VI. IMMUNITÄT UND IHRE URSACHEN: GEOPOLITISCHE INTERESSENLAGEN

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VI. IMMUNITÄT UND IHRE URSACHEN:
           GEOPOLITISCHE INTERESSENLAGEN

Spätestens im Zusammenhang mit der Entnazifizierungsverhandlung 1948 war
deutlich geworden, dass der Schutz Wolffs keine isolierte Tat von Dulles, son-
dern ein Tauschgeschäft war, das eine militärisch-politische, eine wirtschaft-
liche sowie eine erinnerungspolitische Dimension besaß. Die Kapitulation an
der Südfront hatte im anglo-amerikanischen und auch im Schweizer Interesse
gelegen1, und die anti-sowjetische Verhandlungsführung durfte nach dem
Krieg nicht an die Öffentlichkeit gelangen, weshalb Karl Wolff daran gehindert
werden mußte, darüber zu sprechen. Es scheint zweifelhaft, dass Dulles allein
und ohne Billigung seiner übergeordneten Dienststellen, wenn nicht sogar
seiner Regierung gehandelt haben soll. Dulles schützte Wolff zwar auch, um
seinen Ruf als fähiger Diplomat zu festigen und sich für höhere Positionen
innerhalb des OSS zu qualifizieren, aber er vertrat damit vor allem die anti-
kommunistische Politik der US-Regierung.

             1. AMERIKANISCHE UND BRITISCHE INTERESSEN

Politische Divergenzen der Allianz mit Stalin waren im Frühjahr 1945 evident.
Hinter der Maske der Einigkeit deutete sich das ideologische Grundmuster des
Kalten Krieges bereits an. Über das konkrete Vorgehen gegenüber der Sowjet-
union gab es jedoch erhebliche Differenzen zwischen Großbritannien und den
USA.2 Es ging angesichts des sich abzeichnenden Sieges nicht mehr um die
Frage, wie Hitler niedergerungen werden konnte, sondern wer die Nachkriegs-
ordnung in Europa dominieren würde. Dabei war die konkrete Bedrohung des
alliierten Mittelmeer-Kriegsschauplatzes nicht die Rote Armee, sondern Tito
und seine kommunistischen Partisanenformationen in Jugoslawien.
   Die militärische Ausgangslage am 2. Mai 1945 war nicht ganz nach anglo-ame-
rikanischen Wünschen: Triest war bereits von Partisanenformationen eingenom-
men worden und konnte erst nach langwierigen Verhandlungen mit Titos Emis-
sären am 12. Juni 1945 entlang der nach dem alliierten Oberkommandierenden
General Morgan benannten Demarkationslinie geräumt werden. Daher muß der

1
    Wolff spricht in einem Schreiben an Dulles von den »amerikanisch-englisch-schweizerischen
    Interessen«, die er angesichts schlechter Behandlung in Nürnberg nicht länger zu schützen
    bereit sei, vgl NARA, RG 238, WQ, Internee Personnel Records, 1945-1948, Entry 200, box
    36, Blitz-Funkspruch Wolff an (irrtümlich: John Foster) Dulles, 4.5.1946.
2
    Weinberg, Welt in Waffen, S. 770 ff.

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222                          VI. Immunität und ihre Ursachen

Frage nach den nationalen Interessen der britischen und amerikanischen Alliier-
ten sowie der Schweiz an einer Teilkapitulation – unter Umgehung der sowje-
tischen Alliierten – in Norditalien besonderes Augenmerk gewidmet werden. Es
lassen sich drei Grundlinien verfolgen: aus wirtschaftlichen, militärstrategischen
und politisch-ideologischen Gründen war ein schneller Abschluß der »Sunrise«-
Kapitulation von großem Vorteil für die westliche Welt.
   Wirtschaftlich gesehen hielten US-Unternehmen in Norditalien, aber auch
in der Schweiz, Anteile an Firmen und Banken, und es gab Interessen, diese
Ressourcen durch einen schnellen Friedensschluß zu schonen. Allen Dulles
vertrat als Rechtsanwalt Mandanten aus der amerikanischen Hochfinanz in
Norditalien.3 Für den Fall eines Zusammenbruchs Italiens hielt er auch aus
wirtschaftlichen Gründen einen Schutz Triests und Österreichs vor dem rus-
sischen Einmarsch für vordringlich.4 Diese wirtschaftspolitische Motivation
wurde durch eine anti-kommunistische Strömung besonders innerhalb des
Großbürgertums der amerikanischen Ostküste ideologisch verstärkt. Beide
Dulles-Brüder haben zeitlebens keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den
Kommunismus gemacht.5
   Die militärischen Vorteile der Kapitulation ergeben sich aus der Schonung
alliierter Kräfte: Zwei alliierte Armeen wurden durch den Friedensschluß ge-
schont und konnten nach Süddeutschland verlegt werden.6 Somit hatte die
Kapitulation an der Südfront Auswirkungen auf die westalliierte Truppenstär-
ke und Kampfkraft im Reich, denn sie ermöglichte weiteren Terraingewinn im
deutschen Kerngebiet, bevor die Sowjetunion ihren Vormarsch ausweiten
konnte. Militärisch gesehen ergab sich aus der Kapitulation ein Territorialge-
winn gegenüber der Roten Armee und ihrer Verbündeten.
   Auch im Hinblick auf die politische Neuordnung Europas war die Kapitu-
lation von Bedeutung. Da die Rote Armee bei der Befreiung der osteuropä-
ischen Staaten auf ihrem Vormarsch, z.B. in Polen, kommunistische Regie-
rungen als Statthalter eingesetzt oder Teilkapitulationen abgeschlossen hatte
und damit die Nachkriegsordnung festgelegt7, kam für die Westalliierten der
Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs oberste Priorität zu, so lange
dazu militärisch noch die Möglichkeit bestand.8 Zwischen den anglo-amerika-
3
    Eidgenössisches Bundesarchiv Bern (EBB), Bestand Eidgenössisches Politisches Departement,
    E 4320 (B) 1990/226, Band 272, Dossier Allen Dulles, C.16.5851, Bericht über wirtschaftliche
    Interessen der Dulles-Brüder, 8.12.1952. Der Sowjetunion galten die Dulles-Brüder während
    des Kalten Krieges als Feindbild schlechthin, waren sie in deren Augen doch Bevollmächtigte
    »für die Angelegenheit der Amerikanischen Großindustrie und Großfinanz«, was in den USA
    eher anerkennend vermerkt wurde: der spätere Außenminister John Foster Dulles sei der »Po-
    litiker mit dem stärksten Geschäftssinn«.
4
    Casey, Secret War, S. 214.
5
    Immerman, John Foster Dulles, S. 32.
6
    Stalins correspondence with Churchill, Attlee, Roosevelt and Truman 1941-1945, London 1958,
    darin: Dok. 934, Churchill an Roosevelt, 5.4.1945. »Österreich muß besetzt werden, bevor die
    Russen es tun.«
7
    Stalins correspondence with Churchill, Attlee, Roosevelt and Truman 1941-1945, London 1958,
    darin: Dok. 417, Churchill an Stalin, 5.4.1945.
8
    Kreis, Kriegsende, S. 515. Die westalliierte Besorgnis kommt besonders deutlich zum Ausdruck
    in der Korrespondenz Churchill-Roosevelt ab 8. März 1945, vgl. die Edition von Francis L.

