Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln - Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 - Berlin.de
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Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit – Europäisch denken. Solidarisch handeln. #inworkNOpoverty Konferenzdokumentation Berlin, 25. September 2019 EUROPÄISCHE UNION Europäischer Sozialfonds
Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 1 Inhalt Seite 2 Konferenzprogramm Seite 6 Abstract Seite 10 Grußworte Seite 13 Begrüßung und Einführung Seite 16 Keynote I – Erwerbsarmut in vergleichender Theorie Seite 20 Table Talks – Impressionen Seite 21 Talk in Pairs I – Erwerbsarmut aus Sicht der Betroffenen Seite 23 Paneldiskussion I – Erwerbsarmut – Welche Antworten hat Europa? Seite 30 Keynote II – Arm trotz Erwerbstätigkeit Seite 32 Talk in Pairs II – Erwerbsarmut aus Sicht der Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen Seite 34 Workshop 1 – Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Erwerbsarmut Seite 37 Workshop 2 – Digitale Transformation und Erwerbsarmut Seite 40 Workshop 3 – Dienstleistungssektor und Erwerbsarmut Seite 44 Workshop 4 – Aus- und Weiterbildung und Erwerbsarmut Seite 48 Paneldiskussion II – Erwerbsarmut – Welche Antworten gibt es für Berlin ? Seite 54 Abschlussworte – Was kann Berlin tun – und was hat Berlin schon getan ? Seite 56 Impressionen Umschlag Impressum
2 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Programm Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit – Europäisch denken. Solidarisch handeln. Veranstalterin Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Datum 25. September 2019 Ort Hotel Stadtbad Oderberger, Oderberger Straße 57, 10435 Berlin Moderation Dr. Julia Kropf Während der Konferenz (inklusive der Workshops) wurde eine simultane Übersetzung in Englisch und Deutsch zur Verfügung gestellt. 8.30 – 9.30 Uhr Ankommen und Registrierung 9.30 – 9.35 Uhr Willkommen Dr. Julia Kropf, Moderation 9.35 – 9.45 Uhr Grußworte Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin 9.45 – 10.00 Uhr Begrüßung und Einführung Elke Breitenbach, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Berlin 10.00 – 10.45 Uhr Erwerbsarmut in vergleichender Theorie Keynote I Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen 10.45 – 11.15 Uhr Table Talks Alle Teilnehmenden an ihren Tischen 11.15 – 11.30 Uhr Kaffeepause
Programm Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 3 11.30 – 11.45 Uhr Erwerbsarmut aus Sicht der Betroffenen Talk in Pairs Erika Biehn, Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), Berlin Sarah Jochmann, Pressesprecherin der Facebook- Kampagne »Liefern am Limit«, Düsseldorf 11.45 – 12.30 Uhr Erwerbsarmut – Welche Antworten hat Europa ? Paneldiskussion I Ignacio Doreste Hernández, European Trade Union Confederation (ETUC), Brüssel Dr. Katherine Duffy, European Anti-Poverty Network (EAPN), Brüssel Alexander Friedrich, ASB Deutschland, AWO Deutschland und Volkshilfe Österreich, Brüssel Prof. Dr. Henning Lohmann, Universität Hamburg Jeroen Jutte, Europäische Kommission DG EMPL, Brüssel 12.30 – 13.30 Uhr Mittagessen 13.30 – 14.00 Uhr Arm trotz Erwerbstätigkeit Keynote II Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, MdB und Autor 14.00 – 14.15 Uhr Erwerbsarmut aus Sicht der Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen Talk in Pairs Johannes Jakob, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Berlin Alexander Schirp, Vereinigung der Unternehmens- verbände in Berlin und Brandenburg e. V. (UVB)
4 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Programm 14.15 – 15.45 Uhr Parallele Workshops Workshop 1 Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Erwerbsarmut Elke Ahlhoff, ArbeitGestalten, Joboption Berlin Dr. Christian Pfeffer-Hoffmann, Minor – Projekt kontor für Bildung und Forschung gGmbH, Berlin Workshop 2 Digitale Transformation und Erwerbsarmut Prof. Mark Graham, Oxford University Internet Institute Sarah Jochmann, Pressesprecherin der Facebook- Kampagne »Liefern am Limit«, Düsseldorf Workshop 3 Dienstleistungssektor und Erwerbsarmut Franziska Baum, ArbeitGestalten, Berlin Veronika Bohrn Mena, Gewerkschaft der P rivatangestellten, Druck, Journalismus, Papier; Wien Workshop 4 Aus- und Weiterbildung und Erwerbsarmut Dr. Alexandra Bläsche, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landes Brandenburg, Potsdam Dr. Michael Dörsam, Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Bonn
Programm Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 5 15.45 – 16.00 Uhr Kaffeepause 16.00 – 16.45 Uhr Erwerbsarmut – Welche Antworten gibt es für Berlin ? Paneldiskussion II Eingangsstatement von Prof. Dr. Michael Hüther, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln Alexander Fischer, Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Berlin Christian Hoßbach, DGB Bezirk Berlin-Brandenburg Lutz Mania, Jobcenter Berlin-Mitte Kerstin Oster, Berliner Wasserbetriebe Prof. Ingrid Stahmer, Sprecherin der Landesarmuts konferenz Berlin und ehemalige Senatorin in Berlin 16.45 – 17.00 Uhr Abschlussworte zur Konferenz Alexander Fischer, Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Berlin Ab 17.00 Uhr Ausklang im Kaminzimmer
