Vokabularien für eine globale Bibliothek - Von Transfer, Transformation und Transkulturalität
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BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2021; 45(2): 239–248 Barbara Mittler* Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität https://doi.org/10.1515/bfp-2021-0021 Inhalt Zusammenfassung: Bereits vor einem halben Jahrhundert 1 Transfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 hat Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge auf die 2 Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Willkür und Macht von Ordnungssystemen hingewiesen. 3 Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Dieser Beitrag versucht, Vorschläge für ein neues dialo- gisches Format zur Konzeption einer globalen Bibliothek zu machen, die von und mit dem, was in einem Ordnungs- „Voilà pourquoi il nous faut d’un seul mouvement construire et system als „randständig“ in einem anderen jedoch „zen- explorer la bibliothèque mondiale ou totale“ „la bibliothèque mondiale n’est pas une institution réelle,1 mais un concept opé- tral“ erscheinen mag, gedacht wird. Diese globale Biblio- ratoire, un instrument scientifique, un protocole de lecture, une thek als „geteiltes“ und nicht mehr „hierarchisiertes“ façon particulière d’aborder les œuvres, une éthique de la con- Welterbe setzt eine neue Sprache, neue Vokabularien vo- naissance. Une expérience de vie“ raus, die nicht nur diachron, sondern auch diatopisch William Marx2 angelegt sind, und immer bereits aus einer transkulturel- len Perspektive betrachtet werden, die es erlaubt, die Als wir am 8. Mai 2020, jeder für sich, eingeschlossen in transformative Kraft von kulturellem Transfer konstruktiv seiner Wohnung, sei sie in Berlin, in Göttingen, in Paris und kreativ zu nutzen. oder in Mannheim, den 80. Geburtstag von Elmar Mittler ein erstes Mal digital feierten (hoffend, dass wir das ir- Schlüsselwörter: Transkultureller Vergleich; globale Bi- gendwann anders tun könnten), fiel mir in der Vorberei- bliothek; Weltliteraturen tung Die verborgene Bibliothek von Alberto Manguel (Leiter der argentinischen Nationalbibliothek seit 2015) in die Vocabularies for a Global Library-Transfer, Transformati- Hände, wo er das vielleicht etwas unorthodoxe Verfahren on, and Transculturality seiner väterlichen Sekretärin beschreibt, die, bei einem der Abstract: Already half a century ago, Michel Foucault in vielen Umzüge der Familie, vom Vater Manguel gebeten his Order of Things pointed to the arbitrary might of sys- worden war, „genügend Bücher zu kaufen, um die Regale tems of classification and order. This essay proposes a new in unserem neuen Haus zu füllen. Pflichtbewusst kaufte dialogical format for the conception of a global library that sie also ganze Wagenladungen an Büchern bei einem Anti- is thought in conjunction with what may appear to be quar in Buenos Aires ein, merkte aber, als sie die Bücher “marginal” in one system of order but “central” in another. einräumen wollte, dass viele von ihnen nicht ins Regal This global library as a “shared” and no longer “hierarchi- passten. Doch sie verzagte nicht und ließ einfach die Bü- zed” world heritage presupposes a new language, new cher zurechtschneiden und in dunkelgrünem Leder neu vocabularies that are not only diachronic but also diatopic binden.“3 Alberto Manguel erinnert sich, wie er als kleiner in nature, and thus always already viewed from a trans- Junge, aus dieser beschnittenen Bibliothek das ein oder cultural perspective which allows the transformative andere Buch stibitzte und wie anregend und kreativ es für power of cultural transfer to be used constructively and ihn war, sich beim Lesen dieser beschnittenen Bücher die creatively. weggefallenen Textteile hinzuzudenken. In den nun folgenden kurzen Überlegungen, möchte Keywords: Transcultural comparison; global library; ich Manguels Bild von der beschnittenen Bibliothek ein world literatures wenig weiterspinnen und davon reden, wie anregend, 1 Der belgische Bibliograph Paul Otlet (1868–1944) hat ein derartiges Projekt in den 1920er-Jahren begonnen, Otlet (1923). *Kontaktperson: Prof. Dr. Barbara Mittler, 2 Marx (2020) Absatz 68 f. und 71. barbara.mittler@zo.uni-heidelberg.de 3 Manguel (2018). Open Access. © 2021 Barbara Mittler, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
240 Barbara Mittler kreativ und vor allem bereichernd es sein kann, eine wirk- Grenzen und Grenzlinien Halt zu machen, die durch ein lich globale Bibliothek von den abgeschnittenen Rändern, Mehr oder Weniger an intellektuellem Komfort, individuel- den ungelesenen, weggefallenen Texten her zu denken, le Gewohnheiten und/oder Schul- und Universitätstradi- die, so würde ich behaupten, ein berechtigtes Sprechen tionen auferlegt werden.“8 Es wäre eine Bibliothek, die es von der „globalen Bibliothek“ erst möglich machen.4 Die uns erlaubte, immer wieder mit anderen Augen zu sehen. globale Bibliothek von den abgeschnittenen Rändern, den Die Zeiten dafür sind gut – noch nie waren wir so schnell weggefallenen Texten, her zu denken bedeutet nämlich, und einfach global miteinander verbunden – und die Zeit auch die Dinge zu thematisieren, die zunächst vielleicht drängt: Noch nie sind so viele Mauern gebaut worden. Wir nicht zwischen die ordentlich (kanonisch) ausgerichteten brauchen für den Bau dieser anderen globalen Bibliothek Regalbretter zu passen scheinen, weil in sonderbarem For- den Glauben an Transfer, Transformation und Transkul- mat, in unbekanntem Stil, in unverständlicher Sprache turalität (drei Teile dieses Beitrags). oder in fremdartigen Genres geschrieben. Ich möchte dies Denken von den Rändern vorschla- gen, nicht, um einmal wieder zu lamentieren, dass, wenn 1 Transfer es einen heute gängigen Kanon in der globalen Bibliothek gibt, dieser aus einer ganzen Reihe von Gründen klare Der hier vorgeschlagene Ansatz „von den Rändern“ her Ausgrenzungsmechanismen aufweist, dass die Vokabula- wird bei Pascale Casanova in La République mondiale des rien, die Sprache5 der globalen Bibliothek heute, wenn lettres9 (orig. Paris: Seuil 1999) bereits vorformuliert. Casa- man das Bild aufrecht erhalten will, noch deutlich dem novas Geschichte der „lettres“, also wörtlich der Texte der Beschneidungsritual der Manguel‘schen Hausbibliothek Welt, ist eine, die beginnt, auf diese Ränder, die Periphe- folgen. Kein neuer Opferdiskurs, nein, Lamentieren wäre rien, aufmerksam zu machen. Sie geht dabei aber immer zu einfach. Stattdessen möchte ich einige Gedanken ent- noch von der Dominanz bestimmter literarischer Zentren wickeln, die an der aktuellen Debatte über „shared herita- aus: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa, erklärt Casa- ge“,6 also geteiltes – und damit deutlich dialogisch ver- nova, ging der Weg zur literarischen Weihe immer notwen- schränktes – gemeinsames Erbe sich orientieren, indem digerweise nach Paris, der Welthauptstadt der Literatur ich überlege, wie offene Vokabularien für eine gemein- dieser Zeit, dem Greenwich der Literatur (méridien de same und horizontal, demokratisch, auf Augenhöhe ge- Greenwich littéraire), wie sie das nennt.10 Um globale Ak- teilte (oder zu teilende) globale Bibliothek aussehen könn- zeptanz und Anerkennung zu erlangen, also Teil des Ka- ten, die es uns erlauben, eine, ganz im Sinne von Elmar nons einer „globalen Bibliothek“ dieser Zeit zu werden, Mittler (und in den Worten von William Marx), „totale, eine mussten Schriftsteller aus aller Welt (und vor allem jene allumfassende Bibliothek zu bauen und zu beschreiben, aus den Gebieten, die literarisch „randständig“, nicht im die, so weit wie möglich und entsprechend den immer zentralen Fokus, waren) in Paris Akzeptanz finden. Nur notwendigerweise begrenzten Fähigkeiten des Forschers das Zentrum entscheidet, so Casanova, über die Einfügung (oder Bibliothekars), nationale, kulturelle oder sprach- dessen, was an den Rändern geschrieben wird, in die „glo- liche Barrieren [und also, im Weg stehende, zu tief oder zu bale Bibliothek“ einer bestimmten Zeit.11 hoch angebrachte Regalbretter, möglichst] außer Acht Ein Beispiel für diesen Mechanismus gibt William lässt“.7 Es wäre eine Bibliothek, die sammelt, „ohne an Marx, der am Collège de France einen für ihn so benannten Lehrstuhl für vergleichende Literaturen innehat, in seiner 4 Vgl. Marx (2020) Absatz 36. 5 Golay (2007) zitiert Glissant (2005) 173. du chercheur, des barrières nationales, culturelles ou linguistiques, 6 Vgl. etwa Parzinger (2016), Legget (2018). et qui envisage les problèmes littéraires dans leur plus grande globa- 7 Vgl. auch das Motto am Anfang. Die Zitate hier stammen wieder lité, sans s’arrêter aux frontières et aux lignes de démarcation plus ou aus der Antrittsvorlesung von William Marx (2020) Absatz 28 f. Er moins imposées par le confort intellectuel, les habitudes individuel- zitiert zunächst Croce (1903) 79, der erklärt: „la storia comparata della les et les traditions scolaires et universitaires.“ letteratura è la storia intesa nel suo vero senso, come spiegazione 8 Marx (2020) Absatz 28 f. completa dell’opera letteraria, compresa in tutte le sue relazioni, 9 Casanova (1999). collocata nell’insieme della storia universale (e dove altrimenti po- 10 Casanova (1999) 180 spricht von „transfer de prestige“ und „litté- trebbe collocarsi?), vista in quelle connessioni e preparazioni che rarisation“. Golay (2007) erklärt, dass ihre „histoire spatialisée de la sono la sua ragion d’essere,“ um dann zu antworten: „Oui, la littéra- littérature ne pourrait être comprise qu’à partir de sa propre mesure ture comparée doit avoir pour vocation privilégiée une description du temps, son méridien de Greenwich littéraire, qui fixerait le présent, totale de la littérature, c’est-à-dire une description qui fasse fi, dans la c’est-à-dire dans l’ordre de la création, la modernité.“ mesure du possible et selon les capacités toujours forcément limitées 11 Vgl. auch Sapiro (2016) und Sapiro (2019).
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität 241 im Januar diesen Jahres gehaltenen Antrittsvorlesung, die einer transkulturellen Perspektive sie betrachtet, selbst betitelt ist Vivre dans la bibliothèque du monde. Er beginnt randständig, ja „Peripherien“ werden können, oder aber, mit einem der bekanntesten Sonette Frankreichs: Les Con- eben von diesen gespeist werden. Ganz schnell fallen hier quérants, Die Eroberer, (1869) erscheint in allen Antholo- weitere Beispiele ein, die diese These stützen können, gien und Lehrbüchern der französischen Literatur an pro- Genres, die aus der „sogenannten“ Peripherie stammen minenter Stelle. Das Sonett, das die Entdeckung Kubas und dennoch zentrale Bedeutung erlangen: Brechts epi- durch Columbus beschreibt, ist ein Denkmal der französi- sches Theater, das sich aus der Pekingoper inspiriert und schen Poesie geworden. Der Autor José-Maria de Heredia eine neue Form der Dramatik begründet;14 die Idealisie- ist gebürtiger Kubaner und spanischer Untertan, aller- rung des japanischen Haiku-Kurzgedichts durch die briti- dings geboren von einer französischen Mutter.12 „Er hätte sche Imagisten-Bewegung, deren Mitglieder illustre Na- Gedichte auf Spanisch schreiben können“, so William men wie James Joyce, Amy Lowell, D.H. Lawrence und Marx. „Er hätte sich darin hervorheben können wie sein Ezra Pound tragen.15 Können wir wirklich noch von Rän- gleichnamiger Cousin [...], der der erste romantische Dich- dern, von Randständigem sprechen?16 ter Lateinamerikas war. Aber unser Heredia war im Alter Ist es nicht genauso, wie in dem schönen Bild von von neun Jahren nach Frankreich gekommen, und er war Manguel, nur ein Zufall – das ordnende Regalmaß ein französischer Dichter, lange bevor er französischer nämlich –, der bestimmt, wo und wie eine Bibliothek Staatsbürger wurde [...]. Hier ist also“, schließt Marx, „der jeweils beschnitten wird, was randständig wird und kei- Andere, der Ausländer dort, wo wir ihn nicht erwartet nen Platz mehr in dieser findet? Je nachdem, von wo man haben, im Herzen des nationalen literarischen Erbes.“ wann schaut und welcher Blickwinkel auf die Welt, also Das Gedicht Heredias endet mit dem Satz: eine solche „globale Bibliothek“, beschränkt, kann man natürlich auch, sagen wir, Chang’an in China,17 Delhi in „Ils regardaient monter en un ciel ignoré Indien18 oder Edo in Japan19 zu Zentren einer globalen Du fond de l’Océan des étoiles nouvelles“ (Sie [die Eroberer] sahen zu, wie aufstiegen, in einem unbekannten Himmelsfeld, 14 Vgl. grundlegend Tatlow und Tak-wai (1982). Vom Grunde des Ozeans, neue Sterne.) 