Verletzbarkeit & Institutionen

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Verletzbarkeit &
Institutionen
ANRUFEN – AUSHANDELN – ANTWORTEN

Abstract Booklet

KEYNOTE                                         KUNSTPERFORMANCE

Für ein Sorge tragendes Kino                    Muschel - Stadtrandläuten. Answers From
                                                the Periphery

Brigitta Kuster                                 Judith Klemenc

Das Kino wurde vielfach als Ort beschrieben,    Wenn Performance durch die leibliche Inter-
an dem man* sich selber durch die Augen         aktion lebt, stellt sich die Frage: Wie kann
eine*r anderen sehen kann. Es ist auch der      eine Performance online aussehen? Und die
Ort, an dem man* ganz ‚bei sich‘ ist und doch   Antwort wird sein: Sie kann nicht gesehen
den befremdlichsten und furchterregendsten      werden. Sie verschwindet in der Sicht darauf.
Dingen ausgesetzt sein kann. Es zeigt sich      Im Abstand. In der Distanz. In der klaffenden
oft als geradezu magisch angezogen von          Wunde zwischen dem Sichtbaren und un-
Szenen der Überschreitung und der Gewalt.       sichtbar Gemachten. Dazwischen das Wag-
Und sicherlich stehen im Zentrum von Film       nis. Nichts zu sehen. Zu hören. Zu lauschen.
und Kino Fragen der Trennung und der Ver-       Auf das, was nicht sichtbar. Auf das, was mit
bindung, von Konjunktionen und Rupturen.        der Stimme unbestimmbar. Auf das, was mit
Davon ausgehend will der Beitrag Spekula-       der eigenen Stimme hört. Überhört. Hinhört.
tionen über ein Kino der Sorge, ein cinema         Andreas Oberprantacher und Judith
of care entwickeln. Über ein Kino, in dem die   Klemenc werden über das Projekt „Muschel.
Ausdruckskräfte der post-kinematographi-        Stadtrandläuten“ ins Gespräch kommen. Sie
schen Kondition zum Tragen kommen und           werden eingangs Antworten auf Fragen, die
die geradezu anakinematografisch erschei-       Klassismus, Rassismus und Sexismus betref-
nende Produktion von Sorgfalt und Achtsam-      fen, lauschen, die in dem besagten Projekt in
keit, Versorgen und Ausbessern, vielleicht      Anlehnung eines Anrufbeantworters gesam-
sogar Pflegen und Heilen ermöglichen.           melt und zu einer vielstimmigen Komposition
                                                verwoben wurden. Sie werden einen oder
                                                auch mehrere Fäden aufgreifen und sie von
                                                da nach dort weben. So dass gleichsam das
                                                werdende Stimmgewebe das Text:il sein wird,
                                                von dem sie nicht wissen, welche Fäden die
                                                Hörer:innen legen. Das Unbestimmbare im
                                                dunklen Monitor. Online.
PANEL 1: HABITUALISIERTE PRAKTIKEN: DIE UNIVERSITÄT ALS SCHAUPLATZ VON
VERLETZBARKEIT

Verletzende Praktiken in Kontexten wis-           privilegiert-positionierten Personen eigen
senschaftlicher Konferenzen. Verletzlich-         sind, sodass die häufigste Praktik sich der
keit zwischen Scham und Zugehörigkeit             perpetuierenden verletzenden Praktik ent-
                                                  gegenzusetzen das Passing ist.
Frede Macioszek                                       Der Vortrag stellt Erfahrungserzählungen
                                                  in den Vordergrund, die ein Ernstnehmen der
In dem Vortrag soll es um die habitualisierte     Erzählung als epistemische Praxis fordern.
Praktik einleitender Vorstellungen von Vor-       Ebenso weist der Vortrag auf die Erleichte-
tragenden und ihren Vorträgen in Kontexten        rung und das Potential des Scheiterns, dass
wissenschaftlicher Tagungen und Konferen-         im Nicht-Erreichen von Standards liegt, hin
zen gehen und wie sich in jenen Positionen        (Halberstam 2011: 6) und zeigt welchen Raum
der Privilegierung zeigen. Ferner zeigt der       es für Handeln geben kann. Der Vortrag will
Vortrag wie Verletzlichkeiten im Spannungs-       in Tagungskontexten eine größere Sicht-
feld von Scham und Zugehörigkeit entstehen        barkeit und Sensibilisierung für verletzende
können.                                           klassistische Praktiken und Verletzlichkeiten
    Wie fühlen sich Poverty-Class- und Wor-       schaffen und Klassismus thematisieren.
king-Class-Wissenschaftler*innen und wel-
che Verletzungen erfahren Personen, die in        Universities as Spaces for the (Re-)Pro-
ihrer Studienzeit als Putzkraft, in Callcentern   duction of Violence and Vulnerability?
oder als Verkäufer*innen gearbeitet haben         Structures and Dynamics
und keine Zeit hatten sich unbezahlte Prak-
tika zu leisten oder auf Tagungen und Vor-        Adham Hamed/Juliana Krohn
trägen erste Netzwerke zu knüpfen? Wenn
sie kein Stipendium hatten, weil sie nicht        Various forms of power abuse and ethical mi-
wussten, dass es Stipendien gibt oder ihre        sconduct appear in hierarchically organized
Noten unter ihren Nebenjobs litten, und sie       institutions across society. Thus, vulnerability
nur in Teilzeit studieren konnten? Stipendien     is often already inscribed into those sub-
werden größtenteils an Student*innen privi-       jects with the least power in their respective
legiert-situierter Haushalte vergeben. Wieder     institutional frame. Those most vulnerable
und wieder in Reihungen von den zahlreichen       are most likely to be subject to what pea-
Stipendien, Vorträgen, Veröffentlichungen         ce researcher Johan Galtung described as
und Forschungsprojekten im Rahmen von             cultural, structural and direct violence (Gal-
SHK-Stellen von Vortragenden zu hören führt       tung 1990). Recent journalistic, political and
zu Verletzungen und kann Gefühle von Nicht-       societal debates about ethical misconduct in
Zugehörigkeit oder Scham hervorrufen. Ein         institutions, driven for example by the #Me-
Raum, in dem sich Verletzlichkeiten zeigen,       Too movement, provide examples for that.
jedoch oft nur ephemer sichtbar sind. Diese       Universities as sites of power asymmetries
institutionalisierte und zugleich ritualisierte   and hierarchical structures have increasingly
(Höflichkeits-)Praktik sucht Poverty-Class-       moved into the spotlight of public debate. In
und Working-Class-Wissenschaftler*innen an        this context, universities exemplifying cultu-
ihren „sozialen“ Ort zurückzuweisen, wenn         ral violence can justify or reinforce structu-
sie zu Fragen, ob Tagungen der ‚richtige‘         ral violence which in turn can further direct
Ort für sie sei oder sie überhaupt in Wissen-     violence.
schaftskontexte ‚hingehören‘, führen. Gleich-         While there seems to be a shift in awaren-
zeitig zeigt diese Praktik, dass wissenschaft-    ess in public discourse, there still appears to
liche Konferenzen in ihrer Klassenherkunft        be a considerable rigidity when it comes to
addressing ethical misconduct within institu-     der Vulnerabilität also eine besondere Tiefen-
tions like the university. While these institu-   schärfe für Kritik an verletzenden Verhältnis-
tions may opt for certain measures of orga-       sen und wann droht diese Perspektive selbst
nizational change they often systematically       unscharf zu werden?
shy away from any form of public positioning          In unserem gleichermaßen grundlagen-
towards issues raised. Moreover, universities     theoretischen, wie auch empirischen Beitrag
tend to fail to prevent abuse altogether, react   wollen wir uns an einer Klärung versuchen.
with inadequate responses or try to cover the     Hierzu untersuchen wir am Beispiel konkre-
abuse up – strategies which can be sum-           ter Erfahrungen mit strukturellem Rassismus
marized under the term institutional betrayal     an der Universität, unter welchen Voraus-
(Smith and Freyd 2014). Institutional betrayal    setzungen das Konzept ‚doing vulnerability‘
has far-reaching consequences for those           einen geeigneten Reflexionsrahmen für diese
affected in particular, but also when it comes    Erfahrungen bietet und wann darin die ana-
to addressing, negotiating and responding to      lytisch wichtigen Unterscheidungen zwischen
violence and vulnerability in institutions.       Verletzung und Verletzbarkeit sowie Verletz-
In this contribution we are going to discuss      barkeit und Gewalt verloren gehen.
how universities are both producing and           Verletzbarkeit beschreibt als ‚quasi-anthropo-
reproducing vulnerabilities resulting from        logische‘ Reflexionskategorie (vgl. Burghardt
cultural and epistemic violence and a mo-         et al. 2017) zunächst eine unhintergehbare
dern/colonial system, respectively, from a        Grenze des Menschen, die sich nicht aus
conflict transformation perspective, thereby      kontingenten Zuschreibungen, Handlungen
referring to a set of case studies such as        oder Strukturen, sondern aus der Situation
Harvard University‘s reaction to the Weinstein    ergibt, in der Menschen sich qua ihrer Exis-
case. Addressing these issues also calls for      tenz je bereits vorfinden. Menschen sind
asking whether the above-mentioned forms          verwundbar in ihrer Körperlichkeit, ihrer So-
of violence and ensuing vulnerabilities need      zialität, ihrer Symbolizität, ihrer Geschicht-
to be considered as results of the modern/        lichkeit usw. Aus unserer Sicht ist es wichtig,
colonial university with its inherent epistemic   diese existenzielle Bedeutung des Vulnerabili-
violence, thus demanding visions and options      tätsbegriffs beizubehalten und sie von einem
for transformation like a decolonisation of       durch Gewalt- und Machtverhältnisse ver-
the university (Bhambra, Gebrial, Nişancıoğlu     ursachten, ungleich verteilten Risiko verletzt
2018).                                            zu werden zu unterscheiden. Erst eine Unter-
                                                  suchung der Wechselwirkungen zwischen
Verletzende Gewalt oder gewaltvolle Ver-          den existenziellen und kontingenten Seiten
letzbarkeit? Erfahrungen struktureller Vul-       menschlicher Verwundbarkeit kann einen
nerabilität im institutionellen Rassismus         gehaltvollen Begriff von struktureller Vulnera-
                                                  bilität zutage fördern, der eine Brücke schlägt
Philipp Seitzer/Lea Braitsch                      zwischen der strukturellen Komponente
                                                  menschlicher Vulnerabilität und individuellen
Der Vulnerabilitätsbegriff wird im Zuge seiner    Erfahrungen und Interaktionen. Nachdem wir
vermehrten Thematisierung zuletzt immer           unser Verständnis von struktureller Vulnera-
häufiger in Kontexten aufgegriffen, die bis-      bilität am Beispiel Rassismus mit konkreten
lang unter dem Vorzeichen struktureller           Inhalten gefüllt haben, plädieren wir abschlie-
Gewalt untersucht wurden. Da so die Grenze        ßend dafür, Vulnerabilität nicht als Zielschei-
zwischen Vulnerabilität und Gewalt immer          be, sondern als Ausgangspunkt einer Kritik
fließender wird, ist dringend zu klären, wo       zu nehmen, die nach unserem Dafürhalten
der Vorzug, bzw. der perspektivische Unter-       treffsicherer ist, wenn sie auf Gewaltverhält-
schied einer Untersuchung unter dem Vor-          nisse gerichtet bleibt.
zeichen des Vulnerabilitätsbegriffs liegt. In
welcher Hinsicht ermöglicht der Ausgang von
PANEL 2: BRUCHSTELLEN DER ERFAHRUNG. MOMENTE UND INSZENSIERUNGEN
LEIBLICHER VERLETZBARKEIT

