt zum CEWE FOTOBUCH“ • Möglichkeit, Ihre individuellen VHS Kursangebote zum Thema CEWE FOTOBUCH mit Terminen auf der CEWE Homepage zu platzieren www.cewe.de/cewe-fotobuch/tipps-und-hilfe/vhs-kurse.html • Schulungsmaterial zur Unterstützung Ihrer Kurse können Sie unter vhs@cewe.de anfordern. Inhalt unseres Schulungspakets sind Musterbücher, Probiergutscheine und eine Software-Präsentation als Powerpoint. • NEU: CEWE Webinare speziell für VHS-Dozenten und –Lehrkräfte dis.kurs 03 | 2019
14 „Eine vhs, die Diversität nicht berücksichtigt, verliert ihre Legitimation.“ Interview mit der Bildungsforscherin Prof. Dr. Alisha M. B. Heinemann Prof. Dr. Alisha M. B. Heinemann ist seit April 2019 Vertretungsprofessorin an der Universität Bremen im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissen- schaften mit dem Schwerpunkt Bildungsinstituti- onen/-verläufe und Migration. Sie beschäftigt sich in der Migrations-/Fluchtforschung unter ande- rem mit den Schwerpunkten: Kritische Erwachse- nenbildung, Postkoloniale Theorie, pädagogische Foto: Yergalem Taffere Professionalität in der Migrationsgesellschaft, Deutsch als weitere Sprache, Mehrsprachige Klas- senräume und Übergang Schule – Beruf. Kontakt: heinemann@uni-bremen.de Jakob Boerner Management in den Volkshochschulen und ihren Verbänden“ aber konkret? Um die vielfältigen Voraussetzungen und Interessen der vhs deutsch- landweit zu berücksichtigen, wurden im Vorfeld zu diesem Interview Landesverbände und ein- „Diversity sollte kein zelne vhs gebeten, ihre Fragen zum Thema „Diver- Randthema sein, mit sität/Vielfalt an den Volkshochschulen“ mit uns zu dem sich eine teilen. Diese Vorarbeiten bilden das Fundament Diversitätsbeauf- für die Ausrichtung des Interviews. tragte alleine auf einer befristeten | „Diversity, Vielfalt, Diversität“– diese Begriffe sind halben Stelle herum- heutzutage in aller Munde. Was ist eigentlich damit quält oder etwas, gemeint, wenn wir von Diversität in der Erwachse- „Die Vielfalt der modernen Gesellschaft, beeinflusst was eine eh überlas- nenbildung sprechen? durch Globalisierung, Migration und den demografi- tete Fachbereichs- schen Wandel, prägt das Leben in Deutschland und leitung noch als Prof. Dr. Alisha M. B. Heinemann: Dafür müssten wir der gesamten Welt. Wir können als Volkshochschu- Zusatzaufgabe uns zunächst einmal fragen, was gemeint ist, wenn len nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene bekommt. Fragen wir von Erwachsenenbildung sprechen. Institutio- Vielfalt erkennen und jede und jeden befähigen, sich nen der Erwachsenenbildung sind historisch aus ei- von Differenz und mit ihren bzw. seinen Kompetenzen in die Gesell- nem emanzipatorischen Ansatz heraus entstanden. schaft einzubringen.“ Macht müssen auf Sie wollten erstens einen aktiven Beitrag dazu leis- allen Organisa- ten, gesellschaftliche Ungleichheiten durch lebens- Was bedeutet dieser zentrale Satz aus dem DVV tionsebenen zum lang begleitende Lernangebote und Bildungsorte Papier: „Vielfalt. Begegnung. Bildung. Diversity- Thema werden.“ auszugleichen. Zweitens ging es ihnen darum, eine dis.kurs 03 | 2019
Dossier 15 demokratische Gesellschaft mitzugestalten. Jene In- nen von migrantischen Teilnehmer*innen“ durch ein stitutionen, die sich auch heute noch diesen Zielen besser abgestimmtes Programmangebot verstanden verschreiben, kommen nicht umhin, sich mit gesell- wird. Abgesehen davon, dass Migration nicht nur schaftlichen Differenz- und Machtverhältnissen aus- in den Großstädten stattfindet, umfasst das weite einandersetzen. Konzept der Diversität ja Differenzlinien wie z.B. Ge- schlecht, sexuelle Identität, sozioökonomischer Sta- Hierarchisierende Kategorien wie das Konstrukt der tus, Alter, Bildungsabschluss etc. Diese finden sich „ethnischen Herkunft“, Gender, die sexuelle