Verletzbarkeit & Institutionen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Verletzbarkeit & Institutionen ANRUFEN – AUSHANDELN – ANTWORTEN Abstract Booklet KEYNOTE KUNSTPERFORMANCE Für ein Sorge tragendes Kino Muschel - Stadtrandläuten. Answers From the Periphery Brigitta Kuster Judith Klemenc Das Kino wurde vielfach als Ort beschrieben, Wenn Performance durch die leibliche Inter- an dem man* sich selber durch die Augen aktion lebt, stellt sich die Frage: Wie kann eine*r anderen sehen kann. Es ist auch der eine Performance online aussehen? Und die Ort, an dem man* ganz ‚bei sich‘ ist und doch Antwort wird sein: Sie kann nicht gesehen den befremdlichsten und furchterregendsten werden. Sie verschwindet in der Sicht darauf. Dingen ausgesetzt sein kann. Es zeigt sich Im Abstand. In der Distanz. In der klaffenden oft als geradezu magisch angezogen von Wunde zwischen dem Sichtbaren und un- Szenen der Überschreitung und der Gewalt. sichtbar Gemachten. Dazwischen das Wag- Und sicherlich stehen im Zentrum von Film nis. Nichts zu sehen. Zu hören. Zu lauschen. und Kino Fragen der Trennung und der Ver- Auf das, was nicht sichtbar. Auf das, was mit bindung, von Konjunktionen und Rupturen. der Stimme unbestimmbar. Auf das, was mit Davon ausgehend will der Beitrag Spekula- der eigenen Stimme hört. Überhört. Hinhört. tionen über ein Kino der Sorge, ein cinema Andreas Oberprantacher und Judith of care entwickeln. Über ein Kino, in dem die Klemenc werden über das Projekt „Muschel. Ausdruckskräfte der post-kinematographi- Stadtrandläuten“ ins Gespräch kommen. Sie schen Kondition zum Tragen kommen und werden eingangs Antworten auf Fragen, die die geradezu anakinematografisch erschei- Klassismus, Rassismus und Sexismus betref- nende Produktion von Sorgfalt und Achtsam- fen, lauschen, die in dem besagten Projekt in keit, Versorgen und Ausbessern, vielleicht Anlehnung eines Anrufbeantworters gesam- sogar Pflegen und Heilen ermöglichen. melt und zu einer vielstimmigen Komposition verwoben wurden. Sie werden einen oder auch mehrere Fäden aufgreifen und sie von da nach dort weben. So dass gleichsam das werdende Stimmgewebe das Text:il sein wird, von dem sie nicht wissen, welche Fäden die Hörer:innen legen. Das Unbestimmbare im dunklen Monitor. Online.
PANEL 1: HABITUALISIERTE PRAKTIKEN: DIE UNIVERSITÄT ALS SCHAUPLATZ VON VERLETZBARKEIT Verletzende Praktiken in Kontexten wis- privilegiert-positionierten Personen eigen senschaftlicher Konferenzen. Verletzlich- sind, sodass die häufigste Praktik sich der keit zwischen Scham und Zugehörigkeit perpetuierenden verletzenden Praktik ent- gegenzusetzen das Passing ist. Frede Macioszek Der Vortrag stellt Erfahrungserzählungen in den Vordergrund, die ein Ernstnehmen der In dem Vortrag soll es um die habitualisierte Erzählung als epistemische Praxis fordern. Praktik einleitender Vorstellungen von Vor- Ebenso weist der Vortrag auf die Erleichte- tragenden und ihren Vorträgen in Kontexten rung und das Potential des Scheiterns, dass wissenschaftlicher Tagungen und Konferen- im Nicht-Erreichen von Standards liegt, hin zen gehen und wie sich in jenen Positionen (Halberstam 2011: 6) und zeigt welchen Raum der Privilegierung zeigen. Ferner zeigt der es für Handeln geben kann. Der Vortrag will Vortrag wie Verletzlichkeiten im Spannungs- in Tagungskontexten eine größere Sicht- feld von Scham und Zugehörigkeit entstehen barkeit und Sensibilisierung für verletzende können. klassistische Praktiken und Verletzlichkeiten Wie fühlen sich Poverty-Class- und Wor- schaffen und Klassismus thematisieren. king-Class-Wissenschaftler*innen und wel- che Verletzungen erfahren Personen, die in Universities as Spaces for the (Re-)Pro- ihrer Studienzeit als Putzkraft, in Callcentern duction of Violence and Vulnerability? oder als Verkäufer*innen gearbeitet haben Structures and Dynamics und keine Zeit hatten sich unbezahlte Prak- tika zu leisten oder auf Tagungen und Vor- Adham Hamed/Juliana Krohn trägen erste Netzwerke zu knüpfen? Wenn sie kein Stipendium hatten, weil sie nicht Various forms of power abuse and ethical mi- wussten, dass es Stipendien gibt oder ihre sconduct appear in hierarchically organized Noten unter ihren Nebenjobs litten, und sie institutions across society. Thus, vulnerability nur in Teilzeit studieren konnten? Stipendien is often already inscribed into those sub- werden größtenteils an Student*innen privi- jects with the least power in their respective legiert-situierter Haushalte vergeben. Wieder institutional frame. Those most vulnerable und wieder in Reihungen von den zahlreichen are most likely to be subject to what pea- Stipendien, Vorträgen, Veröffentlichungen ce researcher Johan Galtung described as und Forschungsprojekten im Rahmen von cultural, structural and direct violence (Gal- SHK-Stellen von Vortragenden zu hören führt tung 1990). Recent journalistic, political and zu Verletzungen und kann Gefühle von Nicht- societal debates about ethical misconduct in Zugehörigkeit oder Scham hervorrufen. Ein institutions, driven for example by the #Me- Raum, in dem sich Verletzlichkeiten zeigen, Too movement, provide examples for that. jedoch oft nur ephemer sichtbar sind. Diese Universities as sites of power asymmetries institutionalisierte und zugleich ritualisierte and hierarchical structures have increasingly (Höflichkeits-)Praktik sucht Poverty-Class- moved into the spotlight of public debate. In und Working-Class-Wissenschaftler*innen an this context, universities exemplifying cultu- ihren „sozialen“ Ort zurückzuweisen, wenn ral violence can justify or reinforce structu- sie zu Fragen, ob Tagungen der ‚richtige‘ ral violence which in turn can further direct Ort für sie sei oder sie überhaupt in Wissen- violence. schaftskontexte ‚hingehören‘, führen. Gleich- While there seems to be a shift in awaren- zeitig zeigt diese Praktik, dass wissenschaft- ess in public discourse, there still appears to liche Konferenzen in ihrer Klassenherkunft be a considerable rigidity when it comes to
