Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de

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Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
Von Erwerbsarmut
                           in Gute Arbeit –
                           Europäisch denken.
                           Solidarisch handeln.

#inworkNOpoverty

Konferenzdokumentation
Berlin, 25. September 2019

EUROPÄISCHE UNION
Europäischer Sozialfonds
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit   1

Inhalt

Seite 2    Konferenzprogramm

Seite 6    Abstract

Seite 10   Grußworte

Seite 13   Begrüßung und Einführung

Seite 16   Keynote I – Erwerbsarmut in vergleichender Theorie

Seite 20   Table Talks – Impressionen

Seite 21   Talk in Pairs I – Erwerbsarmut aus Sicht der Betroffenen

Seite 23   Paneldiskussion I – Erwerbsarmut – Welche Antworten hat Europa?

Seite 30   Keynote II – Arm trotz Erwerbstätigkeit

Seite 32   Talk in Pairs II – Erwerbsarmut aus Sicht der Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen

Seite 34   Workshop 1 – Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Erwerbsarmut

Seite 37   Workshop 2 – Digitale Transformation und Erwerbsarmut

Seite 40   Workshop 3 – Dienstleistungssektor und Erwerbsarmut

Seite 44   Workshop 4 – Aus- und Weiterbildung und Erwerbsarmut

Seite 48   Paneldiskussion II – Erwerbsarmut – Welche Antworten gibt es für Berlin ?

Seite 54   Abschlussworte – Was kann Berlin tun – und was hat Berlin schon getan ?

Seite 56   Impressionen

Umschlag   Impressum
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
2    Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                        Programm

 Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit –
­Europäisch denken. Solidarisch handeln.
Veranstalterin                  Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales
Datum                           25. September 2019
Ort                             Hotel Stadtbad Oderberger, Oderberger Straße 57, 10435 Berlin
Moderation                      Dr. Julia Kropf

Während der Konferenz (inklusive der Workshops) wurde eine simultane Übersetzung in ­
Englisch und Deutsch zur Verfügung gestellt.

                                8.30 – 9.30 Uhr           Ankommen und Registrierung

                                9.30 – 9.35 Uhr           Willkommen
                                                          Dr. Julia Kropf, Moderation

                                9.35 – 9.45 Uhr           Grußworte
                                                          Michael Müller, ​­
                                                          Regierender Bürgermeister von Berlin

                                9.45 – 10.00 Uhr          Begrüßung und Einführung
                                                          Elke Breitenbach, Senatorin für Integration, ​Arbeit
                                                          und Soziales, Berlin

                                10.00 – 10.45 Uhr         Erwerbsarmut in vergleichender Theorie
                                                          Keynote I
                                                          Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Professor für
                                                          Wirt­schaftswissenschaft an der Westfälischen
                                                          Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen

                                10.45 – 11.15 Uhr         Table Talks
                                                          Alle Teilnehmenden an ihren Tischen

                                11.15 – 11.30 Uhr         Kaffeepause
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
Programm                                        Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit   3

11.30 – 11.45 Uhr   Erwerbsarmut aus Sicht der Betroffenen

                    Talk in Pairs
                    Erika Biehn, Verband alleinerziehender Mütter und
                    Väter (VAMV), Berlin
                    Sarah Jochmann, Pressesprecherin der Facebook-
                    Kampagne »Liefern am Limit«, Düsseldorf

11.45 – 12.30 Uhr   Erwerbsarmut – Welche Antworten hat Europa ?
                    Paneldiskussion I
                    Ignacio Doreste Hernández, European Trade Union
                    Confederation (ETUC), Brüssel
                    Dr. Katherine Duffy, European Anti-Poverty Network
                    (EAPN), Brüssel
                    Alexander Friedrich, ASB Deutschland, AWO
                    Deutschland und Volkshilfe Österreich, Brüssel
                    Prof. Dr. Henning Lohmann, Universität Hamburg
                    Jeroen Jutte, Europäische Kommission DG EMPL,
                    Brüssel

12.30 – 13.30 Uhr   Mittagessen

13.30 – 14.00 Uhr   Arm trotz Erwerbstätigkeit
                    Keynote II
                    Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, MdB und Autor

14.00 – 14.15 Uhr   Erwerbsarmut aus Sicht der Arbeitnehmer*innen
		                  und Arbeitgeber*innen

                    Talk in Pairs
                    Johannes Jakob, Deutscher Gewerkschaftsbund
                    (DGB), Berlin
                    Alexander Schirp, Vereinigung der Unternehmens-
                    verbände in Berlin und Brandenburg e. V. (UVB)
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
4   Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                          Programm

                              14.15 – 15.45 Uhr         Parallele Workshops
                                                        Workshop 1
                                                        Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und
                                                        ­Erwerbsarmut
                                                        Elke Ahlhoff, ArbeitGestalten, Joboption Berlin
                                                        Dr. Christian Pfeffer-Hoffmann, Minor – Projekt­
                                                        kontor für Bildung und Forschung gGmbH, Berlin

                                                        Workshop 2
                                                        Digitale Transformation und Erwerbsarmut
                                                        Prof. Mark Graham, Oxford University Internet
                                                        Institute
                                                        Sarah Jochmann, Pressesprecherin der Facebook-
                                                        Kampagne »Liefern am Limit«, Düsseldorf

                                                        Workshop 3
                                                        Dienstleistungssektor und Erwerbsarmut
                                                        Franziska Baum, ArbeitGestalten, Berlin
                                                        Veronika Bohrn Mena, Gewerkschaft der
                                                        P
                                                        ­ rivat­angestellten, Druck, Journalismus, ­​Papier;
                                                         Wien

                                                        Workshop 4
                                                        Aus- und Weiterbildung und ­Erwerbsarmut
                                                        Dr. Alexandra Bläsche, Ministerium für Arbeit,
                                                        ­Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des
                                                         ­Landes Brandenburg, Potsdam
                                                        Dr. Michael Dörsam, Bundesinstitut für
                                                        ­Berufsbildung (BIBB), Bonn
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
Programm                                       Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit   5

15.45 – 16.00 Uhr   Kaffeepause

16.00 – 16.45 Uhr   Erwerbsarmut – Welche Antworten gibt es für Berlin ?

                    Paneldiskussion II
                    Eingangsstatement von Prof. Dr. Michael Hüther,
                    Institut der deutschen Wirtschaft, Köln
                    Alexander Fischer, Staatssekretär für Arbeit und
                    Soziales, Senatsverwaltung für Integration, ­Arbeit
                    und Soziales, Berlin
                    Christian Hoßbach, DGB Bezirk Berlin-Brandenburg
                    Lutz Mania, Jobcenter ­Berlin-Mitte
                    Kerstin Oster, Berliner Wasserbetriebe
                    Prof. Ingrid Stahmer, Sprecherin der Landesarmuts­
                    konferenz Berlin und ehemalige Senatorin in Berlin

16.45 – 17.00 Uhr   Abschlussworte zur Konferenz
                    Alexander Fischer, Staatssekretär für Arbeit ​und
                    Soziales, Senatsverwaltung für Integration, ​Arbeit
                    und Soziales, Berlin

Ab 17.00 Uhr        Ausklang im Kaminzimmer
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
6   Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                                           Abstract

Abstract

                                Immer mehr Menschen in Europa sind arm,          und der A    ­nteil derjenigen, die ergänzen-
                              obwohl sie arbeiten. Am stärksten stieg die         de Leistungen nach dem SGB II erhalten, ist
                              Erwerbsarmut im europäischen Vergleich in           b
                                                                                  ­ esonders hoch. Gleichzeitig suchen Berliner­
                              den vergangenen Jahren in Deutschland. Das           Unter­ nehmen mit wachsendem Aufwand
                              ist in einem reichen Land, das seit Jahren wirt-     nach Arbeits- bzw. Fachkräften. Für Berlin
                              schaftlich boomt, ein gesellschaftlich unhalt-       und andere europäische Metropolen, die vom
                              barer Zustand.                                       Dienst­leistungs­­sek­tor geprägt sind, rück­en
                                                                                   bestimmte Branchen, Berufe und Tätig­­      kei­
                              Trotz anhaltenden Wirtschafts- und Beschäf-
                                                                                   ten,­die gering be­­zahlt und von prekären oder
                              tigungswachstums gelten hierzulande rund
                                                                                  a­ typischen Ar­­­beits­bedingungen geprägt sind,
                              10 % der Erwerbstätigen als arm, d. h. über
                                                                                    in den Fokus.
                              vier Millionen Menschen und ihre Familien
                              müssen mit einem Einkommen auskommen,               Als Hauptgrund wird die soziale Ungleich-
                              das für einen angemessenen Lebensunter-             heit, die immer größer werdende Kluft zwi-
                              halt nicht ausreicht und sind auf Sozial- oder      schen Arm und Reich, die im globalen Kapita­
                              Lohn­ersatzleistungen angewiesen. Auch im           lismus eng miteinander zusammenhängen,
                              Durch­schnitt der EU-Mitgliedstaaten leben          benannt.­Als konkret ursächlich für Erwerbs­
                              rund 10 % in Erwerbsarmut. Für diese Men-           ar­mut werden häufig zu geringe Löhne oder
                              schen und ihre Familien ist Erwerbsarmut            Gehälter angeführt. Heute arbeitet fast jeder
                              eine bittere Realität, an deren Ende oftmals        vierte Beschäftigte in Deutschland im Nie­
                              Altersarmut steht.                                  drig­­­lohnsektor.

