VON STEVIA DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK - Die Vermarktung von Stevia-basierten Süßstoffen - ein Fall - Public Eye
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DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA Die Vermarktung von Stevia-basierten Süßstoffen – ein Fall von Verletzung indigener Rechte, irreführendem Marketing und umstrittener biosynthetischer Herstellung
Die ERKLÄRUNG VON BERN (EVB) ist eine schweizerische CEIDRA – Zentrum für Studien und Forschung zu Fragen des Nichtregierungsorganisation mit 25.000 Mitgliedern, die Rechts in ländlichen Gebieten und Landreform. Angesiedelt an sich seit 1986 für gerechtere, nachhaltigere und demokratischere der katholischen Universität Asuncion, Paraguay. Nord-Süd-Beziehungen einsetzt. 1973 gegründet, liegt seine/ihre Haupttätigkeit in der Untersu- Erklärung von Bern chung und Analyse nationaler Gesetzgebung im Hinblick auf Dienerstrasse 12 | Postfach | 8026 Zürich | Schweiz vergleichendes Recht, Landreform und Umweltrecht. Es betreibt Tel. +41 44 277 70 00 | Fax +41 44 227 70 01 Forschung und unterstützt Forschungsprojekte von Studierenden info@evb.ch | www.evb.ch der Katholischen Universität sowie die Entwicklung spezifischer Projekte in den oben genannten Gebieten und zu anderen Themen, etwa zur Entwicklung des ländlichen Raumes oder zur Umweltsituation der ländlichen Bevölkerung. CEIDRA MISEREOR ist das Hilfswerk für Entwicklungszusammenarbeit Alberdi 845 | Asunción | Paraguay der katholischen Kirche in Deutschland. Seit mehr als 50 Jahren Tel./Fax +595 21 495 517 setzen wir uns verbindlich dafür ein, die Armut in Afrika, ceidra@uc.edu.py | www.ceidra.org Asien und Lateinamerika zu bekämpfen. Unserer Überzeugung gemäß unterstützen wir Initiativen, die von marginalisierten und benachteiligten Menschen selbst vorangetrieben und getragen werden. Misereor Mozartstrasse 9 | 52064 Aachen | Deutschland SUNU ist eine Nichtregierungsorganisation aus Paraguay, die Tel. +49 241 442 512 | Fax +49 442 188 sich seit 2000 dem Jahr für interkulturellen Dialog zwischen benjamin.luig@misereor.de | www.misereor.de Ethnien und Gemeinschaften innerhalb Paraguays und internati- onal einsetzt. SUNU Vice Pte. Sanchez 692 casi Herrera | Asunción | Paraguay Tel. +595 21 212 361 | http://gruposunu.org UNIVERSITÄT HOHENHEIM, DEUTSCHLAND Das Institut für Agrartechnik forscht seit 1992 unter der Leitung von Prof. Jungbluth zu Stevia rebaudiana. Seit 2005 arbeiten wir zu Fragen des Benefit Sharing von Stevia. Wir haben vier Europa weite, EU finanzierte Forschungsprojekte zu Stevia durchgeführt, bei denen Fragen des Benefit Sharings eine zentrale Rolle spielen. Unsere Stevia Informations-Webseiten PRO STEVIA SCHWEIZ gegründet 2001, ist eine unabhängige sind: www.stevia.uni-hohenheim.de, www.go4stevia.eu Informationsplattform rund um Stevia. Universität Hohenheim | Institut für Agrartechnik PRO STEVIA SCHWEIZ Garbenstrasse 9 | 70599 Stuttgart | Deutschland Postfach 1094 | 3000 Bern 23 | Schweiz Tel. +49 0711 459 22845 | Fax +49 0711 459 23417 Tel. +41 31 971 68 12 udo.kienle@uni-hohenheim.de | www.uni-hohenheim.de info@prostevia.ch | www.prostevia.ch IMPRESSUM HERAUSGEBER Erklärung von Bern, CEIRAD, Misereor, Pro Stevia Schweiz, SUNU, Universität Hohenheim | VER FASSER UND BEITRAGENDE Francois Meienberg (Erklärung von Bern), Laura Sommer (EvB), Tamara Lebrecht (EvB), Miguel Lovera (CEIDRA), Silvia Gonzalez (CEIDRA), Benjamin Luig (Misereor), Volker von Bremen, Kurt Steiner (Pro Stevia Schweiz), Marcos Glauser (SUNU), Udo Kienle (Universität Hohenheim) | EDITIERUNG Ronnie Hall | FOTOS TITELSEITE fotolia, Keystone, Karin Hutter | LAYOUT Karin Hutter | STAND November 2015