Unmögliches Bezeugen                                lisierte Sphäre der Zeug*innenschaft kritisch
                                                    zu informieren.
Leyla Sophie Gleissner
                                                    Sich die Blöße geben. Zu den Inszenierun-
Das Vortragsprojekt bietet eine kritisch-ethi-      gen von Verwundbarkeit
sche Perspektive auf Zeug*innenschaft,
indem es deren Struktur zu dekonstruieren           Miriam Metze
versucht. So fragt es danach, welche Erwar-
tungen an Zeug*innen gestellt werden und in         Die Fragen rund um Verletzbarkeit bzw. Ver-
welcher Weise diese die Verletzlichkeit der         wundbarkeit sind eng verquickt mit der Frage
Zeug*in potenzieren. Dabei soll deutlich wer-       nach ihrer Inszenierung: Wie verwundbar
den, dass Zeug*innenschaft mit Unmöglich-           darf man sich zeigen, ohne zu riskieren, nicht
keiten operiert: Die Zeug*in soll die Wahrneh-      mehr ernst- oder gar wahrgenommen zu wer-
mung eines vergangenen Erlebnisses durch            den? Wie viel Blöße darf man sich tatsäch-
dessen sprachlichen Ausdruck in der Gegen-          lich geben und in welchem Kontext? Insofern
wart wiederholbar – und somit für sich und          das Sichtbarmachen von Vulnerabilität zu
andere vollständig zugänglich machen. An            Prozessen der Anerkennung führen kann, die
einem solchen Anspruch muss die Zeug*in,            die „hermeneutische Lakune“ (Fricker 2006:
so die Annahme, jedoch notwendiger Weise            97) von Ungerechtigkeit auflösen oder im
scheitern, da er den Funktionsweisen von            Mindesten verschieben können, ist die Frage
Sprache divergent entgegengestellt ist. Es          nach den Inszenierungsmöglichkeiten und
gilt sodann festzustellen, dass die Zeug*in         Dramaturgien von Schmerz eminent politi-
uns gerade in ihrem Scheitern als Umgang            schen Charakters.
mit jener Unmöglichkeit, darin helfen kann,             In diesem Beitrag möchte ich im Ausgang
über Sprache zu reflektieren. So ruft sie uns       vom Handlungsraum des/der Einzelnen die
dazu auf, neue Weise des Zuhörens zu er-            Frage aufwerfen, was es bedeutet, sich die
lernen, die abgebrochene Rede und Nicht-Li-         Blöße zu geben, d.h. sich selbst und anderen
nearität zu berücksichtigen wissen.                 gegenüber in seiner Verletzbarkeit erfahrbar-
     In Replik auf dekonstruktivistische und fe-    bar zu machen – und damit einen Beitrag zu
ministische Theoriezugänge werde ich jenem          leisten für eine Kultur, die Geöffnetsein als
Aufruf folgen und vorschlagen, dass das, was        Grundvollzug und als Bedingung der Mög-
sich in den Erwartungen an die Zeugin ab-           lichkeit von Leben als solchem anerkennt.
zeichnet: a) ein expressives und deskriptives       Hierzu ziehe ich Hannah Arendt zu Rate: Mit
Verständnis von Sprache ist, welches b) die         Arendt lässt sich der Akt des Sich-die-Blö-
Vulnerabilität der Zeug*in verschärft. So soll      ße-Gebens als Handlung und damit als je
sich c) zeigen, dass Zeug*innenschaft dazu          neuer Anfang verstehen. Zugleich ist dieser
in der Lage ist, ein solches herrschendes           neue Anfang ausschließlich denkbar vor dem
Verständnis von Sprache zugunsten eines             Hintergrund, dass das Subjekt hier schon
responsiven Sprachverständnisses zu kor-            je ent-setzt, verwiesen ist auf die Anderen,
rigieren, wenn wir es wagen, der Zeug*in in         sodass ein Rückgriff auf dasselbe als eines
ihrer Adressierung an uns bedingungslos zu          fundamentum inconcussum völlig delegiti-
glauben. Letzteres geschieht dabei nicht aus        miert ist.
einer juristischen Pflicht heraus, sondern aus          Mit dem Handlungsbegriff verbindet sich
einer ethischen. Abschließend soll d) deutlich      für Arendt eine eminent politische Relektüre
werden, dass der hier skizzierte ethische An-       der Blöße von Jesus (vgl. Arendt in „Freiheit
satz es längerfristig anstrebt, die institutiona-   und Politik“), in dessen Blöße die Aporien von
(1) Handeln, (2) Subjektivität und (3) Wahrheit   in meinem Vortrag nicht nur darum gehen,
deutlich zutage treten: (1) In dem Aufzeigen      (1) die Haut entlang phänomenologischer
der eigenen Blöße geht die Handlung ineins        Lektüren als Schauplatz der Erfahrung be-
mit der Bedingung der Möglichkeit allen Han-      greiflich zu machen, die zwischen Selbst und
delns selbst. (2) Das Subjekt findet sich darin   Welt, Intimität und Exteriorität vermittelt ist,
mit seiner eigenen Ent-Setzung konfrontiert,      sondern ebenfalls auf das (2) Phänomen der
sofern die Blöße und der Schmerz nicht dem        Berührung zu sprechen zu kommen und mit
Subjekt verfügbar sind. (3) Der Unmitteilbar-     Sara Ahmed zu erläutern, inwiefern wir für die
keit des Schmerzes anderen gegenüber ent-         Eindrücke der Anderen über die Haut als Ver-
spricht die Unersetzbarkeit des Zeugen, der       letzliche offenstehen. Dabei liegt mir daran,
Zeugin, der/die zur Performanz der Wahrheit       auch auf solche Erfahrungen des Schmerzes
berufen wird (martyr). Insofern provoziert die    zu verweisen, die interkorporell – im Augen-
Reflexion auf die Blöße eine „Alethurgie“ (vgl.   blick des Kontakts – greifbar werden. Aus-
Foucault 2020: 227) im Sinne der Engführung       blickend möchte ich mit Elsa Dorlin fragen, (3)
von Wort und Tat, Gedanken und Leben.             wie gerade solche Handlungsspielräume, die
                                                  aufgrund (verletzender) Zuschreibungen und
Unter die Haut gehen, Aus der Haut fah-           stigmatisierende Blicke, die auf die Haut ein-
ren. Phänomenologische Lektüren von               wirken, verengt sind, verteidigt werden kön-
Verletzbarkeit                                    nen. Dieser Vortrag versteht sich letztlich als
                                                  Versuch, die Haut als unmittelbaren Bezugs-
Michaela Bstieler                                 punkt des Politischen auszuweisen, mithin
                                                  als Ort, an dem Ungleichheiten aufscheinen,
Erfahrungen der Verletzbarkeit scheinen von       sich manifestieren und materialisieren.
Anfang an über die Haut vermittelt zu sein.
Ob in Form von Tätowierungen oder Brand-
zeichen, Wunden oder Verbrennungen, Ge-
rüchen oder Unreinheiten, Stigmatisierungen,
Inszenierungen und Zuschreibungen: Die
Haut ist dasjenige fragile Organ, das vor Ge-
walt nicht schützen kann. In diesem Vortrag
möchte ich weder ein Verständnis von Haut
sichtbar machen, das allein auf die Haut als
Oberfläche rekurriert, „auf der alles außen
ist, auf den ersten Blick sichtbar“ (Groebner
2004, 70). Ebenso wenig möchte ich einer
Idee der Haut das Wort reden, das sich aus-
schließlich den Tiefen und Schichten – der
psychischen Innerlichkeit – verschrieben
fühlt. Vielmehr wird es mir darum gehen, die
Haut als diejenige Grenze zu instituieren, die
sich in der Verschränktheit von Innen und
Außen als Aufbewahrungsort von Subjektivi-
tät exponiert.
    Vor dem Hintergrund dieser Überlegun-
gen lautet meine These, dass sich die Haut
als Institution verstehen lässt, die zwischen
Welt, Leib und Selbst vermittelt ist und in
diesem Geflecht auch (politische) Subjekte
sowie Kollektive produziert. Um diese Über-
legungen verständlich zu machen wird es mir
PANEL 3: SORGEBEZIEHUNGEN. AMBIVALENZEN UND POLITIKEN VON SCHUTZ-
BEDÜRFTIGKEIT