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1. Amerikanische und britische Interessen                                   223

nischen Alliierten und den sowjetischen Truppen war ein Wettlauf auf be-
stimmte Punkte Mitteleuropas entbrannt, denen nicht nur militärisch, sondern
auch politisch strategische Bedeutung zugemessen wurde. Norditalien kam
eine solche Schlüsselstellung zu.
   In Bezug auf den Mittelmeerkriegschauplatz nahmen Südtirol und der Hafen
von Triest daher bei den anglo-amerikanischen Planungsstäben eine Schlüssel-
position ein.9 Alle Möglichkeiten zur kampflosen Übergabe der Industriezent-
ren Norditaliens, zur Zurückdrängung der Tito-Partisanen und der Sicherung
des Hafens von Triest sowie ein Durchmarsch ins Reich von Süden her durch
die gefürchtete Alpenfestung, die sich in »Operation Sunrise« auf dem Silber-
tablett darboten, sollten genutzt werden.
   Das Bedrohungspotential der Sowjetunion stellte sich im Frühjahr 1945 für
die Westalliierten als beträchtlich dar10, so dass Rückversicherungsüberlegungen,
auch unter Zuhilfenahme deutscher Verbände, durchaus in den Planungen des
alliierten Hauptquartiers auftauchten11 und unter dem Codenamen »Operation
Unthinkable« kursierten. Diese wurden jedoch schlußendlich, nach einer mili-
tärisch wie politisch angespannten Phase in Norditalien, im Juni 1945, verwor-
fen.12 Der alternde Churchill selbst hat in einer Rede am 23. November 1954
diese Überlegungen zu Kriegsende 1945 beiläufig erwähnt13 und damit eine
letze große Debatte über seinen Politikwechsel zu Kriegsende im britischen
Parlament und in Tageszeitungen ausgelöst. Die Möglichkeit eines Bündnisver-
rats in letzter Minute wurde zwar in der Forschung diskutiert14, galt jedoch als
hypothetisch15 und wurde auch von anderen Beteiligten stets zurückgewiesen.16
Mithilfe der deutschen Quellen steht nun fest, dass »Operation Unthinkable«
     Loewenheim ed al. (Hg.): Roosevelt and Churchill. Their secret Wartime correspondence, New
     York 1975, Dok. 905 ff.
 9
     Smith/ Agarossi, Sonnenaufgang, S. 257 ff. Ausführlich dazu Marina Cattaruzza: L’Italia e il
     confine orientale 1866-2006, Bologna 2007, S. 283-312.
10
     Dazu haben Nachrichten über angebliche Seperatfriedensabkommen zwischen der Sowjetunion
     und dem Deutschen Reich nicht unerheblich beigetragen, vgl. Fleischauer, Chance, S. 284 ff.
11
     Gerhard Weinberg: Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des zweiten Weltkriegs, Stutt-
     gart 1995, S. 770 ff.; ebenso Alistair Horne: Macmillan 1894-1956, Vol I of the Official Biogra-
     phy, London 1988, S. 256.
12
     David Dilks: The bitter fruit of victory: Churchill and an Unthinkable Operation, 1945, in: The
     Second World War in 20th Century History. Oslo, 19th International Congress of Historical
     Sciences, August 11-12, 2000, S. 27-49 (= Bulletin du Comité International d‘histoire de la
     Deuxième guerre mondiale n° 30/31-1999/2000.
13
     Robert James: Speeches of Winston Churchill, London 1974, speech »The Unity of the free
     Nations«, held at Woodfort November 23, 1954, Vol. VIII, p. 8604.
14
     Dilks, Bitter fruit of victory; die Kontroverse wurde von der britischen Presse 1998 ausgelöst,
     als nach Freigabe der Kabinettsprotokolle vom Daily Telegraph am 1.10. auf S. 1 der sensationell
     aufgemachte Leitartikel erschien (»Churchill‘ s plan for Third World War against Stalin«) und
     in den folgenden Tagen in Leserbriefen kommentiert wurde.
15
     Arthur Smith: Churchills Secret Army, London 1978 belegt die zögerliche Entwaffnung im bri-
     tischen Befehlsbereich in Norddeutschland in allen Einzelheiten und belegt auch ein diesbezüg-
     liches Telegramm an Alexander, kann jedoch den letzten Nachweis nicht erbringen, daß Churchill
     diese Kontingente wirklich an der Seite der eigenen Soldaten gegen die Sowjets hätte einsetzen
     können, zu unüberwindbar waren psychologische Gegensätze direkt bei Kriegsende noch.
16
     Macmillan, Blast, S. 714. Macmillan stand jedoch unter der Beschuldigung, er habe den Tod der
     kosakischen deutschen Hilfstruppen durch Genehmigung der Auslieferung an die Sowjetunion

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224                           VI. Immunität und ihre Ursachen

nicht nur ein Planspiel britischer Militärs war, sondern dass die besiegten deut-
schen Kommandeure möglicherweise ihre Truppen entsprechend unter Waffen
hielten, um Triest im Interesse des Westens wieder freizukämpfen.
   Politisch wäre ein neuerlicher Waffengang, unter Zuhilfenahme deutscher
Truppenkontingente, wohl schwer vermittelbar gewesen und einer offenen Kon-
frontation gleichgekommen. Doch zeitweilig sah es im Mai 1945 so aus, als ging
der Krieg gleich weiter: anders als vereinbart, marschierten Titos Verbände direkt
auf Triest zu, so dass die 2. Neuseeländische Division unter Generalmajor Bern-
hard Freyberg dort am 2. Mai 1945 von Resten der deutschen Verteidigungstrup-
pen in der Hafenfestung als Befreier begrüßt wurde, der Rest der Stadt aber in
jugoslawischer Hand war und Freybergs Truppen überall auf starke Gegenwehr
der Partisanen stießen.17 Zunächst versuchten die Briten, diplomatisch zu reagie-
ren und Belgrad auf die Vereinbarungen hinzuweisen. Der Bericht des alliierten
Hauptquartiers vom 4. Mai 1945 bekräftigt »ein starkes anglo-amerikanisches
Interesse am Raum Julisch Venetien«, auch wenn sich die für die Öffentlichkeit
wie auch die östlichen Alliierten gedachte Floskel findet, mit der Entwaffnung
deutscher Truppen sei lokal begonnen worden.18 So sollte der Eindruck von
Gelassenheit und geordneten Routinemaßnahmen entstehen.
   Doch die Beunruhigung der Westmächte angesichts des unerwarteten Vor-
dringens von Titos Truppen bis nach Triest ist unübersehbar, wirkte dies doch
wie ein von sowjetischer Seite genehmigter Plan zur Erreichung größtmöglicher
Gebietsgewinne, eventuell sogar bis nach Kärnten.19 Der britische Oberbefehls-
haber Alexander hatte schon am 11. Mai 1945 darauf hingewiesen, dass eine
bruchlose Weiterverwendung seiner Truppen gegen Tito »nicht vermittelbar«
sei20; und auch die Amerikaner hatten betont, für einen Schlag gegen die Jugo-
slawen keine Verbände bereitstellen zu wollen.21 Es besteht umgekehrt jedoch
kein Zweifel, dass sich im Konfliktfall mit Stalin um Triest mit Hinweis auf
ideologisch übereinstimmende Kriegsziele die rund 800.000 deutschen Soldaten
der Heeresgruppe C gegen die ›Bolschewisten‹ hätten in Marsch setzen lassen22,

     verschuldet, was seine Aussage bezüglich einer Vertragstreue gegenüber Stalin möglicherweise
     in anderem Licht erscheinen lässt.
17
     Walzl, Kapitulationskonzepte, S. 73. In der Stadt befanden sich zuletzt zur Verteidigung vor
     allem Marine-Flak und Reste der 188. Gebirgsdivision (Rekrutenkompanien). Ausführlich zu
     den Kämpfen um Triest Cattaruzza, S. 283-312.
18
     TNA/ PRO, CAB 79/33, Joint Planning Staff, Report on Future of Allied Headquarters (in
     Italy), 4.5.19545.
19
     Walzl, Kapitulationskonzepte, S. 74.
20
     TNA/ PRO, FO 1020/ 42, AFHQ (Alexander) to Combined Chiefs of Staff, 11.Mai 1945.
     Alexander befürchtete, nach der jahrelangen positive Propaganda und Betonung der Waffen-
     brüderschaft zu Jugoslawien gegen die Nazis sei es den britischen Soldaten wahrscheinlich
     schwer vermittelbar, nun gegen Tito vorzugehen, so dass Hilfskonstruktionen überlegt werden
     müssten, wenn es wirklich zu einem bewaffneten Konflikt um Triest kommen sollte.
21
     Horne, Macmillan, S. 260 und 267.
22
     BA-MA, MSg 2/2614, Tagebuch des Hauptmanns Gotthilf Rüdt (Art.Rgt. 232/ 232. Division):
     »2.5.1945 (...) In den folgenden Tagen geht das Gerücht, daß es gegen Tito weitergehen würde.
     Als Kapitulanten ist es uns erlaubt worden, die Verbände so weit als möglich zu ordnen, Quar-
     tierräume zu beziehen und Handfeuerwaffen zum Schutz gegen die zum Teil die Waffenruhe
     ignorierenden Parisanen zu behalten. Nur die schweren Waffen mußten abgegeben werden.«