6 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Abstract Abstract Immer mehr Menschen in Europa sind arm, und der A nteil derjenigen, die ergänzen- obwohl sie arbeiten. Am stärksten stieg die de Leistungen nach dem SGB II erhalten, ist Erwerbsarmut im europäischen Vergleich in b esonders hoch. Gleichzeitig suchen Berliner den vergangenen Jahren in Deutschland. Das Unter nehmen mit wachsendem Aufwand ist in einem reichen Land, das seit Jahren wirt- nach Arbeits- bzw. Fachkräften. Für Berlin schaftlich boomt, ein gesellschaftlich unhalt- und andere europäische Metropolen, die vom barer Zustand. Dienstleistungssektor geprägt sind, rücken bestimmte Branchen, Berufe und Tätig kei Trotz anhaltenden Wirtschafts- und Beschäf- ten,die gering bezahlt und von prekären oder tigungswachstums gelten hierzulande rund a typischen Arbeitsbedingungen geprägt sind, 10 % der Erwerbstätigen als arm, d. h. über in den Fokus. vier Millionen Menschen und ihre Familien müssen mit einem Einkommen auskommen, Als Hauptgrund wird die soziale Ungleich- das für einen angemessenen Lebensunter- heit, die immer größer werdende Kluft zwi- halt nicht ausreicht und sind auf Sozial- oder schen Arm und Reich, die im globalen Kapita Lohnersatzleistungen angewiesen. Auch im lismus eng miteinander zusammenhängen, Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten leben benannt.Als konkret ursächlich für Erwerbs rund 10 % in Erwerbsarmut. Für diese Men- armut werden häufig zu geringe Löhne oder schen und ihre Familien ist Erwerbsarmut Gehälter angeführt. Heute arbeitet fast jeder eine bittere Realität, an deren Ende oftmals vierte Beschäftigte in Deutschland im Nie Altersarmut steht. driglohnsektor. Besonders von Erwerbsarmut betroffen und Weiterhin tragen die Zunahme atypischer bedroht sind hierzulande Frauen, vor allem, Beschäftigung, vor allem Teilzeit und Mini- wenn sie alleinerziehend sind. Außer dem jobs, häufig im Dienstleistungsbereich, der arbeiten Frauen weit häufiger in prekären Druck auf Erwerbslose, möglichst schnell oder atypischen Beschäftigungsverhältnis- eine Arbeit anzunehmen, zu niedrige Lohner- sen, wie z. B. Minijobs oder (niedrig entlohn- satz- und Sozialleistungen, strenge Auflagen ter oder unfreiwilliger) Teilzeitarbeit; zudem für den Bezug von Transferleistungen, hohe existiert nach wie vor eine geschlechtsspezi Mieten – gerade in Großstädten – und ein ge- fische Lohnlücke (Gender Pay Gap). Damit ringes Bildungsniveau zur Erwerbsarmut bei. eng verbunden ist auch die Kinder armut. Diese Faktoren spielen europaweit eine Rolle In Deutschland leben rund 21 % aller Kin- bei der Entstehung von Erwerbsarmut; einige der mindestens fünf Jahre dauerhaft oder davon wurden im Rahmen der sogenannten wiederkehrend in einer Armutslage, 50 % »Euro-Krise« im Zuge von Strukturreformen d avon in alleinerziehenden Familien. verschärft – etwa in Griechenland, Spanien oder Portugal. Gerade in Großstädten, wie Berlin, nimmt die Erwerbsarmut bedrückende Ausmaße Alle Akteurinnen und Akteure, von der bun an. Der wachsende Berliner Arbeitsmarkt desdeutschen Armutskonferenz, über die weist einen vergleichsweise hohen Anteil an Wirtschafts- und Sozialpartnerinnen und So- atypischen Beschäftigungsverhältnissen auf zialpartner sowie die politischen Parteien bis
Abstract Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 7 hin zu den europäischen Mitgliedstaaten und ausreichend, um die Erwerbsarmut effektiv Organen der EU, sind sich seit Jahren einig, und nachhaltig zu beseitigen und damit auch dass es einer aktiven Politik der Armutsbe- einen gesellschaftlich inakzeptablen Zustand kämpfung bedarf, insbesondere auch im Hin- mit indirekten Folgewirkungen, wie Populis- blick auf die Erwerbsarmut. Was die strategi- mus und Extremismus, zu beenden. sche Ausrichtung, wirksame Politiken und die Es muss deshalb mit aller Kraft darum gehen, konkrete Umsetzung von Instrumenten und dort anzuknüpfen, wo bisher schon durch Maßnahmen betrifft, besteht nach wie vor engagierte Menschen und Initiativen in Po- großer Handlungsbedarf. litik, Verwaltung und Zivilgesellschaft viel Dabei geht es um Geld und Instrumente so- erreicht wurde: In Berlin werden seit Jahren wie vor allem um den Wert der Arbeit und die Langzeitarbeitslose mit aktiven Maßnahmen Würde der Menschen, die in unserer Wissens- der Jobcenter und der Senatsverwaltung für und Arbeitsgesellschaft am besten gewahrt Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) werden, wenn der Übergang aus Erwerbs erfolgreich in Arbeit integriert, Minijobs zu- armut in Gute Arbeit und damit in ein selbst- gunsten sozialversicherungspflichtiger Be- bestimmtes Leben mit Perspektiven und Ent- schäftigung zurückgedrängt und im Rahmen wicklungsmöglichkeiten, gelingt. des Prozesses »Arbeit 4.0 – made in Berlin« der SenIAS die positiven und negativen ar- Als Lösungsansätze zur Bekämpfung der Er- beitsmarkt- und berufsbildungspolitischen werbsarmut werden häufig bessere Bildung Auswirkungen der Digitalisierung analysiert. die Reduzierung von Minijobs, stärkere Lohn- und Gehaltszuwächse oder die Erhö Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusam hung von Mindestlöhnen und/oder Sozial menhang auch der Sozialpartnerdialog, mit leistungen ge nannt. Auch die Stärkung dem die tarifvertraglichen und sozialpartner sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung schaftlichen Handlungsmöglichkeiten zwi- mit guten Arbeitsbedingungen (anstelle von schen der SenIAS und den Sozialpartnerin- prekärer oder atypischer Beschäftigung), die nen und Sozialpartnern immer wieder aufs Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifver- Neue ausgelotet und gestaltet werden. trägen, die Reduzierung von (unfreiwilliger) Teilzeit bis hin zur Stärkung des sozialen Die bei der SenIAS angesiedelte Koordinie- Wohnungsbaus werden empfohlen. rungsstelle zur Bekämpfung der Schwarzarbeit trägt zur Bekämpfung der Erwerbs armut Auf europäischer Ebene, in Deutschland und bei, indem sie die dauerhafte Vernichtung speziell in Berlin, bestehen zahlreiche An l egaler Arbeitsplätze durch Schwarzarbeit sätze und Instrumente, die zur Bekämpfung und ille ga le Beschäftigung, und damit zu- der (Erwerbs-)Armut einen Beitrag leisten gleich Arbeitslosigkeit, Arbeitsausbeutung und und geleistet haben. Sie gilt es weiterzuent- M enschenhandel, verhindert bzw. eingrenzt. wickeln und auszubauen – teilweise aber auch durch radikalere Ansätze zu ersetzen oder zu Die EU-Gleichbehandlungsstelle bei der Be ergänzen. Denn die bestehenden Strategien auftragten der Bundesregierung für Migra und Ansätze sind offensichtlich (noch) nicht tion, Flüchtlinge und Integration wendet