Wie deuten Erwachsenenschutzbehörden            oder auf die ordentliche Abwicklung von Ge-
Schutzbedürftigkeit?                            schäften. In solchen Fällen machen Personen
                                                aus der Bevölkerung mittels sogenannter
Anic Sophie Davatz/Lukas Neuhaus/Roland         Gefährdungsmeldungen die Behörden auf
Becker-Lenz                                     andere aufmerksam, die diese Ordnungs-
                                                vorstellungen tangieren oder der Grund für
In unserem Beitrag möchten wir der Frage        die Sicherheitsbedenken sind. Wir möchten
nachgehen, welche Deutungen von Verletz-        anhand von exemplarisch ausgewählten Fäl-
barkeit, Schwäche und Schutzbedürftigkeit       len der Frage nachgehen, wie die Behörden
die Erwachsenenschutzbehörden in der            auf diese Meldungen reagieren und welche
Schweiz bei der Bearbeitung von Gefähr-         Deutungen von Schutzbedürftigkeit und
dungslagen vornehmen und wie sich diese         Verletzbarkeit im Zuge der Fallbearbeitung re-
Praxis im Laufe der Zeit verändert hat. Im      konstruierbar sind. Wir vergleichen dabei die
Hinblick auf die leitende Fragestellung der     Fallbearbeitung der heutigen Zeit mit Fällen
Konferenz lässt sich feststellen, dass die      von Vormundschaftsbehörden aus den frühe-
gesetzliche Programmierung des Erwachse-        ren Zeitabschnitten. Dabei treten Unterschie-
nenschutzes in der Schweiz von der Schutz-      de in Bezug auf moralische Kriterien zutage.
bedürftigkeit bzw. von einem „Schwäche-
zustand“ (Art. 390 ZGB) ausgeht, von dem        He doesn‘t care: Unterhaltskonflikte jun-
einzelne Individuen betroffen sein können und   ger Volljähriger gegen den Vater
der durch behördliche Massnahmen ermittelt
und behoben werden soll. In der Praxis muss     Felix Gaillinger
dieser Schwächezustand mittels Deutungs-
mustern objektiviert werden, damit er be-       Junge Volljährige im Unterhaltsstreit gegen
hördlich bearbeitet werden kann.                ihre Väter sind Subjekte am Rande und
    Zur empirischen Klärung der Frage ziehen    außerhalb des Diskurses. Sie sind nicht mehr
wir Datenmaterial und Analyseergebnisse         minderjährig und damit nicht mehr in jenen
eines laufenden Forschungsprojektes zu          Studien und Statistiken mitgedacht, die sich
Praktiken der Erhaltung und Förderung von       aus einer lebensweltlichen Perspektive mit
Selbstbestimmung im Erwachsenenschutz           dem Alltag Alleinerziehender und ihrer Kinder
heran. Das Projekt wird im Rahmen des vom       beschäftigen (vgl. Jochim 2020; vgl. Lenze
Schweizerischen Nationalfonds finanzier-        / Funke 2016; vgl. Heiliger / Wischnewski
ten Forschungsprogramms „Fürsorge und           2003; vgl. Andreß / Borgloh / Güllner / Wilking
Zwang“ durchgeführt. Das Datenmaterial des      2003). Gleichzeitig durchlaufen sie ein pre-
Projektes besteht aus Fallakten von Erwach-     käres Ausbildungsverhältnis und sind noch
senenschutzbehörden aus drei Kantonen           nicht finanziell selbstständig.
der Deutschschweiz und drei Zeitperioden            Aus der Akteur*innenperspektive junger
(1960er Jahre, 1980er Jahre und heutige         Volljähriger kann dieses Dilemma nur durch
Zeit). Im Datenmaterial ist etwa festzustel-    das Erringen der (mit der Volljährigkeit) ver-
len, dass – neben dem häufigsten Fall, dass     weigerten Ressource Unterhalt aufgelöst
eine Person ihre Angelegenheiten nicht mehr     werden. Gleichsam sehen sie sich mit dem
selber zu besorgen vermag – sich Dritte an      Rückzug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen
die Behörden wenden, weil sie gewisse Ord-      konfrontiert: Mit dem 18. Geburtstag fällt
nungsvorstellungen tangiert sehen. Dies kann    das Recht auf Unterhaltsvorschuss weg –
sich auf die Hausordnung in einem Mietshaus     eine Kompensationsleistung, sollte sich ein
beziehen, auf eine sittliche Lebensführung      Elternteil weigern, den Unterhalt zu zahlen
– ebenso wie die rechtsvertretende Beistand-      Terminus obstetric violence, „Gewalt in der
schaft durch das Jugendamt. Die 19-jährige        Geburtshilfe“, der im Kontext zunächst der
Studentin Chiara spricht von einem Bruch          lateinamerikanischen, dann global werden-
zwischen ihrer Alltäglichkeit und den gesetz-     den Kämpfe von Frauen*bewegungen, Nicht-
lichen Neuregelungen: „Eigentlich ändert sich     Regierungsorganisationen sowie anderen
ja nichts außer der Zahl im Ausweis. Weil ich     Akteuren für Menschenrechte in der Geburts-
meine, am Tag davor habe ich genauso ge-          hilfe entstanden ist.
lebt wie am Tag danach. Und auf einmal wirst          In mehreren lateinamerikanischen Staa-
du mit so einer Verantwortung in gewisser         ten bzw. Regionen (Venezuela, Argentinien,
Weise einfach stehengelassen.“                    Bolivien, Panama, Mexico City) ist der Be-
    Durch die aktivierende und anerkennungs-      griff obstetric violence inzwischen mit einer
ökonomische Rekonfiguration sozialstaat-          eigenen Rechtsnorm verbunden. Gemeinsam
licher Regelungen (vgl. Lessenich 2008; vgl.      ist ihnen, dass Gewalt in der Geburtshilfe
Lessenich 2009) – denn mit ihrer Volljährigkeit   verstanden wird als eine Verbindung von
müssen die Kinder nun selbst den Unterhalt        geschlechtsspezifischer Gewalt auf der einen
einstreiten und sich als bedürftig und die Vä-    Seite, Missbrauch und Gewalt im Bereich des
ter als leistungsfähig demaskieren – entsteht     Gesundheitssystems auf der anderen Sei-
ein spezifischer Modus von Vulnerabilität.        te. In Deutschland werden auf der Plattform
Basierend auf den Ergebnissen meiner              der Roses Revolution seit 2013 Berichte von
ethnographischen Masterarbeitsforschung           Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburts-
werde ich auf die ambivalente Rolle einge-        hilfe dokumentiert und haben seither ein
hen, die das Jugendamt in diesen Konflikten       immer größer werdendes Echo in Medien,
spielt. Anhand eines empirischen Fallbei-         bei geburtshilflichen Professionen und in der
spiels, in das neben Interviews auch die          Wissenschaft erzeugt. Ausgehend von diesen
Analyse persönlicher Briefe eingeflossen ist,     Kämpfen haben inzwischen die Weltgesund-
zeige ich auf, wie das Jugendamt selbst zum       heitsorganisation (WHO), die Generalver-
Teil von Taktiken und Strategien im Unter-        sammlung der Vereinten Nationen und der
haltsstreit wird und dabei zwar den Charak-       Europarat die Verhütung und Bekämpfung
ter der rechtsvertretenden Beistandschaft         von Gewalt in der Geburtshilfe auf ihre Agen-
verliert, aber dennoch einen fundamentalen        da gesetzt.
Einfluss auf die Transferbeziehung zwischen           Der vorgeschlagene Beitrag führt zu-
jungen Volljährigen und ihren Vätern nehmen       nächst grundlegend in den Gegenstand ein
kann.                                             (Gewalt und Vulnerabilität im Kontext ge-
                                                  burtshilflicher Einrichtungen, professionelle
Gewalt in der Geburtshilfe - (globale)            Handlungs- und Deutungsmuster, Erfahrun-
Kämpfe, Aneignungen und Aushand-                  gen von Gewalt, Formen kollektiven Aktivis-
lungen von Vulnerabilität und Gewalt im           mus) und diskutiert sodann die mehrdimen-
Kontext Geburt                                    sionalen Bewegungen in der politischen
                                                  Aneignung und Aushandlung von Gewalt in
Tina Jung                                         der Geburtshilfe zwischen (inter-)personalen
                                                  und gesellschaftlichen Transformationsbe-
„Gewalt in der Geburtshilfe“ ist als Phänomen     strebungen. Referenzpunkt ist dabei u.a. das
und Topos erst seit vergleichsweise kurzer        von mir geleitete und vom Hessischen Minis-
Zeit in der öffentlichen Aufmerksamkeit. In       terium für Wissenschaft und Kunst geförderte
der internationalen Debatte sind unterschied-     Forschungsprojekt „Gewalt gegen Frauen
liche Begriffe teils synonym, teils mit unter-    während der Geburt in geburtshilflichen Ein-
schiedlichen Deutungsweisen gebräuchlich,         richtungen“, aus dem Teilergebnisse vorge-
darunter obstetric violence, disrespect &         stellt werden.
abuse sowie mistreatement. Ich beziehe
mich begrifflich und konzeptionell auf den
PANEL 4: KONTROLLE, MACHT UND VERLETZBARKEIT IM KONTEXT VON
RECHTSRÄUMEN UND STAATLICHEN GEWALTAKTEUR*INNEN

