Vokabularien für eine globale Bibliothek - Von Transfer, Transformation und Transkulturalität

 
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Vokabularien für eine globale Bibliothek - Von Transfer, Transformation und Transkulturalität
BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2021; 45(2): 239–248

Barbara Mittler*

Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von
Transfer, Transformation und Transkulturalität
https://doi.org/10.1515/bfp-2021-0021                                Inhalt

Zusammenfassung: Bereits vor einem halben Jahrhundert                1     Transfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
hat Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge auf die              2     Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Willkür und Macht von Ordnungssystemen hingewiesen.                  3     Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Dieser Beitrag versucht, Vorschläge für ein neues dialo-
gisches Format zur Konzeption einer globalen Bibliothek
zu machen, die von und mit dem, was in einem Ordnungs-                     „Voilà pourquoi il nous faut d’un seul mouvement construire et
system als „randständig“ in einem anderen jedoch „zen-                     explorer la bibliothèque mondiale ou totale“ „la bibliothèque
                                                                           mondiale n’est pas une institution réelle,1 mais un concept opé-
tral“ erscheinen mag, gedacht wird. Diese globale Biblio-
                                                                           ratoire, un instrument scientifique, un protocole de lecture, une
thek als „geteiltes“ und nicht mehr „hierarchisiertes“                     façon particulière d’aborder les œuvres, une éthique de la con-
Welterbe setzt eine neue Sprache, neue Vokabularien vo-                    naissance. Une expérience de vie“
raus, die nicht nur diachron, sondern auch diatopisch                                                                         William Marx2
angelegt sind, und immer bereits aus einer transkulturel-
len Perspektive betrachtet werden, die es erlaubt, die               Als wir am 8. Mai 2020, jeder für sich, eingeschlossen in
transformative Kraft von kulturellem Transfer konstruktiv            seiner Wohnung, sei sie in Berlin, in Göttingen, in Paris
und kreativ zu nutzen.                                               oder in Mannheim, den 80. Geburtstag von Elmar Mittler
                                                                     ein erstes Mal digital feierten (hoffend, dass wir das ir-
Schlüsselwörter: Transkultureller Vergleich; globale Bi-
                                                                     gendwann anders tun könnten), fiel mir in der Vorberei-
bliothek; Weltliteraturen
                                                                     tung Die verborgene Bibliothek von Alberto Manguel (Leiter
                                                                     der argentinischen Nationalbibliothek seit 2015) in die
Vocabularies for a Global Library-Transfer, Transformati-
                                                                     Hände, wo er das vielleicht etwas unorthodoxe Verfahren
on, and Transculturality
                                                                     seiner väterlichen Sekretärin beschreibt, die, bei einem der
Abstract: Already half a century ago, Michel Foucault in             vielen Umzüge der Familie, vom Vater Manguel gebeten
his Order of Things pointed to the arbitrary might of sys-           worden war, „genügend Bücher zu kaufen, um die Regale
tems of classification and order. This essay proposes a new          in unserem neuen Haus zu füllen. Pflichtbewusst kaufte
dialogical format for the conception of a global library that        sie also ganze Wagenladungen an Büchern bei einem Anti-
is thought in conjunction with what may appear to be                 quar in Buenos Aires ein, merkte aber, als sie die Bücher
“marginal” in one system of order but “central” in another.          einräumen wollte, dass viele von ihnen nicht ins Regal
This global library as a “shared” and no longer “hierarchi-          passten. Doch sie verzagte nicht und ließ einfach die Bü-
zed” world heritage presupposes a new language, new                  cher zurechtschneiden und in dunkelgrünem Leder neu
vocabularies that are not only diachronic but also diatopic          binden.“3 Alberto Manguel erinnert sich, wie er als kleiner
in nature, and thus always already viewed from a trans-              Junge, aus dieser beschnittenen Bibliothek das ein oder
cultural perspective which allows the transformative                 andere Buch stibitzte und wie anregend und kreativ es für
power of cultural transfer to be used constructively and             ihn war, sich beim Lesen dieser beschnittenen Bücher die
creatively.                                                          weggefallenen Textteile hinzuzudenken.
                                                                          In den nun folgenden kurzen Überlegungen, möchte
Keywords: Transcultural comparison; global library;
                                                                     ich Manguels Bild von der beschnittenen Bibliothek ein
world literatures
                                                                     wenig weiterspinnen und davon reden, wie anregend,

                                                                     1 Der belgische Bibliograph Paul Otlet (1868–1944) hat ein derartiges
                                                                     Projekt in den 1920er-Jahren begonnen, Otlet (1923).
*Kontaktperson: Prof. Dr. Barbara Mittler,                           2 Marx (2020) Absatz 68 f. und 71.
barbara.mittler@zo.uni-heidelberg.de                                 3 Manguel (2018).

  Open Access. © 2021 Barbara Mittler, publiziert von De Gruyter.   Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons
Namensnennung 4.0 International Lizenz.
240             Barbara Mittler