                              Besonders von Erwerbsarmut betroffen und            Weiterhin tragen die Zunahme atypischer
                              be­droht sind hierzulande Frauen, vor allem,        Beschäftigung, vor allem Teilzeit und Mini-
                              wenn sie alleinerziehend sind. Außer­        dem    jobs, häufig im Dienstleistungsbereich, der
                              ­ar­beiten Frauen weit häufiger in prekären         Druck auf Erwerbslose, möglichst schnell
                               oder atypischen Beschäftigungsverhältnis-          eine Arbeit anzunehmen, zu niedrige Lohner-
                               sen, wie z. B. Minijobs oder (niedrig entlohn-     satz- und Sozialleistungen, strenge Auflagen
                               ter oder un­freiwilliger) Teilzeitarbeit; zudem    für den Bezug von Transferleistungen, hohe
                               ­ex­is­tiert nach wie vor eine geschlechtsspezi­   Mieten – gerade in Großstädten – und ein ge-
                                fische Lohnlücke (Gender Pay Gap). Damit          ringes Bildungs­niveau zur Erwerbsarmut bei.
                                eng verbunden ist auch die Kinder­       armut.   Diese Faktoren spielen europaweit eine Rolle
                                In Deutschland leben rund 21 % aller Kin-         bei der Entstehung von Erwerbsarmut; einige
                                 der mindestens fünf Jahre dauerhaft oder         davon wurden im Rahmen der sogenannten
                                wieder­kehrend in einer Armutslage, 50 %          »Euro-Krise« im Zuge von Strukturreformen
                              d ­ a­­von in alleinerziehen­den Familien.          verschärft – etwa in Griechenland, Spanien
                                                                                  oder Portugal.
                              Gerade in Großstädten, wie Berlin, nimmt
                              die Erwerbsarmut bedrückende Ausmaße                Alle Akteurinnen und Akteure, von der bun­
                              an. Der wachsende Berliner Arbeitsmarkt             des­­­­deutschen Armutskonferenz, über die
                              weist einen vergleichsweise hohen Anteil an         Wirt­schafts- und Sozialpartnerinnen und So-
                              atypischen Be­schäftigungsverhältnissen auf         zialpartner sowie die politischen Parteien bis
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
Abstract                                                        Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit   7

hin zu den europäischen Mitgliedstaaten und       ausreichend, um die Erwerbsarmut effektiv
Organen der EU, sind sich seit Jahren einig,      und nachhaltig zu beseitigen und damit auch
dass es einer aktiven Politik der Armutsbe-       einen gesellschaftlich inakzeptablen Zustand
kämpfung bedarf, ins­besondere auch im Hin-       mit indirekten Folge­wirkungen, wie Populis-
blick auf die Erwerbsarmut. Was die strategi-     mus und Extremismus, zu beenden.
sche Ausrichtung, wirksame Politiken und die
                                                  Es muss deshalb mit aller Kraft darum gehen,
konkrete Umsetzung von Instrumenten und
                                                  dort anzuknüpfen, wo bisher schon durch
Maßnahmen betrifft, besteht nach wie vor
                                                  engagierte Menschen und Initiativen in Po-
großer Handlungsbedarf.
                                                  litik, Verwaltung und Zivilgesellschaft viel
Dabei geht es um Geld und Instrumente so-         erreicht wurde: In Berlin werden seit Jahren
wie vor allem um den Wert der Arbeit und die      Langzeit­arbeitslose mit aktiven Maßnahmen
Würde der Menschen, die in unserer Wissens-       der Jobcenter und der Senatsverwaltung für
und Arbeitsgesellschaft am besten ge­wahrt        Inte­gration, Arbeit und Soziales (SenIAS)
werden, wenn der Übergang aus Erwerbs­            erfolgreich in Arbeit integriert, Minijobs zu-
armut in Gute Arbeit und damit in ein selbst-     gunsten sozial­versicherungspflichtiger Be-
bestimmtes Leben mit Perspektiven und Ent-        schäftigung zurückgedrängt und im Rahmen
wicklungsmöglichkeiten, gelingt.                  des Prozesses »Arbeit 4.0 – made in Berlin«
                                                  der SenIAS die positiven und negativen ar-
Als Lösungsansätze zur Bekämpfung der Er-
                                                  beitsmarkt- und berufsbildungspolitischen
werbsarmut werden häufig bessere Bildung­
                                                  Aus­­wirkungen der Digitalisierung analysiert.
die Reduzierung von Minijobs, stärkere
Lohn- und Gehaltszuwächse oder die Er­­hö­        Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zu­­­sam­
h­ung von Mindestlöhnen und/oder Sozial­          men­­hang auch der Sozialpartner­dialog, mit
leistungen ge­­­
               nannt. Auch die Stärkung           dem die tarifvertraglichen und so­­­zi­al­­part­­ner­
sozialversicherungs­pflichtiger Beschäftigung     schaftlichen ­Hand­­lungsmöglichkeiten zwi-
mit guten Arbeitsbedingungen (anstelle von        schen der SenIAS und den Sozialpartnerin-
prekärer oder atypischer Beschäftigung), die      nen und Sozialpartnern immer wieder aufs
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifver-       Neue aus­gelotet und ge­­staltet werden.
trägen, die Reduzierung von (unfreiwilliger)
Teilzeit bis hin zur Stärkung des sozialen          Die bei der SenIAS angesiedelte Koordinie-
Wohnungsbaus werden empfohlen.                      rungsstelle zur Bekämpfung der Schwarz­arbeit
                                                    trägt zur Bekämpfung der Erwerbs­          armut
Auf europäischer Ebene, in Deutschland und          bei, indem sie die dauerhafte Vernichtung
speziell in Berlin, bestehen zahlreiche An­       l­ egaler Arbeitsplätze durch Schwarzarbeit
sätze und Instrumente, die zur Bekämpfung           und ille­ ga­­
                                                                 le Beschäftigung, und damit zu-
der (Erwerbs-)Armut einen Beitrag leisten            gleich ­Arbeitslosigkeit, Arbeitsausbeutung und
und geleistet haben. Sie gilt es weiterzuent­­-   M ­ en­­schenhandel, verhindert bzw. eingrenzt.
­​wick­eln und auszubauen – teilweise aber auch
durch radikalere Ansätze zu ersetzen oder zu      Die EU-Gleichbehandlungsstelle bei der Be­
ergänzen. Denn die bestehenden Strategien         auf­tragten der Bundesregierung für Mi­­­gra­­
und Ansätze sind offensichtlich (noch) nicht      tion, Flüchtlinge und Integration wendet­
Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
8   Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                                          Abstract

                              sich mit i­hren Angeboten sowohl an Ar­           F­ orschung mit der Beleuchtung von Ursachen
                              beit­
                                  nehmerinnen und Arbeitnehmer (und              und Auswirkungen, auch und gerade vor d     ­ em
                              ihre Familienangehörigen) aus der EU als           Hintergrund der Digi­  talisierung, eine ent-
                              auch an Fachleute aus den existierenden            scheidende Rolle. Hier gilt es, die Perspektiven
                              Beratungsstruk­    turen, damit EU-Arbeitneh-      der Betroffenen selbst zu berücksichtigen.
                              merinnen und Arbeitnehmer (und deren               Vor allem aber geht es darum, pragmatische
                              Familienan­ge­­­­­hörige) auch in der Praxis in    Lösungsmöglichkeiten zur Überwindung der
                              Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und            Erwerbsarmut zu eruieren und zu gestalten.
                              sonstige ­Ar­beits­­bedingungen gleichbehan-       Europaweit gibt es vielversprechende Ansät-
                              delt werden.                                       ze, die Wege aus der Erwerbsarmut weisen.
                                                                                 Gute Praxis Projekte aus Europa sollen iden-
                              Von Erwerbsarmut sind insbesondere auch
                                                                                 tifiziert, ausgetauscht und weiterentwickelt
                              Migrantinnen und Migranten be­troffen. Das
                                                                                 werden.
                              Berliner Beratungszentrum für Migration und
                              Gute Arbeit (BEMA) unterstützt zugewan­           Was können Politik und Verwaltung, was
                              derte Menschen dabei, ihre Arbeits- und So-       kann die Wirtschaft, was kann die Gesell-
                              zialrechte wahr­zunehmen – durch Beratung,        schaft als Ganzes aber auch jeder Einzelne
                              Bildung und Sensibilisierung.                     zur Überwindung dieses Zustands beitragen ?