Anrufe bei der Stasi: Zur gegenseitigen            bis zum troublemaker wandeln kann. Viel-
Übertragung der Verletzbarkeit im ge-              mehr kommt es zu gewissen gegenseitigen
heimdienstlichen Kontext                           Übertragungen der Verletzbarkeiten. Diese
                                                   Übertragbarkeit scheint ein konstitutives
Olga Galanova                                      Merkmal des Aushandelns der Verletzbarkeit
                                                   zu sein.
Der bewegliche und ambivalente Verletzbar-
keitsbegriff in Ihrem Tagungskonzept ist für       Policing Race and Space - Anrufungen der
mein DFG-Projekt insofern produktiv und            Polizei, Aushandlungen zwischen Polizei
inspirierend, als es ermöglicht, feinere soziale   und Jugendhilfe und Antworten der Ju-
Bedeutungen und Beziehungsdimensionen              gendhilfe auf Polizeipraktiken, die junge
der Vulnerabilität in einer kontextspezifischen    Menschen verletzbar machen
institutionellen Kommunikation zu erfassen
und eine normative Vorstellung über starren        Zoe Clark/Fabian Fritz
Machtasymmetrien in Frage zu stellen.
Dies wird in meinem interdisziplinären Vortrag     Die Polizei ist im Zuge ihres Fokus auf Krimi-
am Beispiel des ehemaligen Geheimdienstes          nalitätsprävention zu einer politischen Ak-
der DDR herausgearbeitet. Im Mittelpunkt           teurin geworden, die den öffentlichen Raum
stehen telefonische Anrufe der DDR-Bürger-         mitgestaltet. Besonders im urbanen Raum
Innen beim Ministerium der Staatssicherheit        geschieht dies über die Definition sog. ge-
zu verschiedenen persönlichen Anliegen. Die        fährlicher Orte, durch die sich die Polizei
BürgerInnen wählen eine öffentlich zugängige       deutlich erweiterte Handlungsspielräume
Telefonnummer und werden mit dem Offizier          verschafft, wie etwa verdachtsunabhängi-
vom Dienst verbunden, um eigene Probleme,          ge Kontrollen. Diese Form der zonierenden
Unsicherheiten, aber auch Denunziationen           Kontrollordnung des öffentlichen Raums lässt
und Beschwerden mitzuteilen. Diese Anru-           sich auch als Teil der Gestaltung nationaler
fe stellen ein spannendes Datenmaterial zu         Grenzregime verstehen, bei der insbesondere
Ambivalenzen und Asymmetrien in der Her-           junge Menschen mit Fluchthintergrund von
stellung sozialer Verletzbarkeit. Die zentrale     verstärkten Polizeikontrollen betroffen sind.
Forschungsfrage lautet: Wie wird die Verletz-      Sind junge Menschen mit Flucht- bzw. Migra-
barkeit eines gescheiterten Geheimdienstes         tionsgeschichte von den Praktiken des Racial
in und durch diese telefonische Anrufe sicht-      und Spacial Profilings betroffen, verlagern
bar?                                               sich die äußeren Grenzen des Nationalstaa-
    Über eine Beschreibung historisch- und         tes ins Landesinnere. Die Kontrollpraktiken
kontextspezifischer Produktionsformen und          des Grenzregimes werden zu einer alltägli-
Dimensionen der Verletzbarkeit auf der the-        chen Erfahrung.
matischen Oberfläche der erfassten Gesprä-            In der qualitativen Studie „Polizei als
che hinausgehend, lassen sich jedoch auch          Partnerin der Heimerziehung?“ zeigt sich,
die Prozesse dynamischer Beziehungskonsti-         dass die polizeiliche Regulation des urba-
tuierung zwischen den Anrufenden und dem           nen Raums nicht auf formal so klassifizierte,
Offizier vom Dienst während der Problemaus-        öffentliche Orte beschränkt bleibt, sondern
handlung mithilfe einer detaillierten konver-      auch die nahräumlichen Lebensräume der
sationsanalytischen Beschreibung rekonstru-        jungen Menschen im Sinne von Risikoorten
ieren. Es wird nämlich nicht nur sichtbar, wie     poliziert werden. Auch die Einrichtungen
die Kategorisierung von der Stasi während          der Kinder- und Jugendhilfe werden von der
des Gesprächs vom Helfer und Beschützer            Polizei umklassifiziert und als Orte mit beson-
deren Gefährdungspotentials kategorisiert,
was zu verstärkter Repression und folglich zu
einer verstärkten Verletzbarkeit der Bewoh-
ner:innen dieser Orte führt. Die Kinder- und
Jugendhilfe, die für diese jungen Menschen
zuständig ist, versucht eine Antwort auf dis-
kriminierende Polizeipraktiken und die damit
einhergehende Vulnerabilität ihrer Adres-
sat:innen zu finden. Es finden sich Versuche
der Ermächtigung der Adressat:innen, Versu-
che sie aktiv zu schützen sowie unmittelbare
Aushandlungen zwischen Jugendhilfe und
Polizei, die Kämpfe um Deutungshoheiten
über öffentliche, urbane Räume beinhalten.
Diese Aushandlungsprozesse zwischen
Jugendhilfe und Polizei, die sowohl Elemen-
te von Widerständigkeit gegen polizeiliche
Repression als auch der Reproduktion von
Polizeilogiken durch die Jugendhilfe enthalten
können sowie die daraus resultierende Ver-
letzbarkeit der betroffenen jungen Menschen
sind Gegenstände dieses Beitrages.
PANEL 5: KONSTRUKTIONEN UND DISKURSE WEIBLICHER VERLETZBARKEIT AM
BEISPIEL VON FLUCHT UND ERZWUNGENER MOBILITÄT