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 3 VORWORT DER VERFASSER Alleine schon die große Anzahl und internationale Herkunft der Organisationen und Institutionen, die diesen Bericht gemeinsam herausbringen, spiegelt das Ausmaß der Probleme wider, welche die Herstellung von Steviolglykosiden mit sich bringt – einem Süßstoff, der in einem aufwendigen chemischen Verfahren aus der Stevia-Pflanze gewonnen und in immer mehr Lebensmitteln und Getränken verwendet wird. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass es sich bei der Kommerzialisierung von Steviolglykosiden um einen klaren Fall von Biopiraterie handelt. Sie ist ein eindeutiges Beispiel für die ungerechte Aneignung einer genetischen Ressource und des zugehörigen traditionellen Wissens. Die Süßungseigenschaften von Stevia sind den Gruppen der Guaraní, die auf beiden Seiten der Grenzregion zwischen Paraguay und Brasilien leben, schon seit Langem bekannt. Doch weder sie als die Träger dieses traditio- nellen Wissen, noch Paraguay oder Brasilien als die Ursprungsländer dieser Pflanzen erhalten den ihnen zustehen- den gerechten Anteil an den Vorteilen, die sich aus der Vermarktung von Steviolglykosiden ergeben. Stattdessen nutzen einige wenige multinationale Agrarrohstoff-, Lebensmittel-, Getränke- sowie Biotechnologie- Unternehmen die genetische Ressource und das zugehörige traditionelle Wissen, um große Gewinne zu erzielen. Die wichtigsten Produzenten von Steviolglykosiden mit 95 % Anteil am Weltmarkt sind chinesische Firmen. Diese multinationalen Konzerne beherrschen den Markt mit Hunderten von Patenten und vermarkten Steviolgly- koside erfolgreich als das natürliche Süßungsmittel der Zukunft. In krassem Gegensatz dazu ist die traditionelle Verwendung von Stevia-Blättern als Süßungsmittel in den meisten Industrieländern verboten. Das Ungleichgewicht könnte sich noch weiter vergrößern. Denn heute ist es für Paraguay und andere Entwick- lungsländer immerhin noch möglich, durch den Anbau von Stevia-Pflanzen als Rohstoff für die Herstellung von Steviolglykosiden wenigstens einen kleinen Anteil des Gewinns für sich zu erwirtschaften. Doch bereits 2016 soll ein Süßstoff auf den Markt kommen, der Steviolglykoside enthält, die mithilfe von synthetischer Biologie her gestellt werden. Sollte sich die synthetische Produktion durchsetzen, könnte dies das Ende des Marktes für Stevia- Blätter bedeuten. In diesem Fall würde die gesamte Wertschöpfung zu einigen wenigen Unternehmen fließen, die überwiegend im Norden angesiedelt sind. Die Guaraní und die Ursprungsländer würden leer ausgehen. Wir hoffen deshalb, dass dieser Bericht die Hersteller von Steviolglykosiden und damit gesüßten Produkten davon überzeugen wird, sich zu Verhandlungen mit dem Guaraní-Volk und den Ursprungsländern zu verpflichten, bei denen mithilfe eines Vermittlers eine ausgewogene und gerechte Aufteilung der Vorteile vereinbart wird, wie sie in der UN-Konvention über biologische Vielfalt und dem Nagoya-Protokoll vorgesehen ist. Vorteilsaufteilung muss nicht monetär erfolgen, sondern dem von den Guaraní geäußerten Bedürfnissen, etwa nach Land, entsprechen. Darüber hinaus erwarten wir, dass Regierungen weitere Maßnahmen ergreifen, eine wirksame Gesetzgebung über Zugang und Vorteilsausgleich (ABS) auf nationaler Ebene zu implementieren, und dass sie konsequentere Maßnah- men ergreifen, um sicherzustellen, dass Anbietern von Produkten mit Steviolglykosiden verboten wird, ihre Produkte als »traditionell«, »von den Guaraní« oder »natürlich« zu vermarkten, wo dies doch ganz klar nicht der Fall ist. Steviolglykoside, die der synthetischen Biologie entstammen, sollten überhaupt nicht mehr hergestellt werden, ohne dass eine unabhängige Abschätzung sozioökonomischer Folgen mit positivem Ausgang vorliegt, wie dies von den Vertragsstaaten der Konvention über biologische Vielfalt gefordert wird. Es wird Zeit, dafür zu sorgen, dass Steviolglykoside ihren bitteren Nachgeschmack verlieren und von einem klassischen Fall von Biopiraterie zu einem Beispiel für einen gerechten Zugang und Vorteilsausgleich werden.