8 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Abstract sich mit ihren Angeboten sowohl an Ar F orschung mit der Beleuchtung von Ursachen beit nehmerinnen und Arbeitnehmer (und und Auswirkungen, auch und gerade vor d em ihre Familienangehörigen) aus der EU als Hintergrund der Digi talisierung, eine ent- auch an Fachleute aus den existierenden scheidende Rolle. Hier gilt es, die Perspektiven Beratungsstruk turen, damit EU-Arbeitneh- der Betroffenen selbst zu berücksichtigen. merinnen und Arbeitnehmer (und deren Vor allem aber geht es darum, pragmatische Familienangehörige) auch in der Praxis in Lösungsmöglichkeiten zur Überwindung der Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und Erwerbsarmut zu eruieren und zu gestalten. sonstige Arbeitsbedingungen gleichbehan- Europaweit gibt es vielversprechende Ansät- delt werden. ze, die Wege aus der Erwerbsarmut weisen. Gute Praxis Projekte aus Europa sollen iden- Von Erwerbsarmut sind insbesondere auch tifiziert, ausgetauscht und weiterentwickelt Migrantinnen und Migranten betroffen. Das werden. Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit (BEMA) unterstützt zugewan Was können Politik und Verwaltung, was derte Menschen dabei, ihre Arbeits- und So- kann die Wirtschaft, was kann die Gesell- zialrechte wahrzunehmen – durch Beratung, schaft als Ganzes aber auch jeder Einzelne Bildung und Sensibilisierung. zur Überwindung dieses Zustands beitragen ? Eine wichtige Grundlage und gleichzeitig Stütze zur Bekämpfung der Erwerbsarmut auf europäischer Ebene sind die im Jahr 2017 verabschiedeten 20 Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte, vor al- lem die Forderung nach Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang sowie die Umset- zung fairer Arbeitsbedingungen. Auf diesen Grundsätzen, die für alle Mitgliedstaaten als Rahmen für bindende und nicht binden- de Maßnahmen im Bereich der Europäischen Beschäftigungs- und Sozialpolitik gilt, lässt sich bei Strategien zur Bekämpfung der Er- werbsarmut aufbauen. Dies gilt ebenfalls für die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen – insbesondere für Ziel 8 (Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle). Auf der Konferenz soll dem Phänomen der Er- werbsarmut intensiv nachgegangen werden. Dabei spielt der gegenwärtige Stand der
Abstract Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 9 Die folgenden Themen- und Handlungs- Gruppen sind besonders von Erwerbsarmut schwerpunkte stehen im Mittelpunkt der betroffen und welche Bedarfe gibt es dort ? Konferenz. Bei der Bearbeitung dieser The- men soll sowohl auf Ursachen und Wirkun- 4. Aus- und Weiterbildung und gen als auch auf Lösungsmöglichkeiten Be- Erwerbsarmut zug genommen werden: Bildungsabschlüsse und Bildungsaspiratio- nen sowie eine gute Aus- und Weiterbildung, 1. Prekäre Beschäftigungs die möglichst allen Menschen zugänglich ist, verhältnisse und Erwerbsarmut sind wesentliche Voraussetzungen, um Er Die Erwerbsarmut vieler Menschen ist durch werbs armut zu überwinden. Welche Rolle prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Nied- spielt die Aus- und Weiterbildung bei den riglohnsektor bedingt (z. B. Minijobs, Multi- Übergängen in Gute Arbeit und bei der Prä jobber -Tätigkeiten, Solo - Selbstständigkeit, ven tion bzw. Überwindung von Erwerbs unfreiwillige Teilzeit, Befristungen). Welche armut ? Weichenstellungen sind notwendig, um diese Situation zu verändern, zu verbessern oder zu beseitigen ? 2. Digitale Transformation und Erwerbsarmut Im Prozess »Arbeit 4.0 – made Berlin« ent wickelt die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales schon seit Längerem Ansätze, um die Digitalisierung der Arbeitswelt im Sinne »Guter Arbeit 4.0« zu gestalten. Welche Auswirkungen hat die Digi- talisierung speziell auf Beschäftigte, die von Erwerbsarmut betroffen sind ? 3. Dienstleistungssektor und Erwerbsarmut Wie andere europäische Metropolen auch, ist Berlin in besonderer Weise vom Dienst- leistungssektor geprägt. 85 % der 1,4 Million en sozialversicherungspflichtig beschäftigten Berliner Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh mer waren 2017/2018 im Dienstleistungs bereich tätig – überwiegend Frauen. Welche
10 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Grußworte | 9.35 – 9. 45 Uhr Willkommen Grußworte zur Eröffnung der Konferenz Michael Müller Michael Müller Regierender Bürgermeister von Berlin Der Regierende Bürgermeister begrüßt zu- müssen mit Sozialleistungen aufstocken – ein nächst alle nationalen und internationalen inakzeptabler Zustand, der uns anspornen Gäste und betont, dass Erwerbsarmut ein sollte, Verbesserungen zu erreichen«, betont wichtiges Thema sei. »Mir ist es wichtig, dabei der Regierende Bürgermeister. über den Tellerrand zu schauen, um zu sehen, was in anderen Bundesländern und in europä- Des Weiteren führt er aus: »Eine wichtige ischen Nachbarstaaten passiert und was wir Bedingung für die Bekämpfung von Armut voneinander lernen können. Dies ist auch das und Erwerbsarmut ist eine gute wirtschaft- zentrale Anliegen dieser Konferenz.« liche Entwicklung. Hier hat Berlin beste Vo- raussetzungen. Das Wirtschaftswachstum »Europäisch denken. Solidarisch handeln. Das liegt schon seit Jahren über dem bundes- ist etwas, was mir als Bürgermeister einer deutschen Durchschnitt. Wir haben etwa europäischen Hauptstadt sehr am Herzen 40.000 Unternehmensgründungen pro Jahr liegt.« Eine Konferenz zu diesem Thema sei und eine starke Digitalwirtschaft. Auch die für ihn auch Ausdruck dafür, welchen Themen sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sich die Politik in Berlin insgesamt zuwende. ist gestiegen und lag im August 2019 bei »Gute Arbeit umfassend zu verwirklichen, ist rund 1,53 Millionen Menschen.« eine der großen Aufgaben und eines der wich- tigsten politischen Ziele unserer Zeit. Denn Michael Müller setzt dabei auf Wissenschaft Arbeit ist der Schlüssel für ein selbstständi- und Forschung – in guter Kooperation mit der ges Leben und für gesellschaftliche Teilhabe. Wirtschaft – und auf Investitionen. Die Ent- Aber zu viele Menschen können von ihren Jobs scheidungen von Siemens und BMW, hier in nicht leben, ihren Kindern keine volle Teilha- Berlin dreistellige Millionenbeträge zu inves- be ermöglichen oder fürs Alter vorsorgen. Sie tieren, seien Beispiele dafür.