kreativ und vor allem bereichernd es sein kann, eine wirk-                     Grenzen und Grenzlinien Halt zu machen, die durch ein
lich globale Bibliothek von den abgeschnittenen Rändern,                       Mehr oder Weniger an intellektuellem Komfort, individuel-
den ungelesenen, weggefallenen Texten her zu denken,                           le Gewohnheiten und/oder Schul- und Universitätstradi-
die, so würde ich behaupten, ein berechtigtes Sprechen                         tionen auferlegt werden.“8 Es wäre eine Bibliothek, die es
von der „globalen Bibliothek“ erst möglich machen.4 Die                        uns erlaubte, immer wieder mit anderen Augen zu sehen.
globale Bibliothek von den abgeschnittenen Rändern, den                        Die Zeiten dafür sind gut – noch nie waren wir so schnell
weggefallenen Texten, her zu denken bedeutet nämlich,                          und einfach global miteinander verbunden – und die Zeit
auch die Dinge zu thematisieren, die zunächst vielleicht                       drängt: Noch nie sind so viele Mauern gebaut worden. Wir
nicht zwischen die ordentlich (kanonisch) ausgerichteten                       brauchen für den Bau dieser anderen globalen Bibliothek
Regalbretter zu passen scheinen, weil in sonderbarem For-                      den Glauben an Transfer, Transformation und Transkul-
mat, in unbekanntem Stil, in unverständlicher Sprache                          turalität (drei Teile dieses Beitrags).
oder in fremdartigen Genres geschrieben.
     Ich möchte dies Denken von den Rändern vorschla-
gen, nicht, um einmal wieder zu lamentieren, dass, wenn                        1 Transfer
es einen heute gängigen Kanon in der globalen Bibliothek
gibt, dieser aus einer ganzen Reihe von Gründen klare                          Der hier vorgeschlagene Ansatz „von den Rändern“ her
Ausgrenzungsmechanismen aufweist, dass die Vokabula-                           wird bei Pascale Casanova in La République mondiale des
rien, die Sprache5 der globalen Bibliothek heute, wenn                         lettres9 (orig. Paris: Seuil 1999) bereits vorformuliert. Casa-
man das Bild aufrecht erhalten will, noch deutlich dem                         novas Geschichte der „lettres“, also wörtlich der Texte der
Beschneidungsritual der Manguel‘schen Hausbibliothek                           Welt, ist eine, die beginnt, auf diese Ränder, die Periphe-
folgen. Kein neuer Opferdiskurs, nein, Lamentieren wäre                        rien, aufmerksam zu machen. Sie geht dabei aber immer
zu einfach. Stattdessen möchte ich einige Gedanken ent-                        noch von der Dominanz bestimmter literarischer Zentren
wickeln, die an der aktuellen Debatte über „shared herita-                     aus: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa, erklärt Casa-
ge“,6 also geteiltes – und damit deutlich dialogisch ver-                      nova, ging der Weg zur literarischen Weihe immer notwen-
schränktes – gemeinsames Erbe sich orientieren, indem                          digerweise nach Paris, der Welthauptstadt der Literatur
ich überlege, wie offene Vokabularien für eine gemein-                         dieser Zeit, dem Greenwich der Literatur (méridien de
same und horizontal, demokratisch, auf Augenhöhe ge-                           Greenwich littéraire), wie sie das nennt.10 Um globale Ak-
teilte (oder zu teilende) globale Bibliothek aussehen könn-                    zeptanz und Anerkennung zu erlangen, also Teil des Ka-
ten, die es uns erlauben, eine, ganz im Sinne von Elmar                        nons einer „globalen Bibliothek“ dieser Zeit zu werden,
Mittler (und in den Worten von William Marx), „totale, eine                    mussten Schriftsteller aus aller Welt (und vor allem jene
allumfassende Bibliothek zu bauen und zu beschreiben,                          aus den Gebieten, die literarisch „randständig“, nicht im
die, so weit wie möglich und entsprechend den immer                            zentralen Fokus, waren) in Paris Akzeptanz finden. Nur
notwendigerweise begrenzten Fähigkeiten des Forschers                          das Zentrum entscheidet, so Casanova, über die Einfügung
(oder Bibliothekars), nationale, kulturelle oder sprach-                       dessen, was an den Rändern geschrieben wird, in die „glo-
liche Barrieren [und also, im Weg stehende, zu tief oder zu                    bale Bibliothek“ einer bestimmten Zeit.11
hoch angebrachte Regalbretter, möglichst] außer Acht                                Ein Beispiel für diesen Mechanismus gibt William
lässt“.7 Es wäre eine Bibliothek, die sammelt, „ohne an                        Marx, der am Collège de France einen für ihn so benannten
                                                                               Lehrstuhl für vergleichende Literaturen innehat, in seiner

4 Vgl. Marx (2020) Absatz 36.
5 Golay (2007) zitiert Glissant (2005) 173.                                    du chercheur, des barrières nationales, culturelles ou linguistiques,
6 Vgl. etwa Parzinger (2016), Legget (2018).                                   et qui envisage les problèmes littéraires dans leur plus grande globa-
7 Vgl. auch das Motto am Anfang. Die Zitate hier stammen wieder                lité, sans s’arrêter aux frontières et aux lignes de démarcation plus ou
aus der Antrittsvorlesung von William Marx (2020) Absatz 28 f. Er              moins imposées par le confort intellectuel, les habitudes individuel-
zitiert zunächst Croce (1903) 79, der erklärt: „la storia comparata della      les et les traditions scolaires et universitaires.“
letteratura è la storia intesa nel suo vero senso, come spiegazione            8 Marx (2020) Absatz 28 f.
completa dell’opera letteraria, compresa in tutte le sue relazioni,            9 Casanova (1999).
collocata nell’insieme della storia universale (e dove altrimenti po-          10 Casanova (1999) 180 spricht von „transfer de prestige“ und „litté-
trebbe collocarsi?), vista in quelle connessioni e preparazioni che            rarisation“. Golay (2007) erklärt, dass ihre „histoire spatialisée de la
sono la sua ragion d’essere,“ um dann zu antworten: „Oui, la littéra-          littérature ne pourrait être comprise qu’à partir de sa propre mesure
ture comparée doit avoir pour vocation privilégiée une description             du temps, son méridien de Greenwich littéraire, qui fixerait le présent,
totale de la littérature, c’est-à-dire une description qui fasse fi, dans la   c’est-à-dire dans l’ordre de la création, la modernité.“
mesure du possible et selon les capacités toujours forcément limitées          11 Vgl. auch Sapiro (2016) und Sapiro (2019).
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität              241