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 4 ABKÜRZUNGEN ABS Access and Benefit Sharing (Zugang und Vorteils ITPGRFA International Treaty on Plant Genetic Resources ausgleich) for Food and Agriculture (Internationaler ADI Acceptable Daily Intake (zulässige Tagesdosis) Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für ALS Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachver Ernährung und Landwirtschaft) ständiger der Länder und des Bundesamtes JECFA Joint FAO/WHO Expert Committee on Food für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit Additives (Gemeinsamer FAO/WHO-Sachverstän BACN Biblioteca y Archivo del Congreso Nacional digenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe) (Bibliothek und Archiv des Parlaments, Paraguay) MAG Ministerio de Agricultura y Ganadería (Landwirt BAFU Bundesamt für Umwelt (Schweiz) schaftsministerium, Paraguay) BAG Bundesamt für Gesundheit (Schweiz) MAT Mutually Agreed Terms (einvernehmlich festgelegte BMG Bundesministerium für Gesundheit (Deutschland) Bedingungen) CA Kanada MTA Material Transfer Agreement (Materialübertragungs CBD United Nations Convention on Biological Diversity vereinbarung) (UN-Konvention über biologische Vielfalt) NZZ Neue Zürcher Zeitung (Schweiz) CCFA Codex Committee on Food Additives (FAO & WHO) OECD Organisation for Economic Co-operation and (Geimeinsames FAO/WHO Codex Kommittee für Development (Organisation für wirtschaftliche Lebenmittelzusatzstoffe) Zusammenarbeit und Entwicklung) CIMI Conselho Indigenista Missionário (indigener OLG Oberlandesgericht (Deutschland) Missionsrat, Brasilien) PIC Prior Informed Consent (vorherige Zustimmung COP Conference of the Parties (Vertragsstaaten nach Inkenntnissetzung) konferenz) REDIEX Red de Inversiones y Exportaciones (Netzwerk für DNA Deoxyribonucleic acid (Desoxyribonukleinsäure) Investitionen und Exporte, Paraguay) EC European Commission (EU-Kommission) SENAVE Servicio Nacional de Calidad y Sanidad Vegetal y EFSA European Food Safety Authority (Europäische de Semillas (Behörde für Pflanzenschutz und Behörde für Lebensmittelsicherheit) Saatgut, Paraguay) EP Europäisches Patent SMTA Standard Material Transfer Agreement (standardi ETC Action Group on Erosion, Technology and sierte Materialübertragungsvereinbarung) Concentration SynBio Synthetische Biologie EU Europäische Union TBT Testbiotech e.V., Institut für unabhängige Folgen FAO United Nations Food and Agriculture Organization abschätzung in der Biotechnologie (Deutschland) (Welternährungsorganisation) UK United Kingdom (Vereinigtes Königreich von FDA Food and Drug Administration (US-Bundesbehörde) Großbritannien und Nordirland) FIAN Food First Informations- und Aktions-Netzwerk UN United Nations (Vereinte Nationen) FIFA Fédération Internationale de Football Association UNDRIP United Nations Declaration on the Rights of Indi (Weltfußballverband) genous Peoples (Erklärung der Vereinten Nationen FSA Food Standards Agency (in GB für Lebensmittel über die Rechte indigener Völker) sicherheit zuständige Behörde) UPOV Union internationale pour la protection des GE Germany (Deutschland) obtentions végétales (Internationaler Verband zum GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusam Schutz von Pflanzenzüchtungen) menarbeit US United States (Vereinigte Staaten von Amerika) GRAS »Generally Recognized as Safe«-Notifizierung WHO United Nations World Health Organisation der FDA (Allgemein als sicher angesehene (Weltgesundheitsorganisation) Notifizierung der FDA) WIPO World Intellectual Property Organization (Welt IFST Institute of Food Science and Technology (Großß organisation für geistiges Eigentum) britannien) WO Kurz für WIPO (siehe dort) ILA International Law Association WTO World Trade Organization (Welthandelsorganisation) IPTA Instituto Paraguayo de Tecnología Agraria ZAR South African Rand (Südafrikanischer Rand) (Paraguayisches Institut für Agrarforschung)