Grußworte | 9.35 – 9. 45 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 11 »Auch die Arbeitslosigkeit in Berlin ist rück- Der Mindestlohn und der Vergabemindest- läufig«, betont der Regierende Bürgermeister. lohn müssen bundesweit erhöht werden, aber »Nach der Wende hatte Berlin eine Arbeits- wir können nicht auf den Bund warten und losenquote von bis zu 20 Prozent. Allein im müssen als Länder und Kommunen mit eige- öffentlichen Dienst wurden 100 Tsd. Stellen nen Ideen vorangehen.« abgebaut sowie viele Industriearbeitsplätze. Digitalisierung: »Wir wissen, dass der digi Aktuell hat Berlin dagegen eine Arbeitslo- tale Wandel dazu führt, dass Arbeit sich senquote von 7,8 Prozent. Die Zahl derer, die verändert. Viele Berufe fallen weg und neue trotz Arbeit mit Hartz IV aufstocken m üssen, werden e ntstehen. Ganze Branchen müssen ist ebenfalls rückläufig. Es gibt also viele sich umorientieren. Es gibt viele Angebote in ermutigende Zahlen, aber das ist kein Trost Berlin, um Anschluss an die Digitalisierung für Menschen, die trotz Arbeit arm sind und zu halten. In bestimmten Bereichen wird die die an der gegenwärtigen positiven Entwick- Arbeitslosigkeit steigen und für davon Betrof- lung in Berlin nicht teilhaben können. Das fene brauchen wir Lösungen.« können wir nicht hinnehmen. Von guten wirt- schaftlichen Entwicklungen müssen alle pro- Solidarisches Grundeinkommen (SGE): »Im fitieren – und nicht nur ein paar wenige«, so Juli sind wir mit dem Pilotprojekt gestartet, der Regierende Bürgermeister. das bis zu 1.000 arbeitslosen Menschen eine echte Chance gibt. Das solidarische Grundeinkommen soll Arbeitslosen einen Michael Müller fasst folgende Punkte Wiedereinstieg in Gute Arbeit ermöglichen – zusammen, die zur Bekämpfung der mit sozialversicherungspflichtigen Jobs, tarif Erwerbsarmut wichtig sind : gebunden oder, wo es keine Tarife gibt, zum Verbesserung der Tarifbindung: »Dies ist ein zentrales Handlungsfeld im Kampf gegen Er- werbsarmut, denn eine funktionierende und umfassende Sozialpartnerschaft sorgt dafür, dass nicht irgendwelche, sondern Gute Ar- beit entsteht. Berlin setzt sich u. a. dafür ein, die Tariflücke bei freien sozialen Trägern zu schließen.« Mindestlohn: »Der gegenwärtige Mindest- lohn von 9,19 EUR ist geringer als in anderen westeuropäischen Staaten. Wir brauchen ei- nen armutsfesten Mindestlohn. Ein Mindest- lohn von 12,63 EUR würde vor Altersarmut schützen. Wir werden mit einem Berliner Ver- gabemindestlohn von 12,50 EUR einen An- fang machen. Diese Diskussion wird derzeit auch im Nachbarland Brandenburg geführt.
12 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Grußworte | 9.35 – 9. 45 Uhr Mindestlohn. Damit wird für jede Betroffe- Er appelliert, politische Handlungsmöglich- ne und jeden Betroffenen, aber auch für die keiten entschlossen zu nutzen und dafür Stadt, etwas getan, denn es entstehen geför- auch neu über Arbeits- und Sozialpolitik derte Arbeitsverhältnisse in Wohnquartieren, nachzudenken; nach außen hin offen zu sein Kitas und Schulen. Das ist ein Baustein für für neue Impulse, für frische Ideen und für eine neue soziale Agenda, die wir dringend Erfahrungen, die an vielen Orten im Kampf benötigen. Andere Ideen sind uns auch hoch gegen Erwerbsarmut gemacht würden. Denn willkommen.« Erwerbsarmut sei kein lokales, sondern ein übergreifendes Problem, das auf der heutigen Wohnen: »Das Thema Wohnen ist die soziale Konferenz erörtert werden soll. Frage unserer Zeit. Wir tun alles, um die Ver- sorgung mit sozialem Wohnraum zu sichern. Der Regierende Bürgermeister wünscht der Mit dem Mietendeckel können wir sicherstel- Veranstaltung einen guten Verlauf und gute len, dass das Wohnen in der Stadt auch für Ergebnisse. Er gratuliert seiner Senatskollegin Menschen mit kleinen und mittleren Einkom- Elke Breitenbach zu dieser Veranstaltung und men bezahlbar ist.« zur Wahl des Themas. Bildung: »Von der Kita bis zur Universität muss Bildung für alle zugänglich sein, es dürfen keine Hürden im Bildungsbereich aufgebaut werden.« Der Regierende Bürgermeister hebt hervor, dass das kürzlich eingeführte kostenlose Mit- tagessen für Grundschülerinnen und Grund- schüler und das kostenlose Schülerticket wichtige Maßnahmen gegen Erwerbsarmut seien, denn sie kämen gerade Alleinerziehen- den und Familien zugute.
Begrüßung und Einführung | 9.45 – 10.00 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 13 Willkommen Begrüßung und Einführung Elke Breitenbach Elke Breitenbach Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Berlin Frau Senatorin Breitenbach nimmt ein Problem, weil sich die Gesellschaft immer gangs Bezug auf den Veranstaltungsort. Sie mehr spaltet. Trotz eines enormen Zuwachses erinnert an die wechselhafte Geschichte des an sozialversicherungspflichtiger Beschäfti- Hauses, das vor der Sanierung als Veranstal- gung verzeichnen wir prekäre Lebensverhält- tungsort 30 Jahre ungenutzt war. »Im leeren nisse und Einkommensarmut. »Mehr Arbeit Becken« des Oderberger Bades fanden zu die- ist offensichtlich keine Garantie für weniger ser Zeit Konzerte und Veranstaltungen statt. Armut.«, so die Senatorin. Sie verweist auf die Rede des Regierenden Besonders von Erwerbsarmut betroffen sind Bürgermeisters, der schon aufgezeigt habe, kinderreiche Familien und Frauen. Berlin ist wie breit das Thema »Erwerbsarmut« ange- die Stadt der Alleinerziehenden. Frauen ar- legt sei. beiten weit häufiger als Männer in prekären und atypischen Beschäftigungsverhältnis- Sie betont, dass es nicht hinnehmbar sei, dass sen, z. B. in Minijobs und gering bezahlter Menschen trotz Arbeit von ihrem Einkommen Teilzeitarbeit. Der »Gender Pay Gap«, die nicht leben können. Besonders gravierend ist geschlechtsspezifische Lohnlücke, ist nicht die Entwicklung in Deutschland in den ver- länger hinnehmbar und muss skandalisiert gangenen Jahren gewesen. Nach einer Unter werden. Jedes 5. Kind in Berlin lebt in Armut – suchung der Hans-Böckler-Stiftung hat sich und arme Kinder haben arme Eltern. die Erwerbsarmut in Deutschland zwischen 2004 und 2014 verdoppelt. In der EU insge- Besonders betroffen sind auch Migrantinnen samt sind 9,4 % der Erwerbstätigen von Er- und Migranten. Dabei handelt es sich nicht werbsarmut betroffen, in Deutschland 9 % um eine homogene Gruppe. Zum einen geht (Jahr 2017). Es handelt sich um ein massives es hierbei um Menschen, die schon lange hier