addressing ethical misconduct within institu- der Vulnerabilität also eine besondere Tiefen- tions like the university. While these institu- schärfe für Kritik an verletzenden Verhältnis- tions may opt for certain measures of orga- sen und wann droht diese Perspektive selbst nizational change they often systematically unscharf zu werden? shy away from any form of public positioning In unserem gleichermaßen grundlagen- towards issues raised. Moreover, universities theoretischen, wie auch empirischen Beitrag tend to fail to prevent abuse altogether, react wollen wir uns an einer Klärung versuchen. with inadequate responses or try to cover the Hierzu untersuchen wir am Beispiel konkre- abuse up – strategies which can be sum- ter Erfahrungen mit strukturellem Rassismus marized under the term institutional betrayal an der Universität, unter welchen Voraus- (Smith and Freyd 2014). Institutional betrayal setzungen das Konzept ‚doing vulnerability‘ has far-reaching consequences for those einen geeigneten Reflexionsrahmen für diese affected in particular, but also when it comes Erfahrungen bietet und wann darin die ana- to addressing, negotiating and responding to lytisch wichtigen Unterscheidungen zwischen violence and vulnerability in institutions. Verletzung und Verletzbarkeit sowie Verletz- In this contribution we are going to discuss barkeit und Gewalt verloren gehen. how universities are both producing and Verletzbarkeit beschreibt als ‚quasi-anthropo- reproducing vulnerabilities resulting from logische‘ Reflexionskategorie (vgl. Burghardt cultural and epistemic violence and a mo- et al. 2017) zunächst eine unhintergehbare dern/colonial system, respectively, from a Grenze des Menschen, die sich nicht aus conflict transformation perspective, thereby kontingenten Zuschreibungen, Handlungen referring to a set of case studies such as oder Strukturen, sondern aus der Situation Harvard University‘s reaction to the Weinstein ergibt, in der Menschen sich qua ihrer Exis- case. Addressing these issues also calls for tenz je bereits vorfinden. Menschen sind asking whether the above-mentioned forms verwundbar in ihrer Körperlichkeit, ihrer So- of violence and ensuing vulnerabilities need zialität, ihrer Symbolizität, ihrer Geschicht- to be considered as results of the modern/ lichkeit usw. Aus unserer Sicht ist es wichtig, colonial university with its inherent epistemic diese existenzielle Bedeutung des Vulnerabili- violence, thus demanding visions and options tätsbegriffs beizubehalten und sie von einem for transformation like a decolonisation of durch Gewalt- und Machtverhältnisse ver- the university (Bhambra, Gebrial, Nişancıoğlu ursachten, ungleich verteilten Risiko verletzt 2018). zu werden zu unterscheiden. Erst eine Unter- suchung der Wechselwirkungen zwischen Verletzende Gewalt oder gewaltvolle Ver- den existenziellen und kontingenten Seiten letzbarkeit? Erfahrungen struktureller Vul- menschlicher Verwundbarkeit kann einen nerabilität im institutionellen Rassismus gehaltvollen Begriff von struktureller Vulnera- bilität zutage fördern, der eine Brücke schlägt Philipp Seitzer/Lea Braitsch zwischen der strukturellen Komponente menschlicher Vulnerabilität und individuellen Der Vulnerabilitätsbegriff wird im Zuge seiner Erfahrungen und Interaktionen. Nachdem wir vermehrten Thematisierung zuletzt immer unser Verständnis von struktureller Vulnera- häufiger in Kontexten aufgegriffen, die bis- bilität am Beispiel Rassismus mit konkreten lang unter dem Vorzeichen struktureller Inhalten gefüllt haben, plädieren wir abschlie- Gewalt untersucht wurden. Da so die Grenze ßend dafür, Vulnerabilität nicht als Zielschei- zwischen Vulnerabilität und Gewalt immer be, sondern als Ausgangspunkt einer Kritik fließender wird, ist dringend zu klären, wo zu nehmen, die nach unserem Dafürhalten der Vorzug, bzw. der perspektivische Unter- treffsicherer ist, wenn sie auf Gewaltverhält- schied einer Untersuchung unter dem Vor- nisse gerichtet bleibt. zeichen des Vulnerabilitätsbegriffs liegt. In welcher Hinsicht ermöglicht der Ausgang von
PANEL 2: BRUCHSTELLEN DER ERFAHRUNG. MOMENTE UND INSZENSIERUNGEN LEIBLICHER VERLETZBARKEIT Unmögliches Bezeugen lisierte Sphäre der Zeug*innenschaft kritisch zu informieren. Leyla Sophie Gleissner Sich die Blöße geben. Zu den Inszenierun- Das Vortragsprojekt bietet eine kritisch-ethi- gen von Verwundbarkeit sche Perspektive auf Zeug*innenschaft, indem es deren Struktur zu dekonstruieren Miriam Metze versucht. So fragt es danach, welche Erwar- tungen an Zeug*innen gestellt werden und in Die Fragen rund um Verletzbarkeit bzw. Ver- welcher Weise diese die Verletzlichkeit der wundbarkeit sind eng verquickt mit der Frage Zeug*in potenzieren. Dabei soll deutlich wer- nach ihrer Inszenierung: Wie verwundbar den, dass Zeug*innenschaft mit Unmöglich- darf man sich zeigen, ohne zu riskieren, nicht keiten operiert: Die Zeug*in soll die Wahrneh- mehr ernst- oder gar wahrgenommen zu wer- mung eines vergangenen Erlebnisses durch den? Wie viel Blöße darf man sich tatsäch- dessen sprachlichen Ausdruck in der Gegen- lich geben und in welchem Kontext? Insofern wart wiederholbar – und somit für sich und das Sichtbarmachen von Vulnerabilität zu andere vollständig zugänglich machen. An Prozessen der Anerkennung führen kann, die einem solchen Anspruch muss die Zeug*in, die „hermeneutische Lakune“ (Fricker 2006: so die Annahme, jedoch notwendiger Weise 97) von Ungerechtigkeit auflösen oder im scheitern, da er den Funktionsweisen von Mindesten verschieben können, ist die Frage Sprache divergent entgegengestellt ist. Es nach den Inszenierungsmöglichkeiten und gilt sodann festzustellen, dass die Zeug*in Dramaturgien von Schmerz eminent politi- uns gerade in ihrem Scheitern als Umgang schen Charakters. mit jener Unmöglichkeit, darin helfen kann, In diesem Beitrag möchte ich im Ausgang über Sprache zu reflektieren. So ruft sie uns vom Handlungsraum des/der Einzelnen die dazu auf, neue Weise des Zuhörens zu er- Frage aufwerfen, was es bedeutet, sich die lernen, die abgebrochene Rede und Nicht-Li- Blöße zu geben, d.h. sich selbst und anderen nearität zu berücksichtigen wissen. gegenüber in seiner Verletzbarkeit erfahrbar- In Replik auf dekonstruktivistische und fe- bar zu machen – und damit einen Beitrag zu ministische Theoriezugänge werde ich jenem leisten für eine Kultur, die Geöffnetsein als Aufruf folgen und vorschlagen, dass das, was Grundvollzug und als Bedingung der Mög- sich in den Erwartungen an die Zeugin ab- lichkeit von Leben als solchem anerkennt. zeichnet: a) ein expressives und deskriptives Hierzu ziehe ich Hannah Arendt zu Rate: Mit Verständnis von Sprache ist, welches b) die Arendt lässt sich der Akt des Sich-die-Blö- Vulnerabilität der Zeug*in verschärft. So soll ße-Gebens als Handlung und damit als je sich c) zeigen, dass Zeug*innenschaft dazu neuer Anfang verstehen. Zugleich ist dieser in der Lage ist, ein solches herrschendes neue Anfang ausschließlich denkbar vor dem Verständnis von Sprache zugunsten eines Hintergrund, dass das Subjekt hier schon responsiven Sprachverständnisses zu kor- je ent-setzt, verwiesen ist auf die Anderen, rigieren, wenn wir es wagen, der Zeug*in in sodass ein Rückgriff auf dasselbe als eines ihrer Adressierung an uns bedingungslos zu fundamentum inconcussum völlig delegiti- glauben. Letzteres geschieht dabei nicht aus miert ist. einer juristischen Pflicht heraus, sondern aus Mit dem Handlungsbegriff verbindet sich einer ethischen. Abschließend soll d) deutlich für Arendt eine eminent politische Relektüre werden, dass der hier skizzierte ethische An- der Blöße von Jesus (vgl. Arendt in „Freiheit satz es längerfristig anstrebt, die institutiona- und Politik“), in dessen Blöße die Aporien von