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1. Amerikanische und britische Interessen                                     225

»in order to assist any possible operations by AFHQ Forces in Austria against
Yugoslavs«.23 Der Repräsentant der britischen Militärregierung in Italien, Ha-
rold Macmillan betont das Dilemma, indem sich vor allem die Briten als Ober-
befehlshaber befanden; er schrieb am 16. Mai 1945 in sein Tagebuch, die »ganze
Schuld solle Alexander oder mir aufgebürdet werden«, denn jede Entscheidung
in der Triest-Frage sei extrem unpopulär: »wenn wir die Jugoslawen nicht mit
Gewalt rausschmeissen, wird es keinen Weg mehr geben, sie von dort wegzu-
bringen«.24 Churchill’s Kriegspolitik der Unterstützung Titos schien sich im
Mai 1945 als schwere Hypothek zu erweisen.25
   Die Lage im istrisch-slowenischen Grenzgebiet hatte sich noch in den letz-
ten Kriegstagen anders entwickelt als in Caserta erwartet, indem die Unterstel-
lung der deutschen Verbände zwischen Heeresgruppe C (Vietinghoff) und
Heeresgruppe E (Löhr) neu abgegrenzt wurden und die Demarkationslinie
nun entlang des Flusses Isonzo verlief. Damit befand sich Triest territorial im
Gebiet der Heeresgruppe E, die ausdrücklich nicht kapitulierte.26 Ein Passus
der Kapitulationsvereinbarung von Caserta besagte jedoch, dass sich der Waf-
fenstillstand neben den Verbänden der Heeresgruppe C ausdrücklich auch auf
das Marineoberkommando Italien (M.O.K. Süd) bezog, in dessen Befehlsbe-
reich sich neben Venedig, der ligurischen Küste und der Riviera, im Osten der
Adria die Hafenstädte Triest, Pula und Fiume (Rijeka) befanden.27 Das M.O.K.

     (S. 84) Die ideologische Übereinstimmung mit dem westlichen Kriegsgegner wurde den deut-
     schen Kriegsgefangenen seit dem ersten Tag ihrer Gefangenschaft in Schulungen deutlich ge-
     macht, vgl. Interview mit Ottfried Gerhardi, 13.5.2004, Divisionsadjutant beim IR 80 (34. ID):
     Lagebesprechung aller Kommandeure der Division am 7.5.1945, ob man sich den Amerikanern
     zum Kampf gegen die Russen zur Verfügung stellen solle. Bewaffnung und Organisation blieben
     voll intakt, bis die Amerikaner nach dem allgemeinen Waffenstillstand in Europa am 8. Mai alle
     nach Ghedi abtransportierten und entwaffneten. Ebenso Schriftliche Mitteilung Wolfgang Wir-
     th, 18.4.2004, Funker bei der Gebirgs-Korps-Nachrichtenabteilung 451/ LI. Gebirgs-Armee-
     Korps: »Kann ich bestätigen, dass wir am 2. Mai 1945 (Mittwoch) ... zwar alle Waffen an die
     US-Armee abzugeben hatten, jede Kompanie aber 30 Waffen zur eventuellen Verteidigung
     gegen Partisanenangriffe behalten konnte. ... Diese dreißig Maschinenpistolen mußten wir erst
     am Pfingstmontag, dem 21. Mai 1945, also nach fast drei Wochen abgeben beim Abmarsch in
     das Zeltlager auf dem ehemaligen Flugplatz Ghedi, 12 km südlich von Brescia.«
23
     NARA, RG 331, E 24 A, box 2, folder 31, SHAEF (G-3), Outgoing message, 17.5.1945. Die Heeres-
     gruppe unter General Eberle [wohl: HGrE] habe darum gebeten, mit 150 000 Mann, darunter 45 000
     voll bewaffnete Kosaken, als Kriegsgefangene in den Bereich der 12 US Armee übernommen zu werden.
     Es handelt sich hierbei wohl um die Heeresgruppe E. Sie erhielten den Status »disarmed enemy forces«.
     Diese Bezeichnung vermied den Begriff „Kriegsgefangene“, um eine militärische Weiterverwendung
     wie auch Einsatz zu Aufräumarbeiten zu erleichtern, vgl. Smith, Secret Army, S. 88 und S. 110
24
     Harold Macmillan: War Diaries.Politics and War in the Mediterranean, Jan. 1943- May 1945,
     London 1984, Eintrag vom 16. Mai 1945, S. 760. »It is easier to put the blame on Alex or me
     than to shoulder it themselves. Meanwhile, the President says he cannot make war against the
     Yugoslavs unless they ›attack‹ our troops. But as they are in possession and keep moving in more
     forces, of course they will not ›attack‹ us. The point is that unless we can push them out by force,
     there is no way of ejecting them.«
25
     Horne, Macmillan, S. 270.
26
     Walzl, Kapitulationskonzepte, S. 72.
27
     Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der
     ehemaligen Deutschen Wehrmacht (WASt), Berlin, im Folgenden kurz: Deutsche Dienststelle
     Berlin, Bestand Marine, Bericht Kapitän zur See Paul Jasper zu den Kämpfen um Triest,

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226                            VI. Immunität und ihre Ursachen

hatte seinen Sitz am Karersee, wo nach Inkrafttreten der Kapitulation diese
Ambivalenz dadurch deutlich wird, dass »im Erdgeschoss des Hotels Karer-
pass mit der englisch-amerikanischen Marinekommission über die Durchfüh-
rung der Waffenstillstandsbedingungen verhandelt wurden, während im ersten
Stock noch die Rückführung der Verbände von Triest und Pola versucht wur-
de, die nicht unter die Waffenstillstandsbedingungen fielen.«28 Die Marinesol-
daten, die territorial im Bereich der Heeresgruppe E lagen, hatten Order, nur
gegenüber den westalliierten Verbänden zu kapitulieren29, was ihren Einsatz in
Triest und den Haltebefehl verdeutlicht.
   Bereits am 22. Mai 1945 beriet das britische Kabinett über eine weiteres Vor-
dringen der Roten Armee in westalliiertes Interessengebiet in Österreich und hob
besonders die von Tito ausgehende Bedrohung im Raum Triest hervor; in dieser
Sitzung wurden verschiedene Szenarien der Verteidigung Oberitaliens ab einem
möglichen Angriffsdatum vom 1. Juli 1945 durchgespielt.30 Man kam in London
jedoch überein, dass ein offensiver Konflikt unbedingt vermieden werden müsse;
es erschien jedoch ratsam, nicht gänzlich unvorbereitet zu sein und vor allem
Titos weiteres Vordringen nach Oberitalien zu stoppen. Neben diplomatischen
Interventionen in Moskau mit der Bitte, die jugoslawischen Verbündeten zurück-
zurufen31, einem politisch-militärischen Entgegenkommen der Briten in der Fra-
ge der fremdländischen Hilfstruppen unter deutschem Kommando, also der
Auslieferung der Kosakentruppen und kroatischer Ustascha-Kämpfer an Tito32,
diskutierten britische Stäbe dabei auch den – ausgesprochen unpopulären33 – Ge-
danken einer partiellen deutschen Waffenhilfe zur Rückgewinnung Triests.
   Teilen der Heeresgruppe C wurden deswegen nach dem 2. Mai 1945 gezielt
ihre Waffen belassen. Noch am 4. Mai 1945, also zwei Tage nach Inkraftreten der
Kapitulation, wurde sie in drei Teile untergliedert (Armeebereich AOK 10 und