15 Pratt (1963) 29 beschreibt, wie sie das japanische Kurzgedicht (neben klassischer griechischer Lyrik und der Poesie der französi- Und Marx erklärt: schen Symbolisten) zum Ideal stilisierten, weil in ihm „das Bild nicht ein Mittel, sondern das Ziel war: das Bild war nicht Teil des Gedichtes; „Wenn nun die Beschwörung dieser wilden Eroberer, die kurz es war das Gedicht.“ davor stehen, die Karibik und die Insel Kuba zu entdecken, 16 Marx (2020) Absatz 31 stellt diese Frage sehr schön pointiert: implizit eine Hommage an die Atlantiküberquerung durch die „Mais de quelle Europe s’agira-t-il? Bien des questions littéraires eigenen Vorfahren von Heredia darstellt, so bietet sie auch ein interdisent de se borner aux limites strictement géographiques de ce [...] Bild [...] des Dichters selbst, der auf friedlichere Weise den que Paul Valéry décrivait comme un petit cap du continent asiatique umgekehrten Weg [...] nahm, sich den Ufern Europas näherte, (Valéry (1957) 995): Une définition large s’impose, intégrant les litté- sich dort niederließ und es schließlich schaffte, neue Sterne zum ratures des langues européennes, de quelque continent qu’elles vien- Zenit der französischen Poesie zu bringen.“13 nent, et notamment des Amériques. Mais pourquoi s’arrêter là? Dès l’Antiquité classique, les échanges méditerranéens et eurasiens mi- rent en contact les cultures européennes avec l’Afrique et l’Asie, et ils Der Randständige, der – im Transfer – nach Paris kommt, ne cessèrent de se complexifier, en particulier avec les mouvements um mit seiner Dichtung zentraler Bestandteil der französi- de colonisation, puis de décolonisation. Nulle littérature n’est une ile. schen Literatur zu werden – eine Transformation –, und Matthew Arnold le disait déjà en 1857 lors de sa leçon inaugurale à damit in der Validierung durch das literarische Zentrum Oxford: ‚Aucun évènement, aucune littérature d’aucune sorte ne peut Paris auch Teil einer „globalen“ Bibliothek dieser Zeit zu se comprendre de façon satisfaisante sans une mise en relation avec werden, ist ein Beispiel, an dem man erkennen kann, dass d’autres évènements, avec d’autres littératures‘. (Arnold (1987) 59): En toute rigueur, c’est l’étude isolée des littératures nationales qui Randständige von den „Peripherien“ – die „neuen Sterne“ mériterait justification, et non point la littérature comparée, dont la aus einem „unbekannten Himmelsfeld“ – eigentlich ge- largeur de vue correspond à la pratique commune: le lecteur ordinaire nauso zentral sein können – weil anregend und kreativ – fait rarement acception de l’origine de ses lectures, rendues homogè- wie jene, die „zentral“ genannt werden. Das ist deswegen nes par la traduction.“ so, weil schon die „Zentren“ ihrerseits, wenn man aus 17 Chang’an (wenige Kilometer westlich des heutigen Xi’an), war Sitz der ersten Regierung, die China „einte“, unter Qin Shihuangdi mit der Terrakottaarmee, Chinas Tor zur Seidenstraße und Kulturhaupt- stadt in verschiedenen chinesischen Dynastien, namentlich der Han 12 Marx (2020) Absatz 8. (206 v. Chr.–220 n. Chr.) und der Tang (617–907), die als kulturelle 13 Marx (2020) Absatz 9. Blütezeiten in der chinesischen Geschichte gelten können.
242 Barbara Mittler Bibliothek erklären. Mit dem Ziel, Wege aufzuzeigen, wie die mit ihren faszinierenden Ordnungen, die Michel Fou- wir wegkommen von den kanonischen Wertungen, die cault schließlich zu seiner Ordnung der Dinge inspirieren dem allein zweiseitigen Vergleichsschema von Zentrum sollte).23 und Peripherie innewohnen (dem auch die Idee von multi- Der dialogische transkulturelle Vergleich in einer plen Zentren, die Casanova vorschlägt, nur bedingt weiter- wirklich globalen Bibliothek ist etwas, was William Marx hilft),20 möchte ich hier postulieren, dass der Anspruch eine transformierende „Ethik des Erfahrens und Wissens – und damit das Vokabular zur Beschreibung einer wirklich une éthique de la connaissance“24 nennt. Die globale Ge- globalen – weltumfassenden, totalen (à la Marx) – Biblio- genüberstellung von Texten aus ganz verschiedenen Re- thek wesentlich vielfältiger, vielschichtiger und vielseiti- gionen und Zeiten in dieser globalen Bibliothek ermöglicht ger sein muss als Modelle, die die Welt auf die beiden Pole, es uns, unsere eigenen Ordnungen zu überdenken und Zentrum und Peripherie, reduzieren. unsere Fragen neu und anders zu stellen. Wenn wir dia- logisch immer verschränkt und nicht beschränkt über unterschiedliche wichtige Orte, ikonische Figuren oder 2 Transformation grundlegende Genres in dieser globalen Bibliothek nach- denken und dabei wie selbstverständlich Paris, Delhi und Ich schlage als einen Schritt auf diesem Weg einen dialogi- Edo; Joyce, Beckett, Brecht und Ibsen, aber eben auch die schen transkulturellen Vergleich vor. Dieser ermöglicht es Heredias (und zwar sowohl den französischen als auch uns, indem wir uns immer wieder neu mit dem radikal den kubanischen Cousin), die Lu Xuns, und Achebes; den Anderen konfrontieren, unser spezifisches, regional be- Roman und die Tragödie, aber eben auch das zhiguai (ein stimmtes Wissen regelmäßig neu überdenken, und so das chinesisches Genre von Geistergeschichten) und das no Vokabular, mit dem wir darüber sprechen, zu beleben (eine japanische Form des Musiktheaters) miteinander ins und zu erweitern, zu verändern und zu transformieren. In- Gespräch bringen, werden wir nicht mehr einfach be- dem wir uns mit ungewohnten Perspektiven aus anderen schneidend Gleichgeformtes mit Gleichgeformtem neben- Regionen auseinandersetzen und so unsere oft unhinter- einander in das Regal stellen, sondern im Interesse an fragt und unbewusst bleibenden Gewissheiten, die wir auf- diesem gemeinsamen Erbe dialogisch zu den bestehenden grund unserer disziplinären oder regionalen Expertise mit- Unterschieden und Gemeinsamkeiten Fragen zu stellen bringen, erkennen, und unsere eigenen Objekte mit neuen beginnen, die wir bisher so nicht zu stellen geneigt oder in Augen sehen und so innovative Sichtweisen auf eben nur der Lage waren, weil wir diese Texte eher aus singulärer scheinbar bekannte Welten generieren, können wir neue nationaler, oder aus hierarchisierend bipolarer, nicht aber Kategorien, neue Ordnungssysteme entdecken und damit aus transkulturell vergleichender und globaler Perspektive unsere eigenen Ordnungssysteme „entgrenzen“21 (und hier erinnere ich an Borges Argument, es existiere eben „keine Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und 23 Die Passage aus der „chinesischen Enzyklopädie“, die er zitiert, mutmaßlich ist“,22 exemplifiziert u. a. an einer von ihm ist ein inzwischen berühmt gewordenes Zitat, das dem Sinologen entdeckten [allerdings fiktiven] chinesischen Enzyklopä- Franz Kuhn zugeschrieben wird. Foucault erklärt im Vorwort: „Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle 18 Delhi kann als „kulturelle Hauptstadt“ des Mogulenreichs (16.– geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, die für uns die 18. Jh., 1526–1858) bezeichnet werden. zahlenmäßige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen lassen und 19 Edo, heute Tokyo, war unter dem Tokugawa Shogunat (1603– unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen 1868) eine der wichtigsten Kulturstätten Japans. (du Même et de l’Autre) schwanken läßt und in Unruhe versetzt. 20 Casanova (1999) 227. Dieser Text zitiert ‚eine gewisse chinesische Enzyklopädie‘, in der es 21 Radhakrishan (2009) 454, Anderson (2016). heißt, daß ‚die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser 22 Borges (1992) 116. Um diese Willkürlichkeit zu belegen, stellt er gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) neben die „Willkürlichkeiten von Wilkins“ die eines „unbekannten Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung (oder apokryphen) chinesischen Enzyklopädisten“ und schließlich gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen des „Bibliographischen Institut(s) in Brüssel.“ Letzteres (ein Institut Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 1) und so weiter, m) die den über dessen Provenienz und Identität nichts weiter gesagt wird), so Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aus- erklärt Borges, „befleißigt sich ebenfalls des Chaotischen: Es hat das sehen.‘ Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit Weltall in tausend Unterteilungen zerstückelt, von denen Nummer einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber 262 dem Papst entspricht“ und „schreckt vor heterogenen Untertei- eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Den- lungen nicht zurück, zum Beispiel Nummer 179 Grausamkeit gegen kens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.“ Foucault (1971) 17. Tiere. Tierschutz. Duell und Selbstmord, moralisch betrachtet.“ 24 Marx (2020) Absatz 68 f. und 71.
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität 243 betrachtet haben. Unser Regal muss dazu nicht kaputt le Modellierung“28 bezeichnen könnte, der verallgemeiner- gehen, nur flexibler ausgerichtet und geordnet werden, te Begriffs- und Ordnungsapparat, mit dem wir gewohn- damit all diese unterschiedlich geformten Werke neben- heitsmäßig arbeiten – die Größe der Regalfächer und die einanderpassen, die eben doch, wie in Warburgs Mnemo- Schere der Sekretärin Manguels; oder der, wie Roland Bar- syne-Atlas oder in der chinesischen Enzyklopädie bei Bor- thes das in seiner Leçon nennt, „faschistische“ Ordnungs- ges,25 zueinander gehören können, weil sie alle lettres apparat Sprache.29 Versuche, ein Genre wie den „Roman“ (bei Casanova), oder, wie es eine japanologische Kollegin etwa in globaler Perspektive zu studieren, zeigen, wie Wiebke Denecke fasste, Letter-atur26 aus Zeichen zusam- äußerst schwierig es ist, der wohl unvermeidlichen Zirku- mengesetzte Texte dieser ganz entgrenzt gedachten globa- larität dieser Art von Modellierung zu entkommen – Lu len Bibliothek sind. William Marx fasst das so: Xun 魯迅 (1881–1936) etwa, einer der großen Literaten der chinesischen Moderne, bewertet in seinem Abriss zu einer „Es ist [...] illusorisch zu glauben, dass es möglich wäre, dem chinesischen Literaturgeschichte 中国小说史略 chinesische Kanon oder der Bibliothek zu entkommen. Nur eine andere Bibliothek kann uns vor der Bibliothek retten, aber die Arbeit der „Romane“ nach ihrer Entsprechung zu gängigen europäi- Verfremdung wird mit dieser neuen Bibliothek wieder beginnen schen Definitionen.30 So wird Der Traum der Roten Kammer müssen, und so weiter [...] die Kanons sind unvermeidlich, und 紅樓夢, ein Werk aus dem 18. Jahrhundert, bei ihm als der keiner von ihnen ist perfekt. Wir dürfen nicht einen Kanon durch „erste echte Roman bezeichnet“, weil hier (endlich – wo es einen anderen ersetzen, sondern müssen sie multiplizieren, sie doch schon, wie er zeigt, seit einigen Jahrhunderten in überlagern, mehrere von ihnen gleichzeitig einsetzen und vor allem die Erinnerung an sie bewahren.“27 China „Romane“ gibt) die Tiefenstruktur und psychologi- sche Entwicklung der Charaktere ebenso wie die narrative Erst dann werden sie, so möchte ich hinzufügen, gemein- Struktur als Ganzes europäischen Maßstäben entspricht.31 sam geteiltes Erbe. Lu Xun formuliert: Eines der wiederkehrenden Probleme bei der Konzep- tion einer solchen, wirklich globalen Bibliothek ist die „Obwohl die Ereignisse, die in diesem Roman beschrieben wer- kategorische Einschränkung, das, was man als „universel- den, der Menschen übliche Sorgen und Freuden, Begegnungen und Trennungen sind, ist ein Bruch mit den alten Konventionen erfolgt, so dass sich dieses Buch beträchtlich von früheren Sit- 25 Vgl. etwa Johnson (2012) und – besonders interessant in der tenromanen unterscheidet.“32 Gegenüberstellung von unterschiedlichen Welten – die der Kunst und „Das Wichtigste bei diesem Werk ist, dass es der traditionellen die der Wissenschaft sowie Brown und Green (2002). Anschauung über Romane und wie sie geschrieben werden müs- 26 Vgl. die von Wiebke Denecke und japanischen Kollegen heraus- sen, ein Ende gesetzt hat.