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 5 INHALTSVERZEICHNIS 1 ZUSAMMENFASSUNG (EXECUTIVE SUMMARY) 6 2 DIE GUARANÍ UND IHR STEVIA 9 3 STEVIA: INDUSTRIELLE ENTWICKLUNG UND KOMMERZIELLES POTENZIAL 11 3.1 Ausbreitung und Verwendung von Stevia-Pflanzen 11 3.2 Industrielle Entwicklung weltweit 11 3.3 Anbau von Stevia in Paraguay 12 3.4 Der Unterschied zwischen Stevia-Blättern und Steviolglykosiden 13 3.5 Zulassung von Steviolglykosiden 15 3.6 Ablehnung von Anträgen auf Zulassung von Stevia-Blättern 16 4 EVOLVA, STEVIA FIRST UND DSM IM WETTLAUF UM DIE VERMARKTUNG VON BIOSYNTHETISCH HERGESTELLTEN STEVIOLGLYKOSIDEN 17 5 SCHUTZ GEISTIGEN EIGENTUMS UND MARKETING 21 5.1 Sortenschutzrechte für die verschiedenen Sorten von Stevia-Pflanzen 21 5.2 Patente auf Stevia/Steviolglykoside 21 5.3 Die Vermarktung von Steviolglykosiden als »natürlich« und »auf traditionellem Wissen basierend« 22 5.4 Beschränkungen bei der Vermarktung 24 6 STEVIA UND DIE REGELN ÜBER ZUGANG UND VORTEILSAUSGLEICH 27 6.1 Stevia, die UN-Konvention über biologische Vielfalt und das Nagoya-Protokoll über Zugang und Vorteilsausgleich 27 6.2 Weitere zwischenstaatliche Vereinbarungen und Richtlinien 28 7 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN 31 8 QUELLENNACHWEISE 33
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 6 1 ZUSAMMENFASSUNG (EXECUTIVE SUMMARY) Menschen entwickeln und teilen schon seit Jahrtausenden ter Linie damit zu tun zu haben, dass wenig kommerzielles traditionelles Wissen darüber, wie sie Pflanzen und Tiere Interesse daran besteht, die teuren Zulassungsverfahren züchten und nutzen können, um Nahrung, Kleidung, Heil für Stevia-Blätter zu durchlaufen. In der Praxis heißt dies, mittel und weitere Gebrauchs- und Kulturgegenstände dass die Produkte großer multinationaler Konzerne sehr herzustellen. Dieses Wissen wird jedoch zunehmend von viel leichter Zugang zu den Märkten bekommen, als Pro Unternehmen vereinnahmt und monopolisiert. dukte, die auf der traditionellen Verwendung von Ste Regierungen haben sich – durch die Konvention über via-Blättern beruhen. biologische Vielfalt (CBD) und das dazugehörige Na Obwohl Stevia-Blätter weder in den USA noch der EU goya-Protokoll – darauf geeinigt, dass die Träger traditio verkauft werden dürfen und obgleich sich Steviolglykosi nellen Wissens ein Recht darauf haben, aus der Kommerzi de fundamental von Stevia-Blättern unterscheiden, werden alisierung des von ihnen entwickelten Wissens einen Verbraucher durch große Firmen wie Coca Cola in die Irre Nutzen zu ziehen. Die Erklärung der Vereinten Nationen geführt, indem diese auf die Vorzüge der Pflanze in ihrem (UN) über die Rechte indigener Völker (UNDRIP), die von natürlichen Zustand und sogar auf das traditionelle Wis der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2007 an sen der Guaraní hinweisen. PepsiCo und Coca Cola haben genommen wurde, ist ebenfalls sehr relevant, da sie die beide Cola-Getränke mit Steviolglykosiden auf den Markt Rechte indigener Völker hinsichtlich ihrer Gebiete und ih gebracht, nämlich »Pepsi Next« und »Coca Cola Life«. Sie res traditionellen Wissens festlegt. haben dabei keinen Aufwand gescheut, den »natürlichen« Dies ist sehr entscheidend für das verarmte Volk der Aspekt dieser Getränke hervorzuheben. Coca Cola Life Guaraní in Paraguay und Brasilien, die die süßschmecken wird auch als Mittel zur Bekämpfung der Fettleibigkeit den Eigenschaften der Blätter der Stevia-Pflanze seit Jahr beworben. Dies, obwohl es – zusätzlich zu den Steviolgly hunderten kennen und nutzen. Deren traditionelles Wis kosiden – immer noch mehr als vier Teelöffel Zucker pro sen ist der Ausgangspunkt aller späteren Vermarktung von Dose enthält. Stevia – in Form von Steviolglykosiden, mit welchen Pro Während der Steviolglykosid-Boom so richtig in Fahrt dukte wie z.B. Diät-Limonaden gesüßt werden. Als Folge kommt, läuft ein Wettlauf zur Patentierung von Methoden, der zunehmenden Besorgnis über Fettleibigkeit und Dia mit denen Steviolglykoside durch synthetische Biologie betes ist die weltweite Nachfrage nach natürlichen, zu hergestellt werden können, anstatt sie aus Stevia-Blättern ckerfreien Produkten im schnellen Wachstum begriffen. zu gewinnen. Große Unternehmen möchten in naher Zu Stevia-Pflanzen werden in vielen Ländern auch außerhalb kunft biosynthetisch hergestellte Steviolglykoside vertrei Paraguays, insbesondere in China, kommerziell angebaut ben oder verwenden können, für die sie nicht mehr vom und verarbeitet. Das Recht des Guaraní-Volkes, daraus ei Anbau von Stevia-Pflanzen abhängig sind und sich nicht nen Nutzen zu ziehen, wie es im Nagoya-Protokoll der mehr den Unbeständigkeiten von Wetter, Klima und inter UN-Konvention über biologische Vielfalt festgelegt wurde, nationalem Handel ausgesetzt sehen. wird hierbei allerdings ignoriert. Es handelt sich um einen Einer der Vorreiter in dieser Forschung ist das schwei klaren Fall von Biopiraterie. zerische Unternehmen Evolva, in Zusammenarbeit mit Die Unternehmen, die Steviolglykoside herstellen und dem US-Konzern Cargill. Cargill ist einer der beiden Welt vertreiben, profitieren auch von verschiedenen Regelun marktführer zur Produktion und Vermarktung von Stevi gen und Vorschriften für Import und Nutzung von Ste olglykosiden, mit Coca Cola und PepsiCo als zwei seiner via-Blättern und industriellen Steviolglykosiden, welche wichtigsten Kunden. Zwei weitere Unternehmen, die den die direkte Verwendung von Stevia-Blättern als Süßungs Wettlauf um den SynBio-Stevia-Markt »gewinnen« wollen, mittel verbieten. Beispielsweise ist der Gemeinsame Sach sind das kleine kalifornische Biotech-Unternehmen Stevia verständigenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe von First und der milliardenschwere Chemie-Gigant DSM aus FAO und WHO (JECFA) zu dem Schluss gekommen, dass Holland. Dieser Wettlauf wird jedoch nicht nur Hersteller der Verzehr von Steviolglykosiden in begrenzten Mengen von Steviolglykosiden betreffen: Wenn biosynthetische sicher sei, und hat eine zulässige Tagesdosis (ADI) festge Steviolglykoside auf den Markt kommen, wird dies voraus legt. Dieser ADI-Wert kommt nun sowohl in der EU als sichtlich schwerwiegende Folgen für die Kleinbauern ha auch in den USA zur Anwendung. Im Gegensatz dazu dür ben, die in Paraguay und anderswo Stevia anbauen. fen Stevia-Blätter in den USA, Europa und der Schweiz Ein Disput über biosynthetische Steviolglykoside nicht auf den Markt gebracht werden. Dies scheint in ers zeichnet sich auch im JECFA-Ausschuss ab, der eine Neu
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 7 bewertung begonnen hat, um den Einsatz von syntheti • Die Hersteller und Nutzer von Steviolglykosiden schem Rebaudiosid E und M als primäre Steviolglykoside müssen sich zu Verhandlungen mit den Guaraní ver- in Lebensmitteln und Getränken zu prüfen – obwohl diese pflichten, bei denen mithilfe eines Vermittlers eine noch nie eine Stevia-Pflanze gesehen haben werden und ausgewogene und gerechte Aufteilung der Vorteile nicht als »natürlich« bezeichnet werden können. Wider aus der Vermarktung von Steviolglykosiden ver stand hiergegen kommt von der Regierung in Paraguay, die einbart wird. verlangt, dass eine Analysemethodik entwickelt wird, um Dies ist vor allem wichtig in einem Land wie Paraguay, zwischen natürlichen und biosynthetischen Steviolglyko in dem wirksame gesetzliche Verpflichtungen auf Lan siden unterscheiden zu können, und dass auch Steviolgly desebene über Zugang und Vorteilsausgleich (ABS) noch koside mit niedrigerem