                              Eine wichtige Grundlage und gleichzeitig
                              Stütze zur Bekämpfung der Erwerbsarmut
                              auf europäischer Ebene sind die im Jahr
                              2017 verabschiedeten 20 Grundsätze der
                              europäischen Säule sozialer Rechte, vor al-
                              lem die Forderung nach Chancengleichheit
                              und Arbeitsmarktzugang sowie die Umset-
                              zung fairer Arbeitsbedingungen. Auf diesen
                              Grundsätzen, die für alle Mitgliedstaaten
                              als Rahmen für bindende und nicht binden-
                              de Maßnahmen im Bereich der Europäischen
                              Beschäftigungs- und Sozial­politik gilt, lässt
                              sich bei Strategien zur Bekämpfung der Er-
                              werbsarmut aufbauen. Dies gilt ebenfalls für
                              die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung
                              (Sustainable Development Goals, SDGs) der
                              Vereinten Nationen – insbesondere für Ziel
                              8 (Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und
                              menschenwürdige Arbeit für alle).

                              Auf der Konferenz soll dem Phänomen der Er-
                              werbsarmut intensiv nachgegangen werden­.
                              Dabei spielt der gegenwärtige Stand der
Abstract                                                        Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit   9

Die folgenden Themen- und Handlungs-                 Gruppen sind besonders von Erwerbsarmut
schwerpunkte stehen im Mittelpunkt der               betroffen und welche Bedarfe gibt es dort ?
Kon­ferenz. Bei der Bearbeitung dieser The-
men soll sowohl auf Ursachen und Wirkun-
                                                     4. Aus- und Weiterbildung und
gen als auch auf Lösungsmöglichkeiten Be-
                                                     Erwerbsarmut
zug genommen werden:
                                                     Bildungsabschlüsse und Bildungsaspiratio-
                                                     nen sowie eine gute Aus- und Weiterbildung,
1. Prekäre Beschäftigungs­
                                                     die möglichst allen Menschen zugänglich ist,­​
verhältnisse und Erwerbsarmut
                                                     sind wesentliche Voraussetzungen, um Er­
Die Erwerbsarmut vieler Menschen ist durch           werbs­ armut zu überwinden. Welche Rolle­
prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Nied-          spielt die Aus- und Weiterbildung bei den
riglohnsektor bedingt (z. B. Mini­­jobs, Multi-      Über­­gängen in Gute Arbeit und bei der Prä­
jobber -Tätigkeiten, Solo - Selbstständigkeit,       ven­­­
                                                         tion bzw. Überwindung von Erwerbs­
un­­­­frei­willige Teilzeit, Befristungen). Welche   armut ?
Weichenstellungen sind notwendig, um diese
Situation zu verändern, zu verbessern oder
zu beseitigen ?

2. Digitale Transformation und
Erwerbsarmut
Im Prozess »Arbeit 4.0 – made Berlin« ent­
wickelt die Berliner Senatsverwaltung für
In­tegration, Arbeit und Soziales schon seit
Längerem Ansätze, um die Digitalisierung der
Arbeitswelt im Sinne »Guter Arbeit 4.0« zu
gestalten. Welche Auswirkungen hat die Digi-
talisierung speziell auf Beschäftigte, die von
Erwerbsarmut betroffen sind ?

3. Dienstleistungssektor und
­Erwerbsarmut
Wie andere europäische Metropolen auch,
ist Berlin in besonderer Weise vom Dienst­-
leis­tungssektor geprägt. 85 % der 1,4 Million­
en sozialversicherungspflichtig be­schäf­tig­ten
Ber­­­liner Arbeitnehmerinnen und Ar­beit­neh­
m­er­ waren 2017/2018 im Dienst­leist­ungs­­
be­reich tätig – überwiegend Frauen. Welche
10 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                   Grußworte  |  9.35 – 9. 45 Uhr

Willkommen

Grußworte zur
Eröffnung der Konferenz
Michael Müller
                                                                               Michael Müller
                                                                               Regierender Bürgermeister
                                                                               von Berlin

                               Der Regierende Bürgermeister begrüßt zu-       müssen mit Sozialleistungen aufstocken – ein
                             nächst alle nationalen und internationalen        inakzeptabler Zustand, der uns anspornen
                             Gäste und betont, dass Erwerbsarmut ein           sollte, Verbesserungen zu erreichen«, betont
                             wichtiges Thema sei. »Mir ist es wichtig, dabei   der Regierende Bürgermeister.
                             über den Tellerrand zu schauen, um zu sehen,
                             was in anderen Bundesländern und in europä-       Des Weiteren führt er aus: »Eine wichtige
                             ischen Nachbarstaaten passiert und was wir        Bedingung für die Bekämpfung von Armut
                             voneinander lernen können. Dies ist auch das      und Erwerbsarmut ist eine gute wirtschaft-
                             zentrale Anliegen dieser Konferenz.«              liche Entwicklung. Hier hat Berlin beste Vo-
                                                                               raussetzungen. Das Wirtschaftswachstum
                             »Europäisch denken. Solidarisch handeln. Das      liegt schon seit Jahren über dem bundes-
                             ist etwas, was mir als Bürgermeister einer­       deutschen Durchschnitt. Wir haben etwa
                             europäischen Hauptstadt sehr am Herzen            40.000 Unternehmensgründungen pro Jahr
                             liegt.« Eine Konferenz zu diesem Thema sei        und eine starke Digitalwirtschaft. Auch die
                             für ihn auch Ausdruck dafür, welchen Themen       sozialver­sicherungspflichtige Beschäftigung
                             sich die Politik in Berlin insgesamt zuwende.     ist gestiegen und lag im August 2019 bei
                             »Gute Arbeit umfassend zu verwirklichen, ist      rund ­­1,53 Millionen Menschen.«
                             eine der großen Aufgaben und eines der wich-
                             tigsten politischen Ziele unserer Zeit. Denn      Michael Müller setzt dabei auf Wissenschaft
                             Arbeit ist der Schlüssel für ein selbstständi-    und Forschung – in guter Kooperation mit der
                             ges Leben und für gesellschaftliche Teilhabe.     Wirtschaft – und auf Investitionen. Die Ent-
                             Aber zu viele Menschen können von ihren Jobs      scheidungen von Siemens und BMW, hier in
                             nicht leben, ihren Kindern keine volle Teilha-    Berlin dreistellige Millionenbeträge zu inves-
                             be ermöglichen oder fürs Alter vorsorgen. Sie     tieren, seien Beispiele dafür.
Grußworte  |  9.35 – 9. 45 Uhr                                  Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 11