     5.10.1953. Jasper bezeugt die Entwaffnung des Stabs M.O.K. am 23. Mai 1945. (Ich danke
     Carlo Gentile für den Hinweis auf diese Quelle.) Eine Kontrolle im Kriegstagebuch der See-
     kriegsleitung (KTB SKL), hg. von Rahn/ Schreiber/ Mayershöfer, Band 68, Eintrag vom 3. Mai
     1945, S. 419 A, hat keine Sondervereinbarungen aufgeführt, bestätigt aber die Aussage, dass die
     Küstenstädte wie Triest, Fiume und Pula vom M.O.K. weiter verteidigt wurden, mit dem Ziel,
     sie ausschließlich an die Westmächte zu übergeben. Am 4. Mai 1945 war Fiume teilweise besetzt
     worden, Pola folgte (KTB SKL, S. 423-A), ab 6. Mai war Rücknahme auf die Linie Karlovac-
     Varaszin befohlen (S. 448 A), danach planmäßige Absatzbewegungen nach Norden (S. 454-A)
     bis zur Gesamtkapitulation am 7. Mai 1945.
28
     Deutsche Dienststelle Berlin, Bestand Marine, Bericht Kapitän zur See Paul Jasper, ebenda.
29
     Deutsche Dienststelle Berlin, Bestand Marine, Bericht Kapitänleutnant Weber, markiert »Hako
     Triest«, 17.12.1949.
30
     TNA/ PRO, PREM 3/ 396/ 14, Memorandum von Sir A Clark Kerr vom 25.5.1945, im Wortlaut
     zitiert bei Dilks, Operation Unthinkable, S. 39. Es heißt hier: »Britain and the USA would have
     full assistance from the Polish Armed Forces (Anm.d. Verf.: General Anders’ Forces in Italy)
     and could count upon the use of German manpower.« Dirks räumt ein, diese Formulierung
     ließe Raum für die verschiedensten Interpretationen. Für einen neuerlichen Krieg, dismal gegen
     die Sowjetunion, so die britischen Planungen, seien »mindestens 10 deutsche Divisionen
     schnellstmöglich zu mobilisieren« (Dilks, S. 43).
31
     Horne, Macmillan, S. 269 und 275. Das Telegram Trumanns an Stalin datiert vom 23.5.1945.
32
     Horne, Macmillan, S. 275.
33
     Horne, Macmillan, S. 270. Auf S. 262 spricht er von der »bitterness that prevailed in 1945 among
     the British combatants toward the Germans or everybody wearing a coalscuttle helmet«.

                                                                                Kerstin von Lingen - 9783657767441
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1. Amerikanische und britische Interessen                                  227

AOK 14 sowie Armeebereich Tirol unter General d. Inf. Jordan), und es wird aus
den Bestimmungen deutlich, dass für Tirol Sonderregelungen galten.34 Vieting-
hoff legte besonderen Wert darauf, dass die deutschen Verbände auch in der
Kriegsgefangenschaft möglichst intakt blieben und die Mannschaften im Sinne
des Friedensschlusses positiv gegenüber den Westalliierten zu schulen seien.35
   Die Entwaffnung der Heeresgruppe C gestaltete sich sehr langsam, was teil-
weise mit den Überlegungen zur Weiterverwendung zusammenhängen könnte,
jedoch auch mit politischen Befürchtungen: die Entwaffnung der italienischen
Partisanen wurde von Alexander und Macmillan als vordringlich betrachtet, um
mögliche politische Revolten ähnlich wie in Griechenland und den Ausbruch
bürgerkriegsähnlicher Zustände in Norditalien zu verhindern.36
   Offenbar wurde den deutschen Truppen auch nicht überall sofort das In-
krafttreten der Kapitulation bekanntgegeben, so dass diese im Sinne der west-
lichen Alliierten weiter im Raum Triest kämpften. Angeblich betraf dies auch
Truppen des SS- und Polizeiführers Alvensleben37, der Wolff direkt unterstand.
Das von Alvensleben befehligte Polizeiregiment »Alpenvorland« (SSPF Adria-
West) war an den Kämpfen im Hinterland von Triest beteiligt, zog sich jedoch

34
     BA-MA, MSg 2/ 4334, Aufzeichnungen von Erich Erbacher zum Kriegsende in Italien aus der
     Sicht der 2. Batt. des Werferregiments 7. Demnach ging das Regiment bei Leifers/ Südtirol in
     Kriegsgefangenschaft. Bis zum 15. Mai, an manchen Orten sogar bis 19.Mai 1945 blieb alles
     ruhig, weder mit Entwaffnung noch mit Abführung in die Gefangenschaft wurde begonnen.
     Deutsches Wachpersonal mit der roten Armbinde »Militärwache« bewachte im Auftrag der
     Amerikaner die Verpflegungslager. Das Kriegstagebuch der Heeresgruppe C/ OB Südwest ist
     seit Mai 1945 verschollen, allerdings haben sich Kopien von Befehlen in anderen Dokumenten-
     beständen erhalten. So ist es erstmals gelungen, den Befehl Vietinghoffs zur Neugliederung der
     Verbände vom 4.5.1945 im Bestand der SS- und Polizeiakten Italien in BA Berlin Lichterfelde,
     R 70 Italien, Bd. 7, zu lokalisieren.
35
     BA, R 70/7, Befehl Vietinghoff vom 4.5.1945. Darin wird geregelt, dass auf die Aufrechterhal-
     tung höchster Disziplin, durch ständige Appelle und Schulungen, besonders zu achten sei. Dies
     bestätigt sich auch in den Aussagen von Zeitzeugen, vgl. Gerhardi (cit.) und Interview mit
     Christoph Kolleth, 19.8.2004, Obergefreiter beim Feldartillerieregiment 661/ 114. Jägerdivision
     in Italien. Schriftlicher Lebensbericht vom 17.8.2004. Darin heißt es: Im Lager Lana bei Meran
     waren »alle Kasernen überfüllt mit Soldaten aus allen möglichen Einheiten, sogar Matrosen.
     Wurden in Gruppen, Züge, Kompanien und Bataillone eingeteilt, wurden feldmarschmäßig
     ausgerüstet, machten regelrecht Dienst, viel theoretischer Unterricht, zumeist war das Thema
     Sowjetunion und Kommunismus. Es hieß, wir gehen gemeinsam mit den Alliierten gegen Ruß-
     land.«
36
     Vgl. der 2. Band der Erinnerungen des Britischen Vorsitzenden der Alliierten Militärkommis-
     sion und offizieller ratgeber des Britischen Oberkommandierenden, Harold Alexander in Ita-
     lien, Harold Macmillan: The Blast of War, London 1967, S. 670. Ebenso Macmillan im 3. Band,
     Tides of Fortune, London 1969, S. 3. Besonders die Zurschaustellung des Leichnams Mussolinis
     auf der Mailänder Piazzale Loreto hatte den Alliierten deutlich gemacht, wie unkontrollierbar
     Partisanenformationen agierten, vgl. Botjer, Sideshow War, S. 194.
37
     Hierbei handelt es sich um Jakob Ludolf v. Alvensleben, geb. am 9.8.1899 in Wittenmoor; SS-Nr.
     52195; NSDAP-Nr. 1313391; SS-Obersturmbannführer, b. Stab SS-Hauptamt (1937); SS-Stan-
     dartenführer (Allg.SS); SS-Fachführer/SS-Sturmbannführer der Waffen-SS am 29.4.1942; Volks-
     deutsche Selbstschutz, Polen (1939/40) »Der SS- und Selbstschutzführer im Gouvernement
     Lublin«; SS-Personalhauptamt (1942); Fachführer der Waffen-SS b. HSSPF Russland-Süd
     (1.11.42-11.5.44); SSP-Kdr. für die Provinz Friaul, Udine (11.5.44-10.April 1945); SSPF Adria-
     West (10.4.1945 – Kriegsende); Dienstsitz: Udine]

                                                                                   Kerstin von Lingen - 9783657767441
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228                            VI. Immunität und ihre Ursachen