“33 gegebene dreibändige revisionistische Geschichte der japanischen Literatur A New History of Japanese „Letterature“ 日本「文」学史, die Wenn wir, so wie Lu Xun, damit beginnen, einen chinesi- die traditionelle Welt der „geformten Zeichen“ (文 wen/bun) wieder schen Text in ein europäisches Modell und die dazugehöri- aufgreift, die in Ostasien der Übernahme europäischer Literaturkon- zepte vorausging, Kimiko et al. (2015–2019). ge Terminologie einzupassen, und zwar selbst, wenn diese 27 Marx (2020) Absatz 69. Sehr zu Recht bemerkt meine sinologi- zunächst ganz „neutral“ erscheint, so werden wir in den sche Kollegin in Göttingen Henrike Rudolph, dass man diese Kanon- meisten Fällen am Ende doch „entdecken“, dass es sich bei bildung oder Beschneidung auch noch anders denken kann, sie ist der partikularen Ausformung derselben immer um ein „pri- oft natürlich ein gezielter Prozess (der Ordnungssuche oder Systema- mär europäisches“ Phänomen handelt, von und vor dem tisierung, wie es auch Eva Schlotheuber in ihrem Beitrag diskutiert). Dieser Prozess der Beschneidung, den man in China bei der Schaf- andere nur im guten Fall abweichen, im schlechten Fall fung großer Texteditionen (wie etwa das Siku quanshu 四庫全書 Voll- ständige Schriften aus vier Schatzkammern aus dem späten 18 Jahr- hundert), die immer einhergingen mit der Zerstörung bestimmter 28 Van der Veer (2016) 29. Schriften und bis in die Gegenwart, im Zensurstaat Volksrepublik 29 Barthes (2002) 432 f. beobachten kann, untergräbt ebenso die Idee einer globalen Biblio- 30 Lu Xun 中国小说史略 Zhongguo xiaoshuo shi lüe (übersetzt als Lu thek. Was etwa, so schreibt sie, „in der VR China publiziert und von Xun: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung) (1981). Das Bibliotheken akquiriert wird, dient zunehmend der Erzeugung eines Buch ging auf Vorlesungen zurück, die Lu Xun an der Beijing Uni- homogenen Kanons und Ordnungsmusters und nicht der Pluralität versität gehalten hatte. Vgl. hierzu Mittler (2002). oder Transkulturalität. Der Worldmaking-Anspruch der globalen Bi- 31 Für eine moderne psychoanalytische Lesung, die zeigt, dass diese bliothek trifft dort auf Han-chinesisches Nationmaking.“ In der Tat Lesung durchaus ihre Berechtigung hat, vgl. Chan (1980) 180. Auch muss die globale Bibliothek „nicht nur Ränder aufzeigen, sondern spätere europäisch-sprachige Übersetzungsanthologien beschreiben auch die Leerstellen lokaler Regale auf globaler Ebene ausgleichen, diesen Roman als „mehr ein Roman als andere chinesische Romane“, und damit zur ‚Beunruhigung‘ starrer Nationalismen beitragen“, wie so McKnaughton (1974) 731. Marx das im oben zitierten Abschnitt sagt: „Seule une autre biblio- 32 Lu (1981) 320. thèque peut nous sauver de la bibliothèque!“ 33 Lu (1981) 455 f.
244 Barbara Mittler zurückfallen können.34 Jede Vokabel, sei sie so offensicht- Aufbau einer globalen Bibliothek nicht Teile der Welt ein- lich spezifisch wie „Satire“ oder so scheinbar unspezifisch fach ignorieren. Also gilt es, andere Wege und Sprachen wie „Tragödie“, wenn sie einmal mit einer bestimmten des Vergleichs zu finden, und das meine ich, wenn ich europäischen Erfahrung in Verbindung gebracht wurde, über eine „im Transfer zu transformierende, und nur so wird folglich in diesem Licht und mit dieser Erfahrung im potentiell gemeinsame Terminologie“ spreche. Wir kön- Kopf gelesen werden – und das nicht nur von europäischen nen beginnen, nicht nur diachron, sondern auch dia- Interpretationsgemeinschaften, sondern, wie das Beispiel topisch unsere Vokabularien zu erweitern und Begriffe wie Lu Xun zeigt, auch von denjenigen aus anderen Teilen der „Roman“ oder „Tragödie“ in diesem transtemporären und Welt, die seit nunmehr etwa zwei Jahrhunderten mit einem transregionalen Dialog neu fassen, mit dem letztendlichen bedeutenden epistemologischen Bruch leben, der es nach Ziel, einen Weg zu finden, der in Richtung einer „trans- sich zog, dass sie einen eigenen Satz europäisch-geprägter kulturellen Hermeneutik“ oder eines „globalen Denkens“ Neologismen zur Verfügung haben, gekoppelt mit den da- gehen könnte. Wir könnten dazu zunächst auch andere zugehörigen Ordnungsmaßstäben, die sie auch verinner- Vokabularien als die europäischen nutzen, und uns so auf licht haben: Die Wertung des Traums der roten Kammer etwas einlassen, das man Burke folgend „Rotationsprin- durch Lu Xun zeigt das sehr deutlich. zip“37 nennen könnte, um so neu auch über unsere eige- Wenn wir beim Bau unserer globalen Bibliothek den nen Texte nachzudenken – sie in anderen Regalen ein- partikularen Gebrauch einer immer schon aufgeladenen zuordnen, nicht bei Roman, sondern zum Beispiel bei小說 Terminologie und Sprache nicht sorgfältig über- und dia- xiaoshuo (eine alte in den frühesten Texten bereits etab- logisch umdenken – mit offenen Ohren und offenen Augen lierte Begrifflichkeit, mit der heute in China Roman/Fikti- sozusagen – und dieses Vokabular betrachten als nicht on übersetzt wird und die auch Lu Xun in seiner Literatur- eine fixierte, sondern eine im Transfer zu transformierende geschichte benutzt).38 Wenn wir verschiedene regionale und nur so potentiell gemeinsame Terminologie, die auch Terminologien oder terminologische Variationen zur Norm eine reiche Vielfalt möglicher Bedeutungen enthalten erklären oder mehrere Norm-Variationen anbieten, indem kann, dann laufen wir Gefahr, die Texte der globalen wir einander zuhören und miteinander als Spezialisten auf Bibliothek durch die Nutzung dieses Vokabulars zu zwin- unseren jeweiligen Gebieten sprechen, können wir unse- gen, sich bestimmten, sei es europäischen oder anderen ren Gebrauch einer bestimmten Terminologie erweitern Modellen anzupassen, – wir beschneiden sie an den Rän- und bereichern, was schließlich auch dazu führen kann, dern. Denn die mit einer statisch gebrauchten, nicht im dass wir andere Interpretationen dessen, was oft als „das Transfer angereicherten, einseitig verstandenen Termino- eigentliche Ordnungsprinzip“ betrachtet wird, überden- logie unweigerlich einhergehenden nicht-dialogischen bi- ken.39 William Marx bringt das, in Angedenken an Barthes, polaren, ausgrenzenden Vergleiche sind niemals neutral etwas salopp so auf den Punkt: „Die Sprache ist faschis- oder desinteressiert, sondern zwangsläufig von Natur aus tisch, aber zehn Sprachen zusammen sind weniger fa- perspektivisch, tendenziös und didaktisch, oder, anders ausgedrückt, konkurrierend, präskriptiv und letztlich im- mer schon hierarchisch ausgerichtet, wie Rajagopalan Radhakrishan, ein in den USA lehrender Komparatist aus 37 Burke (2009) 17. 