14 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Begrüßung und Einführung | 9.45 – 10.00 Uhr und von struktureller Diskriminierung betrof- Was also ist zu tun? fen sind. Zum anderen sind es Menschen mit Höhere Löhne und Gehälter sind wichtig, »das Fluchthintergrund, die oft Opfer von Arbeits liegt auf der Hand«. ausbeutung werden. Zum Dritten sind es EU- Bürgerinnen und Bürger, die ihr Recht auf Im Land Berlin strebt der Senat als nächsten Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrnehmen und Schritt einen höheren Landesmindestlohn an. die hier häufig scheitern. Außerdem leben in Tarifbindung, auch im sozialen Bereich: Hier Berlin viele obdachlose Menschen. ist ein gewisser Druck vonnöten und es gilt, »Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist richtig, entsprechende Rahmenbedingungen zu aber wir müssen sie gestalten.« so Frau schaffen. Grundlage ist ein Beschluss des Senatorin Breitenbach. Dazu braucht Berlin Berliner Abgeordnetenhauses zur Tarifan den Bund und Europa. Gefragt ist in diesem passung bei freien Trägern. Das ist allerdings Zusammenhang »Gute Arbeit für Menschen nicht leicht für die Träger, denn sie werden mit Einwanderungsgeschichte«. Auch Men- aus unterschiedlichen Töpfen finanziert. Sie schen mit Behinderung sind besonders von können aber nicht – mit Unterstützung des Erwerbsarmut bedroht. Das Erwerbsarmuts- Landes – z. B. 20 % ihrer Angestellten nach risiko steigt, wenn viele der oben genannten Tarif bezahlen und 80 % nicht. »Da haben wir Merkmale zusammenkommen. ein Problem«, das sich ohne die Bundesebene nicht lösen lässt. Trotzdem müssen wir weiter Als Folge der Erwerbsarmut nimmt auch die darum kämpfen. Altersarmut zu. Ihre Generation, so Frau Se- natorin Breitenbach, verfügt häufig über pre- Der Sozialpartnerdialog hat in Berlin gute käre Lebensläufe, die dann zu Lücken bei der Tradition und ist ein wichtiges Instrument, Zahlung von Rentenbeiträgen führen und nur das wir nutzen können, um Erwerbsarmut zu eine geringe Altersrente ergeben. bekämpfen. Gerade im Dienstleistungssektor, der für vie- Die Beratung und Unterstützung von Opfern le Metropolen, so auch Berlin, prägend ist, der Arbeitsausbeutung in landeseigenen Be- weist der Arbeitsmarkt einen hohen Anteil trieben ist eine wichtige Aufgabe. Wir wollen an prekären und atypischen, gering bezahl- Gute Arbeit, d. h. die Menschen müssen davon ten Beschäftigungsverhältnissen auf – von leben können, die Arbeitsbedingungen dürfen Schwarzarbeit und illegaler, ausbeuterischer nicht krank machen; die Arbeit muss sicher Beschäftigung ganz abgesehen. sein und die Möglichkeit zum Aufstieg und Entwicklung geben. Viele Menschen, die Ansprüche auf Leistun- gen haben, nehmen diese gar nicht wahr. Sie Die Qualifizierung von Erwerbslosen, aber schämen sich und nehmen ihre Rechte nicht auch von Menschen, die in Arbeit sind, spielt wahr. Oft halten sie sich mit mehreren Jobs eine große Rolle. Hier müssen wir auf Unter- über Wasser, »auch das dürfen wir nicht hin- nehmen Einfluss nehmen, damit diese die nehmen«, so die Senatorin. dort Beschäftigten weiter qualifizieren, damit sie herauskommen aus prekären Arbeitsver- hältnissen.
Begrüßung und Einführung | 9.45 – 10.00 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 15 Wir brauchen verbindliche bundesgesetzliche Regelungen zum Mindestlohn; die Rente muss erhöht werden. Wir setzen auf klare Regelungen in Europa, was die sozialen Sicherungssysteme betrifft, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Und wir müssen auf europäischer Ebene end- lich die Arbeitnehmerfreizügigkeit gestalten. Wir haben teilweise auch eine dramatische Situation für Jugendliche, die eine eigene Wohnung gar nicht mehr bezahlen können. Wir brauchen insgesamt kreative Lösungen – wie sie für das Schwimmbad und Hotel, in dem wir uns befinden, offenbar gefunden wurden. Nachfrage der Moderatorin: Welchen Stellenwert hat das Thema in der Berliner Arbeitsmarktpolitik ? Gute Arbeit ist ein zentrales Ziel unserer Ber- liner Arbeitsmarktpolitik. Dafür brauchen wir Verbündete, aber auch den Austausch über gute Ideen und kreative Lösungen, so wie heute. Gute Arbeit ist auch eine Aufgabe und ein Spannungsverhältnis in den Start-ups in unserer Stadt, die einerseits unglaublich viel Kapital einwerben, auf der anderen Seite aber häufig prekäre Beschäftigungsverhältnisse anbieten.
16 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Keynote I | 10.00 – 10.45 Uhr Keynote I Erwerbsarmut in vergleichender Theorie Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Westfälischen Hochschule G elsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen Prof. Bontrup gibt seinem Unmut Ausdruck, Nur durch menschliche Arbeit entsteht aber dass in der Wirtschaftspolitik und insbeson Wert. Das wussten selbst schon die Merkan- dere bei den Politikerinnen und Politikern das tilisten. Im Gegensatz zur »toten Arbeit« der kausale Denken verloren gegangen sei. »Wir Maschinen, die nur Wert im Produktionspro- leben in einer Gesellschaft, die sich nur noch zess über ihre Abschreibungen abgeben, aber an Symptome hält«. Niemand fragt mehr nie einen Neuwert schaffen. Die menschliche nach dem »warum«, z. B. warum es Hartz- Arbeit muss deshalb in den Mittelpunkt der IV-Empfängerinnen und Empfänger gibt. Ihn Unternehmen gerückt werden. Es kann nicht ärgern auch seine neoliberalen Kolleginnen sein, dass hier nur die Eigentümerinnen und und Kollegen unter den Makroökonominnen Eigentümer von Kapital das Sagen haben. und Makroökonomen, die z. B. Arbeitsmärk- Nach Angaben des Deutschen Instituts für te wie »Äpfelmärkte« betrachteten. Es geht Wirtschaftsforschung (DIW) arbeitet mittler- hier aber um die ganz spezifische Ware Ar- weile jeder Vierte in Deutschland zu einem beitskraft, deren Einkommen und Lohn ver- Stundenlohn unter 10,80 EUR. So landen wir fällt – und das gilt nicht nur für Deutschland, in einer gigantischen Altersarmut. Die durch- sondern ist ein globales Phänomen. schnittliche Bruttorente liegt heute schon nur Die merkantilen Ökonomen im 17. und 18. bei 800 EUR. Es ist ein Zynismus, davon in Jahrhundert gingen noch davon aus, dass der Deutschland, einem der reichsten Länder der »beste Lohn« immer der »niedrigste Lohn« Erde, existieren zu müssen, so Prof. Bontrup. sei. Nur ein niedriger Lohn zwingt die Arbeite- Dennoch beharren neoliberale Mainstream- rin und den Arbeiter eine Arbeit anzunehmen Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirt- bzw. die eigene Arbeitskraft einem Unterneh- schaftswissenschaftler und ihre politischen mer anzubieten.