im Januar diesen Jahres gehaltenen Antrittsvorlesung, die                  einer transkulturellen Perspektive sie betrachtet, selbst
betitelt ist Vivre dans la bibliothèque du monde. Er beginnt               randständig, ja „Peripherien“ werden können, oder aber,
mit einem der bekanntesten Sonette Frankreichs: Les Con-                   eben von diesen gespeist werden. Ganz schnell fallen hier
quérants, Die Eroberer, (1869) erscheint in allen Antholo-                 weitere Beispiele ein, die diese These stützen können,
gien und Lehrbüchern der französischen Literatur an pro-                   Genres, die aus der „sogenannten“ Peripherie stammen
minenter Stelle. Das Sonett, das die Entdeckung Kubas                      und dennoch zentrale Bedeutung erlangen: Brechts epi-
durch Columbus beschreibt, ist ein Denkmal der französi-                   sches Theater, das sich aus der Pekingoper inspiriert und
schen Poesie geworden. Der Autor José-Maria de Heredia                     eine neue Form der Dramatik begründet;14 die Idealisie-
ist gebürtiger Kubaner und spanischer Untertan, aller-                     rung des japanischen Haiku-Kurzgedichts durch die briti-
dings geboren von einer französischen Mutter.12 „Er hätte                  sche Imagisten-Bewegung, deren Mitglieder illustre Na-
Gedichte auf Spanisch schreiben können“, so William                        men wie James Joyce, Amy Lowell, D.H. Lawrence und
Marx. „Er hätte sich darin hervorheben können wie sein                     Ezra Pound tragen.15 Können wir wirklich noch von Rän-
gleichnamiger Cousin [...], der der erste romantische Dich-                dern, von Randständigem sprechen?16
ter Lateinamerikas war. Aber unser Heredia war im Alter                        Ist es nicht genauso, wie in dem schönen Bild von
von neun Jahren nach Frankreich gekommen, und er war                       Manguel, nur ein Zufall – das ordnende Regalmaß
ein französischer Dichter, lange bevor er französischer                    nämlich –, der bestimmt, wo und wie eine Bibliothek
Staatsbürger wurde [...]. Hier ist also“, schließt Marx, „der              jeweils beschnitten wird, was randständig wird und kei-
Andere, der Ausländer dort, wo wir ihn nicht erwartet                      nen Platz mehr in dieser findet? Je nachdem, von wo man
haben, im Herzen des nationalen literarischen Erbes.“                      wann schaut und welcher Blickwinkel auf die Welt, also
     Das Gedicht Heredias endet mit dem Satz:                              eine solche „globale Bibliothek“, beschränkt, kann man
                                                                           natürlich auch, sagen wir, Chang’an in China,17 Delhi in
    „Ils regardaient monter en un ciel ignoré                              Indien18 oder Edo in Japan19 zu Zentren einer globalen
    Du fond de l’Océan des étoiles nouvelles“
    (Sie [die Eroberer] sahen zu, wie aufstiegen,
    in einem unbekannten Himmelsfeld,
                                                                           14 Vgl. grundlegend Tatlow und Tak-wai (1982).
    Vom Grunde des Ozeans, neue Sterne.)
                                                                           15 Pratt (1963) 29 beschreibt, wie sie das japanische Kurzgedicht
                                                                           (neben klassischer griechischer Lyrik und der Poesie der französi-
Und Marx erklärt:                                                          schen Symbolisten) zum Ideal stilisierten, weil in ihm „das Bild nicht
                                                                           ein Mittel, sondern das Ziel war: das Bild war nicht Teil des Gedichtes;
    „Wenn nun die Beschwörung dieser wilden Eroberer, die kurz             es war das Gedicht.“
    davor stehen, die Karibik und die Insel Kuba zu entdecken,             16 Marx (2020) Absatz 31 stellt diese Frage sehr schön pointiert:
    implizit eine Hommage an die Atlantiküberquerung durch die             „Mais de quelle Europe s’agira-t-il? Bien des questions littéraires
    eigenen Vorfahren von Heredia darstellt, so bietet sie auch ein        interdisent de se borner aux limites strictement géographiques de ce
    [...] Bild [...] des Dichters selbst, der auf friedlichere Weise den   que Paul Valéry décrivait comme un petit cap du continent asiatique
    umgekehrten Weg [...] nahm, sich den Ufern Europas näherte,            (Valéry (1957) 995): Une définition large s’impose, intégrant les litté-
    sich dort niederließ und es schließlich schaffte, neue Sterne zum      ratures des langues européennes, de quelque continent qu’elles vien-
    Zenit der französischen Poesie zu bringen.“13                          nent, et notamment des Amériques. Mais pourquoi s’arrêter là? Dès
                                                                           l’Antiquité classique, les échanges méditerranéens et eurasiens mi-
                                                                           rent en contact les cultures européennes avec l’Afrique et l’Asie, et ils
Der Randständige, der – im Transfer – nach Paris kommt,
                                                                           ne cessèrent de se complexifier, en particulier avec les mouvements
um mit seiner Dichtung zentraler Bestandteil der französi-                 de colonisation, puis de décolonisation. Nulle littérature n’est une ile.
schen Literatur zu werden – eine Transformation –, und                     Matthew Arnold le disait déjà en 1857 lors de sa leçon inaugurale à
damit in der Validierung durch das literarische Zentrum                    Oxford: ‚Aucun évènement, aucune littérature d’aucune sorte ne peut
Paris auch Teil einer „globalen“ Bibliothek dieser Zeit zu                 se comprendre de façon satisfaisante sans une mise en relation avec
werden, ist ein Beispiel, an dem man erkennen kann, dass                   d’autres évènements, avec d’autres littératures‘. (Arnold (1987) 59):
                                                                           En toute rigueur, c’est l’étude isolée des littératures nationales qui
Randständige von den „Peripherien“ – die „neuen Sterne“
                                                                           mériterait justification, et non point la littérature comparée, dont la
aus einem „unbekannten Himmelsfeld“ – eigentlich ge-                       largeur de vue correspond à la pratique commune: le lecteur ordinaire
nauso zentral sein können – weil anregend und kreativ –                    fait rarement acception de l’origine de ses lectures, rendues homogè-
wie jene, die „zentral“ genannt werden. Das ist deswegen                   nes par la traduction.“
so, weil schon die „Zentren“ ihrerseits, wenn man aus                      17 Chang’an (wenige Kilometer westlich des heutigen Xi’an), war
                                                                           Sitz der ersten Regierung, die China „einte“, unter Qin Shihuangdi mit
                                                                           der Terrakottaarmee, Chinas Tor zur Seidenstraße und Kulturhaupt-
                                                                           stadt in verschiedenen chinesischen Dynastien, namentlich der Han
12 Marx (2020) Absatz 8.                                                   (206 v. Chr.–220 n. Chr.) und der Tang (617–907), die als kulturelle
13 Marx (2020) Absatz 9.                                                   Blütezeiten in der chinesischen Geschichte gelten können.
242            Barbara Mittler

Bibliothek erklären. Mit dem Ziel, Wege aufzuzeigen, wie                  die mit ihren faszinierenden Ordnungen, die Michel Fou-
wir wegkommen von den kanonischen Wertungen, die                          cault schließlich zu seiner Ordnung der Dinge inspirieren
dem allein zweiseitigen Vergleichsschema von Zentrum                      sollte).23
und Peripherie innewohnen (dem auch die Idee von multi-                        Der dialogische transkulturelle Vergleich in einer
plen Zentren, die Casanova vorschlägt, nur bedingt weiter-                wirklich globalen Bibliothek ist etwas, was William Marx
hilft),20 möchte ich hier postulieren, dass der Anspruch                  eine transformierende „Ethik des Erfahrens und Wissens –
und damit das Vokabular zur Beschreibung einer wirklich                   une éthique de la connaissance“24 nennt. Die globale Ge-
globalen – weltumfassenden, totalen (à la Marx) – Biblio-                 genüberstellung von Texten aus ganz verschiedenen Re-
thek wesentlich vielfältiger, vielschichtiger und vielseiti-              gionen und Zeiten in dieser globalen Bibliothek ermöglicht
ger sein muss als Modelle, die die Welt auf die beiden Pole,              es uns, unsere eigenen Ordnungen zu überdenken und
Zentrum und Peripherie, reduzieren.                                       unsere Fragen neu und anders zu stellen. Wenn wir dia-
                                                                          logisch immer verschränkt und nicht beschränkt über
                                                                          unterschiedliche wichtige Orte, ikonische Figuren oder
2 Transformation                                                          grundlegende Genres in dieser globalen Bibliothek nach-
                                                                          denken und dabei wie selbstverständlich Paris, Delhi und
Ich schlage als einen Schritt auf diesem Weg einen dialogi-               Edo; Joyce, Beckett, Brecht und Ibsen, aber eben auch die
schen transkulturellen Vergleich vor. Dieser ermöglicht es                Heredias (und zwar sowohl den französischen als auch
uns, indem wir uns immer wieder neu mit dem radikal                       den kubanischen Cousin), die Lu Xuns, und Achebes; den
Anderen konfrontieren, unser spezifisches, regional be-                   Roman und die Tragödie, aber eben auch das zhiguai (ein
stimmtes Wissen regelmäßig neu überdenken, und so das                     chinesisches Genre von Geistergeschichten) und das no
Vokabular, mit dem wir darüber sprechen, zu beleben                       (eine japanische Form des Musiktheaters) miteinander ins
und zu erweitern, zu verändern und zu transformieren. In-                 Gespräch bringen, werden wir nicht mehr einfach be-
dem wir uns mit ungewohnten Perspektiven aus anderen                      schneidend Gleichgeformtes mit Gleichgeformtem neben-
Regionen auseinandersetzen und so unsere oft unhinter-                    einander in das Regal stellen, sondern im Interesse an
fragt und unbewusst bleibenden Gewissheiten, die wir auf-                 diesem gemeinsamen Erbe dialogisch zu den bestehenden
grund unserer disziplinären oder regionalen Expertise mit-                Unterschieden und Gemeinsamkeiten Fragen zu stellen
bringen, erkennen, und unsere eigenen Objekte mit neuen                   beginnen, die wir bisher so nicht zu stellen geneigt oder in
Augen sehen und so innovative Sichtweisen auf eben nur                    der Lage waren, weil wir diese Texte eher aus singulärer
scheinbar bekannte Welten generieren, können wir neue                     nationaler, oder aus hierarchisierend bipolarer, nicht aber
Kategorien, neue Ordnungssysteme entdecken und damit                      aus transkulturell vergleichender und globaler Perspektive
unsere eigenen Ordnungssysteme „entgrenzen“21 (und hier
erinnere ich an Borges Argument, es existiere eben „keine
Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und                  23 Die Passage aus der „chinesischen Enzyklopädie“, die er zitiert,
mutmaßlich ist“,22 exemplifiziert u. a. an einer von ihm                  ist ein inzwischen berühmt gewordenes Zitat, das dem Sinologen
entdeckten [allerdings fiktiven] chinesischen Enzyklopä-                  Franz Kuhn zugeschrieben wird. Foucault erklärt im Vorwort: „Dieses
                                                                          Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem
                                                                          Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens
                                                                          aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle
18 Delhi kann als „kulturelle Hauptstadt“ des Mogulenreichs (16.–         geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, die für uns die
18. Jh., 1526–1858) bezeichnet werden.                                    zahlenmäßige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen lassen und
19 Edo, heute Tokyo, war unter dem Tokugawa Shogunat (1603–               unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen
1868) eine der wichtigsten Kulturstätten Japans.                          (du Même et de l’Autre) schwanken läßt und in Unruhe versetzt.
20 Casanova (1999) 227.                                                   Dieser Text zitiert ‚eine gewisse chinesische Enzyklopädie‘, in der es
21 Radhakrishan (2009) 454, Anderson (2016).                              heißt, daß ‚die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser
22 Borges (1992) 116. Um diese Willkürlichkeit zu belegen, stellt er      gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e)
neben die „Willkürlichkeiten von Wilkins“ die eines „unbekannten          Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung
(oder apokryphen) chinesischen Enzyklopädisten“ und schließlich           gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen
des „Bibliographischen Institut(s) in Brüssel.“ Letzteres (ein Institut   Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 1) und so weiter, m) die den
über dessen Provenienz und Identität nichts weiter gesagt wird), so       Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aus-
erklärt Borges, „befleißigt sich ebenfalls des Chaotischen: Es hat das    sehen.‘ Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit
Weltall in tausend Unterteilungen zerstückelt, von denen Nummer           einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber
262 dem Papst entspricht“ und „schreckt vor heterogenen Untertei-         eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Den-
lungen nicht zurück, zum Beispiel Nummer 179 Grausamkeit gegen            kens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.“ Foucault (1971) 17.
Tiere. Tierschutz. Duell und Selbstmord, moralisch betrachtet.“           24 Marx (2020) Absatz 68 f. und 71.
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität        243