38 Vgl. die Beschreibung in Kapitel 1 bei Lu (1981). dem indischen Staat Tamil Nadu argumentiert: „Hinter der 39 Marx beschreibt diesen Prozess an einer Neulesung dessen, was scheinbaren Großzügigkeit des Vergleichs verbirgt sich Tragödie bedeuten kann. Marx (2020) Absatz 47: „M’interrogeant sur immer die Aggressivität einer These.“35 So kann der Ver- l’incompréhension des modernes vis-à-vis de la tragédie grecque, il gleich, unter Verwendung einer statisch verstandenen, be- me fut possible de montrer que les tragédies grecques formaient en stimmten Terminologie – und der ihr zugrundeliegenden réalité un corpus bien plus hétérogène qu’on ne le croyait, et que la Epistemologie, der Nutzung von partikularen, einseitig sélection des trente-deux tragédies transmises par la tradition était le produit d’un biais idéologique et esthétique. Notre image mentale de sprachlich bestimmten Modellen und Ordnungen – riskant la tragédie avait ainsi été abusivement amputée de toutes ces tragé- sein, woran Peter Burke vor vielen Jahren schon erinnert dies, beaucoup plus nombreuses qu’on n’aurait pu le penser, qui hat.36 Sich deswegen gar nicht mehr auf den Vergleich paradoxalement finissaient bien: les tragédies heureuses (William einzulassen ist aber noch gefährlicher: Man kann beim Marx, Le Tombeau d’Œdipe. Pour une tragédie sans tragique, Paris, Éditions de Minuit, 2012, 47–83). Or, rectifier notre conception des tragédies grecques modifie non seulement notre façon de les lire ou de les mettre en scène, mais aussi notre propre croyance au tragique 34 Marx (2020) Absatz 70. de l’existence. Un simple déplacement de l’équilibre du canon est 35 Radhakrishan (2009) 454. susceptible d’altérer notre rapport au monde, tant les œuvres littérai- 36 Burke (2009) 17. res nous servent de modèles pour penser notre propre vie.“
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität 245 schistisch als eine, [...] bilden ebenso viele neue Freihei- Texte unterschiedlicher Kanon-Ordnungen lesen und ana- ten.“40 lysieren, um so in einem erweiterten Dialog alternative Anstatt also die chinesische (oder jede andere) Les- Denkweisen, Kategorien und Vokabularien für diese zu und Machart des „Romans“ als „unzureichend“ oder als erarbeiten. Das Schöne daran: Wenn man diese verschie- ein „Missverständnis“ zu verunglimpfen, könnte dieser denen Positionen aus einem mehrsprachigen Dialog mit- offene Dialog stattdessen eine Möglichkeit bieten, auch denkt, ist es nicht mehr nötig, Grenzen zu ziehen oder von den europäischen „Roman“ zum Beispiel als 小說 xiao- Zentren oder Peripherien zu reden, den Mythos der kul- shuo („kleines, also unwichtiges, weil nicht staatstragen- turellen Überlegenheit des einen oder anderen Zentrums des, zunächst mündlich weitergegebenes und dann erst oder gar einen „Diebstahl der Geschichte“ des einen durch durch Literati aufgeschriebenes Gerede“) neu zu überden- den anderen zu beklagen.44 ken. In den Worten der Wissenschaftstheoretikerin Karin Die Idee, die hinter der globalen Bibliothek steht, ist Knorr-Cetina hört sich das so an: analytisch und nicht moralisch: Bei dem vielstimmigen Dialog, den eine total globale Bibliothek erlaubt, geht es „Wenn man eine vergleichende Optik als Rahmen für das Sehen nicht um richtig oder falsch, sondern um das gegenseitige benutzt, kann man die eine Wissenschaft durch die Linse der Erfahren eines geteilten oder noch zu teilenden Erbes. Die anderen betrachten. Dadurch wird das Unsichtbare ‚sichtbar‘; Idee, die hinter der totalen globalen Bibliothek steht, ist jedes Muster, das in einer Wissenschaft detailliert beschrieben wird, dient als Sensor, um (äquivalente, analoge, widersprüchli- der Versuch, dieses offene Format des Denkens im Dialog che) Muster in der anderen Wissenschaft zu identifizieren und zu fördern.45 Als dezentriert antagonistische Intervention abzubilden.“41 kann dieses Denken neue Ordnungssysteme schaffen oder ermöglichen. Eine globale Bibliothek aufzubauen bedeu- Andere Vokabularien, andere Kanon-Setzungen fordern tet, die unterschiedlichsten Texte, die die Welt hervor- das Denken, stellen die eigene Weltvorstellung infrage gebracht hat, zu lesen und versuchen zu verstehen, was sie und bieten so Raum für Transformation.42 Eine offene, viel- bedeuten, sowohl, wenn sie in Begriffen sprechen, die völ- sprachige globale Bibliothek „verwandelt den Leser, sie lig unbekannt erscheinen, aber fast noch mehr (siehe dezentralisiert und erneuert (seine) Existenz. (La biblio- das Beispiel des „Romans“ in der Definition von Lu Xun), thèque mondiale transforme le lecteur, elle décentre et wenn diese zunächst recht vertraut aussehen, es aber nur renouvelle son existence).“43 an der Oberfläche sind. Der transkulturelle Vergleich, die globale Gegenüber- Dieser transkulturelle Dialog, nimmt man ihn ernst, ist stellung von Quellen aus verschiedenen Zeiten und Regio- nie ein einseitiger, sondern immer ein wechselseitiger nen der Weltgeschichte zwingt uns dazu, Fragen zu stel- Austausch – Transfer und mehr: Er ist ein Gespräch zwi- len, die wir bisher nicht zu stellen geneigt waren, wenn die schen Gleichen und ist daher kein Versuch der Integration, Objekte unserer Untersuchung als Objekte singulärer na- sondern der Transformation, ein Versuch, das viele Andere tionaler und nicht transkulturell vergleichender und glo- deutlicher zu zeigen in einer kosmopolitischen Erzählung baler Geschichten eines geteilten Erbes behandelt wurden. zu jedem unserer Begriffe, in jeder unserer Sprachen. Der Der so geführte transkulturelle Vergleich, der die globale dialogische transkulturelle Vergleich ist eine Alternative Dimension zur Methode macht (ich nenne das „world-as- zu dem Wettbewerbsgeschrei: „Wir waren die Ersten“,46 method“), bedeutet, dass viele Spezialisten gemeinsam die die das ehrliche Teilen von Erbe überhaupt erst ermög- licht. Die globale Bibliothek, so William Marx, 40 Marx (2020) Absatz 64: „Pas de liberté qui ne s’exerce dans une structure: c’est la colombe de Kant, qui croyait voler mieux, et plus „vereint eine Unzahl heterogener Bibliotheken, von denen jede vite, et plus haut, si elle évoluait dans le vide. Or, sans air, pas de vol nach ihren eigenen Kriterien, Hierarchien und Klassifikationen possible, et pas davantage de littérature sans langue ni culture, sans zu betrachten ist. So wie die antiken Bibliotheken aus zwei Abtei- mythes ni lieux communs. La langue est ‚fasciste‘, elle oblige à dire, lungen bestanden, einer griechischen und einer lateinischen, so affirmait ici même Roland Barthes, mais la capacité de ‚tricher‘ avec vereint diese totale Bibliothek alle Bibliotheken der Welt, jeder elle, il la nommait littérature (Roland Barthes, Leçon (1977), dans Kultur, jedes Landes, jeder Sprache und jedes Alters. Es gibt viele Œuvres complètes, éd. Éric Marty, Paris, Seuil, 2002, vol. V, 432–33). La langue est fasciste, mais dix langues ensemble sont moins fascis- tes qu’une seule, et dix littératures forment autant de libertés nou- 44 Diese Formulierung zum Mythos der kulturellen Überlegenheit velles.