»Auch die Arbeitslosigkeit in Berlin ist rück-      Der Mindestlohn und der Vergabemindest-
läufig«, betont der Regierende Bürgermeister.       lohn müssen bundesweit erhöht werden, aber
»Nach der Wende hatte Berlin eine Arbeits-          wir können nicht auf den Bund warten und
losenquote von bis zu 20 Prozent. Allein im         müssen als Länder und Kommunen mit eige-
öffentlichen Dienst wurden 100 Tsd. Stellen         nen Ideen vorangehen.«
abgebaut sowie viele Industriearbeitsplätze.
                                                    Digitalisierung: »Wir wissen, dass der digi­
Aktuell hat Berlin dagegen eine Arbeitslo-
                                                    tale Wandel dazu führt, dass Arbeit sich
senquote von 7,8 Prozent. Die Zahl derer, die
                                                    verändert. Viele Berufe fallen weg und neue
trotz Arbeit mit Hartz IV aufstocken m­ üssen,
                                                    werden e­ ntstehen. Ganze Branchen müssen
ist ebenfalls rückläufig. Es gibt also viele
                                                    sich umorientieren. Es gibt viele Angebote in
­ermutigende Zahlen, aber das ist kein Trost
                                                    Berlin, um Anschluss an die Digitalisierung
 für Menschen, die trotz Arbeit arm sind und
                                                    zu halten. In bestimmten Bereichen wird die
 die an der gegenwärtigen positiven Entwick-
                                                    Arbeitslosigkeit steigen und für davon Betrof-
 lung in Berlin nicht teilhaben können. Das
                                                    fene brauchen wir Lösungen.«
 können wir nicht hinnehmen. Von guten wirt-
 schaftlichen Entwicklungen müssen alle pro-        Solidarisches Grundeinkommen (SGE): »Im­­​
 fitieren – und nicht nur ein paar wenige«, so      Juli sind wir mit dem Pilotprojekt gestartet,​
 der Regierende Bürgermeister.                      das bis zu 1.000 arbeitslosen Menschen
                                                    eine echte Chance gibt. Das solidarische
                                                    Grund­einkommen soll Arbeitslosen einen
Michael Müller fasst folgende Punkte                Wiederein­stieg in Gute Arbeit ermöglichen –
zusammen, die zur Bekämpfung der                    mit sozialversicherungspflichtigen Jobs, tarif­
Erwerbsarmut wichtig sind :                         gebunden oder, wo es keine Tarife gibt, zum

Verbesserung der Tarifbindung: »Dies ist ein
zentrales Handlungsfeld im Kampf gegen Er-
werbsarmut, denn eine funktionierende und
umfassende Sozialpartnerschaft sorgt dafür,
dass nicht irgendwelche, sondern Gute Ar-
beit entsteht. Berlin setzt sich u. a. dafür ein,
die Tariflücke bei freien sozialen Trägern zu
schließen.«

Mindestlohn: »Der gegenwärtige Mindest-
lohn von 9,19 EUR ist geringer als in anderen
­westeuropäischen Staaten. Wir brauchen ei-
 nen armutsfesten Mindestlohn. Ein Mindest-
 lohn von 12,63 EUR würde vor Altersarmut
 schützen. Wir werden mit einem Berliner Ver-
 gabemindestlohn von 12,50 EUR einen An-
 fang machen. Diese Diskussion wird derzeit
 auch im Nachbarland Brandenburg geführt.
12 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                   Grußworte  |  9.35 – 9. 45 Uhr

                             Mindestlohn. Damit wird für jede Betroffe-        Er appelliert, politische Handlungsmöglich-
                             ne und jeden Betroffenen, aber auch für die       keiten entschlossen zu nutzen und dafür
                             Stadt, etwas getan, denn es entstehen geför-      auch neu über Arbeits- und Sozialpolitik
                             derte Arbeitsverhältnisse in Wohnquartieren,      nach­­zudenken; nach außen hin offen zu sein
                             Kitas und Schulen. Das ist ein Baustein für       für neue Impulse, für frische Ideen und für
                             eine neue soziale Agenda, die wir dringend        Erfahrungen, die an vielen Orten im Kampf
                             benötigen. Andere Ideen sind uns auch hoch        gegen Erwerbsarmut gemacht würden. Denn
                             willkommen.«                                      Erwerbsarmut sei kein lokales, sondern ein
                                                                               übergreifendes Problem, das auf der heutigen
                             Wohnen: »Das Thema Wohnen ist die soziale
                                                                               Konferenz erörtert werden soll.
                             Frage unserer Zeit. Wir tun alles, um die Ver-
                             sorgung mit sozialem Wohnraum zu sichern.         Der Regierende Bürgermeister wünscht der
                             Mit dem Mietendeckel können wir sicherstel-       Veranstaltung einen guten Verlauf und gute
                             len, dass das Wohnen in der Stadt auch für        Ergebnisse. Er gratuliert seiner Senatskollegin
                             Menschen mit kleinen und mittleren Einkom-        Elke Breitenbach zu dieser Veranstaltung und
                             men bezahlbar ist.«                               zur Wahl des Themas.

                             Bildung: »Von der Kita bis zur Universität muss
                             Bildung für alle zugänglich sein, es dürfen
                             keine Hürden im Bildungsbereich aufgebaut
                             werden.«

                             Der Regierende Bürgermeister hebt hervor,
                             dass das kürzlich eingeführte kostenlose Mit-
                             tagessen für Grundschülerinnen und Grund-
                             schüler und das kostenlose Schülerticket
                             wichtige Maßnahmen gegen Erwerbsarmut
                             seien, denn sie kämen gerade Alleinerziehen-
                             den und Familien zugute.
Begrüßung und Einführung  |  9.45 – 10.00 Uhr               Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 13

Willkommen

Begrüßung
und Einführung
Elke Breitenbach
                                                                                 Elke Breitenbach
                                                                                 Senatorin für Integration, ​
                                                                                 Arbeit und Soziales,
                                                                                 Berlin

                                  Frau Senatorin Breitenbach nimmt ein­         Problem, weil sich die Gesellschaft immer
                                gangs Bezug auf den Veranstaltungsort. Sie       mehr spaltet. Trotz eines enormen Zuwachses
                                erinnert an die wechselhafte Geschichte des      an sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
                                Hauses, das vor der Sanierung als Veranstal-     gung verzeichnen wir prekäre Lebensverhält-
                                tungsort 30 Jahre ungenutzt war. »Im leeren      nisse und Einkommensarmut. »Mehr Arbeit
                                Becken« des Oderberger Bades fanden zu die-      ist offensichtlich keine Garantie für weniger
                                ser Zeit Konzerte und Veranstaltungen statt.     Armut.«, so die Senatorin.

                                Sie verweist auf die Rede des Regierenden        Besonders von Erwerbsarmut betroffen sind
                                Bürgermeisters, der schon aufgezeigt habe,       kinderreiche Familien und Frauen. Berlin ist
                                wie breit das Thema »Erwerbsarmut« ange-         die Stadt der Alleinerziehenden. Frauen ar-
                                legt sei.                                        beiten weit häufiger als Männer in prekären
                                                                                 und atypischen Beschäftigungsverhältnis-
                                Sie betont, dass es nicht hinnehmbar sei, dass
                                                                                 sen, z. B. in Minijobs und gering bezahlter
                                Menschen trotz Arbeit von ihrem Einkommen
                                                                                 Teil­zeitarbeit. Der »Gender Pay Gap«, die
                                nicht leben können. Besonders gravierend ist
                                                                                 ge­schlechtsspezifi­sche Lohnlücke, ist nicht
                                die Entwicklung in Deutschland in den ver-
                                                                                 länger hinnehmbar und muss skandalisiert
                                gangenen Jahren gewesen. Nach einer Unter­
                                                                                 werden. Jedes 5. Kind in Berlin lebt in Armut –
                                suchung der Hans-Böckler-Stiftung hat sich
                                                                                 und arme Kinder haben arme Eltern.
                                die Erwerbsarmut in Deutschland zwischen
                                2004 und 2014 verdoppelt. In der EU insge-       Besonders betroffen sind auch Migrantinnen
                                samt sind 9,4 % der Erwerbstätigen von Er-       und Migranten. Dabei handelt es sich nicht
                                werbsarmut betroffen, in Deutschland 9 %         um eine homogene Gruppe. Zum einen geht
                                (Jahr 2017). Es handelt sich um ein massives     es hierbei um Menschen, die schon lange hier
14 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                   Begrüßung und Einführung  |  9.45 – 10.00 Uhr