Anfang Mai nach Österreich zurück.38 Das alliierte Hauptquartier hatte für
dieses Versäumnis die Sprachregelung gefunden, die Bekanntgabe der Kapitu-
lation sei »Sache Marschall Titos«, wie SHAEF festhielt.39 Dies war den sow-
jetischen Alliierten nicht entgangen, und General Antonov protestierte in
einem Telegramm an General Eisenhower bereits am 10. Mai, dass deutsche
Truppenteile an der Südfront auch nach Inkrafttreten der Kapitulation weiter
gekämpft hätten.40
   Teile der Heeresgruppe E kämpften besonders im Hinterland Triests und
an den Alpenübergängen nach Österreich noch zwei Wochen gegen Titos
Partisanen weiter, wobei beide Seiten beträchtliche Verluste erlitten.41 So
kämpften etwa Truppen der 24. Waffen-Gebirgs-(Karstjäger)-Division der
SS bis zum 12. Mai 1945 am Predilpass weiter, um der nach Kärnten zurück-
flutenden Masse der Heeresgruppe E, die erst am 8. Mai kapitulierte, den
Rückzug zu sichern.42 Die 188. Gebirgs-Division kämpfte ebenfalls an den
Alpenübergängen nach Kärnten weiter.43 Auch Truppen der 24. Waffen-Ge-
birgs- Division der SS (»Karstjäger«) kämpften bis zum 12. Mai 1945 im Raum
Slowenien/ Predilpass weiter.44 Deutsche Verbündeten-Truppen wie etwa die
Kosaken45 sowie die ungarische Szent-Lázló-Division kämpften sogar noch
38
     Hier fehlen eindeutige Belege, dies ergibt sich nur aus Nachkriegsaussagen beteiligter Offiziere,
     vgl. Stefan Klemp: Nicht ermittelt. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch,
     Essen 2005, S. 45. Zur Dislozierung der SSPF Adria-West allgemein vgl. BA-MA, NS
     33/1003.
39
     NARA, RG 331, E 24 A, box 2, folder 31, SHAEF (G-3), Outgoing message, 2.5.1945. »Nor-
     thern Yugoslavia: Acceptance of surrender is a matter for Marshal Tito, and SACMED should
     NOT send Forces in for that purpose«.
40
     TNA/ PRO, CAB 79/33, Minutes of meeting of the Chiefs of Staff Committee, 10.5.1945.
41
     Walzl, Kapitulationskonzepte, 74 f.
42
     So die Chronik der 24. Waffen-Gebirgs- (Karstjäger)-Division der SS, S. 13, in: RS 7/v. 172: »Bei
     der Aufstellung auf Brig.Stärke, d.h. 3 Btlnen, bestanden die Mannschaften überwiegend aus
     fremdl. Freiwilligen, auch Südtirolern und Schweizern Bei der Auflösung im Zus. mit der Ka-
     pitulation wurden zunächst die fremdländischen Freiw. entpflichtet, dann die Südtiroler und
     die Schweizer.Endkampf in abgelegenen Schützennestern dauerte bis 12. Mai 1944.«
43
     BA-MA, N 520 (Carl Schulze)/ 49, Tagebuch S. 175. »2.5.1945 trat in Italien Waffenruhe ein;
     Übergabe an die Truppen Alexanders erfolgte in würdiger Form. Die ersten deutschen Heeres-
     gruppen hatten kapituliert. Von all dem hatten wir keine Ahnung und kämpften weiter. Wie
     schon erwähnt, hatte Kübler am 1. Mai Befehl zum Ausbruch nach Norden erhalten.« Oberst-
     leutnant Carl Schulze war Regimentskommandeur des Reserve Bataillons der Gebirgsjäger (Res.
     Geb. Jäg. Rgt. 137 der 188 Geb. Division), seit 1943 im Grenzraum (Belluno); ab 1944 standen
     die 188. Geb. Div. im Raum Triest; Reserveeinheiten waren an den Verteidigungskämpfen um
     Triest bis zum Eintreffen der Briten dort beteiligt, vgl. Walzl, Kapitulationskonzepte, S.73.
44
     So die Chronik der 24. Waffen-Gebirgs- (Karstjäger)-Division der SS, S. 13, in: RS 7/v. 172: Dort
     heißt es sinngemäß: Bei der Aufstellung auf Brig.Stärke, d.h. 3 Btlnen, bestanden die Mann-
     schaften überwiegend aus fremdl. Freiwilligen, auch Südtirolern und Schweizern. Bei der Auf-
     lösung im Zus. mit der Kapitulation wurden zunächst die fremdländischen Freiw. entpflichtet,
     dann die Südtiroler und die Schweizer.Endkampf in abgelegenen Schützennestern dauerte bis
     12. Mai 1944.« Vgl. auch zu den Triestkämpfen BA-MA, N 756/189, Sammlung Vopersal. Die
     1. Pz.Kp. ergab sich demnach bei Udine neuseeländischen Truppen.
45
     Der Ic des Divisionstabs Pannwitz, Erwein Graf zu Eltz, schreibt in seinen Memoiren von
     verlängerten Kämpfen im kroatisch-slowenischen Grenzgebiet bis zur Rückzug, unter dem
     Schutz von SS-Polizeiführer Globocnik, nach Österreich am 7. Mai 1945, um sich der 8. Brit.
     Armee zu ergeben. Bis zu diesem Datum hatte die Division heftige Gefechte mit Partisanen

                                                                                 Kerstin von Lingen - 9783657767441
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1. Amerikanische und britische Interessen                                 229

bis Ende Mai bzw. Anfang Juni 1945 im österreichisch-jugoslawischen Grenz-
raum weiter.46 Die deutschen Verbündetentruppen machten sich bis zuletzt
Hoffnungen, im Westen bleiben zu können.47 Man wird mit einer gewissen
Berechtigung sagen können, dass all diese Gefechte mit dazu beitrugen, die
jugoslawische Bedrohung der westalliierten Kriegsziels Triest schließlich ab-
zuwenden: Am 12. Juni 1945 konnten die jugoslawischen Partisanen gezwun-
gen werden, Triest zu räumen und sich hinter die Morgan-Linie zurückzuzie-
hen. Triest wurde unter dem Namen »Free Territory of Triest (FTT)« unter
alliierte Verwaltung gestellt.48
   Aufgrund des Konflikts um Triest hatte die amerikanische Regierung gu-
ten Grund, nach 1945 einen öffentlichen Prozess um Karl Wolff und seine
Unterhändler zu fürchten. Die Verteidiger Wolffs hätten sich die Gelegen-
heit nicht entgehen lassen, darauf hinzuweisen, dass ein Exponent des ame-
rikanischen Nachrichtendienstes, wahrscheinlich mit Billigung seiner Regie-
rung, aus wirtschaftlichen, ideologischen und militärischen Gründen das
alliierte Prinzip von Casablanca, nur eine bedingungslose Kapitulation zu
akzeptieren, verletzte, als er mit Wolff in Verhandlungen eintrat49, und Un-
terstützung durch deutsche Truppen zur Erreichung alliierter Kriegsziele
nicht explizit ablehnte.
     rund um die Podravina geführt, unter anderem noch am 5. Mai 1945, vgl: Erwein Grad zu Eltz:
     Mit den Kosaken. Kriegstagebuch 1943-1945, S. 218 ff. Der Verband der in der deutschen
     Wehrmacht kämpfenden Kosaken (seit Feb. 1945: XV. Kosaken-Kavallerie-Korps) wurde ab
     Juni 1945 gemäß der alliierten Übereinkunft von Jalta von den Briten an die Sowjetunion bzw.
     jugoslawische Truppen übergeben. An der Grenze zu Kroatien kam es zu schrecklichen Über-
     griffen und Morden, besonders am mitreisenden Tross der Frauen und Kinder. Die meisten
     überlebten den Sommer nicht oder wurden zur Zwangsarbeit interniert. Den verbliebenen
     Offizieren wurde in der Sowjetunion als »Kollaborateuren der Deutschen« der Prozess gemacht,
     die Führer, darunter der deutsche General von Pannwitz, wurden Anfang 1947 gehängt.
46
     Die letzte Stellung der Division war zwischen Radkersburg und Wisseria (Slovenien). Von hier
     ging die Division zwischen dem 7. und 9. Mai nach Leutschach, passierte am 10. Mai Deutsch-
     Landsberg und kapitulierte zwischen dem 11. und 14. Mai 1945 im Raum um Preitenegg vor
     der britischen 6. Panzerdivision. Ab dem 17. Mai wurde die Einheit von der britischen 8.Armee
     verpflegt, Divisionskommando war in Hüttenberg. Am 12. Juni wurde die Division schliesslich
     entwaffnet. Vgl. Kriegstagebuch der Pionierabteilung der Division 12. Mai 1945, zitiert von
     Kornél Martin-Gábor Ugron: Fejezetek a Szent László hadosztály történetéb!l II. rész (Kapitel
     aus der Geschichte der Szent László Division Teil II.) In: Hadtörténeti Közlemények, 1996, Nr.
     4., S. 124; Am 14. Mai wurden noch bei der Division deutsche Auszeichnungen verteilt (Eben-
     da, Tagebuch György Goór, Bataillonskdeur. der Divison, S. 125). Ich danke Dr. Krisztián
     Ungváry, Budapest, für diesen Hinweis.
47
     Teilweise wurden den ungarischen Verbündetentruppen offenbar falsche Versprechungen ge-
     macht, wie die Tagebuchaufzeichnungen des ungarischen Kommandeurs andeuten: »Von 17.
     Mai bis 6. Juni 1945 blieben wir im Raum Wolfsberg und während dieser Zeit bekamen wir nicht
     nur reichliche Versorgung und Ergänzung unserer Ausrüstung an Waffen und Munition sondern
     auch den inoffiziellen Hinweis, dass das Besatzungsgebiet der Briten in Transdanubien sein
     würde, also Ungarn für die westliche Welt sichern würden. Die Divison wurde auch von Ge-
     neral Alexander inspiziert und schliesslich am 12. Juni 1945 entwaffnet.« Tagebuch György
     Goór, Bataillonskdeur. der Szent László Divison, in: Hadtörténeti Közlemények, 1996, Nr. 4,
     S. 126.
48
     Einen Überblick über die komplexe Problematik bietet Ralf Wörsdorfer: Krisenherd Adria
     1915-1955, Paderborn 2004, ab S. 522.
49
     Diese Meinung vertritt auch Rieder, Deutsch-Italienische Wirtschaftsbeziehungen, S. 350.