“ stammt aus Goody (2006) 127. 41 Knorr-Cetina (1999) 4. 45 Hierzu mehr in Mittler und Maissen (2018). 42 Marx (2020) Absatz 47. 46 Burke (2009) 27 schreibt entsprechend: „the Western Renaissance 43 Marx (2020) Absatz 72. deserves to be viewed as a member of a family.“
246 Barbara Mittler Objekte darin, die gar keine Bücher und kaum Texte sind und die schiedlichen Zuschnitts sozusagen.50 „Brauchen wir die nur einen sehr entfernten Bezug zu dem haben, was wir heute Norm?“, fragt er, „Hat die Welt eine innere Uhr, ein Pendel, Literatur nennen.“47 das von Maß zu Maß kippt, und zwar in alle Ewigkeit?“51 Wofür er in seiner Poetik plädiert, ist das, was er selbst Das ist sehr schön gesagt, aber: Nebeneinanderstellen praktiziert, eine besondere Art der offenen Reflexion, die reicht noch nicht ganz (denn die Regalbretter sind, und fortschreitet und sich dabei immer wieder selbst korrigiert damit verbunden das Beschneiden der Ränder, immer und neu definiert, in einer Bewegung, die nicht linear, noch das Problem): Es reicht nicht die additive Ordnung sondern nomadisch, im Zickzack, zirkulär, im Hin und Her von Spezialbibliotheken, von denen jede ihre ganz eigene shot-reverse-shot genannt werden kann, die eine fortwäh- Sache und ihr ganz eigenes Gebiet repräsentiert, die aber rende Transformation generiert, die entsteht aus der im- keinen Kontakt zueinander bekommen. Es reicht nicht mer wieder neu wahrgenommenen Begegnung mit dem allein das durch den Transfer von Buch-Objekten entstan- Anderen.52 Um es anders zu sagen: Wir sind alle anders, dene Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Objek- wie Heredia oder Ausländer, fast überall... ten, die nicht miteinander in Verbindung treten. Es hilft auch nicht immer, diese an andere Bibliotheken mit den ihnen angepassten Ordnungen zurückzugeben, folglich 3 Transkulturalität Restitution zu betreiben.48 Die totale globale Bibliothek, wie sie mir vorschwebt, besteht auf Transformation, auf „Gardons toujours une porte ouverte, acceptons l’existence d’un dem Zusammenkommen dieser unterschiedlichen Buch- ailleurs de la totalité, laquelle ne peut être qu’un rêve, telle en un ciel ignoré l’espérance ou la surprise d’étoiles nouvelles.“ Objekte und Spezialbibliotheken in einem engagierten William Marx53 und kritischen, sicher oft auch antagonistischen Dialog, der darin besteht, jeweils die Ordnungssysteme der ande- Dieser Beitrag ist ein Versuch darüber nachzudenken, wie ren kennenzulernen und zu hinterfragen, um so sich selbst wir Vokabularien schaffen können, die es uns erlauben, im in die Lage zu versetzen, eigene Prämissen und Stand- Bewusstsein der Beschneidung, die mehr oder weniger punkte zu überdenken, und, während man durchaus an arbiträr und meist unschuldig oder aus Unwissen Ränder ihnen festhält, dennoch sich selbst zu verwandeln, in dem produziert, eine neue Vision von globaler Bibliothek zu Bemühen, aus dem zu lernen, was vielleicht weit entfernt, produzieren, die potentiellen Sammelobjekte dieser glo- in Raum und Zeit, aber dennoch recht relevant für das balen Bibliothek, Texte unterschiedlichster Art – Musiken, Verständnis der eigenen Gegenwart und Zukunft ist. Es ist Filme, Literaturen und vieles andere mehr – in Zukunft meine Überzeugung, dass eine totale globale Bibliothek transkulturell vergleichend zu sammeln und zu lesen, und erst in eben diesem transkulturell vergleichenden Dialog mit immer wieder anderen Augen aus unterschiedlichen entstehen kann. Perspektiven zu sehen und damit anders denken zu lernen. Édouard Glissant (1928-2011), ein bedeutender Autor Eine globale Bibliothek in diesem Sinne wäre eine, die der französischsprachigen Karibik, geht in seiner Poetik nicht bestimmt ist davon, wann wer wo oder wie „rand- von einer Ästhetik des „Verschiedenartigen/Divers“ aus ständig“ war oder ist, weil diese Wertung aus globaler und plädiert für die transformative Kraft des transkulturel- Sicht, wie ich versucht habe zu zeigen, nur selten zutrifft. len Dialogs, indem er die „Globalisierung/mondialisation“ Eine globale Bibliothek in diesem Sinne wäre eine, die sich einer positiven Variante, dem „Globalismus/mondialité“, damit beschäftigt, in welchem Verhältnis von Transfer und gegenüberstellt und schreibt: „Ich kann mich verändern, Transformation diese allesamt einerseits zentralen und indem ich mich mit dem Anderen austausche, ohne mich andererseits peripheren Texte und Bibliotheken zueinan- selbst dabei zu verlieren oder zu verzerren.“49 Glissant der stehen, auf dass uns, um mit Heredia zu sprechen, schlägt einen Weg des affirmativen Dialogs vor, in einer immer wieder „neue Sterne“ aus „unbekannten Himmels- Welt, die Unterschiede diskutiert und anerkennt, ohne sie feldern“ aufgehen und begegnen. Bereits Casanova zeigt zu verwässern oder zu verlieren, um so etwas wie eine deutlich, dass die potentiellen Bestandteile einer globalen bunte, vielschichtige, weil „weltumfassende“ und hetero- Bibliothek als Elemente einer „Konfiguration“ im Sinne gene Ordnung entstehen zu lassen – Regalbretter unter- Foucaults gelesen werden müssen, als jeweils spezifische 50 Die Formulierung folgt Golay (2007). 47 Marx (2020) Absatz 71. 51 Glissant (2005) 98. 48 Sarr und Savoy (2018), Parzinger (2016). 52 Die Formulierung folgt Golay (2007). 49 Glissant (2005) 25. 53 Marx (2020) Absatz 90.