(1) Handeln, (2) Subjektivität und (3) Wahrheit in meinem Vortrag nicht nur darum gehen, deutlich zutage treten: (1) In dem Aufzeigen (1) die Haut entlang phänomenologischer der eigenen Blöße geht die Handlung ineins Lektüren als Schauplatz der Erfahrung be- mit der Bedingung der Möglichkeit allen Han- greiflich zu machen, die zwischen Selbst und delns selbst. (2) Das Subjekt findet sich darin Welt, Intimität und Exteriorität vermittelt ist, mit seiner eigenen Ent-Setzung konfrontiert, sondern ebenfalls auf das (2) Phänomen der sofern die Blöße und der Schmerz nicht dem Berührung zu sprechen zu kommen und mit Subjekt verfügbar sind. (3) Der Unmitteilbar- Sara Ahmed zu erläutern, inwiefern wir für die keit des Schmerzes anderen gegenüber ent- Eindrücke der Anderen über die Haut als Ver- spricht die Unersetzbarkeit des Zeugen, der letzliche offenstehen. Dabei liegt mir daran, Zeugin, der/die zur Performanz der Wahrheit auch auf solche Erfahrungen des Schmerzes berufen wird (martyr). Insofern provoziert die zu verweisen, die interkorporell – im Augen- Reflexion auf die Blöße eine „Alethurgie“ (vgl. blick des Kontakts – greifbar werden. Aus- Foucault 2020: 227) im Sinne der Engführung blickend möchte ich mit Elsa Dorlin fragen, (3) von Wort und Tat, Gedanken und Leben. wie gerade solche Handlungsspielräume, die aufgrund (verletzender) Zuschreibungen und Unter die Haut gehen, Aus der Haut fah- stigmatisierende Blicke, die auf die Haut ein- ren. Phänomenologische Lektüren von wirken, verengt sind, verteidigt werden kön- Verletzbarkeit nen. Dieser Vortrag versteht sich letztlich als Versuch, die Haut als unmittelbaren Bezugs- Michaela Bstieler punkt des Politischen auszuweisen, mithin als Ort, an dem Ungleichheiten aufscheinen, Erfahrungen der Verletzbarkeit scheinen von sich manifestieren und materialisieren. Anfang an über die Haut vermittelt zu sein. Ob in Form von Tätowierungen oder Brand- zeichen, Wunden oder Verbrennungen, Ge- rüchen oder Unreinheiten, Stigmatisierungen, Inszenierungen und Zuschreibungen: Die Haut ist dasjenige fragile Organ, das vor Ge- walt nicht schützen kann. In diesem Vortrag möchte ich weder ein Verständnis von Haut sichtbar machen, das allein auf die Haut als Oberfläche rekurriert, „auf der alles außen ist, auf den ersten Blick sichtbar“ (Groebner 2004, 70). Ebenso wenig möchte ich einer Idee der Haut das Wort reden, das sich aus- schließlich den Tiefen und Schichten – der psychischen Innerlichkeit – verschrieben fühlt. Vielmehr wird es mir darum gehen, die Haut als diejenige Grenze zu instituieren, die sich in der Verschränktheit von Innen und Außen als Aufbewahrungsort von Subjektivi- tät exponiert. Vor dem Hintergrund dieser Überlegun- gen lautet meine These, dass sich die Haut als Institution verstehen lässt, die zwischen Welt, Leib und Selbst vermittelt ist und in diesem Geflecht auch (politische) Subjekte sowie Kollektive produziert. Um diese Über- legungen verständlich zu machen wird es mir
PANEL 3: SORGEBEZIEHUNGEN. AMBIVALENZEN UND POLITIKEN VON SCHUTZ- BEDÜRFTIGKEIT Wie deuten Erwachsenenschutzbehörden oder auf die ordentliche Abwicklung von Ge- Schutzbedürftigkeit? schäften. In solchen Fällen machen Personen aus der Bevölkerung mittels sogenannter Anic Sophie Davatz/Lukas Neuhaus/Roland Gefährdungsmeldungen die Behörden auf Becker-Lenz andere aufmerksam, die diese Ordnungs- vorstellungen tangieren oder der Grund für In unserem Beitrag möchten wir der Frage die Sicherheitsbedenken sind. Wir möchten nachgehen, welche Deutungen von Verletz- anhand von exemplarisch ausgewählten Fäl- barkeit, Schwäche und Schutzbedürftigkeit len der Frage nachgehen, wie die Behörden die Erwachsenenschutzbehörden in der auf diese Meldungen reagieren und welche Schweiz bei der Bearbeitung von Gefähr- Deutungen von Schutzbedürftigkeit und dungslagen vornehmen und wie sich diese Verletzbarkeit im Zuge der Fallbearbeitung re- Praxis im Laufe der Zeit verändert hat. Im konstruierbar sind. Wir vergleichen dabei die Hinblick auf die leitende Fragestellung der Fallbearbeitung der heutigen Zeit mit Fällen Konferenz lässt sich feststellen, dass die von Vormundschaftsbehörden aus den frühe- gesetzliche Programmierung des Erwachse- ren Zeitabschnitten. Dabei treten Unterschie- nenschutzes in der Schweiz von der Schutz- de in Bezug auf moralische Kriterien zutage. bedürftigkeit bzw. von einem „Schwäche- zustand“ (Art. 390 ZGB) ausgeht, von dem He doesn‘t care: Unterhaltskonflikte jun- einzelne Individuen betroffen sein können und ger Volljähriger gegen den Vater der durch behördliche Massnahmen ermittelt und behoben werden soll. In der Praxis muss Felix Gaillinger dieser Schwächezustand mittels Deutungs- mustern objektiviert werden, damit er be- Junge Volljährige im Unterhaltsstreit gegen hördlich bearbeitet werden kann. ihre Väter sind Subjekte am Rande und Zur empirischen Klärung der Frage ziehen außerhalb des Diskurses. Sie sind nicht mehr wir Datenmaterial und Analyseergebnisse minderjährig und damit nicht mehr in jenen eines laufenden Forschungsprojektes zu Studien und Statistiken mitgedacht, die sich Praktiken der Erhaltung und Förderung von aus einer lebensweltlichen Perspektive mit Selbstbestimmung im Erwachsenenschutz dem Alltag Alleinerziehender und ihrer Kinder heran. Das Projekt wird im Rahmen des vom beschäftigen (vgl. Jochim 2020; vgl. Lenze Schweizerischen Nationalfonds finanzier- / Funke 2016; vgl. Heiliger / Wischnewski ten Forschungsprogramms „Fürsorge und 2003; vgl. Andreß / Borgloh / Güllner / Wilking Zwang“ durchgeführt. Das Datenmaterial des 2003). Gleichzeitig durchlaufen sie ein pre- Projektes besteht aus Fallakten von Erwach- käres Ausbildungsverhältnis und sind noch senenschutzbehörden aus drei Kantonen nicht finanziell selbstständig. der Deutschschweiz und drei Zeitperioden Aus der Akteur*innenperspektive junger (1960er Jahre, 1980er Jahre und heutige Volljähriger kann dieses Dilemma nur durch Zeit). Im Datenmaterial ist etwa festzustel- das Erringen der (mit der Volljährigkeit) ver- len, dass – neben dem häufigsten Fall, dass weigerten Ressource Unterhalt aufgelöst eine Person ihre Angelegenheiten nicht mehr werden. Gleichsam sehen sie sich mit dem selber zu besorgen vermag – sich Dritte an Rückzug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen die Behörden wenden, weil sie gewisse Ord- konfrontiert: Mit dem 18. Geburtstag fällt nungsvorstellungen tangiert sehen. Dies kann das Recht auf Unterhaltsvorschuss weg – sich auf die Hausordnung in einem Mietshaus eine Kompensationsleistung, sollte sich ein beziehen, auf eine sittliche Lebensführung Elternteil weigern, den Unterhalt zu zahlen