Das Motiv der Verletzbarkeit „geflüchteter         Frauen als auch seitens der beteiligten ‚Fach-
Frauen“ im Feld der Sozialen Arbeit „mit           kräfte‘. Die Promotion ist Teil eines von der
Geflüchteten“                                      DFG geförderten Projekts zum Thema „Sub-
                                                   jektivierung und Selbst-Bildung ‚geflüchteter
Beatrice Odierna                                   junger Frauen‘“ am Institut für Ethnologie der
                                                   LMU München.
Seit dem „lange(n) Sommer der Migration
2015“ (Hess et al. 2017:6), als viele - auch in    Die Wegnehmbarkeit von Kindern im Be-
diesem Feld bislang nur wenig erfahrene -          gegnungsverhältnis alleinerziehender ge-
soziale Träger begannen, sich in der Arbeit        flüchteter Frauen mit den Jugendämtern
‚mit‘ bzw. ‚für geflüchtete Menschen‘ zu en-       als historische Verletzbarkeit
gagieren, hat sich das Feld der Fluchtsozial-
arbeit in bislang ungekanntem Maß als eine         Lea Ulmer
mächtige gesellschaftliche Institution etabliert
und wurde zu einem wichtigen Schauplatz            Der Vortrag basiert auf meiner Masterarbeit,
der Konstruktion des ‚Fremden‘. Während            die sich mit der Institution Jugendamt
geschlechtsstereotype Darstellungen ‚Ge-           auseinandersetzt. Mein Nachdenken beginnt
flüchteter‘ in der öffentlichen Berichterstat-     bei einem angezeigten Handlungsbedarf
tung bereits ausgiebig untersucht wurden           aktivistischer Gruppen von Refugees. Diese
(z.B. Messerschmidt 2016, Dietze 2016), gibt       weisen auf eine problematische Praxis der
es bislang nur wenige Studien, die sich aus        Jugendämter hinsichtlich alleinerziehender
ethnologisch-ethnographischer Perspektive          geflüchteter Frauen hin: Die Jugendhilfe
mit der Thematik geschlechtsbezogener Ver-         verschlechtere in vielen Fällen die Lebenssi-
Anderung im Alltag der Sozialen Arbeit ‚mit        tuation dieser Frauen, setze unerwünschte
Geflüchteten‘ in Deutschland befassen.             Eingriffe in das Familienleben durch und er-
    Ausgangspunkt meines Vortrags bildet die       zeuge Angst und Stress.
Frage, wie das Motiv der Verletzbarkeit ‚ge-           Mit dem Ziel einer parteiischen wissen-
flüchteter Frauen‘ in diesem ‚Feld‘ verhandelt     schaftlichen Bestandsaufnahme habe ich
und innerhalb der alltäglichen institutionellen    mir die Institution Jugendamt anhand unter-
Praxis der Fluchtsozialarbeit hergestellt und      schiedlicher Perspektiven auf deren Jugend-
reproduziert wird. Anhand von Beispielen aus       hilfe- und Inobhutnahmepraxis angeschaut
meiner noch laufenden Promotionsforschung          und dabei sowohl die Verschränkung der ins-
möchte ich herausarbeiten, wie unterschied-        titutionellen Wirkungsbereiche von Asyl- und
liche Anrufungen der Verletzbarkeit bezie-         Aufenthaltsgesetz und dem Sozialrecht ins
hungsweise damit verknüpfte Forderungen            Auge genommen, als auch wirksame inter-
nach einer Erweiterung der Handlungsmacht          sektionale Dominanzverhältnisse untersucht.
‚geflüchteter Frauen‘ in der Konzeption und        Die Analyse unterschiedlicher Interviewbeiträ-
Durchführung von ‚Angeboten‘, Förderpro-           ge hat dazu geführt, dass ich den Begriff der
grammen und Maßnahmen im Kontext der               Wegnehmbarkeit von Kindern entwickelt
Sozialen Arbeit ‚mit Geflüchteten‘ wirksam         habe, mit dem sich das von den solidari-
werden. Einen Schwerpunkt des Vortrags             schen Gruppen aufgezeigte Problem kon-
bildet dabei die Betrachtung der Aushand-          kreter benennen und mehrdimensional
lung von und Auseinandersetzung mit omni-          darstellen lässt: Erstens kann er das Do-
präsenten Bildern der ‚marginalisierten und        minanzverhältnis im Begegnungsverhältnis
verletzlichen geflüchteten Frau‘ sowohl sei-       zwischen den Jugendämtern und alleinerzie-
tens der auf diese Art und Weise adressierten      henden geflüchteten Frauen aufzeigen. Er er-
laubt die Frage, durch welche Praktiken und
Narrative das Kinder-wegnehmen-Können
und damit eine spezifische Verletzbarkeit her-
gestellt wird: „Mutterschaft wird im Begeg-
nungsverhältnis zu einer Vulnerabilität allein-
erziehender geflüchteter Frauen: Sie sind als
Mütter durch die Wegnehmbarkeit spezifisch
verletzbar. Dies zeigt sich zum Beispiel darin,
dass die Fürsorgepraxis wiederholt gefähr-
liche acts of mothering verursacht. Ein
besonders schwerwiegendes Beispiel hierfür
ist die Flucht aus Deutschland aus Angst vor
Kindesentzug, aber auch das Meiden mög-
licherweise notwendiger Unterstützungsan-
gebote“ (Ulmer 2021: 93).
    Zweitens kann der Begriff darüber hinaus
ein gesellschaftliches Verhältnis bezeichnen.
Wegnehmbarkeit verweist auf eine wirkmäch-
tige Potentialität von Verletzbarkeit, die
historisch aus der vergeschlechtlichten, klas-
senbasierten Unterdrückung rassifizierter
Frauen* gewachsen ist, sich mit der Unter-
scheidung durch ‚Aufenthaltsstatus‘ ver-
schränkt und die Kriminalisierung ihrer
Mutterschaft zur Folge hat.
    Der Fokus meines Vortrags liegt auf dem
Aushandeln der Formation von Wegnehmbar-
keit. Denn sie stößt laufend auf Widerstände,
wird infragegestellt und problematisiert. Da-
durch treten konkrete Problemdimensionen
zu Tage, die als Ansatzpunkte für Perspekti-
ven reproduktiver Gerechtigkeit verstanden
werden können.
PANEL 6: (AN-)ORDNUNGEN IN DER KRISE: PERSPEKTIVEN AUF DIE UNGLEICHE
VERTEILUNG VON VERLETZBARKEIT UND BETROFFENHEIT