betrachtet haben. Unser Regal muss dazu nicht kaputt                     le Modellierung“28 bezeichnen könnte, der verallgemeiner-
gehen, nur flexibler ausgerichtet und geordnet werden,                   te Begriffs- und Ordnungsapparat, mit dem wir gewohn-
damit all diese unterschiedlich geformten Werke neben-                   heitsmäßig arbeiten – die Größe der Regalfächer und die
einanderpassen, die eben doch, wie in Warburgs Mnemo-                    Schere der Sekretärin Manguels; oder der, wie Roland Bar-
syne-Atlas oder in der chinesischen Enzyklopädie bei Bor-                thes das in seiner Leçon nennt, „faschistische“ Ordnungs-
ges,25 zueinander gehören können, weil sie alle lettres                  apparat Sprache.29 Versuche, ein Genre wie den „Roman“
(bei Casanova), oder, wie es eine japanologische Kollegin                etwa in globaler Perspektive zu studieren, zeigen, wie
Wiebke Denecke fasste, Letter-atur26 aus Zeichen zusam-                  äußerst schwierig es ist, der wohl unvermeidlichen Zirku-
mengesetzte Texte dieser ganz entgrenzt gedachten globa-                 larität dieser Art von Modellierung zu entkommen – Lu
len Bibliothek sind. William Marx fasst das so:                          Xun 魯迅 (1881–1936) etwa, einer der großen Literaten der
                                                                         chinesischen Moderne, bewertet in seinem Abriss zu einer
    „Es ist [...] illusorisch zu glauben, dass es möglich wäre, dem
                                                                         chinesischen Literaturgeschichte 中国小说史略 chinesische
    Kanon oder der Bibliothek zu entkommen. Nur eine andere
    Bibliothek kann uns vor der Bibliothek retten, aber die Arbeit der   „Romane“ nach ihrer Entsprechung zu gängigen europäi-
    Verfremdung wird mit dieser neuen Bibliothek wieder beginnen         schen Definitionen.30 So wird Der Traum der Roten Kammer
    müssen, und so weiter [...] die Kanons sind unvermeidlich, und       紅樓夢, ein Werk aus dem 18. Jahrhundert, bei ihm als der
    keiner von ihnen ist perfekt. Wir dürfen nicht einen Kanon durch     „erste echte Roman bezeichnet“, weil hier (endlich – wo es
    einen anderen ersetzen, sondern müssen sie multiplizieren, sie
                                                                         doch schon, wie er zeigt, seit einigen Jahrhunderten in
    überlagern, mehrere von ihnen gleichzeitig einsetzen und vor
    allem die Erinnerung an sie bewahren.“27
                                                                         China „Romane“ gibt) die Tiefenstruktur und psychologi-
                                                                         sche Entwicklung der Charaktere ebenso wie die narrative
Erst dann werden sie, so möchte ich hinzufügen, gemein-                  Struktur als Ganzes europäischen Maßstäben entspricht.31
sam geteiltes Erbe.                                                      Lu Xun formuliert:
     Eines der wiederkehrenden Probleme bei der Konzep-
tion einer solchen, wirklich globalen Bibliothek ist die                     „Obwohl die Ereignisse, die in diesem Roman beschrieben wer-
kategorische Einschränkung, das, was man als „universel-                     den, der Menschen übliche Sorgen und Freuden, Begegnungen
                                                                             und Trennungen sind, ist ein Bruch mit den alten Konventionen
                                                                             erfolgt, so dass sich dieses Buch beträchtlich von früheren Sit-
25 Vgl. etwa Johnson (2012) und – besonders interessant in der               tenromanen unterscheidet.“32
Gegenüberstellung von unterschiedlichen Welten – die der Kunst und           „Das Wichtigste bei diesem Werk ist, dass es der traditionellen
die der Wissenschaft sowie Brown und Green (2002).                           Anschauung über Romane und wie sie geschrieben werden müs-
26 Vgl. die von Wiebke Denecke und japanischen Kollegen heraus-              sen, ein Ende gesetzt hat.“33
gegebene dreibändige revisionistische Geschichte der japanischen
Literatur A New History of Japanese „Letterature“ 日本「文」学史, die           Wenn wir, so wie Lu Xun, damit beginnen, einen chinesi-
die traditionelle Welt der „geformten Zeichen“ (文 wen/bun) wieder
                                                                         schen Text in ein europäisches Modell und die dazugehöri-
aufgreift, die in Ostasien der Übernahme europäischer Literaturkon-
zepte vorausging, Kimiko et al. (2015–2019).                             ge Terminologie einzupassen, und zwar selbst, wenn diese
27 Marx (2020) Absatz 69. Sehr zu Recht bemerkt meine sinologi-          zunächst ganz „neutral“ erscheint, so werden wir in den
sche Kollegin in Göttingen Henrike Rudolph, dass man diese Kanon-        meisten Fällen am Ende doch „entdecken“, dass es sich bei
bildung oder Beschneidung auch noch anders denken kann, sie ist          der partikularen Ausformung derselben immer um ein „pri-
oft natürlich ein gezielter Prozess (der Ordnungssuche oder Systema-
                                                                         mär europäisches“ Phänomen handelt, von und vor dem
tisierung, wie es auch Eva Schlotheuber in ihrem Beitrag diskutiert).
Dieser Prozess der Beschneidung, den man in China bei der Schaf-
                                                                         andere nur im guten Fall abweichen, im schlechten Fall
fung großer Texteditionen (wie etwa das Siku quanshu 四庫全書 Voll-
ständige Schriften aus vier Schatzkammern aus dem späten 18 Jahr-
hundert), die immer einhergingen mit der Zerstörung bestimmter           28 Van der Veer (2016) 29.
Schriften und bis in die Gegenwart, im Zensurstaat Volksrepublik         29 Barthes (2002) 432 f.
beobachten kann, untergräbt ebenso die Idee einer globalen Biblio-       30 Lu Xun 中国小说史略 Zhongguo xiaoshuo shi lüe (übersetzt als Lu
thek. Was etwa, so schreibt sie, „in der VR China publiziert und von     Xun: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung) (1981). Das
Bibliotheken akquiriert wird, dient zunehmend der Erzeugung eines        Buch ging auf Vorlesungen zurück, die Lu Xun an der Beijing Uni-
homogenen Kanons und Ordnungsmusters und nicht der Pluralität            versität gehalten hatte. Vgl. hierzu Mittler (2002).
oder Transkulturalität. Der Worldmaking-Anspruch der globalen Bi-        31 Für eine moderne psychoanalytische Lesung, die zeigt, dass diese
bliothek trifft dort auf Han-chinesisches Nationmaking.“ In der Tat      Lesung durchaus ihre Berechtigung hat, vgl. Chan (1980) 180. Auch
muss die globale Bibliothek „nicht nur Ränder aufzeigen, sondern         spätere europäisch-sprachige Übersetzungsanthologien beschreiben
auch die Leerstellen lokaler Regale auf globaler Ebene ausgleichen,      diesen Roman als „mehr ein Roman als andere chinesische Romane“,
und damit zur ‚Beunruhigung‘ starrer Nationalismen beitragen“, wie       so McKnaughton (1974) 731.
Marx das im oben zitierten Abschnitt sagt: „Seule une autre biblio-      32 Lu (1981) 320.
thèque peut nous sauver de la bibliothèque!“                             33 Lu (1981) 455 f.
244          Barbara Mittler