Keynote I | 10.00 – 10.45 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 17 Vollstreckungsinstanzen darauf, dass die Heute wird nicht mal mehr der Keynesianis- Lohnverhältnisse nicht änderbar seien und mus akzeptiert, wonach ausfallende Nach die Mehrwerttheorie nach Marx ein Mythos frage durch staatliche Nachfrage ersetzt sei. Bei einem Überschussangebot an Ar- werden soll. Der Neoliberalismus à la Milton beit, also bei vorliegender Arbeitslosigkeit, Friedmann (seit 1962) ist dagegen »eine müssten die Löhne halt solange sinken, bis Perversion«. Seine Vollendung zeigt sich die A rbeitsmärkte wieder im Gleichgewicht realiter aber in einem immer mehr finanz sind. Die Arbeitslosen, die diese abgesenkten marktgetriebenen Kapitalismus, der die Po- Gleichgewichtslöhne nicht akzeptieren wür- litik zum »Zuschauer« gemacht hat. Politik den, wären dann eben »freiwillig« arbeitslos muss aber Gesellschaft zum Wohle aller ge- und hätten auch keinen Anspruch auf eine stalten und nur sie ist demokratisch legiti- staatliche Alimentierung. Hartz IV sei hier ei- miert und verfügt über ein Gewaltmonopol. gentlich schon viel zu viel an Unterstützung. Es wird höchste Zeit, dass unsere Volksver- Die tief gespaltenen, segmentierten Arbeits- treterinnen und Volksvertreter dies erkennen, märkte widersprechen im Übrigen dabei nicht und in die völlig aus dem Ruder gelaufenen dem Phänomen des Fachkräftemangels. In ökonomischen Machtprozesse intervenieren. einem Segment des Arbeitsmarktes werden Prof. Bontrup empfiehlt, das Memorandum Fachkräfte gesucht, in anderen Segmenten der »Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspo- werden sie überflüssig bzw. entlassen. Dies litik« (https://www.alternative-wirtschafts- ist allenfalls eine ökonomische Trivialität. politik.de/) zu lesen. Er habe sich dort schon Die ausbeuterische kapitalistische Wirt- als Student engagiert. Heute sei er einer der schaftsweise könne man nicht mit »sozialer Sprecher. Der Ursprung der Gruppe geht auf Marktwirtschaft« schönreden. Schon Adam die Wirtschaftskrise in den 70er Jahren des Smith wusste, was die einen bekommen, kön- letzten Jahrhunderts zurück. Die alternativen nen die anderen nicht mehr haben. Sein Buch Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirt- »Der Wohlstand der Nationen« stellte deshalb schaftswissenschaftler bringen regelmäßig auch eine »ganz schlechte Prognose« für die ein Gegengutachten (Memorandum) zu dem abhängig Arbeitenden: Sie müssen das kapi- Gutachten des Sachverständigenrats der Bun- talistische Gebäude auf ihren Schultern tra- desregierung, den sogenannten »5 Weisen«, gen und die Herrschaftseliten in der Spitze der heraus. Bei dem, was in all den Jahren von der Gesellschaft nehmen sie nicht einmal war. Die »Memorandum-Gruppe« erarbeitet wurde, Prognose war zutreffend, weltweit sowieso. handelt es sich, so Prof. Bontrup, um einen Aber sie gilt auch für die sogenannten hoch- Riesenfundus an Alternativen zur herkömm- entwickelten Industrieländer. lichen bürgerlichen Wirtschaftspolitik. Fundamental für die neoklassischen Ökono- Welche Lösungswege zur Bekämpfung men ist, dass jedem Produktionsfaktor ein der Erwerbsarmut zeichnen sich ab ? Mehrwert zugemessen wird. Das ist, laut Prof. Bontrup, natürlich Unsinn, wie schon ausge- 1. Die Verteilungsfrage muss wieder in den führt. Mittelpunkt gerückt werden. (Prof. Hüther wird das anders sehen, aber er hält zumindest
18 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Keynote I | 10.00 – 10.45 Uhr teilung spricht hier Bände. Die Verteilungs- frage zu stellen, reicht aber allein nicht aus. 2. Wir müssen die Eigentumsfrage stellen, so Professor Bontrup. Den Mehrwert bekommen diejenigen, die die Produktionsmittel haben, die anderen müssen sich den Kapitalistinnen und Kapitalisten verkaufen (Investitionsmo- nopol des Kapitals). Die Eigentümerinnen und Eigentümer der Produktionsmittel können andere für sich arbeiten lassen, ohne selbst einen Finger zu rühren. »Geld arbeitet nicht, schwitzt nicht, nur Menschen arbeiten«. Die EZB mit ihrem Präsidenten Draghi hat die Zin- sen auf null stellen müssen. Dies ist ein not- wendiger »atomistischer Kapitalschnitt«. Die Vermögenden verlieren ein wenig Geld. Das reicht aber nicht. Es muss zu einem brutalen nicht mehr an der »Schwarzen Null« fest, so und gezielten Kapitalschnitt bei den wirklich Prof. Bontrup.) Thomas Piketty mit seiner Reichen der Welt kommen. Alles andere ist Veröffentlichung »Das Kapital im 21. Jahr- laut Prof. Bontrup lächerliche Symbolpolitik. hundert« (2014) habe wirklich etwas bewegt. Schon fallen jedoch alle über ihn her, da er 3. Wir brauchen eine echte paritätische Mitbe- kausal denkt. Die Verteilung zwischen Arbeit stimmung in allen Wirtschaftsbereichen, wie und Kapital sei völlig aus dem Ruder gelau- die Montan-Mitbestimmung, die aber noch fen. Der Staat muss das berücksichtigen und auszubauen ist. Die Umwelt muss hier mit an »brutal hohe Steuern« für die Vermögenden den Verhandlungstisch. Nur mitreden, ohne einführen. »Da werden die Vermögenden und Eigentum zu besitzen, greift jedoch zu kurz. ihre Claqueure schreien«, so Professor Bon- Oswald von Nell-Breuning, CDU-Mitglied trup, aber es gibt keine Alternative. und Berater von Konrad Adenauer, plädierte schon 1953 für ein solidarisches Umlagever- Eine deutschnationale Partei sitzt mittler- fahren bei der Rente und hat sich immer auch weile schon in allen Parlamenten. Dies wur- für den Ausbau von Mitbestimmung einge- de nur möglich, weil unter dem neoliberalen setzt. Und er hat Ökonomie verstanden, im Paradigma eine tief gespaltene Gesellschaft Gegensatz zu vielen heute, wenn er sagt: In entstanden ist. Außerdem führen wir durch unserer Wirtschaft werden sowohl Konsum- unsere Exportaggressivität andere Länder in güter als auch Kapital- oder Investitionsgüter die Verschuldung. Das uns dadurch aus dem produziert; die ersteren gehen, wie ihr Name Ausland zufließende Einkommen stecken sich besagt, in den Verbrauch, die letzteren die- aber nur wenige Deutsche in die Tasche. Die nen langfristiger Nutzung, für Wohnhäuser ungleiche Einkommens- und Vermögensver- und dergleichen, oder dienen selbst wieder