                                                                                  Kerstin von Lingen - 9783657767441
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230                           VI. Immunität und ihre Ursachen

   Doch auch aus diplomatisch-ideologischen Gründen erschien die Geheim-
haltung der Kapitulationsverhandlungen geraten. Zum einen entspricht es dem
Prinzip jeglicher nachrichtendienstlicher Arbeit, Informanten auch nach er-
folgreichem Abschluß einer Operation nicht offenzulegen, und es gab nach
1945 keinen Grund, etwa die Schweizer Partner derart bloßzustellen. Zum
anderen war es gerade für die USA und Großbritannien im Umgang mit Stalin
von Bedeutung, die äußere Form zwischen den Alliierten unbedingt zu wahren
und als verlässlicher Partner aufzutreten, um den sowjetischen Alliierten keine
Angriffsfläche zu bieten. Es zeigt sich jedoch anhand der »Sunrise« Verhand-
lungen, dass das Prinzip des »unconditional surrender« in den USA wie auch
in Großbritannien, nicht unumstritten war und umgangen wurde. »Uncondi-
tional surrender« sei »eine leere Formel, denn jede Kapitulation erfolgt zu ir-
gendwelchen Bedingungen«, so Dulles später ganz offen.50 Er hatte zeitlebens
gegenüber der Presse kein Hehl daraus gemacht, dass er die Formel für einen
»Kardinalfehler« hielt, der »Goebbels eine unschätzbare Propagandawaffe in
die Hand gegeben« habe.51 Das Beharren auf der bedingungslosen Kapitulati-
on habe zu einem wahnwitzigen Verteidigungswillen der deutschen Fronten
geführt und sei schlußendlich für die »Sowjetisierung östlich der Elbe« mit-
verantwortlich, so Dulles 1953 gegenüber der Presse.52 In Interviews und An-
fragen betonte er stets eine der Haupthesen seines Buches »Germany’ s under-
ground«: die Vernachlässigung der deutschen Opposition gegen Hitler durch
alliierte Stellen hätte jene zur Wirkungslosigkeit verdammt und schließlich
durch Nicht-Eingreifen der Alliierten im Blutbad der oppositionellen Kräfte
vom 20. Juli 1944 gemündet; letztlich habe man dadurch in der letzten Phase
des Krieges nur noch die Möglichkeit gehabt, mit NS-Funktionären anstatt mit
Oppositionskräften zu verhandeln. Ungeachtet von Dulles persönlicher Ab-
neigung gegen die Formel ist jedoch festzuhalten, dass die Verhandlungen
zwischen dem US-Nachrichtendienst und dem SS-General ab März 1945, dem
Treffen von Ascona, durch das Hinzuziehen militärischer Vertreter gegen gel-
tende alliierte Absprache und das Prinzip inneralliierter Einheit verstießen53;
diplomatische Verwicklungen mussten daher unter allen Umständen vermie-
den werden, und die Gespräche wurden verschleiert.
   Die äußere Form gegenüber Stalin zu wahren war eine Maske: Zwar hatte
man Moskau ab dem 11.3.1945 offiziell über die laufenden Verhandlungen
unterrichtet, doch die wütende Reaktion Stalins54 auf die Mitteilung, dass ein
Angebot zur Teilkapitulation vorlag55, war in London wie auch Washington als
Indiz für die Brüchigkeit des Bündnisses interpretiert worden, auch wenn vor-

50
     DCMLP, Dulles Papers, MC 019/ 38, 4 (Unconditional Surrender), letter Dulles to Susan Klein,
     Brandeis University/ Mass., 14.12.1965.
51
     DCMLP, Dulles Papers, MC 019/ 38, 4 (Unconditional Surrender), letter Dulles to Herbert
     Ellison (Washington Post), 6.9.1950.
52
     DCMLP, Dulles Papers, MC 019/ 38, 4 (Unconditional Surrender), letter Dulles to William
     Mathews (Daily Star), 9.2.1953.
53
     Smith/ Agarossi, S. 88.
54
     Smith/ Agarossi, S. 101-106.
55
     Smith/ Agarossi, 135-144, bes. S. 143; Waibel, S. 171 ff; Theil, S. 292-299.

                                                                              Kerstin von Lingen - 9783657767441
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1. Amerikanische und britische Interessen                                 231