                             und von struktureller Diskriminierung betrof-      Was also ist zu tun?
                             fen sind. Zum anderen sind es Menschen mit
                                                                                Höhere Löhne und Gehälter sind wichtig, »das
                             Fluchthintergrund, die oft Opfer von Arbeits­
                                                                                liegt auf der Hand«.
                             ausbeutung werden. Zum Dritten sind es EU-
                             Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht auf          Im Land Berlin strebt der Senat als nächsten
                             Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrnehmen und           Schritt einen höheren Landesmindestlohn an.
                             die hier häufig scheitern. Außerdem leben in
                                                                                Tarifbindung, auch im sozialen Bereich: Hier
                             Berlin viele obdachlose Menschen.
                                                                                ist ein gewisser Druck vonnöten und es gilt,
                             »Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist richtig,        entsprechende Rahmenbedingungen zu
                             aber wir müssen sie gestalten.« so Frau            schaffen. Grundlage ist ein Beschluss des
                             ­Se­nato­rin Breitenbach. Dazu braucht Berlin      Berliner Abgeordnetenhauses zur Tarif­an­
                              den Bund und Europa. Gefragt ist in diesem        passung bei freien Trägern. Das ist allerdings
                              Zusammenhang »Gute Arbeit für Menschen            nicht leicht für die Träger, denn sie werden
                              mit Einwanderungs­geschichte«. Auch Men-          aus unterschiedlichen Töpfen finanziert. Sie
                              schen mit Behinderung sind besonders von          können aber nicht – mit Unterstützung des
                              Erwerbsarmut bedroht. Das Erwerbsarmuts-          Landes – z. B. 20 % ihrer Angestellten nach
                              risiko steigt, wenn viele der oben genannten      Tarif bezahlen und 80 % nicht. »Da ­haben wir
                              Merkmale zusammenkommen.                          ein Problem«, das sich ohne die Bundesebene
                                                                                nicht lösen lässt. Trotzdem müssen wir weiter
                             Als Folge der Erwerbsarmut nimmt auch die
                                                                                darum kämpfen.
                             Altersarmut zu. Ihre Generation, so Frau Se-
                             natorin Breitenbach, verfügt häufig über pre-      Der Sozialpartnerdialog hat in Berlin gute
                             käre Lebensläufe, die dann zu Lücken bei der       Tradition und ist ein wichtiges Instrument,
                             Zahlung von Rentenbeiträgen führen und nur         das wir nutzen können, um Erwerbsarmut zu
                             eine geringe Altersrente ergeben.                  bekämpfen.

                             Gerade im Dienstleistungssektor, der für vie-      Die Beratung und Unterstützung von Opfern
                             le Metropolen, so auch Berlin, prägend ist,        der Arbeitsausbeutung in landeseigenen Be-
                             weist der Arbeitsmarkt einen hohen Anteil          trieben ist eine wichtige Aufgabe. Wir wollen
                             an prekären und atypischen, gering bezahl-         Gute Arbeit, d. h. die Menschen müssen davon
                             ten Beschäftigungsverhältnissen auf – von          leben können, die Arbeitsbedingungen dürfen
                             Schwarzarbeit und illegaler, ausbeuterischer       nicht krank machen; die Arbeit muss sicher
                             Beschäftigung ganz abgesehen.                      sein und die Möglichkeit zum Aufstieg und
                                                                                Entwicklung geben.
                             Viele Menschen, die Ansprüche auf Leistun-
                             gen haben, nehmen diese gar nicht wahr. Sie        Die Qualifizierung von Erwerbslosen, aber
                             schämen sich und nehmen ihre Rechte nicht          auch von Menschen, die in Arbeit sind, spielt
                             wahr. Oft halten sie sich mit mehreren Jobs        eine große Rolle. Hier müssen wir auf Unter-
                             über Wasser, »auch das dürfen wir nicht hin-       nehmen Einfluss nehmen, damit diese die
                             nehmen«, so die Senatorin.                         dort Beschäftigten weiter qualifizieren, damit
                                                                                sie herauskommen aus prekären Arbeitsver-
                                                                                hältnissen.
Begrüßung und Einführung  |  9.45 – 10.00 Uhr   Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 15

Wir brauchen verbindliche bundesgesetzliche
Regelungen zum Mindestlohn; die Rente muss
erhöht werden.

Wir setzen auf klare Regelungen in Europa,
was die sozialen Sicherungssysteme betrifft,
die aufeinander abgestimmt werden müssen.
Und wir müssen auf europäischer Ebene end-
lich die Arbeitnehmerfreizügigkeit gestalten.

Wir haben teilweise auch eine dramatische
­Situation für Jugendliche, die eine eigene
 Wohnung gar nicht mehr bezahlen können.

Wir brauchen insgesamt kreative Lösungen –
wie sie für das Schwimmbad und Hotel, in dem
wir uns befinden, offenbar gefunden wurden.

Nachfrage der Moderatorin:
Welchen Stellenwert hat das Thema ​in ­
der Berliner Arbeitsmarktpolitik ?

Gute Arbeit ist ein zentrales Ziel unserer Ber-
liner Arbeitsmarktpolitik. Dafür brauchen wir
Verbündete, aber auch den Austausch über
gute Ideen und kreative Lösungen, so wie
heute. Gute Arbeit ist auch eine Aufgabe und
ein Spannungsverhältnis in den Start-ups in
unserer Stadt, die einerseits unglaublich viel
Kapital einwerben, auf der anderen Seite aber
häufig prekäre Beschäftigungsverhältnisse
anbieten.
16 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                  Keynote I  |  10.00 – 10.45 Uhr

Keynote I

Erwerbsarmut in ­
vergleichender Theorie
Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup
                                                                               Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup
                                                                               Professor für Wirtschafts­wissen­schaft
                                                                               an der Westfälischen ­Hochschule
                                                                               G
                                                                               ­ elsenkirchen, Bocholt, ­Recklinghausen

                               Prof. Bontrup gibt seinem Unmut Aus­­druck,    Nur durch menschliche Arbeit entsteht aber
                             dass in der Wirtschaftspolitik und insbe­son­     Wert. Das wussten selbst schon die Merkan-
                             dere bei den Politikerinnen und Politikern das    tilisten. Im Gegensatz zur »toten Arbeit« der
                             kausale Denken verloren gegangen sei. »Wir        Maschinen, die nur Wert im Produktionspro-
                             leben in einer Gesellschaft, die sich nur noch    zess über ihre Abschreibungen abgeben, aber
                             an Symptome hält«. Niemand fragt mehr             nie einen Neuwert schaffen. Die menschliche
                             nach dem »warum«, z. B. warum es Hartz-           Arbeit muss deshalb in den Mittelpunkt der
                             IV-­Empfängerinnen und Empfänger gibt. Ihn        Unternehmen gerückt werden. Es kann nicht
                             ärgern auch seine neoliberalen Kolleginnen        sein, dass hier nur die Eigentümerinnen und
                             und Kollegen unter den Makroökonominnen           Eigentümer von Kapital das Sagen haben.
                             und Makroökonomen, die z. B. Arbeitsmärk-
                                                                               Nach Angaben des Deutschen Instituts für
                             te wie »Äpfelmärkte« ­betrachteten. Es geht
                                                                               Wirtschaftsforschung (DIW) arbeitet mittler-
                             hier aber um die ganz spezifische Ware Ar-
                                                                               weile jeder Vierte in Deutschland zu einem
                             beitskraft, deren Einkommen und Lohn ver-
                                                                               Stundenlohn unter 10,80 EUR. So landen wir
                             fällt – und das gilt nicht nur für Deutschland,
                                                                               in einer gigantischen Altersarmut. Die durch-
                             sondern ist ein globales Phänomen.
                                                                               schnittliche Bruttorente liegt heute schon nur
                             Die merkantilen Ökonomen im 17. und 18.           bei 800 EUR. Es ist ein Zynismus, davon in
                             Jahrhundert gingen noch davon aus, dass der       Deutschland, einem der reichsten Länder der
                             »beste Lohn« immer der »niedrigste Lohn«          Erde, existieren zu müssen, so Prof. Bontrup.
                             sei. Nur ein niedriger Lohn zwingt die Arbeite-
                                                                               Dennoch beharren neoliberale Mainstream-
                             rin und den Arbeiter eine Arbeit anzunehmen
                                                                               Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirt-
                             bzw. die eigene Arbeitskraft einem Unterneh-
                                                                               schaftswissenschaftler und ihre politischen
                             mer anzubieten.
Keynote I  |  10.00 – 10.45 Uhr                               Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 17