Kritik der Katastrophe? Ungleiche Verletz-       logische Funktion eines Herrschaftsdiskurses
barkeit im Anthropozän                           offenbaren, dem eine „Kritik der katastrophi-
                                                 schen Äquivalenz“ (Nancy 2013, 59) gegen-
Ralf Gisinger                                    überzustellen ist.

In seiner Studie zur „Risikogesellschaft“        Vulnerabilitäten in Krisenzeiten neu den-
bringt der Soziologe Ulrich Beck seine The-      ken: Projekt Cov_enable: Re-Imagining
se des Verschwindens der Klassengesell-          Vulnerabilities in Times of Crisis
schaft zugunsten einer Gleichverteilung von
„Risiken“ auf die prägnante Formel: „Not ist     Oliver König/Michelle Proyer/Susanne Prum-
hierarchisch, Smog ist demokratisch.“ (Beck      mer
1986, 48) Auf ähnliche Weise argumentiert
Dipesh Chakrabarty in „Climate of History“ in    Dieser Beitrag setzt sich basierend auf ersten
Bezug auf das neue geologische Zeitalter des     Ergebnissen des im Mai 2021 gestarteten
so genannten „Anthropozäns“: anders als bei      FWF-Projektes „Cov_enable“ mit der Frage
den Krisen des Kapitalismus gebe es in den       nach Vulnerabilität und Menschen mit Be-
durch Klimaerwärmung induzierten Krisen          hinderungen in der COVID-19 Pandemie
keine „Rettungsboote für die Reichen und         auseinander. Vulnerabilität vereint laut Gorur
Privilegierten“ (Chakrabarty 2009, 221).         (2015, 3) zwei Blickwinkel: Jene auf individu-
Gerade in Bezug auf katastrophische Ereig-       elle Attribute und jene auf sozio-politisch und
nisse der „Natur“ wie etwa die Klimakrise und    historisch geformte Aspekte. In der Pande-
andere ökologische Verwerfungen (aber auch       mie wird schnell deutlich, dass politisch und
in der SARS-CoV-2-Pandemie) tauchen Ar-          medial auf individuelle Anteile fokussiert und
gumentationsfiguren auf, die eine Äquivalenz     Vulnerabilität weitgehend auf medizinische
von Betroffenheit oder Verwundbarkeit insi-      Aspekte – wie Vorerkrankungen – reduziert
nuieren. Eine solche scheinbare Egalität (im     wird (Abrams & Abbott 2020).
Angesicht der Klimakatastrophe, des Virus            Als Teil der Evaluation des Nationalen Ak-
etc.) manifestiert sich beispielsweise schon     tionsplan Behinderung – der österreichischen
im Begriff des „Anthropozäns“, der sowohl        Handlungsstrategie zur Umsetzung der UN-
Ursachen als auch verschiedenartige Vulne-       Behindertenrechtskonvention – wurde in der
rabilität in einem homogenisierten, universa-    ersten Phase der Pandemie eine Erhebung zu
lisierten sowie unifizierten Konzept von „der“   den Auswirkungen auf Menschen mit Behin-
Menschheit [anthropos] verschleiert (Haraway     derungen durchgeführt. Besonders besorg-
2016; Moore 2017).                               niserregende Bereiche waren dabei inklusive
    In meinem Beitrag will ich ausgehend von     Schule und unterstütztes Wohnen. Beide
solchen Diagnosen einigen Fragen des Zu-         Bereiche konnten in der Evaluation als solche
sammenhangs von Katastrophe und Zeitlich-        markiert werden, wo auch vor der Pandemie
keit mithilfe von Walter Benjamin nachgehen,     hoher Handlungsbedarf bestand (vgl. Biewer
inwiefern Logiken der (Natur)Katastrophe         et al. 2020). In der Pandemie treffen individu-
Spuren eines gewendeten Messianismus             elle Aspekte der Vulnerabilität mit solchen,
oder einer Katharsis innewohnen, die sich        die durch eine öffentliche Adressierung und
(wie etwa bei Beck) in Fiktionen einer allum-    politische Strategieführung erzeugt werden,
fassenden und differenzlosen Verletztbarkeit     sowie mit Formen der Vulnerabilität, die den
zeitigen. Meine These ist, dass sich Verweise    Institutionen (Schule und Wohnen) inhärent
auf die scheinbare Gleichverteilung im Ange-     sind – und sich in Zeiten der Pandemie weiter
sicht globaler Katastrophen/Krisen als ideo-     verstärkt haben – zusammen.
Im Rahmen dieses Beitrages werden Auswir-        muss – und zwar vermeintlich im Namen und
kungen auf die Situation von Menschen mit        gegenüber aller Anderen. Recht wird immer
Behinderungen – einschließlich deren Blick-      gesprochen im Namen von anderen, z.B. „im
winkel – in den Fokus genommen. Es sollen        Namen des Volkes“. Recht zeigt sich darin als
normative Konzepte und diskursive Konzep-        Anordnung der Stellvertretung, die zu ihrer
tionen von Vulnerabilität hinterfragt werden,    eigenen Legitimation bzw. Rechtfertigung auf
die in politischer Kommunikation und Maß-        Institutionen und Narrative des Hörens und
nahmensetzung eingebettet sind. Im Fokus         Gehört-werdens angewiesen ist. Dabei treten
des Projektes steht ein partizipativer Zugang    z.B. das Recht auf Gehör vor Gericht oder die
entlang der Fragen, wie Vulnerabilität von als   verwaltungsrechtliche Anhörung bei Verwal-
vulnerabel eingestuften Menschen erlebt wird     tungsentscheidungen jeweils im Zusammen-
und wie diese Zuschreibungen sich auf deren      hang mit gewaltvollen Praxen auf und sollen
Leben auswirken. Diesen Fragen werden            diese erträglicher oder irgendwie gerechter
sowohl durch die Analyse von Medien und          machen können – so meine Beobachtung.
Policies als auch anhand von durch betrof-          Inwiefern kann in rechtlichen Institutio-
fene Personen gestaltete Videotagebüchern        nen dieses Versprechen wirklich eingelöst
nachgegangen. Erste Ergebnisse aus Fokus-        werden? Und: Sind rechtliche Institutionen
gruppen und einer Pilotphase der partizipati-    denkbar, die ein alteritätsethisch gerechteres
ven Datenerhebung sollen in diesem Beitrag       Hören und Gehörtwerden befördern könnten,
präsentiert und diskutiert werden.               anstatt es zu behindern? – In meinem Vortrag
                                                 möchte ich einige dieser rechtstheoretischen
Rechtliche Anordnung der Stellvertretung         Überlegungen aus meinem Forschungspro-
und Verletzbarkeit als conditio humana           zess teilen und zum gemeinsamen Nachden-
des Rechts                                       ken über (nicht-)rechtliche Räume einladen,
                                                 die eine gerechte(re) Distribution von Auf-
Anna Menzel                                      merksamkeit ermöglichen könnten.