Identität, überall – nicht nur in Großstädten. die Milieuzugehörigkeit, aber auch rechtliche Rah- menbedingungen wie der Aufenthaltsstatus spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, wer in dieser Gesell- | Und welche konkreten Schritte sollte die vhs um- schaft welchen Platz einnehmen kann. Wenn wir von setzen, um Diversität auf allen Ebenen zu berück- Diversität in der Erwachsenenbildung sprechen, geht sichtigen? es dann vor allem um die Frage, was wir tun können, um a) die ausgrenzende Kraft dieser Kategorien, an Sie sollte erstens ein von der Leitungsebene getra- denen Differenz festgemacht wird, in unserer täg- genes Leitbild und Profil entwickeln, das eine klare lichen Arbeit nicht zu reproduzieren und b) daraus Ausrichtung der ganzen Organisation auf institu- entstehende Benachteiligungen aktiv zu reduzieren. tionelle Öffnung vorgibt, wobei migrationsgesell- schaftliche Verhältnisse als Normalität und nicht als Sonderzustand bzw. dauernde Herausforderung in | Warum ist es für die Volkshochschulen wichtig, den Blick genommen werden sollten. Zweitens sollte ein diversitätsorientierter Lernort zu sein? Was wä- die Personalstruktur auf allen Hierarchieebenen und ren die Volkshochschulen ohne diesen Ansatz? insbesondere auf der Leitungsebene die jeweilige regionale Diversität abbilden. Drittens wäre es auf Das eben genannte, historisch verankerte demokra- der Angebotsebene sinnvoll, mit den verschiede- tische Kernanliegen von Erwachsenenbildungsein- nen Communities (Vereine, migrantische/queere richtungen ist der Grund dafür, warum die Volkshoch- Communities, Kirchen, Moscheen etc.) vor Ort aktiv schulen staatliche Steuergelder zur Unterstützung zusammenzuarbeiten und ihnen die Möglichkeit zu ihrer Arbeit erhalten und nicht einfach komplett pri- geben, mit Hilfe der infrastrukturellen Ressourcen der vat organisierte und finanzierte Kleinunternehmen vhs, selbst Inhalte zu setzen und in den Räumen der sind. Wenn nur ein kleiner und dann, abgesehen von vhs durchzuführen. den Deutschkursen, oft vergleichsweise privilegierter Teil der Bevölkerung sich in der vhs repräsentiert se- Vor allem aber sollte Diversity kein Randthema sein, hen kann, stellt sich die Frage, warum sie dann von mit dem sich eine Diversitätsbeauftragte alleine auf Steuergeldern aller mitfinanziert werden sollte. Eine einer befristeten halben Stelle herumquält, oder et- vhs, die Diversität nicht berücksichtigt, verliert somit was, was eine eh überlastete Fachbereichsleitung ihre Legitimation und ihre besondere, gesellschaftlich noch als Zusatzaufgabe bekommt. Fragen von Diffe- relevante, ausgleichende Funktion. An vielen Stellen renz und Macht müssen auf allen Organisationsebe- haben die Volkshochschulen diese Problematik er- nen zum Thema werden. Dafür müssen ansprechend kannt und unternehmen wichtige Schritte – diese gestaltete Orte und Reflexionsräume geschaffen wer- müssen jedoch ausgeweitet und verstetigt werden. den, in denen es nicht um Moral und Schuldfragen, sondern um kritische Reflexivität und veränderndes Eingreifen in benachteiligende Verhältnisse geht. Das | Die Volkshochschulen sind jedoch sehr unter- könnten beispielsweise verpflichtende Fortbildungs- schiedlich aufgestellt – eine Volkshochschule in angebote sein, eine Antidiskriminierungsstelle im einem kleinen Landeskreis in Bayern oder Branden- Haus, diversitätsreflexive Kriterien bei Neueinstellun- burg kann nicht wie eine großstädtische Volks- gen, monatliche Reflexionstreffen für den Austausch hochschule in Berlin oder Frankfurt arbeiten. Ist das etc. Auch wenn es am Anfang nach mehr Arbeit aus- Thema „Diversität“ eher etwas für die großstädti- sieht, wird es auf lange Sicht zur Entlastung der täg- schen Volkshochschulen? lichen Arbeit führen. Denn andere Perspektiven er- öffnen andere Möglichkeiten und eine vhs, die in der Diese Frage wird häufig gestellt, was daran liegt, dass Stadt wirklich „ankommt“, wird auch von den Men- unter „diversitätsorientiert“ oft verkürzt das „Gewin- schen vor Ort ganz anders akzeptiert. dis.kurs 03 | 2019