Vollstreckungsinstanzen darauf, dass die          Heute wird nicht mal mehr der Keynesianis-
Lohnverhältnisse nicht änderbar seien und         mus akzeptiert, wonach ausfallende Nach­
die Mehrwerttheorie nach Marx ein Mythos          frage durch staatliche Nachfrage ersetzt
sei. Bei einem Überschussangebot an Ar-           werden soll. Der Neoliberalismus à la Milton
beit, also bei vorliegender Arbeitslosigkeit,     Friedmann (seit 1962) ist dagegen »eine
müssten die Löhne halt solange sinken, bis        Perver­sion«. Seine Vollendung zeigt sich
die A­ rbeitsmärkte wieder im Gleichgewicht       realiter aber in einem immer mehr fi­nanz­
sind. Die Arbeitslosen, die diese abgesenkten     marktgetrieben­en Kapitalismus, der die Po-
Gleichgewichtslöhne nicht akzeptieren wür-        litik zum »Zuschauer« gemacht hat. Politik
den, wären dann eben »freiwillig« arbeitslos      muss aber Gesellschaft zum Wohle aller ge-
und hätten auch keinen Anspruch auf eine          stalten und nur sie ist demokratisch legiti-
staatliche Alimentierung. Hartz IV sei hier ei-   miert und verfügt über ein Gewaltmonopol.
gentlich schon viel zu viel an Unterstützung.     Es wird höchste Zeit, dass unsere Volksver-
Die tief ge­spaltenen, segmentierten Arbeits-     treterinnen und Volksvertreter dies erkennen,
märkte widersprechen im Übrigen dabei nicht       und in die völlig aus dem Ruder gelaufenen
dem Phänomen des Fachkräftemangels. In            ökonomischen Machtprozesse intervenieren.
einem Segment des Arbeitsmarktes werden
                                                  Prof. Bontrup empfiehlt, das Memorandum
Fachkräfte gesucht, in anderen Segmenten
                                                  der »Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspo-
werden sie überflüssig bzw. entlassen. Dies
                                                  litik« (https://www.alternative-wirtschafts-
ist allenfalls eine ökonomische Trivialität.
                                                  politik.de/) zu lesen. Er habe sich dort schon
Die ausbeuterische kapitalistische Wirt-          als Student engagiert. Heute sei er einer der
schaftsweise könne man nicht mit »sozialer        Sprecher. Der Ursprung der Gruppe geht auf
Marktwirtschaft« schönreden. Schon Adam           die Wirtschaftskrise in den 70er Jahren des
Smith wusste, was die einen bekommen, kön-        letzten Jahrhunderts zurück. Die alternativen
nen die anderen nicht mehr haben. Sein Buch       Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirt-
»Der Wohlstand der Nationen« stellte deshalb      schaftswissenschaftler bringen regelmäßig
auch eine »ganz schlechte Prognose« für die       ein Gegengutachten (Memorandum) zu dem
abhängig Arbeitenden: Sie müssen das kapi-        Gutachten des Sachverständigenrats der Bun-
talistische Gebäude auf ihren Schultern tra-      desregierung, den sogenannten »5 Weisen«,
gen und die Herrschaftseliten in der Spitze der   heraus. Bei dem, was in all den Jahren von der
Gesellschaft nehmen sie nicht einmal war. Die     »Memorandum-Gruppe« erarbeitet wurde,
Prognose war zutreffend, weltweit sowieso.        handelt es sich, so Prof. Bontrup, um einen
Aber sie gilt auch für die sogenannten hoch-      Riesenfundus an Alternativen zur herkömm-
entwickelten Industrieländer.                     lichen bürgerlichen Wirtschaftspolitik.

Fundamental für die neoklassischen Ökono-
                                                  Welche Lösungswege zur Bekämpfung
men ist, dass jedem Produktionsfaktor ein
                                                  der Erwerbsarmut zeichnen sich ab ?
Mehrwert zugemessen wird. Das ist, laut Prof.
Bontrup, natürlich Unsinn, wie schon ausge-       1. Die Verteilungsfrage muss wieder in den
führt.                                            ­Mittelpunkt gerückt werden. (Prof. Hüther
                                                   wird das anders sehen, aber er hält zumindest
18 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                Keynote I  |  10.00 – 10.45 Uhr

                                                                             teilung spricht hier Bände. Die Verteilungs-
                                                                             frage zu stellen, reicht aber allein nicht aus.

                                                                             2. Wir müssen die Eigentumsfrage stellen, so
                                                                             Professor Bontrup. Den Mehrwert bekommen
                                                                             diejenigen, die die Produktionsmittel haben,
                                                                             die anderen müssen sich den Kapitalistinnen
                                                                             und Kapitalisten verkaufen (Investitionsmo-
                                                                             nopol des Kapitals). Die Eigentümerinnen und
                                                                             Eigentümer der Produktionsmittel können
                                                                             andere für sich arbeiten lassen, ohne selbst
                                                                             einen Finger zu rühren. »Geld arbeitet nicht,
                                                                             schwitzt nicht, nur Menschen arbeiten«. Die
                                                                             EZB mit ihrem Präsidenten Draghi hat die Zin-
                                                                             sen auf null stellen müssen. Dies ist ein not-
                                                                             wendiger »atomistischer Kapitalschnitt«. Die
                                                                             Vermögenden verlieren ein wenig Geld. Das
                                                                             reicht aber nicht. Es muss zu einem brutalen
                              nicht mehr an der »Schwarzen Null« fest, so
                                                                             und gezielten Kapitalschnitt bei den wirklich
                              Prof. Bontrup.) Thomas Piketty mit seiner
                                                                             Reichen der Welt kommen. Alles andere ist
                              Veröffentlichung »Das Kapital im 21. Jahr-
                                                                             laut Prof. Bontrup lächerliche Symbolpolitik.
                              hundert« (2014) habe wirklich etwas bewegt.
                              Schon fallen jedoch alle über ihn her, da er
                                                                             3. Wir brauchen eine echte paritätische Mitbe-
                              kausal denkt. Die Verteilung zwischen Arbeit
                                                                             stimmung in allen Wirtschaftsbereichen, wie
                              und Kapital sei völlig aus dem Ruder gelau-
                                                                             die Montan-Mitbestimmung, die aber noch
                              fen. Der Staat muss das berücksichtigen und
                                                                             auszubauen ist. Die Umwelt muss hier mit an
                              »brutal hohe Steuern« für die Vermögenden
                                                                             den Verhandlungstisch. Nur mitreden, ohne
                              einführen. »Da werden die Vermögenden und
                                                                             Eigentum zu besitzen, greift jedoch zu kurz.
                              ihre Claqueure schreien«, so Professor Bon-
                                                                             Oswald von Nell-Breuning, CDU-Mitglied
                              trup, aber es gibt keine Alternative.
                                                                             und Berater von Konrad Adenauer, plädierte
                                                                             schon 1953 für ein solidarisches Umlagever-
                              Eine deutschnationale Partei sitzt mittler-
                                                                             fahren bei der Rente und hat sich immer auch
                              weile schon in allen Parlamenten. Dies wur-
                                                                             für den Ausbau von Mitbestimmung einge-
                              de nur möglich, weil unter dem neoliberalen
                                                                             setzt. Und er hat Ökonomie verstanden, im
                              Paradigma eine tief gespaltene Gesellschaft
                                                                             Gegensatz zu vielen heute, wenn er sagt: In
                              entstanden ist. Außerdem führen wir durch
                                                                             unserer Wirtschaft werden sowohl Konsum-
                              unsere Exportaggressivität andere Länder in
                                                                             güter als auch Kapital- oder Investitionsgüter
                              die Verschuldung. Das uns dadurch aus dem
                                                                             produziert; die ersteren gehen, wie ihr Name
                              Ausland zufließende Einkommen stecken sich
                                                                             besagt, in den Verbrauch, die letzteren die-
                              aber nur wenige Deutsche in die Tasche. Die
                                                                             nen langfristiger Nutzung, für Wohnhäuser
                              ungleiche Einkommens- und Vermögensver-
                                                                             und dergleichen, oder dienen selbst wieder
Keynote I  |  10.00 – 10.45 Uhr                               Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 19