Keynote I | 10.00 – 10.45 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 19 der Produktion, für Fabriken, Maschinen usw. eine verfassungsrechtliche Machtasymmet- An der Erzeugung beider A rten von Gütern rie zu Gunsten des Kapitals. Gewerkschaften, wirken die abhängig Beschäftigten mit; für linke Politikerinnen und Politiker mit Unter- die Arbeitsleistung in diesen beiden Zweigen stützung linker Wirtschaftswissenschaftle- der Produktion zahlen die Unternehmerinnen rinnen und Wirtschaftswissenschaftler müs- und Unternehmer ihnen Arbeitslohn; dieser sen hier eine Verfassungsänderung bewirken. Arbeitslohn erscheint in der Erfolgsrechnung Unter dem Investitionsmonopol des Kapitals als Kosten. Verwenden die Beschäftigten nun in Verbindung mit einer seit über 40 Jah- den ganzen Arbeitslohn zum Kauf der ge- ren bestehenden Massenarbeitslosigkeit in schaffenen Verbrauchsgüter, so heißt das: Deutschland waren die Gewerkschaften zu Die Unternehmerinnen und Unternehmer schwach, um wenigstens die verteilungs erhalten die ganze von ihnen als Kosten auf- neutralen Spielräume auszuschöpfen. In den gewendete Lohnsumme zurück und geben 50er, 60er bis Mitte der 70er Jahre gab es noch dafür nur die produzierten Konsumgüter ab; eine Verteilung von »oben nach unten«. Die die neugeschaffenen Kapital- oder Investiti- Lohnquote stieg zu Lasten der Mehrwertquote. onsgüter verbleiben ihnen sozusagen gratis Unter dem dann immer mehr sich durchset- und franko. Man könnte das auch so ausdrü- zenden neoliberalen Paradigma ging es in die cken: Die abhängig Beschäftigten schenken andere Richtung. Nach der Wiedervereinigung den Unternehmerinnen und Unternehmern haben die abhängig Beschäftigten auf Basis die Kapital- oder Investitionsgüter und sind der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote des zufrieden, als Entgelt für ihre Leistung im Jahres 1993, zwischen 1991 und 2018, gut Produktionsprozess denjenigen Teil der pro- 1,8 Billionen EUR an Einkommen verloren. Es duzierten Güter zu erhalten, der in Konsum- wurde umverteilt zu den Mehrwerteinkünften gütern besteht. Auf diese Weise werden die (Zins, Grundrente, Gewinn). Das sollte uns al- Unternehmerinnen und Unternehmer rei- len zu denken und endlich Anlass zum Han- cher und reicher, die Beschäftigten bleiben deln geben. Habenichtse. 4. Gewinnpartizipation, Kapitalbeteiligung: Nachfrage der Moderatorin: Prof. Bontrup betont: Nur die, die das Kapi- Gibt es denn andere Länder in Europa, tal in Händen halten, haben »das Sagen« die es besser machen, die als Vorbild in einer kapitalistischen Gesellschaft. Hans- dienen könnten ? Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, weise darauf Wir müssen auf uns selbst schauen; wir sind hin, dass die heutigen Verfassungsrichterin- nicht nur Exportweltmeister, sondern auch nen und Verfassungsrichter eine Mitbestim- noch Weltmeisterinnen und Weltmeister im mung à la »Montan« nicht mehr anerkennen Sparen. Die Deutschen haben allein 2018 würden. Die Möglichkeiten nach Artikel 12 rund 248 Milliarden EUR gespart, mehr als Grundgesetz (GG) (freie Berufswahl, und un- alle anderen EU-Staaten zusammen. Deshalb ternehmerische Freiheit) in Verbindung mit haben wir alle Voraussetzungen, um bei uns Artikel 14 GG (Eigentum) implizieren aber selbst anzufangen.
20 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Table Talks | 10.45 – 11.15 Uhr 1. Frage – Wirksame Lösungen: Wo liegen aus Ihrer Sicht und vor dem Table Talks Hintergrund Ihrer Erfahrungen die größten Hebel, um Erwerbsarmut Alle Teilnehmenden entgegen zu wirken? 2. Frage – Urbane Dimension: Welche Art von Lösungsansätzen braucht es speziell für Metropolen? diskutieren 3. Frage – Europäische Dimension: Wie unterscheidet sich Erwerbs armutin anderen Ländern von der Situation in Deutschland? Wo können wir voneinander lernen? Welche Maßnahmen müssen auf eu- ropäischer Ebene getroffen werden, um Erwerbsarmut zu bekämpfen?
Talk in Pairs | 11.30 – 11.45 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 21 Talk in Pairs Erwerbsarmut aus Sicht der Betroffenen Erika Biehn und Sarah Jochmann Sarah Jochmann Pressesprecherin der Facebook-Kampagne »Liefern am Limit«, Düsseldorf Erika Biehn Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), Berlin Moderatorin: in diesen Randbereichen. Hier ist großer Be- darf vorhanden, »damit die Lust am Arbeiten • Was sind die größten Heraus nicht verloren geht«. Natürlich gibt es auch forderungen in Bezug auf gut Verdienende unter den Alleinerziehenden, E rwerbsarmut? aber 40 % aller Alleinerziehenden sind von • Was wünschen Sie sich an Transferleistungen abhängig. V eränderung? Solidarität zu erzeugen ist nicht einfach, da die individuellen Verhältnisse und Bedarfe der Alleinerziehenden sehr unterschiedlich Erika Biehn, Verband alleinerziehender sind. Es ist dann schwierig, die verschiedenen Mütter und Väter (VAMV), Berlin Bedürfnisse »unter einen Hut« zu bringen. Die Kinderbetreuung ist die größte Heraus Frau Biehn vertritt vor allem diejenigen, die forderung für die Erwerbstätigkeit von Allein- ein geringes Einkommen haben. Auch als er- erziehenden, denn 90 % der Alleinerziehen- werbsarme Person soll man sein Leben gut ge- den sind Frauen und vor allem diese sind von stalten können und sich gestärkt fühlen, eine Erwerbsarmut betroffen. Insbesondere die Arbeit zu wählen, die auch Freude macht. Dar- Kinderbetreuung sollte so organisiert sein, um bemüht sie sich. Sie berät Alleinerziehende dass alle Frauen, die erwerbstätig sein wol- in der Stadt Essen, z. B. zu Fragen des Steuer len, erwerbstätig sein können. Wir brauchen rechts, insgesamt zu finanziellen Fragen, aber längere Öffnungszeiten in den Kitas plus er- auch z. B. bei Scheidungen. Wie kann man mit gänzender Betreuung in den Randzeiten, z. B. ALG II einigermaßen leben? Welche Chancen, im Pflegebereich, im Einzelhandel und im welche Rechte und Pflichten hat man im SGB Reinigungsgewerbe gibt es Arbeitsschichten II? Das sind Themen, die im Mittelpunkt ihrer