dergründig Stalins Wunsch nach Abbruch der Verhandlungen umgehend ent-
sprochen wurde. Im Joint Chiefs of Staff versuchte man, so erinnerte sich der
Stabsoffizier Lincoln rückblickend, das wahre Ausmaß der Kapitulationsbemü-
hungen vor Stalin zu verschleiern, um sich »um Triest und Venezia-Giulia eine
besser Position zu verschaffen«, was durch die verzögerten Verhandlungen und
Verwicklungen um »Sunrise« jedoch nur zum Teil gelungen sei.56 Titos Forma-
tionen befanden sich seit März in Marsch auf Triest. Neben der territorialen
Ausdehnung des Nationalstaats ging es dabei ganz eindeutig auch um ideolo-
gische Zugehörigkeit: am 11. März 1945 wurde in Belgrad der sowjetisch-jugo-
slawische Freundschaftspakt unterzeichnet.57 Tito strebte eine staatliche Neu-
ordnung nach dem Muster einer Volksdemokratie an und fand darin auch auf
norditalienischer Seite unter Partisanengruppierungen große Sympathien bis
hin zu Nachahmung.58 Noch am 15. April 1945 unterstrich Tito in einem Inter-
view den jugoslawischen Anspruch auf die italienische Küstenstadt Triest.
   Triest wurde als Zwischenlösung unter dem Namen »Free Territory of Triest
(FTT)« unter alliierte Verwaltung gestellt, bevor es 1954 an Italien zurückge-
geben wurde.59 Ein nicht unbedeutender Teil Istriens, der zuvor unter italie-
nischer Verwaltung bzw. deutscher Besatzung gestanden hatte, musste dafür
geopfert werden. Eine alliierte Komission für Venezia-Giulia (März bis Mai
1946) war mit der Überleitung des Gebiets in eine Nachkriegsstaatlichkeit
beauftragt und gab vor, nach ethnischen Zugehörigkeitsmerkmalen eine Grenz-
linie festzulegen, die dann im Italienischen Friedensvertrag von Paris 1947
festgeschrieben werden sollte. Allein die Tatsache, dass die Komission vier
verschiedene Empfehlungen aussprach60, sich also nicht einigen konnte, macht
jedoch deutlich, dass neben der Ethnizität andere Gesichtspunkte genauso
schwer wogen. Neben militärisch-strategischen Gründen (einen wichtigen Ha-
fen genau auf der Grenze des »Eisernen Vorhangs«, dem unmittelbarsten Vor-
teil für die Westalliierten) ging es auch um die Verhinderung von separatisti-
schen Bestrebungen in Südtirol und Istrien, sowie um eine Zurückdrängung
der kommunistischen Ideologie in Norditalien, was nur durch eine völlige
politische Entmachtung der Partisanenformationen erreicht werden konnte –
die sich dadurch nach 1945 um ihren gerechten Lohn geprellt sahen.
   Triest war die Kriegsbeute der Westalliierten, die sie unter keinen Umständen
aufgeben wollten. Dies wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass einer der
beiden Sunrise-Unterhändler, General Terrence Airey, umgehend im Frühjahr
1945 zum Beauftragten General Morgans und später zum Militärgouverneur
von Triest ernannt wurde, ein Posten, auf dem er vier Jahre lang blieb.61 Airey

56
     DCMLP, Dulles Papers, MC 019/ 59, 10, letter G.A. Lincoln to Dulles, 27.12.1966. Lincoln war
     von Dulles gebeten worden, zum antikommunistischen »Hintergedanken« von Sunrise Stellung
     zu nehmen, da er damals Stabsoffizier bei Joint Chiefs of Staff war und die Entwürfe verfasst
     hatte, die nach Moskau gingen.
57
     Wörsdorfer, Krisenherd Adria, S. 469.
58
     Ebenda, S. 457.
59
     Ebenda, S. 522 ff.
60
     Ebenda, S. 533.
61
     Dulles/ Gavernitz, Unternehmen Sonnenaufgang, S. 301.

                                                                                  Kerstin von Lingen - 9783657767441
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232                            VI. Immunität und ihre Ursachen

ist maßgeblich daran beteiligt gewesen, die britisch-amerikanischen Nach-
kriegspläne für den Adriaraum umzusetzen und durch kleine Verhandlungs-
erfolge schließlich zum gewünschten Abschluß zu bringen. Es gelang, die
politische Lage im instablien Grenzraum Istriens zu beruhigen und schließlich
Triest ins westliche Bündnis einzubinden, was durch die Überghabe an Italien
1954 unterstrichen wurde.62 Bis zum Grenzvertrag von Osimo 1975 blieb die
Lage zwischen Italien und Jugoslawien jedoch angespannt63 – auch dies eine
mögliche Erklärung, warum Wolffs Schutz sich über Jahrzehnte erstreckte.
   »Sunrise« war durch die relativ späte Inkraftsetzung am 2. Mai militärisch
nur noch ein mittelmäßiger Erfolg, hatte jedoch psychologisch eine große
Wirkung im Westen: zum ersten Mal hatten sich die Anglo-Amerikaner gegen
Stalin durchgesetzt. Der amerikanische Leiter der Militärmission in Moskau,
General John Deane, urteilte 1946, »Sunrise« sei der Wendepunkt der ameri-
kanischen Politik gegenüber der Sowjetunion gewesen, ab dem sich die USA
mit neuem Selbstbewußtsein Stalin gegenüber gezeigt hätten.64 In seinen Me-
moiren formulierte Churchill: »Es drohte in der Tat eine unabsehbare Katas-
trophe, wenn wir uns getreulich an die Vereinbarungen hielten, während die
Sowjets, ohne sich im Geringsten um die eingegangenen Versprechungen zu
kümmern, zusammenrafften, was sie bekommen konnten.«65 In dieser Ziel-
setzung waren sich die USA mit den Briten einig, weshalb durchaus von einem
nicht offen formulierten antikommunistischen Konsens bei der Aufnahme von
Gesprächen mit einem SS-Führer gesprochen werden kann.66
   Die sowjetische Politik hat den Vorwurf des Bündnisverrats auf vielerlei
Weise in das kollektive sowjetische Kriegsgedächtnis einfließen lassen. Insbe-
sondere die Beteiligung der sowjetischen Beobachter während der Unterzeich-
nungszeremonie in Caserta wurde aus der Erinnerung getilgt.67 Während die
USA ein Interesse daran hatten, ihre militärischen und ideologischen Vorteile
nicht in der Öffentlichkeit rechtfertigen zu müssen, hatte die Sowjetunion
offenbar ein Interesse daran, als völlig unbeteiligt an den Verhandlungen zu
erscheinen. Dadurch erschien die spätere diplomatische Niederlage Stalins in
Bezug auf Triest und Norditalien als absolut unverschuldet.
   Erfolgreicher als die offizielle Lesart war die fiktive Spielart der Wolffle-
gende, ein Spionageroman Julian Semjanows von 1969, der die Mission des
sowjetischen Majors Maxim Issajev alias Hans-Otto von Stirlitz schildert, der

62
     Terence Aireys private Papiere aus seiner Zeit in Triest sind enthalten in seinem Teilnachlaß im
     Imperial War Museum London (IWM, P 66).
63
     Wörsdorfer, Adria, S. 10.
64
     Deane, Strange Alliance, S. 165. »It marked a distinct turn in the attidude of the United States
     toward the Soviet Union and gave notice that we were not to be pushed around.«
65
     Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Auszüge aus den sechsbändigen Memoiren, mit
     einem Epilog über die Nachkriegsjahre, Bern/München 1954, S. 837.
66
     Steinacher, Südtirol und die Geheimdienste, S. 49 ff; Kreis, Kriegsende, S.513 ff.; Smith/ Aga-
     rossi, Sonnenaufgang, S. 74.
67
     So hat sich das Schicksal des damals beteiligten Generaloberst Kirilenko nach 1945 nicht nach-
     prüfen lassen, es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass er in Ungnade fiel und in Haft verstarb.
     DCMLP, Dulles Papers, MC 019/ 72, 20 (»Secret Surrender correspondance«), letter Dulles to
     Alfred Goldberg, Oxford, 29.1.1965.