– ebenso wie die rechtsvertretende Beistand- Terminus obstetric violence, „Gewalt in der schaft durch das Jugendamt. Die 19-jährige Geburtshilfe“, der im Kontext zunächst der Studentin Chiara spricht von einem Bruch lateinamerikanischen, dann global werden- zwischen ihrer Alltäglichkeit und den gesetz- den Kämpfe von Frauen*bewegungen, Nicht- lichen Neuregelungen: „Eigentlich ändert sich Regierungsorganisationen sowie anderen ja nichts außer der Zahl im Ausweis. Weil ich Akteuren für Menschenrechte in der Geburts- meine, am Tag davor habe ich genauso ge- hilfe entstanden ist. lebt wie am Tag danach. Und auf einmal wirst In mehreren lateinamerikanischen Staa- du mit so einer Verantwortung in gewisser ten bzw. Regionen (Venezuela, Argentinien, Weise einfach stehengelassen.“ Bolivien, Panama, Mexico City) ist der Be- Durch die aktivierende und anerkennungs- griff obstetric violence inzwischen mit einer ökonomische Rekonfiguration sozialstaat- eigenen Rechtsnorm verbunden. Gemeinsam licher Regelungen (vgl. Lessenich 2008; vgl. ist ihnen, dass Gewalt in der Geburtshilfe Lessenich 2009) – denn mit ihrer Volljährigkeit verstanden wird als eine Verbindung von müssen die Kinder nun selbst den Unterhalt geschlechtsspezifischer Gewalt auf der einen einstreiten und sich als bedürftig und die Vä- Seite, Missbrauch und Gewalt im Bereich des ter als leistungsfähig demaskieren – entsteht Gesundheitssystems auf der anderen Sei- ein spezifischer Modus von Vulnerabilität. te. In Deutschland werden auf der Plattform Basierend auf den Ergebnissen meiner der Roses Revolution seit 2013 Berichte von ethnographischen Masterarbeitsforschung Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburts- werde ich auf die ambivalente Rolle einge- hilfe dokumentiert und haben seither ein hen, die das Jugendamt in diesen Konflikten immer größer werdendes Echo in Medien, spielt. Anhand eines empirischen Fallbei- bei geburtshilflichen Professionen und in der spiels, in das neben Interviews auch die Wissenschaft erzeugt. Ausgehend von diesen Analyse persönlicher Briefe eingeflossen ist, Kämpfen haben inzwischen die Weltgesund- zeige ich auf, wie das Jugendamt selbst zum heitsorganisation (WHO), die Generalver- Teil von Taktiken und Strategien im Unter- sammlung der Vereinten Nationen und der haltsstreit wird und dabei zwar den Charak- Europarat die Verhütung und Bekämpfung ter der rechtsvertretenden Beistandschaft von Gewalt in der Geburtshilfe auf ihre Agen- verliert, aber dennoch einen fundamentalen da gesetzt. Einfluss auf die Transferbeziehung zwischen Der vorgeschlagene Beitrag führt zu- jungen Volljährigen und ihren Vätern nehmen nächst grundlegend in den Gegenstand ein kann. (Gewalt und Vulnerabilität im Kontext ge- burtshilflicher Einrichtungen, professionelle Gewalt in der Geburtshilfe - (globale) Handlungs- und Deutungsmuster, Erfahrun- Kämpfe, Aneignungen und Aushand- gen von Gewalt, Formen kollektiven Aktivis- lungen von Vulnerabilität und Gewalt im mus) und diskutiert sodann die mehrdimen- Kontext Geburt sionalen Bewegungen in der politischen Aneignung und Aushandlung von Gewalt in Tina Jung der Geburtshilfe zwischen (inter-)personalen und gesellschaftlichen Transformationsbe- „Gewalt in der Geburtshilfe“ ist als Phänomen strebungen. Referenzpunkt ist dabei u.a. das und Topos erst seit vergleichsweise kurzer von mir geleitete und vom Hessischen Minis- Zeit in der öffentlichen Aufmerksamkeit. In terium für Wissenschaft und Kunst geförderte der internationalen Debatte sind unterschied- Forschungsprojekt „Gewalt gegen Frauen liche Begriffe teils synonym, teils mit unter- während der Geburt in geburtshilflichen Ein- schiedlichen Deutungsweisen gebräuchlich, richtungen“, aus dem Teilergebnisse vorge- darunter obstetric violence, disrespect & stellt werden. abuse sowie mistreatement. Ich beziehe mich begrifflich und konzeptionell auf den
PANEL 4: KONTROLLE, MACHT UND VERLETZBARKEIT IM KONTEXT VON RECHTSRÄUMEN UND STAATLICHEN GEWALTAKTEUR*INNEN Anrufe bei der Stasi: Zur gegenseitigen bis zum troublemaker wandeln kann. Viel- Übertragung der Verletzbarkeit im ge- mehr kommt es zu gewissen gegenseitigen heimdienstlichen Kontext Übertragungen der Verletzbarkeiten. Diese Übertragbarkeit scheint ein konstitutives Olga Galanova Merkmal des Aushandelns der Verletzbarkeit zu sein. Der bewegliche und ambivalente Verletzbar- keitsbegriff in Ihrem Tagungskonzept ist für Policing Race and Space - Anrufungen der mein DFG-Projekt insofern produktiv und Polizei, Aushandlungen zwischen Polizei inspirierend, als es ermöglicht, feinere soziale und Jugendhilfe und Antworten der Ju- Bedeutungen und Beziehungsdimensionen gendhilfe auf Polizeipraktiken, die junge der Vulnerabilität in einer kontextspezifischen Menschen verletzbar machen institutionellen Kommunikation zu erfassen und eine normative Vorstellung über starren Zoe Clark/Fabian Fritz Machtasymmetrien in Frage zu stellen. Dies wird in meinem interdisziplinären Vortrag Die Polizei ist im Zuge ihres Fokus auf Krimi- am Beispiel des ehemaligen Geheimdienstes nalitätsprävention zu einer politischen Ak- der DDR herausgearbeitet. Im Mittelpunkt teurin geworden, die den öffentlichen Raum stehen telefonische Anrufe der DDR-Bürger- mitgestaltet. Besonders im urbanen Raum Innen beim Ministerium der Staatssicherheit geschieht dies über die Definition sog. ge- zu verschiedenen persönlichen Anliegen. Die fährlicher Orte, durch die sich die Polizei BürgerInnen wählen eine öffentlich zugängige deutlich erweiterte Handlungsspielräume Telefonnummer und werden mit dem Offizier verschafft, wie etwa verdachtsunabhängi- vom Dienst verbunden, um eigene Probleme, ge Kontrollen. Diese Form der zonierenden Unsicherheiten, aber auch Denunziationen Kontrollordnung des öffentlichen Raums lässt und Beschwerden mitzuteilen. Diese Anru- sich auch als Teil der Gestaltung nationaler fe stellen ein spannendes Datenmaterial zu Grenzregime verstehen, bei der insbesondere Ambivalenzen und Asymmetrien in der Her- junge Menschen mit Fluchthintergrund von stellung sozialer Verletzbarkeit. Die zentrale verstärkten Polizeikontrollen betroffen sind. Forschungsfrage lautet: Wie wird die Verletz- Sind junge Menschen mit Flucht- bzw. Migra- barkeit eines gescheiterten Geheimdienstes tionsgeschichte von den Praktiken des Racial in und durch diese telefonische Anrufe sicht- und Spacial Profilings betroffen, verlagern bar? sich die äußeren Grenzen des Nationalstaa- Über eine Beschreibung historisch- und tes ins Landesinnere. Die Kontrollpraktiken kontextspezifischer Produktionsformen und des Grenzregimes werden zu einer alltägli- Dimensionen der Verletzbarkeit auf der the- chen Erfahrung. matischen Oberfläche der erfassten Gesprä- In der qualitativen Studie „Polizei als che hinausgehend, lassen sich jedoch auch Partnerin der Heimerziehung?“ zeigt sich, die Prozesse dynamischer Beziehungskonsti- dass die polizeiliche Regulation des urba- tuierung zwischen den Anrufenden und dem nen Raums nicht auf formal so klassifizierte, Offizier vom Dienst während der Problemaus- öffentliche Orte beschränkt bleibt, sondern handlung mithilfe einer detaillierten konver- auch die nahräumlichen Lebensräume der sationsanalytischen Beschreibung rekonstru- jungen Menschen im Sinne von Risikoorten ieren. Es wird nämlich nicht nur sichtbar, wie poliziert werden. Auch die Einrichtungen die Kategorisierung von der Stasi während der Kinder- und Jugendhilfe werden von der des Gesprächs vom Helfer und Beschützer Polizei umklassifiziert und als Orte mit beson-