zurückfallen können.34 Jede Vokabel, sei sie so offensicht-   Aufbau einer globalen Bibliothek nicht Teile der Welt ein-
lich spezifisch wie „Satire“ oder so scheinbar unspezifisch   fach ignorieren. Also gilt es, andere Wege und Sprachen
wie „Tragödie“, wenn sie einmal mit einer bestimmten          des Vergleichs zu finden, und das meine ich, wenn ich
europäischen Erfahrung in Verbindung gebracht wurde,          über eine „im Transfer zu transformierende, und nur so
wird folglich in diesem Licht und mit dieser Erfahrung im     potentiell gemeinsame Terminologie“ spreche. Wir kön-
Kopf gelesen werden – und das nicht nur von europäischen      nen beginnen, nicht nur diachron, sondern auch dia-
Interpretationsgemeinschaften, sondern, wie das Beispiel      topisch unsere Vokabularien zu erweitern und Begriffe wie
Lu Xun zeigt, auch von denjenigen aus anderen Teilen der      „Roman“ oder „Tragödie“ in diesem transtemporären und
Welt, die seit nunmehr etwa zwei Jahrhunderten mit einem      transregionalen Dialog neu fassen, mit dem letztendlichen
bedeutenden epistemologischen Bruch leben, der es nach        Ziel, einen Weg zu finden, der in Richtung einer „trans-
sich zog, dass sie einen eigenen Satz europäisch-geprägter    kulturellen Hermeneutik“ oder eines „globalen Denkens“
Neologismen zur Verfügung haben, gekoppelt mit den da-        gehen könnte. Wir könnten dazu zunächst auch andere
zugehörigen Ordnungsmaßstäben, die sie auch verinner-         Vokabularien als die europäischen nutzen, und uns so auf
licht haben: Die Wertung des Traums der roten Kammer          etwas einlassen, das man Burke folgend „Rotationsprin-
durch Lu Xun zeigt das sehr deutlich.                         zip“37 nennen könnte, um so neu auch über unsere eige-
     Wenn wir beim Bau unserer globalen Bibliothek den        nen Texte nachzudenken – sie in anderen Regalen ein-
partikularen Gebrauch einer immer schon aufgeladenen          zuordnen, nicht bei Roman, sondern zum Beispiel bei小說
Terminologie und Sprache nicht sorgfältig über- und dia-      xiaoshuo (eine alte in den frühesten Texten bereits etab-
logisch umdenken – mit offenen Ohren und offenen Augen        lierte Begrifflichkeit, mit der heute in China Roman/Fikti-
sozusagen – und dieses Vokabular betrachten als nicht         on übersetzt wird und die auch Lu Xun in seiner Literatur-
eine fixierte, sondern eine im Transfer zu transformierende   geschichte benutzt).38 Wenn wir verschiedene regionale
und nur so potentiell gemeinsame Terminologie, die auch       Terminologien oder terminologische Variationen zur Norm
eine reiche Vielfalt möglicher Bedeutungen enthalten          erklären oder mehrere Norm-Variationen anbieten, indem
kann, dann laufen wir Gefahr, die Texte der globalen          wir einander zuhören und miteinander als Spezialisten auf
Bibliothek durch die Nutzung dieses Vokabulars zu zwin-       unseren jeweiligen Gebieten sprechen, können wir unse-
gen, sich bestimmten, sei es europäischen oder anderen        ren Gebrauch einer bestimmten Terminologie erweitern
Modellen anzupassen, – wir beschneiden sie an den Rän-        und bereichern, was schließlich auch dazu führen kann,
dern. Denn die mit einer statisch gebrauchten, nicht im       dass wir andere Interpretationen dessen, was oft als „das
Transfer angereicherten, einseitig verstandenen Termino-      eigentliche Ordnungsprinzip“ betrachtet wird, überden-
logie unweigerlich einhergehenden nicht-dialogischen bi-      ken.39 William Marx bringt das, in Angedenken an Barthes,
polaren, ausgrenzenden Vergleiche sind niemals neutral        etwas salopp so auf den Punkt: „Die Sprache ist faschis-
oder desinteressiert, sondern zwangsläufig von Natur aus      tisch, aber zehn Sprachen zusammen sind weniger fa-
perspektivisch, tendenziös und didaktisch, oder, anders
ausgedrückt, konkurrierend, präskriptiv und letztlich im-
mer schon hierarchisch ausgerichtet, wie Rajagopalan
Radhakrishan, ein in den USA lehrender Komparatist aus        37 Burke (2009) 17.
                                                              38 Vgl. die Beschreibung in Kapitel 1 bei Lu (1981).
dem indischen Staat Tamil Nadu argumentiert: „Hinter der
                                                              39 Marx beschreibt diesen Prozess an einer Neulesung dessen, was
scheinbaren Großzügigkeit des Vergleichs verbirgt sich        Tragödie bedeuten kann. Marx (2020) Absatz 47: „M’interrogeant sur
immer die Aggressivität einer These.“35 So kann der Ver-      l’incompréhension des modernes vis-à-vis de la tragédie grecque, il
gleich, unter Verwendung einer statisch verstandenen, be-     me fut possible de montrer que les tragédies grecques formaient en
stimmten Terminologie – und der ihr zugrundeliegenden         réalité un corpus bien plus hétérogène qu’on ne le croyait, et que la
Epistemologie, der Nutzung von partikularen, einseitig        sélection des trente-deux tragédies transmises par la tradition était le
                                                              produit d’un biais idéologique et esthétique. Notre image mentale de
sprachlich bestimmten Modellen und Ordnungen – riskant
                                                              la tragédie avait ainsi été abusivement amputée de toutes ces tragé-
sein, woran Peter Burke vor vielen Jahren schon erinnert      dies, beaucoup plus nombreuses qu’on n’aurait pu le penser, qui
hat.36 Sich deswegen gar nicht mehr auf den Vergleich         paradoxalement finissaient bien: les tragédies heureuses (William
einzulassen ist aber noch gefährlicher: Man kann beim         Marx, Le Tombeau d’Œdipe. Pour une tragédie sans tragique, Paris,
                                                              Éditions de Minuit, 2012, 47–83). Or, rectifier notre conception des
                                                              tragédies grecques modifie non seulement notre façon de les lire ou
                                                              de les mettre en scène, mais aussi notre propre croyance au tragique
34 Marx (2020) Absatz 70.                                     de l’existence. Un simple déplacement de l’équilibre du canon est
35 Radhakrishan (2009) 454.                                   susceptible d’altérer notre rapport au monde, tant les œuvres littérai-
36 Burke (2009) 17.                                           res nous servent de modèles pour penser notre propre vie.“
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität             245