                                                                                Kerstin von Lingen - 9783657767441
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2. Schweizer Position und Neutralitätsproblematik                              233

bei Kriegsende herausfinden soll, auf welche Weise die Westmächte ihren öst-
lichen Alliierten betrügen wollen.68 Die Serie »Siebzehn Momente im Früh-
ling« wurde 1972 verfilmt und trotz ihrer 14 Stunden Gesamtdauer zum Stra-
ßenfeger in der Sowjetunion und im Ostblock, auch in der DDR.69 Die
Handlung dreht sich um den sowjetischen Top-Spion Stirlitz, der in die Füh-
rungsriege der SS eingeschleust ist und dort Stalins schlimmste Befürchtung
aufdeckt: einer vom Himmlers Helfern, General Karl Wolff, verhandelt gegen
die Sowjetunion mit den Amerikanern in der Schweiz. Ungewöhnlich an dem
Film ist die differenzierte Darstellung der deutschen Charaktere, deren Moti-
vation komplex ist und die als widersprüchlichen Zwängen unterworfene Men-
schen dargestellt und von populären Schauspielern verkörpert werden. Wolff
beispielsweise wird von einem smarten Frauenschwarm dargestellt und ist die
absolute Sympathiefigur der Serie. »17 Momente im Frühling« ist daher kein
Propagandafilm im plumpen Sinne, sondern die Verfilmung eines Thrillers, der
die Handlung auf der Propaganda aufbaute und daraus seine Inspiration bezog.
In der Tradition der erfolgreichen amerikanischen Pendants von John LeCar-
ree verlagerte die Stirlitz-Serie die ideolgische Front auf die fiktive Ebene.
   Die US Presse kommentierte die sowjetische Serie ironisch, ohne jedoch
konkret auf den Vorwurf des Bündnisverrats einzugehen oder diesen direkt
zurückzuweisen.70 Es scheint eher, als hielten beide Seiten diesen Verrat inzwi-
schen – 1974 – für eine Tatsache, über die nicht mehr viel Worte verloren
werden musste. Die Geschichte um Stirlitz und Wolff in den »17 Momenten
des Frühlings« ist dank ständiger TV-Wiederholungen und der dramatur-
gischen Mischung aus Spielfilmsequenzen und original sowjetischen Wochen-
schauberichten selbst im heutigen Russland noch Allgemeingut, nicht zuletzt
durch zahlreiche Anekdoten, und prägt die Wahrnehmung um das Kriegsende
in Europa71, während »Sunrise« im Westen fast völlig in Vergessenheit geriet.

      2. SCHWEIZER POSITION UND NEUTRALITÄTSPROBLEMATIK

Das Schweizer Interesse an einer Geheimhaltung der »Sunrise«-Verhandlungen
auf ihrem Boden trug ebenfalls dazu bei, die Verschleppung eines Prozesses
68
     Angeblich gab es bereits 1950 einen filmischen Vorläufer in der UdSSR mit dem Titel »Die
     Geheimmission«, darin spielt eine Spionin die Hauptrolle, die am Ende enttarnt und getötet
     wird, den sowjetischen Opfergang bei Kriegsende und den Verrat durch die Westmächte also
     noch stärker betont. Der Film hat sich nicht weiter lokalisieren lassen.
69
     Lexikon der Kriminalliteratur, Eintrag von Klaus-Peter Walter: Stirlitz – Julian S. Semjonows
     politischer Agent. Ein Porträt, in: Lexikon der Kriminalliteratur, Teil 3 (Themen/Aspekte),
     Meitingen 1995, S. 1-10. Klaus Mehnert: Über die Russen heute. Was sie lesen, was sie sind,
     Stuttgart/München 1983, S. 234 ff.
70
     New York Times, 7.1.1974: »Soviet Spy Thriller ›exposes‹ US plot«.
71
     Vgl. u.a. unzählige russische Interneteinträge zum Thema. Auch in der DDR-Offiziersausbil-
     dung wurde der Bündnisverrat und Wolffs Rolle noch 1986 in Schulungen behandelt.

                                                                                  Kerstin von Lingen - 9783657767441
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234                             VI. Immunität und ihre Ursachen

gegen Wolff zu begünstigen. Das Engagement Major Max Waibels und seines
Vorgesetzten, des Nachrichtendienstchefs Roger Masson, um einen Waffenstill-
stand zwischen Deutschen und Alliierten in Norditalien läßt Zweifel an der
nach außen vertretenen Neutralitätspolitik aufkommen. Vielmehr ist ein wirt-
schaftliches und politisches Interesse der Schweiz an einer Teilkapitulation in
Italien durchaus wahrscheinlich.72 Die Forschung hat das Thema der Neutrali-
tätsproblematik wiederholt aufgegriffen73, doch erst ab 1989, besonders im Zuge
der »Raubgold-Debatte« 1995 und nach den Ergebnissen einer Expertenkom-
mission 1998 zeichnet sich eine Neubewertung der Rolle der Schweiz im Zwei-
ten Weltkrieg ab.74 In der Rückschau auf den zweiten Weltkrieg, vor dem Hin-
tergrund einer ambivalenten Schweizer Kriegsgeschichte um wirtschaftliche
Beziehungen zu Deutschland und rigorose Flüchtlingspolitik, wurde der Topos
vom passiven Widerstand ein wesentliches Merkmal des Schweizer Nachkriegs-
Narrativs. Infolgedessen ließ sich die militärische Abwehrbereitschaft und der
Verteidigungsplan General Guisans als eine militärische Leistung deuten, die
dem Land die Verwüstungen des Krieges erspart habe.75
   Umgekehrt erklärt dies auch die Motivation zum Schutz Wolffs aus Schweizer
Sicht. Die Schweiz mußte aufgrund ihrer völkerrechtlichen Neutralität fürchten,
dass das beträchtliche Schweizer Engagement beim Zustandekommen der Treffen
und Kontakte um »Sunrise« nach 1945 publik werden würden.76 Zwar war es im

72
     Erstmals zu dieser Problematik Hans Ulrich Jost, Geschichte der Schweiz und der Schweizer,
     1983; Jakob Tanner: Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft. Eine finanzsoziologische
     Analyse der Schweiz zwischen 1938 und 1953, 1986.
73
     Die Arbeiten vor 1989 stellen generell, trotz kritischer Anmerkungen, die Neutralitätspolitik
     nicht in Zweifel. Vgl. Jon Kimche: General Guisans Zweifrontenkrieg. Die Schweiz zwischen
     1939 und 1945, Berlin 1962; Hans Rudolf Kurz: Nachrichtenzentrum Schweiz. Die Schweiz im
     Nachrichtendienst des zweiten Weltkrieges, Frauenfeld 1972; Konrad W. Stamm: Die guten
     Dienste der Schweiz. Aktive Neutralitätspolitik zwischen Tradition, Diskussion und Integrati-
     on, Frankfurt/M. 1974; Heinz K. Meier: Friendship under Stress. US-Swiss Relations 1900-1950,
     Bern 1970.
74
     Die Berichte der Unabhängigen Expertenkomission UEK sind publiziert, der Abschlußbericht
     unter dem Titel: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht
     der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Zürich 2002. Weitere
     Einzelstudien: Bonhage, Barbara/ Lussy, Hanspeter/ Perrenoud, Marc, Nachrichtenlose Ver-
     mögen bei Schweizer Banken. Depots, Konten und Safes von Opfern des nationalsozialistischen
     Regimes und Restitutionsprobleme in der Nachkriegszeit (Veröffentlichungen der UEK, Bd.
     15), Zürich 2001; Uhlig, Christiane et al., Tarnung, Transfer, Transit. Die Schweiz als Drehschei-
     be verdeckter deutscher Operationen (1939-1952) (Veröffentlichungen der UEK, Bd. 9), Zürich
     2001; diese Ergebnisse wurden seit 1989 von der Forschung vorbereitet, vgl. Markus Heiniger:
     13 Gründe, warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde, Zürich 1989; Georg
     Kreis: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1999; Georg Kreis (Hg.): Die Schweiz im
     internationalen System der Nachkriegszeit 1943-1950, Basel 1996; Donald Waters: Hilers secret
     Ally, Switzerland, La Mesa 1992.; Kunz, Mathias/ Morandi, Pietro, Die Schweiz und der Zwei-
     te Weltkrieg. Zur Resonanz und Dynamik eines Geschichtsbildes anhand einer Analyse poli-
     tischer Leitmedien zwischen 1970 und 1996 (Grundlagen und Möglichkeiten der schweize-
     rischen Aussenpolitik. NFP 42, Synthesis, Bd. 41), www.geschichtsbildschweiz.ch 2000.
75
     Thomas Maissen: Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Welt-
     kriegsdebatte 1989-2004, Zürich 2005, S. 99.
76
     IfZ München, ZS 3129, Brief Mayr von Baldegg an Fabian v. Schlabrendorff, 28.5.1980. Mayr
     Baldegg urteilt: »Die Verhandlungen und Kontakte waren nur von unserem Nachrichtendienst

                                                                                  Kerstin von Lingen - 9783657767441
                                                                Downloaded from Schoeningh.de10/21/2021 08:36:46PM
                                                                                                        via free access
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