Anknüpfend an mein Dissertationsprojekt
fasse ich Recht als sozial bedingtes Phäno-
men auf, dessen conditio humana radikale
Interdependenz ist. Durch den alteritätsethi-
schen Zugang wird Recht als Anordnung der
Stellvertretung verständlich, die von Anfang
an durch den Anruf der bzw. des Anderen
bedingt ist (Lévinas, Butler).
    Der vielstimmige Anspruch der Anderen
konstituiert das menschliche Subjekt als
responsives Subjekt. Das Subjekt wird vom
modernen staatlichen Recht aber weitgehend
nicht als verletzliches und relational beding-
tes Subjekt gefasst, sondern orientiert sich
am Phantasma eines souveränen und auto-
nomen Subjekts und prägt somit das herr-
schende Vorverständnis von Subjektivität im
Recht.
    Die Spannungslage, die sich daraus er-
gibt, zeigt sich vor allem in den Gründungs-
mythen des modernen staatlichen Rechts.
Hier wird Recht als eine Ordnungsmacht
inszeniert, in der stets geantwortet werden
PANEL 7: PRAKTIKEN DES EIN- UNS AUSSCHLIESSENS. DYNAMIKEN, POTENTIA-
LE UND UMDEUTUNGEN DES PREKÄR-SEINS

Welche Körper werden geschützt? Ver-             seiner radikalsten Konsequenz: der Entmen-
letzbarkeit im Spannungsverhältnis von           schung. Améry rückt hierbei den Anderen
strukturellem Ausschluss und individuel-         – den Gegenmenschen – in den Fokus. Ihn
lem Widerstandspotential                         braucht es jedes Mal aufs Neue, damit der
                                                 Entindividualisierungsprozess durch Folter
Magdalene Hengst                                 und Misshandlung gegenüber einer einzelnen
                                                 Person und damit letztlich auch einer ganzen
Die Frage danach, wer verletzt werden kann,      Gruppe überhaupt vonstattengehen kann.
hat immer auch damit zu tun, nach welchen        Améry schafft es durch seine Analyse, Ver-
Spaltungslinien in einer Gesellschaft Aus-       antwortlichkeiten zuzuweisen sowie Wider-
schlüsse produziert werden. Menschenrech-        standspotenzial des Einzelnen zu entwickeln.
te, die von Staaten aus dem globalen Norden      So bietet sich eine Perspektive, ihn als das
als universell proklamiert werden, gelten mit-   phänomenologische Fundament
nichten für alle Menschen und Körper werden      Agambens struktureller Ausrichtung zu lesen
nicht gleichermaßen geschützt. Sich auf ein      und ist somit unerlässlich für eine Suche
Recht mit dem Wissen berufen zu können,          nach differenzierten Lösungsansätzen für
dass bei seinem Bruch Hilfe zu erwarten ist,     heutige Verletzungs- und Ausschlussprakti-
stellt ein privilegiertes Gut dar. Doch nach     ken.
welchen Logiken funktionieren Ausschlüsse,
durch die Menschen in zwei verschiedene          Schulische Verletzbarkeiten überwinden:
Gruppen unterteilt werden: In jene Gruppe        Sprachspiele und Widerständigkeiten
von Menschen, die Hilfe bekommen werden,
sollten sie in einem Boot sitzen und in Seenot   Hendrik Richter/Josefine Wagner
geraten sowie die andere Gruppe von Men-
schen, die staatliche Küstenwachen ertrinken     Schule stellt für Butler (2014) eine Institu-
lassen?                                          tion dar, die als Ort nicht nur für kindliche
    Der Rechtsphilosoph Giorgio Agamben          Subjektivierungen eine bedeutsame Rolle
findet für den Zustand von Personen, die         spielt, sondern im erheblichen Umfang Ver-
strukturell Verletzung erfahren und so daran     letzbarkeiten (re-)produziert. Besonders für
gehindert werden, sich als Subjekt zu kons-      Schüler:innen mit Behinderung zeigen sich
tituieren, einen konkreten Begriff: Die ein-     in den schulischen Alltagspraxen sensible
schließende Ausschließung. Menschen wer-         Gefährdungspotentiale verwehrter Anerken-
den hier zu Personen gemacht, die außerhalb      nung, die die Verletzbarkeit des Subjekts
des Rechts stehen, aber ihm dennoch unter-       offenlegen. Diese werden noch zusätzlich
worfen sind. In meinem Vortrag möchte ich        verstärkt, indem Kinder und Jugendliche mit
nun argumentieren, dass Agamben zwar eine        sonderpädagogischem Förderbedarf häufi-
scharfsinnige Zustandsbeschreibung gegen-        ger in Schulklassen mit hoher bis sehr hoher
wärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse ge-     Benachteiligung unterrichtet werden (George/
lingt, er aber weniger den individuellen Pro-    Schwab 2019). An der Überschneidung von
zess in den Blick nimmt, welcher dazu führt,     Migration, Armut und Behinderung lassen
dass aufgrund ebenjener Machtverhältnisse        sich besonders markante Ungleichheitsver-
einige Menschen eher Verletzungen aus-           hältnisse beobachten, wenn beispielsweise
gesetzt sind als andere. Der Philosoph und       Kinder mit türkischer Muttersprache dop-
Auschwitz-Überlebende Jean Améry ana-            pelt so häufig eine Sonderschule besuchen
lysiert am Beispiel seiner eigenen Erfahrung     als die allgemeine Grundschule/Volksschule
den Prozess der Verletzbarkeitsmachung in        (Statistik Austria 2020, 46). Demnach sind es
auch die (räumlich-)strukturellen Bedingun-      richtig und falsch eine Alternative entgegen-
gen sowie die spezifische Form schulischer       zusetzen.
Anrufung, die Schüler:innen mit Behinderung
ihren sozialen sowie symbolischen Platz zu-      Verletzbarkeit als (V)Er(un)möglichkeits-
weisen (Buchner 2018). “Leistungsschwach”,       bedingung politischer Subjektivierung im
“hilfebedürftig”, “unselbstständig” oder “un-    Kontext wohlfahrtsstaatlicher Institutio-
schuldig” sind nur einige der Subjektpositio-    nen
nen, mit denen die Schüler:innen konfrontiert
werden und denen sie sich, um in ihrer so-       Phries Sophie Künstler
zialen Existenz anerkannt zu werden (Butler
2017), unterwerfen.                              Innerhalb des Beitrags soll der Frage nach-
Allerdings sind verletzende Anrufungen nicht     gegangen werden, in welchen Weisen die
immer umfänglich wirksam, sondern können         Bezugnahme auf die eigene Verletzbarkeit
angeeignet, umgedeutet oder zurückgewie-         prekäre politische Subjektivierung gegen-
sen werden und damit zu selbstermächtigen-       wärtig ermöglicht beziehungsweise verun-
den Antworten führen (Janssen 2018).             möglicht. Dabei wird anhand der Analyse
    In unserem Beitrag entfalten wir unsere      von Ausschnitten aus Interviews mit jungen
theoretischen Überlegungen in enger Ausein-      erwerbslosen Müttern in den Blick genom-
andersetzung mit ethnographischem Feldma-        men, in welcher Weise Bezugnahmen sowie
terial, das an österreichischen sowie deut-      die Nicht-Bezugnahmen auf Verletzbarkeit
schen Schulen entstanden ist (2018-2020).        aktuell Bedingungen prekärer politischer
Explizit widmen wir uns einem emanzipativen      Subjektivierung darstellen sowie welche Rolle
Moment (Biesta 2019, 47) in der Schulpra-        wohlfahrtsstaatlichen Institutionen dabei zu-
xis einer Grundschule in Deutschland. Ist        kommt.
es Individuen möglich, teilzuhaben an der            In Anschluss und Weiterentwicklung an
sozialen Ordnung, ihre Parameter ein Stück       Judith Butler hat Isabell Lorey (2015) mit ihrer
umzudeuten und dieser eine alternative Inter-    „Theorie der Prekarisierung“ insbesondere
pretation entgegenzubringen, sieht Biesta        herausgearbeitet, dass das generelle Prekär-
eine wesentliche Funktion von Bildung erfüllt.   sein – also die grundsätzliche Verletzbarkeit
Ethnographische Feldnotizen an einer Grund-      aller Wesen – nicht nur immer bereits gesell-
schule, deren Schüler:innenpopulation Un-        schaftlich geordnet ist, sondern zudem stets
gleichheitskategorien auf empfindliche Weise     mit produktiven Regierungs- und Subjekti-
zusammenführen, bieten die Möglichkeit,          vierungsweisen einhergeht. Deswegen, so
Aushandlungen, Zurückweisungen und Spiel         Lorey, ist auch Prekarisierung nicht lediglich
mit Sprache und Konventionen zu beobach-         als Krisendiagnose zu betrachten, sondern
ten (Willis 1977; Bourdieu 1991).                vielmehr als produktive (Selbst-)Regierungs-
    Wir betrachten diesbezüglich eine Klasse,    praxis zu verstehen. Anhand der Frage in
in der jedes Kind mehrsprachig aufwächst,        welcher Weise (unterschiedliche) Verletzbar-
in der 17 von 19 Kindern Subventionierung        keiten gesellschaftlich (re-)produziert und
für das Mittagessen erhalten und vier Kinder     (als unterschiedlich schützenswert) geordnet
einen sonderpädagogischen Förderbedarf           werden, wird dementsprechend immer auch
tragen. In unserem Beitrag widmen wir uns        verhandelt, was die gegenwärtigen Bedin-
dabei der Ausdeutung eines Sprachspiels          gungen und (Un-)Möglichkeiten sind, zum
(Wittgenstein 2003), das von den Lehrer:in-      politischen Subjekt zu werden.
nen abgewertet – von den Schüler:innen               Diesen Bedingungen der (V)Er(un)mögli-
allerdings genutzt wird, um Autorität über       chung prekärer politischer Subjektivierung
Wissen zu erlangen, Phasen der Sprachan-         hinsichtlich von Ver-letzbarkeit soll innerhalb
eignung zu durchlaufen, eine Durchlässigkeit     des Beitrags insbesondere empirisch nach-
unterschiedlicher Fähigkeiten zu ermöglichen     gegangen werden. Ausgegangen wird dafür
und vielleicht sogar auch der Dichotomie von     von Ausschnitten aus Interviews mit jun-
gen erwerbslosen Müttern in aktivierenden
Arbeitsmarktmaßnahmen. Anhand der Ana-
lyse des Materials soll dabei nachvollzogen
werden, in welcher Weise die Bezugnahme
auf Verletzlichkeit im Kontext wohlfahrtsstaat-
licher Institutionen politische Subjektivierung
ermöglicht und verunmöglicht: Inwieweit
wird durch die interviewten Mütter aktuell auf
Verletzbarkeit (nicht) Bezug genommen und
wie wird dadurch politische Subjektivierung
befördert oder erschwert? Davon ausgehend
wird dann zudem gefragt, welche Schlüs-
se sich aus den empirischen Erkenntnissen
grundsätzlich hinsichtlich des gegenwärtigen
Verhältnisses von Verletzbarkeit, Politik, wohl-
fahrtsstaatlichen Institutionen und prekärer
Subjektivierung ziehen lassen.
PANEL 8: SICH VERWEIGERN: SUBVERSIVES HANDELN UND FORMEN DES WI-
DERSTANDS IM RAHMEN NORMATIVER ORDNUNGSSYSTEME