schistisch als eine, [...] bilden ebenso viele neue Freihei-                  Texte unterschiedlicher Kanon-Ordnungen lesen und ana-
ten.“40                                                                       lysieren, um so in einem erweiterten Dialog alternative
    Anstatt also die chinesische (oder jede andere) Les-                      Denkweisen, Kategorien und Vokabularien für diese zu
und Machart des „Romans“ als „unzureichend“ oder als                          erarbeiten. Das Schöne daran: Wenn man diese verschie-
ein „Missverständnis“ zu verunglimpfen, könnte dieser                         denen Positionen aus einem mehrsprachigen Dialog mit-
offene Dialog stattdessen eine Möglichkeit bieten, auch                       denkt, ist es nicht mehr nötig, Grenzen zu ziehen oder von
den europäischen „Roman“ zum Beispiel als 小說 xiao-                            Zentren oder Peripherien zu reden, den Mythos der kul-
shuo („kleines, also unwichtiges, weil nicht staatstragen-                    turellen Überlegenheit des einen oder anderen Zentrums
des, zunächst mündlich weitergegebenes und dann erst                          oder gar einen „Diebstahl der Geschichte“ des einen durch
durch Literati aufgeschriebenes Gerede“) neu zu überden-                      den anderen zu beklagen.44
ken. In den Worten der Wissenschaftstheoretikerin Karin                            Die Idee, die hinter der globalen Bibliothek steht, ist
Knorr-Cetina hört sich das so an:                                             analytisch und nicht moralisch: Bei dem vielstimmigen
                                                                              Dialog, den eine total globale Bibliothek erlaubt, geht es
     „Wenn man eine vergleichende Optik als Rahmen für das Sehen              nicht um richtig oder falsch, sondern um das gegenseitige
     benutzt, kann man die eine Wissenschaft durch die Linse der              Erfahren eines geteilten oder noch zu teilenden Erbes. Die
     anderen betrachten. Dadurch wird das Unsichtbare ‚sichtbar‘;
                                                                              Idee, die hinter der totalen globalen Bibliothek steht, ist
     jedes Muster, das in einer Wissenschaft detailliert beschrieben
     wird, dient als Sensor, um (äquivalente, analoge, widersprüchli-         der Versuch, dieses offene Format des Denkens im Dialog
     che) Muster in der anderen Wissenschaft zu identifizieren und            zu fördern.45 Als dezentriert antagonistische Intervention
     abzubilden.“41                                                           kann dieses Denken neue Ordnungssysteme schaffen oder
                                                                              ermöglichen. Eine globale Bibliothek aufzubauen bedeu-
Andere Vokabularien, andere Kanon-Setzungen fordern                           tet, die unterschiedlichsten Texte, die die Welt hervor-
das Denken, stellen die eigene Weltvorstellung infrage                        gebracht hat, zu lesen und versuchen zu verstehen, was sie
und bieten so Raum für Transformation.42 Eine offene, viel-                   bedeuten, sowohl, wenn sie in Begriffen sprechen, die völ-
sprachige globale Bibliothek „verwandelt den Leser, sie                       lig unbekannt erscheinen, aber fast noch mehr (siehe
dezentralisiert und erneuert (seine) Existenz. (La biblio-                    das Beispiel des „Romans“ in der Definition von Lu Xun),
thèque mondiale transforme le lecteur, elle décentre et                       wenn diese zunächst recht vertraut aussehen, es aber nur
renouvelle son existence).“43                                                 an der Oberfläche sind.
     Der transkulturelle Vergleich, die globale Gegenüber-                         Dieser transkulturelle Dialog, nimmt man ihn ernst, ist
stellung von Quellen aus verschiedenen Zeiten und Regio-                      nie ein einseitiger, sondern immer ein wechselseitiger
nen der Weltgeschichte zwingt uns dazu, Fragen zu stel-                       Austausch – Transfer und mehr: Er ist ein Gespräch zwi-
len, die wir bisher nicht zu stellen geneigt waren, wenn die                  schen Gleichen und ist daher kein Versuch der Integration,
Objekte unserer Untersuchung als Objekte singulärer na-                       sondern der Transformation, ein Versuch, das viele Andere
tionaler und nicht transkulturell vergleichender und glo-                     deutlicher zu zeigen in einer kosmopolitischen Erzählung
baler Geschichten eines geteilten Erbes behandelt wurden.                     zu jedem unserer Begriffe, in jeder unserer Sprachen. Der
Der so geführte transkulturelle Vergleich, der die globale                    dialogische transkulturelle Vergleich ist eine Alternative
Dimension zur Methode macht (ich nenne das „world-as-                         zu dem Wettbewerbsgeschrei: „Wir waren die Ersten“,46
method“), bedeutet, dass viele Spezialisten gemeinsam die                     die das ehrliche Teilen von Erbe überhaupt erst ermög-
                                                                              licht.
                                                                                   Die globale Bibliothek, so William Marx,
40 Marx (2020) Absatz 64: „Pas de liberté qui ne s’exerce dans une
structure: c’est la colombe de Kant, qui croyait voler mieux, et plus             „vereint eine Unzahl heterogener Bibliotheken, von denen jede
vite, et plus haut, si elle évoluait dans le vide. Or, sans air, pas de vol       nach ihren eigenen Kriterien, Hierarchien und Klassifikationen
possible, et pas davantage de littérature sans langue ni culture, sans            zu betrachten ist. So wie die antiken Bibliotheken aus zwei Abtei-
mythes ni lieux communs. La langue est ‚fasciste‘, elle oblige à dire,            lungen bestanden, einer griechischen und einer lateinischen, so
affirmait ici même Roland Barthes, mais la capacité de ‚tricher‘ avec             vereint diese totale Bibliothek alle Bibliotheken der Welt, jeder
elle, il la nommait littérature (Roland Barthes, Leçon (1977), dans               Kultur, jedes Landes, jeder Sprache und jedes Alters. Es gibt viele
Œuvres complètes, éd. Éric Marty, Paris, Seuil, 2002, vol. V, 432–33).
La langue est fasciste, mais dix langues ensemble sont moins fascis-
tes qu’une seule, et dix littératures forment autant de libertés nou-         44 Diese Formulierung zum Mythos der kulturellen Überlegenheit
velles.“                                                                      stammt aus Goody (2006) 127.
41 Knorr-Cetina (1999) 4.                                                     45 Hierzu mehr in Mittler und Maissen (2018).
42 Marx (2020) Absatz 47.                                                     46 Burke (2009) 27 schreibt entsprechend: „the Western Renaissance
43 Marx (2020) Absatz 72.                                                     deserves to be viewed as a member of a family.“
246            Barbara Mittler