deren Gefährdungspotentials kategorisiert, was zu verstärkter Repression und folglich zu einer verstärkten Verletzbarkeit der Bewoh- ner:innen dieser Orte führt. Die Kinder- und Jugendhilfe, die für diese jungen Menschen zuständig ist, versucht eine Antwort auf dis- kriminierende Polizeipraktiken und die damit einhergehende Vulnerabilität ihrer Adres- sat:innen zu finden. Es finden sich Versuche der Ermächtigung der Adressat:innen, Versu- che sie aktiv zu schützen sowie unmittelbare Aushandlungen zwischen Jugendhilfe und Polizei, die Kämpfe um Deutungshoheiten über öffentliche, urbane Räume beinhalten. Diese Aushandlungsprozesse zwischen Jugendhilfe und Polizei, die sowohl Elemen- te von Widerständigkeit gegen polizeiliche Repression als auch der Reproduktion von Polizeilogiken durch die Jugendhilfe enthalten können sowie die daraus resultierende Ver- letzbarkeit der betroffenen jungen Menschen sind Gegenstände dieses Beitrages.
PANEL 5: KONSTRUKTIONEN UND DISKURSE WEIBLICHER VERLETZBARKEIT AM BEISPIEL VON FLUCHT UND ERZWUNGENER MOBILITÄT Das Motiv der Verletzbarkeit „geflüchteter Frauen als auch seitens der beteiligten ‚Fach- Frauen“ im Feld der Sozialen Arbeit „mit kräfte‘. Die Promotion ist Teil eines von der Geflüchteten“ DFG geförderten Projekts zum Thema „Sub- jektivierung und Selbst-Bildung ‚geflüchteter Beatrice Odierna junger Frauen‘“ am Institut für Ethnologie der LMU München. Seit dem „lange(n) Sommer der Migration 2015“ (Hess et al. 2017:6), als viele - auch in Die Wegnehmbarkeit von Kindern im Be- diesem Feld bislang nur wenig erfahrene - gegnungsverhältnis alleinerziehender ge- soziale Träger begannen, sich in der Arbeit flüchteter Frauen mit den Jugendämtern ‚mit‘ bzw. ‚für geflüchtete Menschen‘ zu en- als historische Verletzbarkeit gagieren, hat sich das Feld der Fluchtsozial- arbeit in bislang ungekanntem Maß als eine Lea Ulmer mächtige gesellschaftliche Institution etabliert und wurde zu einem wichtigen Schauplatz Der Vortrag basiert auf meiner Masterarbeit, der Konstruktion des ‚Fremden‘. Während die sich mit der Institution Jugendamt geschlechtsstereotype Darstellungen ‚Ge- auseinandersetzt. Mein Nachdenken beginnt flüchteter‘ in der öffentlichen Berichterstat- bei einem angezeigten Handlungsbedarf tung bereits ausgiebig untersucht wurden aktivistischer Gruppen von Refugees. Diese (z.B. Messerschmidt 2016, Dietze 2016), gibt weisen auf eine problematische Praxis der es bislang nur wenige Studien, die sich aus Jugendämter hinsichtlich alleinerziehender ethnologisch-ethnographischer Perspektive geflüchteter Frauen hin: Die Jugendhilfe mit der Thematik geschlechtsbezogener Ver- verschlechtere in vielen Fällen die Lebenssi- Anderung im Alltag der Sozialen Arbeit ‚mit tuation dieser Frauen, setze unerwünschte Geflüchteten‘ in Deutschland befassen. Eingriffe in das Familienleben durch und er- Ausgangspunkt meines Vortrags bildet die zeuge Angst und Stress. Frage, wie das Motiv der Verletzbarkeit ‚ge- Mit dem Ziel einer parteiischen wissen- flüchteter Frauen‘ in diesem ‚Feld‘ verhandelt schaftlichen Bestandsaufnahme habe ich und innerhalb der alltäglichen institutionellen mir die Institution Jugendamt anhand unter- Praxis der Fluchtsozialarbeit hergestellt und schiedlicher Perspektiven auf deren Jugend- reproduziert wird. Anhand von Beispielen aus hilfe- und Inobhutnahmepraxis angeschaut meiner noch laufenden Promotionsforschung und dabei sowohl die Verschränkung der ins- möchte ich herausarbeiten, wie unterschied- titutionellen Wirkungsbereiche von Asyl- und liche Anrufungen der Verletzbarkeit bezie- Aufenthaltsgesetz und dem Sozialrecht ins hungsweise damit verknüpfte Forderungen Auge genommen, als auch wirksame inter- nach einer Erweiterung der Handlungsmacht sektionale Dominanzverhältnisse untersucht. ‚geflüchteter Frauen‘ in der Konzeption und Die Analyse unterschiedlicher Interviewbeiträ- Durchführung von ‚Angeboten‘, Förderpro- ge hat dazu geführt, dass ich den Begriff der grammen und Maßnahmen im Kontext der Wegnehmbarkeit von Kindern entwickelt Sozialen Arbeit ‚mit Geflüchteten‘ wirksam habe, mit dem sich das von den solidari- werden. Einen Schwerpunkt des Vortrags schen Gruppen aufgezeigte Problem kon- bildet dabei die Betrachtung der Aushand- kreter benennen und mehrdimensional lung von und Auseinandersetzung mit omni- darstellen lässt: Erstens kann er das Do- präsenten Bildern der ‚marginalisierten und minanzverhältnis im Begegnungsverhältnis verletzlichen geflüchteten Frau‘ sowohl sei- zwischen den Jugendämtern und alleinerzie- tens der auf diese Art und Weise adressierten henden geflüchteten Frauen aufzeigen. Er er-
laubt die Frage, durch welche Praktiken und Narrative das Kinder-wegnehmen-Können und damit eine spezifische Verletzbarkeit her- gestellt wird: „Mutterschaft wird im Begeg- nungsverhältnis zu einer Vulnerabilität allein- erziehender geflüchteter Frauen: Sie sind als Mütter durch die Wegnehmbarkeit spezifisch verletzbar. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Fürsorgepraxis wiederholt gefähr- liche acts of mothering verursacht. Ein besonders schwerwiegendes Beispiel hierfür ist die Flucht aus Deutschland aus Angst vor Kindesentzug, aber auch das Meiden mög- licherweise notwendiger Unterstützungsan- gebote“ (Ulmer 2021: 93). Zweitens kann der Begriff darüber hinaus ein gesellschaftliches Verhältnis bezeichnen. Wegnehmbarkeit verweist auf eine wirkmäch- tige Potentialität von Verletzbarkeit, die historisch aus der vergeschlechtlichten, klas- senbasierten Unterdrückung rassifizierter Frauen* gewachsen ist, sich mit der Unter- scheidung durch ‚Aufenthaltsstatus‘ ver- schränkt und die Kriminalisierung ihrer Mutterschaft zur Folge hat. Der Fokus meines Vortrags liegt auf dem Aushandeln der Formation von Wegnehmbar- keit. Denn sie stößt laufend auf Widerstände, wird infragegestellt und problematisiert. Da- durch treten konkrete Problemdimensionen zu Tage, die als Ansatzpunkte für Perspekti- ven reproduktiver Gerechtigkeit verstanden werden können.