Existentielle Verweigerung. Zur körper-           Innerhalb meines Vortrags möchte ich For-
lichen Reinszenierung und Subversion von          men des Entzugs, der Verweigerung und der
Gewalt                                            Undienlichkeit als körperlich-widerständige
                                                  Antworten auf das ungleiche Ausgeliefert-
Charlotte Bomert                                  sein an Gewalt thematisieren. Dabei greife
                                                  ich gegenwärtige Beispiele der Nahrungs-
Noch in den Momenten umfassender Unter-           verweigerung auf, insbesondere von hun-
drückung und Gewalt handeln Menschen              gerstreikenden Geflüchteten, anorektischen
widerständig. So finden sich etwa auf Skla-       FLINTA und essensverweigernden Gefäng-
venschiffen und -plantagen extreme Wider-         nisinsass:innen. Anhand dieser Beispiele
standspraktiken der Verweigerung und „Un-         zeige ich, dass und wie die Verweigerung
dienlichkeit“ (Därmann 2020) in denen mittels     von Nahrung als performativ-ästhetische und
des existentiellen Entzugs (des eigenen           eigenwillig-aneignende Praktiken des körper-
Lebens/Körpers) widerständige Handlungs-          lichen Widerstandes fungieren, die mittels
räume geschaffen werden. Neben dem                der Verweigerung von Nahrung die extreme
Suizid und der Selbstverbrennung ist der          Gewaltförmigkeit bestimmter Lebensverhält-
Hungerstreik (nur) einer dieser Praktiken, der    nisse wahrnehmbar machen und diese (so)
historisch (bspw. von Sklav:innen, Sufraget-      zugleich unterwandern.
ten oder im antikolonialen Befreiungskampf
M. K. Gandhis) und gegenwärtig (etwa in           Verletzbarkeit als verbindendes Element
Gefängnissen, in Geflüchteten-/Internierungs-     queerer Politiken
lagern und auch in der bulimischen/anorekti-
schen Essensverweigerung) innerhalb diver-        Tanja Vogler
ser Kämpfe praktiziert wird und wurde. Die
(Nahrungs-)Verweigerung, die im Extremfall        Queere Politiken haben sich ursprünglich
bis zum Tod führen kann, wirkt dabei als          als Antwort auf die Toten der AIDS-Krise
performativ-reinszenierende ‚Ausstellung‘         formiert. (Hark 2005) Aus dieser bewegungs-
(exposition) von (Effekten von) strukturel-       geschichtlichen Situierung heraus, kann
ler Gewalt und verweist nicht zuletzt so auf      queerer Aktivismus als ein Ort solidarischer
die in kapitalistischen, rassistischen und        Allianzen verstanden werden, der zumindest
sexistischen Strukturen ungleich verteilte        in seinen Anfängen um eine „gemeinsam
Exponiertheit von vulnerablen Körpern. Sie        geteilte Verletzbarkeit“ (Butler 2016) angeord-
ist daher weniger als „weaponization of life“     net war. Mittlerweile wird queeren Politiken
(Bargu 2014, 14) zu verstehen, sondern als        dementgegen unter anderem vorgeworfen
die performative Reinszenierung von bereits       homonormativ, homonationalistisch und erst
gewaltvollen Lebensverhältnissen: „[T]he          recht identitätspolitisch zu sein. (vgl. Duggan
hunger strike [...] enacts what it seeks to       2002, Puar 2008, Dhawan 2015) Ausgehend
show and to resist.“ (Butler 2015, 137). Zu-      von dieser Ambivalenz will der Vortrag der
gleich stellt die Praxis der (Nahrungs-)Verwei-   Frage nachgehen, ob und auf welche Art und
gerung über die Reinszenierung hinaus eine        Weise das aktuelle queer-politische Subjekt
subversiv-„eigenwillige“ (Ahmed 2014) Aneig-      (noch) um eine ungleiche verteilte Verletz-
nung dieser ungleichen Ausgesetztheit dar,        barkeit angeordnet ist. Ausganspunkt ist die
indem das der Gewalt exponierte, verhinderte      diskursanalytische Aufarbeitung der Bewe-
eigene Leben durch seinen existentiellen Ent-     gungsmedien (Flyer, Plakate, Pressemittei-
zug zur Verhinderung dieses Gewaltverhält-        lungen, Zeitschriften, Artikel, Broschüren und
nisses eingesetzt wird (vgl. Ahmed 2010, 6).      Homepageauftritte) von fünf queer-aktivisti-
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