16 Beim Barcamp „Vielfalt. Wei- Geschäftsstelle Integ- ter. Denken – Die Volkshoch- ration, Inklusion und schulen in der Einwande- Diversität der Berliner rungsgesellschaft“ in Berlin, Volkshochschulen 2017: Referentin ManuEla steuert im Auftrag der Ritz in ihrer Session „wir“ und Berliner Volkshochschu- „die Anderen“ len die überbezirkliche Zusammenarbeit in den Bereichen Integration, In- klusion und Diversität. Die Foto: Thabo Thindi Berliner Volkshochschulen wollen damit Vielfalt stär- ken, Teilhabe ermöglichen und Bildungsgerechtigkeit umsetzen. | Wir sprachen davon, dass Diversität nicht allein oder Zielen zu tun haben (Lebenswelt- und Bedarfs- „migrantisch“ heißt. Trotzdem ist es auffällig, dass orientierung). Ferner müssten die Kurse sprachlich so sich der Großteil der migrantischen Teilnehmenden aufbereitet sein, dass die Teilnehmenden mit einem in einem einzigen Bereich befindet: dem Deutsch- B1-Niveau überhaupt folgen können (Sprachsensibi- bereich. Warum funktioniert der Wechsel von den lität), und zudem die Kosten so niedrig sein, dass sie Deutschkursen in das „offene Angebot“ der Volks- in einem realistischen Verhältnis zu ihren oft prekären hochschulen so schlecht? Einkommen stehen (Kostenreduktion). Menschen nehmen üblicherweise an Weiterbildung teil, wenn sie einen persönlichen oder beruflichen | Was ist Ihre Vision für eine vhs in der Migrations- Nutzen darin sehen, wenn sie Zeit haben, die Ange- gesellschaft? bote wahrzunehmen und wenn sie diese finanzie- ren können. Die Deutschkurse werden so breit an- Eine vhs der Zukunft ist nicht allein auf die Klugheit genommen, weil die Teilnehmenden sich entweder und das Geschick ihrer Fachbereichsleitungen an- eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten ver- gewiesen, wenn es darum geht, gute Angebote zu sprechen, teilweise, weil sie zur Teilnahme verpflich- konzipieren. Vielmehr sollte sie eine Einrichtung sein, tet wurden, weil an ihnen Zertifikate hängen, die für in der auf allen Ebenen Personen tätig sind, die die die Teilnehmenden aus unterschiedlichen Gründen regionale Diversität selbst repräsentieren und die notwendig sind, und/oder weil die Kosten für die gut mit den jeweiligen Community -Gruppen vor Teilnahme im Verhältnis zur Stundenzahl niedrig und Ort vernetzt sind. In Zusammenarbeit mit diesen teilweise sogar kostenlos sind. Gruppen sollten dann spannende bedarfsgerechte Bildungsräume und -gegenstände zur Verfügung Die Teilnahmebedingungen im offenen Angebot gestellt werden, die an die Ursprungsidee „Benach- sind völlig andere. Insbesondere der konkrete Nut- teiligungen ausgleichen und Demokratie fördern“ zen vieler Angebote liegt oft nicht klar auf der Hand, anknüpfen. Das schließt Angebote zur persönlichen sodass der finanzielle Aufwand nicht im richtigen Weiterentwicklung, Gesundheit, Kunst etc. nicht aus. Verhältnis zu stehen scheint. Dies gilt ja nicht nur für migrantische Teilnehmende, sondern grundsätzlich Sehr sinnvoll fände ich auch – wie es die Stuart Hall für die meisten Adressat*innen, die aus sozial und fi- in Birmingham gemacht hat – eine engere Koope- nanziell benachteilten Milieus kommen. ration mit Universitäten, sofern diese räumlich gut erreichbar sind. Während Universitäten oft fehlende Studien zeigen, dass Migrant*innen, die mit einem Praxisnähe unterstellt wird (zu ‚abgehoben‘ und reali- hohen sozialen, kulturellen und ökonomischem Kapi- tätsfern), wird Angeboten der vhs oft ein Mangel an tal ausgestattet sind, durchaus auch an dem offenen inhaltlicher Tiefe zugeschrieben. Eine engere