22 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Talk in Pairs | 11.30 – 11.45 Uhr unregelmäßigen Lohnzahlungen. Die Leute haben Angst, sich zu organisieren und damit möglicherweise ihre Arbeit zu verlieren. Sie arbeiten zum Mindestlohn. Manche mussten bzw. müssen bei Lieferdiensten ihr eigenes Fahrrad mitbringen. Seit sie an die Gewerkschaft Nahrung-Genuss- Gaststätten (NGG) angeschlossen sind, gibt es große Vorteile, wenn es um das Erstreiten eines Tarifvertrags für Fahrerinnen und Fah- rer geht. Ein Schlüssel gegen Erwerbsarmut ist sicher Bildung. Um Bildung zu finanzieren, nutzen die Menschen ja auch genau diese Jobs. Das trifft aber nicht auf jeden zu. Vie- le waren vor Antritt dieser Arbeit nicht in der Lage, andere Jobs auszuüben und viele üben diese Tätigkeit übrigens sehr gerne aus. Vor Beratungsarbeit stehen. Häufig bekommen allem müssen die Menschen vor Ausbeutung Alleinerziehende eine S telle nicht, weil das Un- geschützt werden. Das Modell von Deliveroo ternehmen annimmt, dass Kinder andauernd konnte so nicht funktionieren und war des- krank sein werden und sie deshalb nicht zur halb zum Scheitern verurteilt. Jetzt stehen alle Arbeit gehen können. Viele würden sehr gern auf der Straße. Die Lieferdienste haben ge- arbeiten und ca. 60 % der Alleinerziehenden lernt, dass man in Deutschland nicht einfach sind ja auch tatsächlich e rwerbstätig. Trotz- kommen und machen kann, was man will. dem reicht das Geld nicht. Es wäre schon Sarah Jochmann wünscht sich mehr »Mitein- viel gewonnen, wenn der Status einer/eines ander«. Gerade soziale Berufe sollten für das Alleinerziehenden als »normale« Familien- Engagement und den Willen, eine Arbeit zu form angesehen und gewürdigt würde. übernehmen, die eben doch sehr anspruchs- voll ist und die nicht alle machen möchten, mehr geschätzt und besser bezahlt werden. Sarah Jochmann, Pressesprecherin der Facebook-Kampagne »Liefern am Limit«, Düsseldorf Ein Hauptproblem entsteht dann, wenn sich die Verantwortlichen der Plattformökono- mie, wie bei den Fahrradlieferdiensten, »aus der Verantwortung stehlen«. Arbeitsverträge von einem halben bis zu einem Jahr sind in solchen Firmen »normal« und dann noch zu Teilzeitbedingungen (bis 30 Std.) mit oftmals
Paneldiskussion I | 11.45 – 12.30 Uhr Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit 23 Paneldiskussion I Erwerbsarmut – Welche Antworten hat Europa ? Ignacio Doreste Hernández Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB), Brüssel Dr. Katherine Duffy European Anti-Poverty Network (EAPN), Brüssel Alexander Friedrich ASB Deutschland, AWO Deutschland und Volkshilfe Österreich, Brüssel Prof. Dr. Henning Lohmann Universität Hamburg Jeroen Jutte Europäische Kommission DG EMPL, B rüssel nehmerinnen und Arbeitnehmer verdienen Moderatorin eine Gehaltssteigerung. Es gibt viele Gründe, • Was sind die Herausforderungen die Löhne aller europäischen Beschäftigten zu für Europa? erhöhen: Es geht zunächst um Fairness. Die Produktivität der Unternehmen ist seit 2013 • Was wünschen Sie sich von der in die Höhe geschnellt, während die Löhne n euen EU-Kommission? und Gehälter auf dem Niveau nach der Wirt- • Was muss in Europa umgesetzt schaftskrise stehen geblieben sind. Es ist eine werden, um etwas für die zu tun, Frage der Menschenrechte und des Lebens in die sich abgehängt fühlen und Würde. Es gibt aber auch einen wirtschafts welche Rolle spielt die digitale wissenschaftlichen Aspekt: Die Verbesserung T ransformation? der Reallöhne wird die Binnennachfrage ankurbeln und die europäische Wirtschaft stärken. Für den EGB und seine Mitglieds Ignacio Doreste Hernández, Europäischer organisation ist es von entscheidender Bedeu- Gewerkschaftsbund (EGB), Brüssel tung, dass diese Gehaltserhöhung mit einer Seit vielen Jahren fordert der Europäische Stärkung der Tarifverhandlungen einhergeht, Gewerkschaftsbund eine Gehaltserhöhung um Ungleichheiten innerhalb und zwischen in Europa – um sowohl die wachsende Un- Unternehmen und Branchen abzubauen, die gleichheit in der EU zu bekämpfen als auch Erwerbsarmut zu bekämpfen und diskriminie- die Erwerbsarmut und die Ausbeutung der rende Unterschiede zu beseitigen. Ursula von Schwächsten. 10 % der Beschäftigten in der der Leyen, die designierte Präsidentin der Eu- EU leben in Armut. Die europäischen Arbeit- ropäischen Kommission, erklärte ihre Absicht,
24 Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit Paneldiskussion I | 11.45 – 12.30 Uhr einen Vorschlag für ein Rechtsinstrument vor- Mindestlöhne müssen lebendige Löhne sein, zulegen, um innerhalb der ersten 100 Tage die einen angemessenen Lebensstandard nach ihrer Amtszeit einen Mindestlohn für und die Befriedigung der Bedürfnisse der Be- jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer schäftigten und ihrer Familien gewährleisten. in der EU zu gewährleisten. Es wird von we- Die Sozialpartner sollten in jede Verhandlung sentlicher Bedeutung sein, diese Gelegenheit über Mindestlöhne einbezogen werden, und zu nutzen, um eine Verbesserung der Arbeits- die nationalen Praktiken der Arbeitsbezie- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmerin- hungen sollten uneingeschränkt respektiert nen und Arbeitnehmer in der Europäischen werden – einige Länder (wie die nordischen Union zu gewährleisten. Die Initiative sollte Länder und Italien) haben keinen Mindest- auch die Tarifverhandlungen (sektoral und lohn, da dieser auf sektoraler Ebene durch sektorübergreifend) stärken und sich nicht Tarifverhandlungen ausgehandelt wird. nur auf Mindestlöhne konzentrieren. Der Lebensstandard in der EU ist sehr unter- Die Europäische Säule sozialer Rechte wur- schiedlich. Um Sozialdumping zu vermeiden, de im November 2017 proklamiert, und der ist eine stärkere Konvergenz der Löhne erfor- EGB unterstützt und fordert seither eine derlich. Tarifverhandlungen und Tarifverträge rasche Umsetzung der 20 Prinzipien. Das sind eine sinnvolle Strategie zur Bekämpfung Prinzip 6 (Löhne und Gehälter) und das Prin- der Erwerbsarmut. Was die Plattformwirt- zip 8 (Sozialer Dialog und Einbeziehung der schaft betrifft, so ist eine europäische Initiati- Beschäftigten) haben das Potenzial, einen ve erforderlich, um die Arbeitsbedingungen in relevanten Beitrag zur Verhinderung von Ar- diesem Sektor zu verbessern. Bestehende Re- mut in der Arbeitswelt zu leisten und einen gelungen müssen auf die Plattformökonomie dynamischeren Lohnanstieg zu ermöglichen. übertragen werden. Es muss auch klare Re- geln für Vereinigungen von Selbstständigen geben, da sie oft als Kartellverbände ange sehen werden. Bei europäischen Wettbewer- ben gelten nur nationale Kompetenzen; die EU-Kommission muss sich mit diesem Thema befassen. Darüber hinaus muss die digitale Transformation der Arbeit so gesteuert wer- den, dass niemand zurückbleibt und populis- tischen Trends entgegengewirkt wird. Wir müssen das europäische Sozialmodell am Leben erhalten und weiterentwickeln. Mit Nicolas Schmit als fortschrittlichem Politiker ist es denkbar, dass dem Sozialmodell neues Leben eingehaucht werden könnte. Die Inte- gration von Migrantinnen und Migranten in den europäischen Arbeitsmarkt muss ganz oben auf der Tagesordnung stehen.
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