der Produktion, für Fabriken, Maschinen usw.      eine verfassungsrechtliche Machtasymmet-
An der Erzeugung beider A   ­ rten von Gütern     rie zu Gunsten des Kapitals. Gewerkschaften,
wirken die abhängig Beschäftigten mit; für        linke Politikerinnen und Politiker mit Unter-
die Arbeitsleistung in diesen beiden Zweigen      stützung linker Wirtschaftswissenschaftle-
der Produktion zahlen die Unternehmerinnen        rinnen und Wirtschaftswissenschaftler müs-
und Unternehmer ihnen Arbeitslohn; dieser         sen hier eine Verfassungsänderung bewirken.
Arbeitslohn erscheint in der Erfolgsrechnung     Unter dem Investitionsmonopol des Kapitals
als Kosten. Verwenden die Beschäftigten nun      in Verbindung mit einer seit über 40 Jah-
den ganzen Arbeitslohn zum Kauf der ge-          ren ­bestehenden Massenarbeitslosigkeit in
schaffenen Verbrauchsgüter, so heißt das:        Deutschland waren die Gewerkschaften zu
Die Unternehmerinnen und Unternehmer             schwach, um wenigstens die verteilungs­
erhalten die ganze von ihnen als Kosten auf-     neutralen Spielräume auszuschöpfen. In den
gewendete Lohnsumme zurück und geben             50er, 60er bis Mitte der 70er Jahre gab es noch
dafür nur die produzierten Konsumgüter ab;       eine Verteilung von »oben nach unten«. Die
die neugeschaffenen Kapital- oder Investiti-     Lohnquote stieg zu Lasten der Mehrwert­quote.
onsgüter verbleiben ihnen sozusagen gratis       Unter dem dann immer mehr sich durchset-
und franko. Man könnte das auch so ausdrü-       zenden neoliberalen Paradigma ging es in die
cken: Die abhängig Beschäftigten schenken        andere Richtung. Nach der Wieder­vereinigung
den Unternehmerinnen und Unternehmern            haben die abhängig Beschäftigten auf Basis
die Kapital- oder Investitionsgüter und sind     der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote des
zufrieden, als Entgelt für ihre Leistung im      Jahres 1993, zwischen 1991 und 2018, gut
Produktionsprozess denjenigen Teil der pro-      1,8 Billionen EUR an Einkommen verloren. Es
duzierten Güter zu erhalten, der in Konsum-      wurde umverteilt zu den Mehrwerteinkünften
gütern besteht. Auf diese Weise werden die       (Zins, Grundrente, Gewinn). Das sollte uns al-
Unternehmerinnen und Unternehmer rei-            len zu denken und endlich Anlass zum Han-
cher und reicher, die Beschäftigten bleiben      deln geben.
Habenichtse.

4. Gewinnpartizipation, Kapitalbeteiligung:​     Nachfrage der Moderatorin:
Prof. Bontrup betont: Nur die, die das Kapi-
                                                 Gibt es denn andere Länder in ­Europa,
tal in Händen halten, haben »das Sagen«
                                                 ​​die es besser machen, die als Vorbild
in einer kapitalistischen Gesellschaft. Hans-­
                                                 ­dienen könnten ?
Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, weise darauf          Wir müssen auf uns selbst schauen; wir sind
hin, dass die heutigen Verfassungsrichterin-     nicht nur Exportweltmeister, sondern auch
nen und Verfassungsrichter eine Mitbestim-       noch Weltmeisterinnen und Weltmeister im
mung à la »Montan« nicht mehr anerkennen         Sparen. Die Deutschen haben allein 2018
würden. Die Möglichkeiten nach Artikel 12        rund 248 Milliarden EUR gespart, mehr als
Grund­gesetz (GG) (freie Berufswahl, und un-     alle anderen EU-Staaten zusammen. Deshalb
ternehmerische Freiheit) in Verbindung mit       haben wir alle Voraussetzungen, um bei uns
Artikel 14 GG (Eigentum) implizieren aber        selbst anzufangen.
20 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                Table Talks  |  10.45 – 11.15 Uhr

                                                             1. Frage – Wirksame Lösungen: Wo liegen aus Ihrer Sicht und vor dem
Table Talks                                                  Hintergrund Ihrer Erfahrungen die größten Hebel, um Erwerbsarmut

Alle Teilnehmenden
                                                             entgegen zu wirken?
                                                             2. Frage – Urbane Dimension: Welche Art von Lösungsansätzen braucht­​
                                                             es speziell für Metropolen?

diskutieren                                                  3. Frage – Europäische Dimension: Wie unterscheidet sich Erwerbs­
                                                             armut­in anderen Ländern von der Situation in Deutschland? Wo
                                                             könn­en wir voneinander lernen? Welche Maßnahmen müssen auf eu-
                                                             ropäischer Ebene getroffen werden, um Erwerbsarmut zu bekämpfen?
Talk in Pairs   |   11.30 – 11.45 Uhr                            Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 21

Talk in Pairs

Erwerbsarmut aus
Sicht der Betroffenen
Erika Biehn und Sarah Jochmann
                                                                                     Sarah Jochmann
                                                                                     Pressesprecherin der ​Facebook-Kampagne ​
                                                                                     »Liefern am Limit«, ​Düsseldorf

                                                                                     Erika Biehn
                                                                                     Verband alleinerziehender ​Mütter und
                                                                                     Väter (VAMV), ​Berlin

                                    Moderatorin:                                     in diesen Randbereichen. Hier ist großer Be-
                                                                                     darf vorhanden, »damit die Lust am Arbeiten
                                    • Was sind die größten Heraus­­
                                                                                     nicht verloren geht«. Natürlich gibt es auch
                                        forderungen in Bezug ​auf
                                                                                     gut Verdienende unter den Alleinerziehenden,
                                      E­ rwerbsarmut?
                                                                                     aber 40 % aller Alleinerziehenden sind von
                                    • Was wünschen Sie sich an                       Transferleistungen abhängig.
                                      V
                                      ­ eränderung?
                                                                                     Solidarität zu erzeugen ist nicht einfach, da
                                                                                     die individuellen Verhältnisse und Bedarfe
                                                                                     der Alleinerziehenden sehr unterschiedlich
                                        Erika Biehn, Verband alleinerziehender ​
                                                                                     sind. Es ist dann schwierig, die verschiedenen
                                    Mütter und Väter (VAMV), Berlin
                                                                                     Bedürfnisse »unter einen Hut« zu bringen.
                                    Die Kinderbetreuung ist die größte Heraus­       Frau Biehn vertritt vor allem diejenigen, die
                                    forderung für die Erwerbstätigkeit von Allein-   ein g­eringes Einkommen haben. Auch als er-
                                    erziehenden, denn 90 % der Alleinerziehen-       werbsarme Person soll man sein Leben gut ge-
                                    den sind Frauen und vor allem diese sind von     stalten können und sich gestärkt fühlen, eine
                                    Erwerbsarmut betroffen. Insbesondere die         Arbeit zu wählen, die auch Freude macht. Dar-
                                    Kinderbetreuung sollte so organisiert sein,      um bemüht sie sich. Sie berät Allein­erziehende
                                    dass alle Frauen, die erwerbstätig sein wol-     in der Stadt Essen, z. B. zu Fragen des Steuer­
                                    len, erwerbstätig sein können. Wir brauchen      rechts, insgesamt zu finanziellen Fragen, ­aber
                                    längere Öffnungszeiten in den Kitas plus er-     auch z. B. bei Scheidungen. Wie kann man mit
                                    gänzender Betreuung in den Randzeiten, z. B.     ALG II einigermaßen leben? ­Welche Chancen,
                                    im Pflegebereich, im Einzelhandel und im         welche Rechte und Pflichten hat man im ​SGB
                                    Reinigungsgewerbe gibt es Arbeitsschichten       II? Das sind Themen, die im Mittelpunkt ihrer
22 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                                  Talk in Pairs   |   11.30 – 11.45 Uhr

                                                                                  unregelmäßigen Lohnzahlungen. Die Leute
                                                                                  haben Angst, sich zu organisieren und damit
                                                                                  möglicherweise ihre Arbeit zu verlieren. Sie
                                                                                  arbeiten zum Mindestlohn. Manche mussten
                                                                                  bzw. müssen bei Lieferdiensten ihr eigenes
                                                                                  Fahrrad mitbringen.