Zusam- Die Fragen stelle Manjiri Angebot der vhs teilnehmen. Für die anderen ist ein menarbeit könnte beiden Institutionen helfen, brei- Palicha, wissenschaftlich-pä- Übergang in die offenen Angebote aus den Deutsch- tere Akzeptanz zu erreichen, um ihre gesellschaftli- dagogische Mitarbeiterin bei der Geschäftsstelle Integra- kursen nur dann realistisch, wenn sie zeitlich entlastet chen Aufgaben noch besser erfüllen zu können. In tion, Inklusion und Diversi- werden (zum Beispiel durch Kinderbetreuung) oder Bremen gibt es dazu schon erste Vorgespräche zwi- tät der Berliner Volkshoch- die Inhalte etwas mit ihren persönlichen Interessen schen Universität und Volkshochschule. | schulen. dis.kurs 03 | 2019
Dossier 17 Vielfalt - Begegnung - Bildung Gender- und Diversityausschuss des DVV zieht erste Bilanz Von Beate Blüggel W eiterbildung für alle als Prinzip und Ver- pflichtung gehört zum Selbstverständnis der Volkshochschulen. Die Anerkennung, Wertschätzung und Einbeziehung der Vielfalt in un- serer heutigen Gesellschaft ist somit unmittelbar mit der Philosophie der Volkshochschulen verknüpft. Es war daher nur folgerichtig, dass im Rahmen der Sat- zungsreform des DVV 2015 der bisherige Frauen- in einen Gender- und Diversityausschuss umgewandelt wurde. Zu den Handlungsfeldern dieses Gremiums gehört die „Stärkung des Profils der Vielfalt im DVV“, die in der Satzung festgelegt ist und verlangt, dass alle Aufgaben des Verbands nach gender- und diver- sitygerechten Grundsätzen erfüllt werden. Die über- geordnete Bedeutung des Themas Diversity für die Volkshochschulen lässt sich schon daran ablesen, dass es neben unserem Ausschuss nur noch den Or- ganisations- und Finanzausschuss im DVV gibt. Mitglieder des Gender- und Diversityausschuss Ende Juli 2019 in Kassel. Chancengleichheit als Auftrag ·· Initiierung und Begleitung von Maßnahmen und Unser Gremium will das Diversity-Management vo- Projekten zur Förderung von Vielfalt und Chancen- ranbringen – worunter wir ein Gesamtkonzept zur gleichheit, Schaffung eines diskriminierungsfreien Arbeitsum- ·· Beratung und Unterstützung des DVV bei neuen feldes und zur Förderung personeller Vielfalt in den Projekten, Strukturen von Unternehmen, Organisationen und ·· Erarbeiten von Empfehlungen zur Gestaltung der öffentlichen Einrichtungen verstehen. Die Grund- Personal- und Organisationsentwicklung im Volks- idee besteht darin, die menschliche Vielfalt bewusst hochschul-Bereich und in die Organisation zu integrieren und sie zum Vor- ·· Initiierung und Planung von Fachtagungen und teil aller Beteiligten und für die Gesellschaft zu nut- Fortbildungsangeboten. zen. Es geht ausdrücklich nicht um die Assimilation und Einebnung von Unterschieden, sondern um die Der Ausschuss tritt mindestens zweimal im Jahr zu- Wertschätzung und Förderung der Vielfalt. Deshalb sammen und berichtet dem Mitgliederrat und dem hat sich der Ausschuss folgende Aufgaben gestellt: Vorstand über seine Arbeit. Darin vertreten sind alle Bundesländer durch Mitarbeitende aus Volkshoch- ·· Stärkung des Profils der Vielfalt, schulen und Landesverbänden ebenso wie die Bun- ·· Weiterentwicklung und Operationalisierung des desgeschäftsstelle und DVV International. Als Vorsit- Gender- und Diversity-Ansatzes für den Bildungs- zende des Ausschusses nehme ich mit beratender bereich, Stimme an den Vorstandssitzungen teil. Auf Rudolf ·· konzeptionelle Unterstützung der vhs bei der gen- Fries (vhs Trier) und Dr. Michael Lesky (LV BW) folgt der- und diversity gerechten Programmplanung, seit Juli 2019 Sonja Spoede (vhs Bremerhaven) als ·· Beratung und Begleitung des Verbands im Bereich Stellvertetende Ausschussvorsitzende für die neue des Gender- und Diversity-Monitorings, Legislaturperiode. dis.kurs 03 | 2019
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