PANEL 6: (AN-)ORDNUNGEN IN DER KRISE: PERSPEKTIVEN AUF DIE UNGLEICHE VERTEILUNG VON VERLETZBARKEIT UND BETROFFENHEIT Kritik der Katastrophe? Ungleiche Verletz- logische Funktion eines Herrschaftsdiskurses barkeit im Anthropozän offenbaren, dem eine „Kritik der katastrophi- schen Äquivalenz“ (Nancy 2013, 59) gegen- Ralf Gisinger überzustellen ist. In seiner Studie zur „Risikogesellschaft“ Vulnerabilitäten in Krisenzeiten neu den- bringt der Soziologe Ulrich Beck seine The- ken: Projekt Cov_enable: Re-Imagining se des Verschwindens der Klassengesell- Vulnerabilities in Times of Crisis schaft zugunsten einer Gleichverteilung von „Risiken“ auf die prägnante Formel: „Not ist Oliver König/Michelle Proyer/Susanne Prum- hierarchisch, Smog ist demokratisch.“ (Beck mer 1986, 48) Auf ähnliche Weise argumentiert Dipesh Chakrabarty in „Climate of History“ in Dieser Beitrag setzt sich basierend auf ersten Bezug auf das neue geologische Zeitalter des Ergebnissen des im Mai 2021 gestarteten so genannten „Anthropozäns“: anders als bei FWF-Projektes „Cov_enable“ mit der Frage den Krisen des Kapitalismus gebe es in den nach Vulnerabilität und Menschen mit Be- durch Klimaerwärmung induzierten Krisen hinderungen in der COVID-19 Pandemie keine „Rettungsboote für die Reichen und auseinander. Vulnerabilität vereint laut Gorur Privilegierten“ (Chakrabarty 2009, 221). (2015, 3) zwei Blickwinkel: Jene auf individu- Gerade in Bezug auf katastrophische Ereig- elle Attribute und jene auf sozio-politisch und nisse der „Natur“ wie etwa die Klimakrise und historisch geformte Aspekte. In der Pande- andere ökologische Verwerfungen (aber auch mie wird schnell deutlich, dass politisch und in der SARS-CoV-2-Pandemie) tauchen Ar- medial auf individuelle Anteile fokussiert und gumentationsfiguren auf, die eine Äquivalenz Vulnerabilität weitgehend auf medizinische von Betroffenheit oder Verwundbarkeit insi- Aspekte – wie Vorerkrankungen – reduziert nuieren. Eine solche scheinbare Egalität (im wird (Abrams & Abbott 2020). Angesicht der Klimakatastrophe, des Virus Als Teil der Evaluation des Nationalen Ak- etc.) manifestiert sich beispielsweise schon tionsplan Behinderung – der österreichischen im Begriff des „Anthropozäns“, der sowohl Handlungsstrategie zur Umsetzung der UN- Ursachen als auch verschiedenartige Vulne- Behindertenrechtskonvention – wurde in der rabilität in einem homogenisierten, universa- ersten Phase der Pandemie eine Erhebung zu lisierten sowie unifizierten Konzept von „der“ den Auswirkungen auf Menschen mit Behin- Menschheit [anthropos] verschleiert (Haraway derungen durchgeführt. Besonders besorg- 2016; Moore 2017). niserregende Bereiche waren dabei inklusive In meinem Beitrag will ich ausgehend von Schule und unterstütztes Wohnen. Beide solchen Diagnosen einigen Fragen des Zu- Bereiche konnten in der Evaluation als solche sammenhangs von Katastrophe und Zeitlich- markiert werden, wo auch vor der Pandemie keit mithilfe von Walter Benjamin nachgehen, hoher Handlungsbedarf bestand (vgl. Biewer inwiefern Logiken der (Natur)Katastrophe et al. 2020). In der Pandemie treffen individu- Spuren eines gewendeten Messianismus elle Aspekte der Vulnerabilität mit solchen, oder einer Katharsis innewohnen, die sich die durch eine öffentliche Adressierung und (wie etwa bei Beck) in Fiktionen einer allum- politische Strategieführung erzeugt werden, fassenden und differenzlosen Verletztbarkeit sowie mit Formen der Vulnerabilität, die den zeitigen. Meine These ist, dass sich Verweise Institutionen (Schule und Wohnen) inhärent auf die scheinbare Gleichverteilung im Ange- sind – und sich in Zeiten der Pandemie weiter sicht globaler Katastrophen/Krisen als ideo- verstärkt haben – zusammen.