                                                                                  Seit sie an die Gewerkschaft Nahrung-­Genuss-
                                                                                  Gaststätten (NGG) angeschlossen sind, gibt
                                                                                  es große Vorteile, wenn es um das Erstreiten
                                                                                  eines Tarifvertrags für Fahrerinnen und Fah-
                                                                                  rer geht. Ein Schlüssel gegen Erwerbsarmut
                                                                                  ist sicher Bildung. Um Bildung zu finanzieren,
                                                                                  nutzen die Menschen ja auch genau diese
                                                                                  Jobs. Das trifft aber nicht auf jeden zu. Vie-
                                                                                  le waren vor Antritt dieser Arbeit nicht in der
                                                                                  Lage, andere Jobs auszuüben und viele üben
                                                                                  diese Tätigkeit übrigens sehr gerne aus. Vor
                             Beratungsarbeit stehen. Häufig bekommen              allem müssen die Menschen vor Ausbeutung
                             Alleinerziehende eine S­ telle nicht, weil das Un-   geschützt werden. Das Modell von Deliveroo
                             ternehmen annimmt, dass Kinder andauernd­            konnte so nicht funktionieren und war des-
                             krank sein werden und sie deshalb nicht zur          halb zum Scheitern verurteilt. Jetzt stehen alle
                             Arbeit gehen können. Viele würden sehr gern          auf der Straße. Die Lieferdienste haben ge-
                             arbeiten und ca. 60 % der Alleinerziehen­den         lernt, dass man in Deutschland nicht einfach
                             sind ja auch tatsächlich e­ rwerbstätig. Trotz-      kommen und machen kann, was man will.
                             dem reicht das Geld nicht. Es wäre schon
                                                                                  Sarah Jochmann wünscht sich mehr »Mitein-
                             viel gewonnen, wenn der Status einer/eines
                                                                                  ander«. Gerade soziale Berufe sollten für das
                             Allein­erziehenden als »normale« Familien-
                                                                                  Engagement und den Willen, eine Arbeit zu
                             form angesehen und gewürdigt ­würde.
                                                                                  übernehmen, die eben doch sehr anspruchs-
                                                                                  voll ist und die nicht alle machen möchten,
                                                                                  mehr geschätzt und besser bezahlt werden.
                              Sarah Jochmann, Pressesprecherin der ​
                             Facebook-Kampagne »Liefern am Limit«, ​
                             Düsseldorf

                             Ein Hauptproblem entsteht dann, wenn sich
                             die Verantwortlichen der Plattformökono-
                             mie, wie bei den Fahrradlieferdiensten, »aus
                             der Verantwortung stehlen«. Arbeitsverträge
                             von einem halben bis zu einem Jahr sind in
                             solchen Firmen »normal« und dann noch zu
                             Teilzeitbedingungen (bis 30 Std.) mit oftmals
Paneldiskussion I  |  11.45 – 12.30 Uhr                     Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 23

Paneldiskussion I

Erwerbsarmut –
Welche Antworten hat Europa ?

                                                                                Ignacio Doreste Hernández
                                                                                Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB),
                                                                                Brüssel

                                                                                Dr. Katherine Duffy
                                                                                European ­Anti-Poverty Network (EAPN),
                                                                                Brüssel

                                                                                Alexander Friedrich
                                                                                ASB Deutschland, AWO Deutschland ­
                                                                                und Volkshilfe ­Österreich, Brüssel

                                                                                Prof. Dr. Henning Lohmann
                                                                                Universität Hamburg

                                                                                Jeroen Jutte
                                                                                Europäische Kommission DG EMPL,
                                                                                B
                                                                                ­ rüssel

                                                                                nehmerinnen und Arbeitnehmer verdienen
                                  Moderatorin
                                                                                eine Gehaltssteigerung. Es gibt viele Gründe,
                                  • Was sind die Heraus­forderungen ­​          die Löhne aller europäischen Beschäftigten zu
                                    für Europa?                                 erhöhen: Es geht zunächst um Fairness. Die
                                                                                Produktivität der Unternehmen ist seit 2013
                                  • Was wünschen Sie sich von ​der
                                                                                in die Höhe geschnellt, während die Löhne
                                    n
                                    ­ euen EU-Kommission?
                                                                                und Gehälter auf dem Niveau nach der Wirt-
                                  • Was muss in Europa umgesetzt                schaftskrise stehen geblieben sind. Es ist eine
                                    ­werden, um etwas für die zu tun, ​         Frage der Menschenrechte und des Lebens in
                                     die sich abgehängt fühlen und              Würde. Es gibt aber auch einen wirtschafts­
                                     welche Rolle spielt die digitale           wissenschaftlichen Aspekt: Die Verbesserung
                                    T­ ransformation?                           der Reallöhne wird die Binnennachfrage
                                                                                ankurbeln und die europäische Wirtschaft
                                                                                stärken. Für den EGB und seine Mitglieds­
                                   Ignacio Doreste Hernández, Europäischer ​
                                                                                organisation ist es von entscheidender Bedeu-
                                  Gewerkschaftsbund (EGB), Brüssel
                                                                                tung, dass diese Gehaltserhöhung mit einer
                                  Seit vielen Jahren fordert der Europäische    Stärkung der Tarifverhandlungen einhergeht,
                                  Gewerkschaftsbund eine Gehaltserhöhung        um Ungleichheiten innerhalb und zwischen
                                  in Europa – um sowohl die wachsende Un-       Unternehmen und Branchen abzubauen, die
                                  gleichheit in der EU zu bekämpfen als auch    Erwerbsarmut zu bekämpfen und diskriminie-
                                  die Erwerbsarmut und die Ausbeutung der       rende Unterschiede zu beseitigen. Ursula von
                                  Schwächsten. 10 % der Beschäftigten in der    der Leyen, die designierte Präsidentin der Eu-
                                  EU leben in Armut. Die europäischen Arbeit-   ropäischen Kommission, erklärte ihre Absicht,
24 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit                         Paneldiskussion I  |  11.45 – 12.30 Uhr

                             einen Vorschlag für ein Rechtsins­trument vor-   Mindestlöhne müssen lebendige Löhne sein,
                             zulegen, um innerhalb der ersten 100 Tage        die einen angemessenen Lebensstandard
                             nach ihrer Amtszeit einen Mindestlohn für        und die Befriedigung der Bedürfnisse der Be-
                             jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer       schäftigten und ihrer Familien gewährleisten.
                             in der EU zu gewährleisten. Es wird von we-      Die Sozialpartner sollten in jede Verhandlung
                             sentlicher Bedeutung sein, diese Gelegenheit     über Mindestlöhne einbezogen werden, und
                             zu nutzen, um eine Verbesserung der Arbeits-     die nationalen Praktiken der Arbeitsbezie-
                             und Lebens­bedingungen der Arbeitnehmerin-       hungen sollten uneingeschränkt respektiert
                             nen und Arbeitnehmer in der Europäischen         werden – einige Länder (wie die nordischen
                             Union zu gewährleisten. Die Initiative sollte    Länder und Italien) haben keinen Mindest-
                             auch die Tarifverhandlungen (sektoral und        lohn, da dieser auf sektoraler Ebene durch
                             sektorübergreifend) stärken und sich nicht       Tarifverhandlungen ausgehandelt wird.
                             nur auf Mindestlöhne konzentrieren.
                                                                              Der Lebensstandard in der EU ist sehr unter-
                             Die Europäische Säule sozialer Rechte wur-       schiedlich. Um Sozialdumping zu vermeiden,
                             de im November 2017 proklamiert, und der         ist eine stärkere Konvergenz der Löhne erfor-
                             EGB unterstützt und fordert seither eine         derlich. Tarifverhandlungen und Tarifverträge
                             rasche Umsetzung der 20 Prinzipien. Das          sind eine sinnvolle Strategie zur Bekämpfung
                             Prinzip 6 (Löhne und Gehälter) und das Prin-     der Erwerbsarmut. Was die Plattformwirt-
                             zip 8 (Sozialer Dialog und Einbeziehung der      schaft betrifft, so ist eine europäische Initiati-
                             Beschäftigten) haben das Potenzial, einen        ve erforderlich, um die Arbeitsbedingungen in
                             relevanten Beitrag zur Verhinderung von Ar-      diesem Sektor zu verbessern. Bestehende Re-
                             mut in der Arbeitswelt zu leisten und einen      gelungen müssen auf die Plattformökonomie
                             dynamischeren Lohnanstieg zu ermöglichen.        übertragen werden. Es muss auch klare Re-
                                                                              geln für Vereinigungen von Selbstständigen
                                                                              geben, da sie oft als Kartellverbände ange­
                                                                              sehen werden. Bei europäischen Wettbewer-
                                                                              ben gelten nur nationale Kompetenzen; die
                                                                              EU-Kommission muss sich mit diesem Thema
                                                                              befassen. Darüber hinaus muss die digitale
                                                                              Transformation der Arbeit so gesteuert wer-
                                                                              den, dass niemand zurückbleibt und populis-
                                                                              tischen Trends entgegengewirkt wird.

                                                                              Wir müssen das europäische Sozialmodell
                                                                              am Leben erhalten und weiterentwickeln. Mit
                                                                              Nicolas Schmit als fortschrittlichem Politiker
                                                                              ist es denkbar, dass dem Sozialmodell neues
                                                                              Leben eingehaucht werden könnte. Die Inte-
                                                                              gration von Migrantinnen und Migranten in
                                                                              den europäischen Arbeitsmarkt muss ganz
                                                                              oben auf der Tagesordnung stehen.
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