      Objekte darin, die gar keine Bücher und kaum Texte sind und die   schiedlichen Zuschnitts sozusagen.50 „Brauchen wir die
      nur einen sehr entfernten Bezug zu dem haben, was wir heute       Norm?“, fragt er, „Hat die Welt eine innere Uhr, ein Pendel,
      Literatur nennen.“47                                              das von Maß zu Maß kippt, und zwar in alle Ewigkeit?“51
                                                                        Wofür er in seiner Poetik plädiert, ist das, was er selbst
Das ist sehr schön gesagt, aber: Nebeneinanderstellen                   praktiziert, eine besondere Art der offenen Reflexion, die
reicht noch nicht ganz (denn die Regalbretter sind, und                 fortschreitet und sich dabei immer wieder selbst korrigiert
damit verbunden das Beschneiden der Ränder, immer                       und neu definiert, in einer Bewegung, die nicht linear,
noch das Problem): Es reicht nicht die additive Ordnung                 sondern nomadisch, im Zickzack, zirkulär, im Hin und Her
von Spezialbibliotheken, von denen jede ihre ganz eigene                shot-reverse-shot genannt werden kann, die eine fortwäh-
Sache und ihr ganz eigenes Gebiet repräsentiert, die aber               rende Transformation generiert, die entsteht aus der im-
keinen Kontakt zueinander bekommen. Es reicht nicht                     mer wieder neu wahrgenommenen Begegnung mit dem
allein das durch den Transfer von Buch-Objekten entstan-                Anderen.52 Um es anders zu sagen: Wir sind alle anders,
dene Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Objek-                    wie Heredia oder Ausländer, fast überall...
ten, die nicht miteinander in Verbindung treten. Es hilft
auch nicht immer, diese an andere Bibliotheken mit den
ihnen angepassten Ordnungen zurückzugeben, folglich                     3 Transkulturalität
Restitution zu betreiben.48 Die totale globale Bibliothek,
wie sie mir vorschwebt, besteht auf Transformation, auf                       „Gardons toujours une porte ouverte, acceptons l’existence d’un
dem Zusammenkommen dieser unterschiedlichen Buch-                             ailleurs de la totalité, laquelle ne peut être qu’un rêve, telle en un
                                                                              ciel ignoré l’espérance ou la surprise d’étoiles nouvelles.“
Objekte und Spezialbibliotheken in einem engagierten
                                                                                                                                    William Marx53
und kritischen, sicher oft auch antagonistischen Dialog,
der darin besteht, jeweils die Ordnungssysteme der ande-                Dieser Beitrag ist ein Versuch darüber nachzudenken, wie
ren kennenzulernen und zu hinterfragen, um so sich selbst               wir Vokabularien schaffen können, die es uns erlauben, im
in die Lage zu versetzen, eigene Prämissen und Stand-                   Bewusstsein der Beschneidung, die mehr oder weniger
punkte zu überdenken, und, während man durchaus an                      arbiträr und meist unschuldig oder aus Unwissen Ränder
ihnen festhält, dennoch sich selbst zu verwandeln, in dem               produziert, eine neue Vision von globaler Bibliothek zu
Bemühen, aus dem zu lernen, was vielleicht weit entfernt,               produzieren, die potentiellen Sammelobjekte dieser glo-
in Raum und Zeit, aber dennoch recht relevant für das                   balen Bibliothek, Texte unterschiedlichster Art – Musiken,
Verständnis der eigenen Gegenwart und Zukunft ist. Es ist               Filme, Literaturen und vieles andere mehr – in Zukunft
meine Überzeugung, dass eine totale globale Bibliothek                  transkulturell vergleichend zu sammeln und zu lesen, und
erst in eben diesem transkulturell vergleichenden Dialog                mit immer wieder anderen Augen aus unterschiedlichen
entstehen kann.                                                         Perspektiven zu sehen und damit anders denken zu lernen.
     Édouard Glissant (1928-2011), ein bedeutender Autor                Eine globale Bibliothek in diesem Sinne wäre eine, die
der französischsprachigen Karibik, geht in seiner Poetik                nicht bestimmt ist davon, wann wer wo oder wie „rand-
von einer Ästhetik des „Verschiedenartigen/Divers“ aus                  ständig“ war oder ist, weil diese Wertung aus globaler
und plädiert für die transformative Kraft des transkulturel-            Sicht, wie ich versucht habe zu zeigen, nur selten zutrifft.
len Dialogs, indem er die „Globalisierung/mondialisation“               Eine globale Bibliothek in diesem Sinne wäre eine, die sich
einer positiven Variante, dem „Globalismus/mondialité“,                 damit beschäftigt, in welchem Verhältnis von Transfer und
gegenüberstellt und schreibt: „Ich kann mich verändern,                 Transformation diese allesamt einerseits zentralen und
indem ich mich mit dem Anderen austausche, ohne mich                    andererseits peripheren Texte und Bibliotheken zueinan-
selbst dabei zu verlieren oder zu verzerren.“49 Glissant                der stehen, auf dass uns, um mit Heredia zu sprechen,
schlägt einen Weg des affirmativen Dialogs vor, in einer                immer wieder „neue Sterne“ aus „unbekannten Himmels-
Welt, die Unterschiede diskutiert und anerkennt, ohne sie               feldern“ aufgehen und begegnen. Bereits Casanova zeigt
zu verwässern oder zu verlieren, um so etwas wie eine                   deutlich, dass die potentiellen Bestandteile einer globalen
bunte, vielschichtige, weil „weltumfassende“ und hetero-                Bibliothek als Elemente einer „Konfiguration“ im Sinne
gene Ordnung entstehen zu lassen – Regalbretter unter-                  Foucaults gelesen werden müssen, als jeweils spezifische