Im Rahmen dieses Beitrages werden Auswir- muss – und zwar vermeintlich im Namen und kungen auf die Situation von Menschen mit gegenüber aller Anderen. Recht wird immer Behinderungen – einschließlich deren Blick- gesprochen im Namen von anderen, z.B. „im winkel – in den Fokus genommen. Es sollen Namen des Volkes“. Recht zeigt sich darin als normative Konzepte und diskursive Konzep- Anordnung der Stellvertretung, die zu ihrer tionen von Vulnerabilität hinterfragt werden, eigenen Legitimation bzw. Rechtfertigung auf die in politischer Kommunikation und Maß- Institutionen und Narrative des Hörens und nahmensetzung eingebettet sind. Im Fokus Gehört-werdens angewiesen ist. Dabei treten des Projektes steht ein partizipativer Zugang z.B. das Recht auf Gehör vor Gericht oder die entlang der Fragen, wie Vulnerabilität von als verwaltungsrechtliche Anhörung bei Verwal- vulnerabel eingestuften Menschen erlebt wird tungsentscheidungen jeweils im Zusammen- und wie diese Zuschreibungen sich auf deren hang mit gewaltvollen Praxen auf und sollen Leben auswirken. Diesen Fragen werden diese erträglicher oder irgendwie gerechter sowohl durch die Analyse von Medien und machen können – so meine Beobachtung. Policies als auch anhand von durch betrof- Inwiefern kann in rechtlichen Institutio- fene Personen gestaltete Videotagebüchern nen dieses Versprechen wirklich eingelöst nachgegangen. Erste Ergebnisse aus Fokus- werden? Und: Sind rechtliche Institutionen gruppen und einer Pilotphase der partizipati- denkbar, die ein alteritätsethisch gerechteres ven Datenerhebung sollen in diesem Beitrag Hören und Gehörtwerden befördern könnten, präsentiert und diskutiert werden. anstatt es zu behindern? – In meinem Vortrag möchte ich einige dieser rechtstheoretischen Rechtliche Anordnung der Stellvertretung Überlegungen aus meinem Forschungspro- und Verletzbarkeit als conditio humana zess teilen und zum gemeinsamen Nachden- des Rechts ken über (nicht-)rechtliche Räume einladen, die eine gerechte(re) Distribution von Auf- Anna Menzel merksamkeit ermöglichen könnten. Anknüpfend an mein Dissertationsprojekt fasse ich Recht als sozial bedingtes Phäno- men auf, dessen conditio humana radikale Interdependenz ist. Durch den alteritätsethi- schen Zugang wird Recht als Anordnung der Stellvertretung verständlich, die von Anfang an durch den Anruf der bzw. des Anderen bedingt ist (Lévinas, Butler). Der vielstimmige Anspruch der Anderen konstituiert das menschliche Subjekt als responsives Subjekt. Das Subjekt wird vom modernen staatlichen Recht aber weitgehend nicht als verletzliches und relational beding- tes Subjekt gefasst, sondern orientiert sich am Phantasma eines souveränen und auto- nomen Subjekts und prägt somit das herr- schende Vorverständnis von Subjektivität im Recht. Die Spannungslage, die sich daraus er- gibt, zeigt sich vor allem in den Gründungs- mythen des modernen staatlichen Rechts. Hier wird Recht als eine Ordnungsmacht inszeniert, in der stets geantwortet werden
PANEL 7: PRAKTIKEN DES EIN- UNS AUSSCHLIESSENS. DYNAMIKEN, POTENTIA- LE UND UMDEUTUNGEN DES PREKÄR-SEINS Welche Körper werden geschützt? Ver- seiner radikalsten Konsequenz: der Entmen- letzbarkeit im Spannungsverhältnis von schung. Améry rückt hierbei den Anderen strukturellem Ausschluss und individuel- – den Gegenmenschen – in den Fokus. Ihn lem Widerstandspotential braucht es jedes Mal aufs Neue, damit der Entindividualisierungsprozess durch Folter Magdalene Hengst und Misshandlung gegenüber einer einzelnen Person und damit letztlich auch einer ganzen Die Frage danach, wer verletzt werden kann, Gruppe überhaupt vonstattengehen kann. hat immer auch damit zu tun, nach welchen Améry schafft es durch seine Analyse, Ver- Spaltungslinien in einer Gesellschaft Aus- antwortlichkeiten zuzuweisen sowie Wider- schlüsse produziert werden. Menschenrech- standspotenzial des Einzelnen zu entwickeln. te, die von Staaten aus dem globalen Norden So bietet sich eine Perspektive, ihn als das als universell proklamiert werden, gelten mit- phänomenologische Fundament nichten für alle Menschen und Körper werden Agambens struktureller Ausrichtung zu lesen nicht gleichermaßen geschützt. Sich auf ein und ist somit unerlässlich für eine Suche Recht mit dem Wissen berufen zu können, nach differenzierten Lösungsansätzen für dass bei seinem Bruch Hilfe zu erwarten ist, heutige Verletzungs- und Ausschlussprakti- stellt ein privilegiertes Gut dar. Doch nach ken. welchen Logiken funktionieren Ausschlüsse, durch die Menschen in zwei verschiedene Schulische Verletzbarkeiten überwinden: Gruppen unterteilt werden: In jene Gruppe Sprachspiele und Widerständigkeiten von Menschen, die Hilfe bekommen werden, sollten sie in einem Boot sitzen und in Seenot Hendrik Richter/Josefine Wagner geraten sowie die andere Gruppe von Men- schen, die staatliche Küstenwachen ertrinken Schule stellt für Butler (2014) eine Institu- lassen? tion dar, die als Ort nicht nur für kindliche Der Rechtsphilosoph Giorgio Agamben Subjektivierungen eine bedeutsame Rolle findet für den Zustand von Personen, die spielt, sondern im erheblichen Umfang Ver- strukturell Verletzung erfahren und so daran letzbarkeiten (re-)produziert. Besonders für gehindert werden, sich als Subjekt zu kons- Schüler:innen mit Behinderung zeigen sich tituieren, einen konkreten Begriff: Die ein- in den schulischen Alltagspraxen sensible schließende Ausschließung. Menschen wer- Gefährdungspotentiale verwehrter Anerken- den hier zu Personen gemacht, die außerhalb nung, die die Verletzbarkeit des Subjekts des Rechts stehen, aber ihm dennoch unter- offenlegen. Diese werden noch zusätzlich worfen sind. In meinem Vortrag möchte ich verstärkt, indem Kinder und Jugendliche mit nun argumentieren, dass Agamben zwar eine sonderpädagogischem Förderbedarf häufi- scharfsinnige Zustandsbeschreibung gegen- ger in Schulklassen mit hoher bis sehr hoher wärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse ge- Benachteiligung unterrichtet werden (George/ lingt, er aber weniger den individuellen Pro- Schwab 2019). An der Überschneidung von zess in den Blick nimmt, welcher dazu führt, Migration, Armut und Behinderung lassen dass aufgrund ebenjener Machtverhältnisse sich besonders markante Ungleichheitsver- einige Menschen eher Verletzungen aus- hältnisse beobachten, wenn beispielsweise gesetzt sind als andere. Der Philosoph und Kinder mit türkischer Muttersprache dop- Auschwitz-Überlebende Jean Améry ana- pelt so häufig eine Sonderschule besuchen lysiert am Beispiel seiner eigenen Erfahrung als die allgemeine Grundschule/Volksschule den Prozess der Verletzbarkeitsmachung in (Statistik Austria 2020, 46). Demnach sind es