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität 247 Produkte einer ganz spezifischen historischen Konstellati- dersartigkeit. Aber diese Andersartigkeit gibt sich nicht als sol- on. Der doppelte Blickwinkel auf Spezifizität und Historizi- che preis: Sie muss im Kampf erobert und verstanden werden. tät, den Casanova vorschlägt, zieht nach sich, dass man Zwei Gefahren warten hier auf den Leser: Die erste besteht darin, blind für Unterschiede zu sein, überall Stereotypen zu sehen, die literarische Welt als einen transkulturellen Raum und alles auf das Gleiche zu reduzieren, die Werke zu nivellieren; die die Entwicklung der globalen Bibliotheken als sukzessive zweite Gefahr, symmetrisch zur ersten, besteht darin, sich der Entfaltung – man könnte auch sagen, als immerwährende Vorurteile und Stereotypen der eigenen Lektüre nicht bewusst zu Transformation – betrachten kann.54 Dieser „literarische sein. In beiden Fällen ist die Gefahr von Fehlinterpretationen Internationalismus“, wie Casanova ihn nennt, bei dem zu- und Langeweile groß.“57 weilen reziproke, zuweilen unilaterale Transfer- und Aus- tauschverhältnisse vorherrschen können, impliziert „so- Aber gerade deswegen, wegen dieser Schwierigkeiten, die- wohl die Berücksichtigung des nationalistischen Glaubens ser Widerständigkeiten, so schließt Marx seine Vorlesung, als auch seine Überwindung in einer relationalen und uni- ist die Lektüre in der totalen globalen Bibliothek so wich- versellen Konzeption der Weltliteratur.“55 Er ist ein erster tig. Ich würde sagen, gerade deswegen ist der transkul- Schritt auf dem Weg zur globalen Bibliothek, der aber turelle Vergleich ein Muss, um immer auch mit anderen vielfach noch behindert wird: Die Soziologin Gisèle Sapiro, Augen als allein den einseitig „zentral“ (vom Regalbrett wie Pascale Casanova Bourdieu-Schülerin, zeigt in ihren eingeschränkt) bestimmten zu sehen, denn nur dieser Arbeiten zur globalen „Diffusion“ und „Übersetzung“ von transkulturelle Vergleich „kann es ermöglichen, im Zwei- Literatur, die politischen, ökonomischen, kulturellen und felsfall zu gesichertes Wissen zu widerrufen, zu tief ver- sozialen Faktoren auf, die die Möglichkeiten des Transfers wurzelte Gewohnheiten zu stören, zu feste Vorstellungen von Literaturen von einem Ort zum anderen und damit zu destabilisieren; dies allein ist schon ein enormer und deren (Nicht-)Aufnahme in eine globale Bibliothek bestim- ausreichender Nutzen. Es wird ausreichen, wenn sie (die men und beschränken. totale globale Bibliothek) angesichts der Unermesslichkeit Bereits vor einem halben Jahrhundert hat Michel Fou- des Wissens, um das es geht, und der Komplexität und cault in seiner Ordnung der Dinge auf die Willkür und Vielfalt des Korpus lediglich eine Lektion in Besonnenheit Macht von Ordnungssystemen hingewiesen. Dieser Beitrag und Bescheidenheit erteilt.“ Und er schließt, dass ein bei hat versucht, Vorschläge für ein neues dialogisches For- dieser Lektüre entstehender, ich würde sagen transkul- mat zur Konzeption einer globalen Bibliothek zu machen, tureller Komparatismus „eine Beunruhigung“ ist,58 eine, die von und mit dem, was in einem Ordnungssystem als die uns erinnert, die Türen offen zu halten, die Grenzen „randständig“ erscheinen mag, gedacht wird. Diese globa- nicht zu schließen, die Ränder nicht zu beschneiden, eine le Bibliothek setzt neue Vokabularien voraus, die nicht nur die uns weiter bringt, in das Reich neuer Sterne eines diachron, sondern auch diatopisch angelegt sind (etwas, Heredia: „Gardons toujours une porte ouverte, acceptons das bereits bei Casanova schon angelegt ist)56 und immer l’existence d’un ailleurs de la totalité, laquelle ne peut être aus einer transkulturellen Perspektive betrachtet werden, qu’un rêve, telle en un ciel ignoré l’espérance ou la sur- die es erlaubt, die transformative Kraft von kulturellem prise d’étoiles nouvelles.“59 Transfer konstruktiv und kreativ zu nutzen. Das ist keine einfache Aufgabe, ja eine, die unbedingt widerständig ist, wie William Marx eindrücklich be- Literaturverzeichnis schreibt, wenn er davon spricht, was man tun muss, um in der globalen Bibliothek zu lesen: Anderson, Benedict (2016): Frameworks of Comparison. In: London Review of Books, 38 (3). „Du musst Dein Leben ändern, Deine Denkweise ändern, zumin- dest vorübergehend. Du musst Dich auf andere Bräuche, andere Sitten, andere Redeweisen einlassen, die manchmal durch trüge- rische Ähnlichkeiten verdeckt werden. Jeder Text bringt eine 57 Marx (2020) Absatz 57. neue Erfahrung ins Spiel, jeder Text konfrontiert mit einer An- 58 Marx (2020) Absatz 88 und 90: „elle (la lecture dans la biblio- thèque totale, BM) peut permettre de révoquer en doute des savoirs trop assurés, de perturber des habitudes trop ancrées, de déstabiliser 54 Dieser Absatz folgt Jurt (2018). des notions trop figées, ce sera à lui seul un bénéfice énorme et 55 Casanova (2011) 31. suffisant. Qu’elle se contente de proposer une leçon de prudence et de 56 Golay (2007): „Cette ‚histoire spatialisée‘ de la littérature ne pour- modestie face à l’immensité des savoirs mis en jeu et à la complexité rait être comprise qu’à partir de sa propre mesure du temps, son“, et la diversité des corpus, ce sera déjà bien. Le comparatisme [...] est „méridien de Greenwich ‚littéraire‘, qui fixerait le présent, c’est-à-dire une inquiétude.“ dans l’ordre de la création, la modernité.“ 59 Marx (2020) Absatz 90.
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