                                                                        50   Die Formulierung folgt Golay (2007).
47 Marx (2020) Absatz 71.                                               51   Glissant (2005) 98.
48 Sarr und Savoy (2018), Parzinger (2016).                             52   Die Formulierung folgt Golay (2007).
49 Glissant (2005) 25.                                                  53   Marx (2020) Absatz 90.
Vokabularien für eine globale Bibliothek – Von Transfer, Transformation und Transkulturalität              247

Produkte einer ganz spezifischen historischen Konstellati-                        dersartigkeit. Aber diese Andersartigkeit gibt sich nicht als sol-
on. Der doppelte Blickwinkel auf Spezifizität und Historizi-                      che preis: Sie muss im Kampf erobert und verstanden werden.
tät, den Casanova vorschlägt, zieht nach sich, dass man                           Zwei Gefahren warten hier auf den Leser: Die erste besteht darin,
                                                                                  blind für Unterschiede zu sein, überall Stereotypen zu sehen,
die literarische Welt als einen transkulturellen Raum und
                                                                                  alles auf das Gleiche zu reduzieren, die Werke zu nivellieren; die
die Entwicklung der globalen Bibliotheken als sukzessive                          zweite Gefahr, symmetrisch zur ersten, besteht darin, sich der
Entfaltung – man könnte auch sagen, als immerwährende                             Vorurteile und Stereotypen der eigenen Lektüre nicht bewusst zu
Transformation – betrachten kann.54 Dieser „literarische                          sein. In beiden Fällen ist die Gefahr von Fehlinterpretationen
Internationalismus“, wie Casanova ihn nennt, bei dem zu-                          und Langeweile groß.“57
weilen reziproke, zuweilen unilaterale Transfer- und Aus-
tauschverhältnisse vorherrschen können, impliziert „so-                      Aber gerade deswegen, wegen dieser Schwierigkeiten, die-
wohl die Berücksichtigung des nationalistischen Glaubens                     ser Widerständigkeiten, so schließt Marx seine Vorlesung,
als auch seine Überwindung in einer relationalen und uni-                    ist die Lektüre in der totalen globalen Bibliothek so wich-
versellen Konzeption der Weltliteratur.“55 Er ist ein erster                 tig. Ich würde sagen, gerade deswegen ist der transkul-
Schritt auf dem Weg zur globalen Bibliothek, der aber                        turelle Vergleich ein Muss, um immer auch mit anderen
vielfach noch behindert wird: Die Soziologin Gisèle Sapiro,                  Augen als allein den einseitig „zentral“ (vom Regalbrett
wie Pascale Casanova Bourdieu-Schülerin, zeigt in ihren                      eingeschränkt) bestimmten zu sehen, denn nur dieser
Arbeiten zur globalen „Diffusion“ und „Übersetzung“ von                      transkulturelle Vergleich „kann es ermöglichen, im Zwei-
Literatur, die politischen, ökonomischen, kulturellen und                    felsfall zu gesichertes Wissen zu widerrufen, zu tief ver-
sozialen Faktoren auf, die die Möglichkeiten des Transfers                   wurzelte Gewohnheiten zu stören, zu feste Vorstellungen
von Literaturen von einem Ort zum anderen und damit                          zu destabilisieren; dies allein ist schon ein enormer und
deren (Nicht-)Aufnahme in eine globale Bibliothek bestim-                    ausreichender Nutzen. Es wird ausreichen, wenn sie (die
men und beschränken.                                                         totale globale Bibliothek) angesichts der Unermesslichkeit
     Bereits vor einem halben Jahrhundert hat Michel Fou-                    des Wissens, um das es geht, und der Komplexität und
cault in seiner Ordnung der Dinge auf die Willkür und                        Vielfalt des Korpus lediglich eine Lektion in Besonnenheit
Macht von Ordnungssystemen hingewiesen. Dieser Beitrag                       und Bescheidenheit erteilt.“ Und er schließt, dass ein bei
hat versucht, Vorschläge für ein neues dialogisches For-                     dieser Lektüre entstehender, ich würde sagen transkul-
mat zur Konzeption einer globalen Bibliothek zu machen,                      tureller Komparatismus „eine Beunruhigung“ ist,58 eine,
die von und mit dem, was in einem Ordnungssystem als                         die uns erinnert, die Türen offen zu halten, die Grenzen
„randständig“ erscheinen mag, gedacht wird. Diese globa-                     nicht zu schließen, die Ränder nicht zu beschneiden, eine
le Bibliothek setzt neue Vokabularien voraus, die nicht nur                  die uns weiter bringt, in das Reich neuer Sterne eines
diachron, sondern auch diatopisch angelegt sind (etwas,                      Heredia: „Gardons toujours une porte ouverte, acceptons
das bereits bei Casanova schon angelegt ist)56 und immer                     l’existence d’un ailleurs de la totalité, laquelle ne peut être
aus einer transkulturellen Perspektive betrachtet werden,                    qu’un rêve, telle en un ciel ignoré l’espérance ou la sur-
die es erlaubt, die transformative Kraft von kulturellem                     prise d’étoiles nouvelles.“59
Transfer konstruktiv und kreativ zu nutzen.
     Das ist keine einfache Aufgabe, ja eine, die unbedingt
widerständig ist, wie William Marx eindrücklich be-                          Literaturverzeichnis
schreibt, wenn er davon spricht, was man tun muss, um in
der globalen Bibliothek zu lesen:                                            Anderson, Benedict (2016): Frameworks of Comparison. In: London
                                                                                 Review of Books, 38 (3).
     „Du musst Dein Leben ändern, Deine Denkweise ändern, zumin-
     dest vorübergehend. Du musst Dich auf andere Bräuche, andere
     Sitten, andere Redeweisen einlassen, die manchmal durch trüge-
     rische Ähnlichkeiten verdeckt werden. Jeder Text bringt eine            57 Marx (2020) Absatz 57.
     neue Erfahrung ins Spiel, jeder Text konfrontiert mit einer An-         58 Marx (2020) Absatz 88 und 90: „elle (la lecture dans la biblio-
                                                                             thèque totale, BM) peut permettre de révoquer en doute des savoirs
                                                                             trop assurés, de perturber des habitudes trop ancrées, de déstabiliser
54 Dieser Absatz folgt Jurt (2018).                                          des notions trop figées, ce sera à lui seul un bénéfice énorme et
55 Casanova (2011) 31.                                                       suffisant. Qu’elle se contente de proposer une leçon de prudence et de
56 Golay (2007): „Cette ‚histoire spatialisée‘ de la littérature ne pour-    modestie face à l’immensité des savoirs mis en jeu et à la complexité
rait être comprise qu’à partir de sa propre mesure du temps, son“,           et la diversité des corpus, ce sera déjà bien. Le comparatisme [...] est
„méridien de Greenwich ‚littéraire‘, qui fixerait le présent, c’est-à-dire   une inquiétude.“
dans l’ordre de la création, la modernité.“                                  59 Marx (2020) Absatz 90.
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       中国小说史略 (Zhongguo xiaoshuo shi lue). Beijing: Verlag für
       fremdsprachige Literatur.
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