auch die (räumlich-)strukturellen Bedingun- richtig und falsch eine Alternative entgegen- gen sowie die spezifische Form schulischer zusetzen. Anrufung, die Schüler:innen mit Behinderung ihren sozialen sowie symbolischen Platz zu- Verletzbarkeit als (V)Er(un)möglichkeits- weisen (Buchner 2018). “Leistungsschwach”, bedingung politischer Subjektivierung im “hilfebedürftig”, “unselbstständig” oder “un- Kontext wohlfahrtsstaatlicher Institutio- schuldig” sind nur einige der Subjektpositio- nen nen, mit denen die Schüler:innen konfrontiert werden und denen sie sich, um in ihrer so- Phries Sophie Künstler zialen Existenz anerkannt zu werden (Butler 2017), unterwerfen. Innerhalb des Beitrags soll der Frage nach- Allerdings sind verletzende Anrufungen nicht gegangen werden, in welchen Weisen die immer umfänglich wirksam, sondern können Bezugnahme auf die eigene Verletzbarkeit angeeignet, umgedeutet oder zurückgewie- prekäre politische Subjektivierung gegen- sen werden und damit zu selbstermächtigen- wärtig ermöglicht beziehungsweise verun- den Antworten führen (Janssen 2018). möglicht. Dabei wird anhand der Analyse In unserem Beitrag entfalten wir unsere von Ausschnitten aus Interviews mit jungen theoretischen Überlegungen in enger Ausein- erwerbslosen Müttern in den Blick genom- andersetzung mit ethnographischem Feldma- men, in welcher Weise Bezugnahmen sowie terial, das an österreichischen sowie deut- die Nicht-Bezugnahmen auf Verletzbarkeit schen Schulen entstanden ist (2018-2020). aktuell Bedingungen prekärer politischer Explizit widmen wir uns einem emanzipativen Subjektivierung darstellen sowie welche Rolle Moment (Biesta 2019, 47) in der Schulpra- wohlfahrtsstaatlichen Institutionen dabei zu- xis einer Grundschule in Deutschland. Ist kommt. es Individuen möglich, teilzuhaben an der In Anschluss und Weiterentwicklung an sozialen Ordnung, ihre Parameter ein Stück Judith Butler hat Isabell Lorey (2015) mit ihrer umzudeuten und dieser eine alternative Inter- „Theorie der Prekarisierung“ insbesondere pretation entgegenzubringen, sieht Biesta herausgearbeitet, dass das generelle Prekär- eine wesentliche Funktion von Bildung erfüllt. sein – also die grundsätzliche Verletzbarkeit Ethnographische Feldnotizen an einer Grund- aller Wesen – nicht nur immer bereits gesell- schule, deren Schüler:innenpopulation Un- schaftlich geordnet ist, sondern zudem stets gleichheitskategorien auf empfindliche Weise mit produktiven Regierungs- und Subjekti- zusammenführen, bieten die Möglichkeit, vierungsweisen einhergeht. Deswegen, so Aushandlungen, Zurückweisungen und Spiel Lorey, ist auch Prekarisierung nicht lediglich mit Sprache und Konventionen zu beobach- als Krisendiagnose zu betrachten, sondern ten (Willis 1977; Bourdieu 1991). vielmehr als produktive (Selbst-)Regierungs- Wir betrachten diesbezüglich eine Klasse, praxis zu verstehen. Anhand der Frage in in der jedes Kind mehrsprachig aufwächst, welcher Weise (unterschiedliche) Verletzbar- in der 17 von 19 Kindern Subventionierung keiten gesellschaftlich (re-)produziert und für das Mittagessen erhalten und vier Kinder (als unterschiedlich schützenswert) geordnet einen sonderpädagogischen Förderbedarf werden, wird dementsprechend immer auch tragen. In unserem Beitrag widmen wir uns verhandelt, was die gegenwärtigen Bedin- dabei der Ausdeutung eines Sprachspiels gungen und (Un-)Möglichkeiten sind, zum (Wittgenstein 2003), das von den Lehrer:in- politischen Subjekt zu werden. nen abgewertet – von den Schüler:innen Diesen Bedingungen der (V)Er(un)mögli- allerdings genutzt wird, um Autorität über chung prekärer politischer Subjektivierung Wissen zu erlangen, Phasen der Sprachan- hinsichtlich von Ver-letzbarkeit soll innerhalb eignung zu durchlaufen, eine Durchlässigkeit des Beitrags insbesondere empirisch nach- unterschiedlicher Fähigkeiten zu ermöglichen gegangen werden. Ausgegangen wird dafür und vielleicht sogar auch der Dichotomie von von Ausschnitten aus Interviews mit jun-
gen erwerbslosen Müttern in aktivierenden Arbeitsmarktmaßnahmen. Anhand der Ana- lyse des Materials soll dabei nachvollzogen werden, in welcher Weise die Bezugnahme auf Verletzlichkeit im Kontext wohlfahrtsstaat- licher Institutionen politische Subjektivierung ermöglicht und verunmöglicht: Inwieweit wird durch die interviewten Mütter aktuell auf Verletzbarkeit (nicht) Bezug genommen und wie wird dadurch politische Subjektivierung befördert oder erschwert? Davon ausgehend wird dann zudem gefragt, welche Schlüs- se sich aus den empirischen Erkenntnissen grundsätzlich hinsichtlich des gegenwärtigen Verhältnisses von Verletzbarkeit, Politik, wohl- fahrtsstaatlichen Institutionen und prekärer Subjektivierung ziehen lassen.
PANEL 8: SICH VERWEIGERN: SUBVERSIVES HANDELN UND FORMEN DES WI- DERSTANDS IM RAHMEN NORMATIVER ORDNUNGSSYSTEME Existentielle Verweigerung. Zur körper- Innerhalb meines Vortrags möchte ich For- lichen Reinszenierung und Subversion von men des Entzugs, der Verweigerung und der Gewalt Undienlichkeit als körperlich-widerständige Antworten auf das ungleiche Ausgeliefert- Charlotte Bomert sein an Gewalt thematisieren. Dabei greife ich gegenwärtige Beispiele der Nahrungs- Noch in den Momenten umfassender Unter- verweigerung auf, insbesondere von hun- drückung und Gewalt handeln Menschen gerstreikenden Geflüchteten, anorektischen widerständig. So finden sich etwa auf Skla- FLINTA und essensverweigernden Gefäng- venschiffen und -plantagen extreme Wider- nisinsass:innen. Anhand dieser Beispiele standspraktiken der Verweigerung und „Un- zeige ich, dass und wie die Verweigerung dienlichkeit“ (Därmann 2020) in denen mittels von Nahrung als performativ-ästhetische und des existentiellen Entzugs (des eigenen eigenwillig-aneignende Praktiken des körper- Lebens/Körpers) widerständige Handlungs- lichen Widerstandes fungieren, die mittels räume geschaffen werden. Neben dem der Verweigerung von Nahrung die extreme Suizid und der Selbstverbrennung ist der Gewaltförmigkeit bestimmter Lebensverhält- Hungerstreik (nur) einer dieser Praktiken, der nisse wahrnehmbar machen und diese (so) historisch (bspw. von Sklav:innen, Sufraget- zugleich unterwandern. ten oder im antikolonialen Befreiungskampf M. K. Gandhis) und gegenwärtig (etwa in Verletzbarkeit als verbindendes Element Gefängnissen, in Geflüchteten-/Internierungs- queerer Politiken lagern und auch in der bulimischen/anorekti- schen Essensverweigerung) innerhalb diver- Tanja Vogler ser Kämpfe praktiziert wird und wurde. Die (Nahrungs-)Verweigerung, die im Extremfall Queere Politiken haben sich ursprünglich bis zum Tod führen kann, wirkt dabei als als Antwort auf die Toten der AIDS-Krise performativ-reinszenierende ‚Ausstellung‘ formiert. (Hark 2005) Aus dieser bewegungs- (exposition) von (Effekten von) strukturel- geschichtlichen Situierung heraus, kann ler Gewalt und verweist nicht zuletzt so auf queerer Aktivismus als ein Ort solidarischer die in kapitalistischen, rassistischen und Allianzen verstanden werden, der zumindest sexistischen Strukturen ungleich verteilte in seinen Anfängen um eine „gemeinsam Exponiertheit von vulnerablen Körpern. Sie geteilte Verletzbarkeit“ (Butler 2016) angeord- ist daher weniger als „weaponization of life“ net war. Mittlerweile wird queeren Politiken (Bargu 2014, 14) zu verstehen, sondern als dementgegen unter anderem vorgeworfen die performative Reinszenierung von bereits homonormativ, homonationalistisch und erst gewaltvollen Lebensverhältnissen: „[T]he recht identitätspolitisch zu sein. (vgl. Duggan hunger strike [...] enacts what it seeks to 2002, Puar 2008, Dhawan 2015) Ausgehend show and to resist.“ (Butler 2015, 137). Zu- von dieser Ambivalenz will der Vortrag der gleich stellt die Praxis der (Nahrungs-)Verwei- Frage nachgehen, ob und auf welche Art und gerung über die Reinszenierung hinaus eine Weise das aktuelle queer-politische Subjekt subversiv-„eigenwillige“ (Ahmed 2014) Aneig- (noch) um eine ungleiche verteilte Verletz- nung dieser ungleichen Ausgesetztheit dar, barkeit angeordnet ist. Ausganspunkt ist die indem das der Gewalt exponierte, verhinderte diskursanalytische Aufarbeitung der Bewe- eigene Leben durch seinen existentiellen Ent- gungsmedien (Flyer, Plakate, Pressemittei- zug zur Verhinderung dieses Gewaltverhält- lungen, Zeitschriften, Artikel, Broschüren und nisses eingesetzt wird (vgl. Ahmed 2010, 6). Homepageauftritte) von fünf queer-aktivisti-
Sie können auch lesen