Reinheitsgrad zugelassen werden. nicht existieren. Der Vorteilsausgleich braucht nicht mo Paraguays Vorstoß könnte bedeutende Konsequenzen für netär zu sein, sondern kann auch durch andere Arten die Kennzeichnung Stevia-Blätter-basierter Produkte ha von Unterstützung erfolgen. ben, falls er erfolgreich ist. • Die Regierungen von Nutzer- und Ursprungsländern – Um den vorliegenden Fall von Biopiraterie zu lösen darunter Paraguay – müssen das Nagoya-Protokoll und die ländliche Entwicklung zugunsten der Kleinbau- in optimaler Weise auf nationaler Ebene implemen- ern weiter zu fördern, müssen von Regierungen und tieren, mit umfassenden und wirksamen nationalen von Unternehmen, die Steviolglykoside herstellen oder Gesetzen über Zugang und Vorteilsausgleich. verwenden, eine Reihe von Maßnahmen ergriffen Es muss unmöglich gemacht werden, irgendeinen Profit werden: zu erzielen, wenn der Zugang zu den genetischen Res In Paraguay leben die meisten Guaraní in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen. © Keystone
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 8 sourcen und dem zugehörigen traditionellen Wissen widerrechtlich erfolgt ist und kein Vorteilsausgleich stattfindet. • Regierungen und Anbieter von Produkten mit Steviolglykosiden müssen dafür sorgen, dass jegliche Werbung, die Steviolglykoside als »traditionell« oder »natürlich« darstellt, gestoppt wird. Regierungen und Unternehmen in Verbraucherländern müssen mehr dafür tun, die bewusste Irreführung von Verbrauchern zu unterbinden, bei der Produkte mit chemisch gereinigten oder synthetisch hergestellten Steviolglykosiden als »natürliche« und »traditionelle« Produkte beworben werden. Verbrauchertäuschung im Marketing ist ein wesentlicher Grund zur Sorge, und Werbung, die sich auf die »Natürlichkeit« von Steviolg lykosiden und das Erbe der Guaraní konzentriert, führt Verbraucher bewusst in die Irre. Sie sollte deshalb ver boten werden. • Die Regierung von Paraguay und anderer Länder müssen sicherstellen, dass der Anbau von Stevia- Pflanzen die Kleinbauern und die Entwicklung des ländlichen Raums unterstützt. Jedes Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum muss die kleinbäuerliche, ökologisch nachhaltige Pro duktion unterstützen und das Land und die Gebiets rechte der Guaraní anerkennen. Es soll Kleinbauern auch in Form von Zugang zu Beratungsstellen, Märk ten, fairen Krediten und Plattformen für den Informati onsaustausch unter den Bauern unterstützen. Die Regierung von Paraguay, die bereits dabei ist, den Stevia-Sektor in Paraguay zu entwickeln, muss da rüber hinaus ihre Unterstützung auf die Kleinbauern und die gerade erst entstehende inländische Verarbei tungsindustrie ausdehnen. • Schließlich, müssen Regierungen auch darauf achten, dass keine Steviolglykoside hergestellt oder ver-marktet werden, die auf synthetischer Biologie basieren, solange keine unabhängige Abschätzung sozioökonomischer Folgen mit positivem Aus- gang vorliegt, wie dies von den Vertragsstaaten der Konvention über biologische Vielfalt gefordert wird. Der Trend hin zur Verwendung von synthetisch herge stellten Steviolglykosiden stellt eine Bedrohung für das riesige Potenzial dar, das der Anbau von Stevia für die ländliche Entwicklung in Ländern wie Paraguay hat. Es lenkt die Produktion weg von kleinbäuerlichen Betrie ben und hin zu den Laboratorien der Unternehmen. Falls jedoch biosynthetisch hergestellte Steviolglykosi de auf den Markt gebracht werden, müssen Regierun gen sicherstellen, dass die Hersteller der Endprodukte dazu verpflichtet sind, diese klar als solche zu kenn zeichnen.
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 9 2 DIE GUARANÍ UND IHR STEVIA Das verarmte Volk der Guaraní in Paraguay und Ihm wurde klar, welche Vorteile diese Pflanze, basie Brasilien kennt und nutzt die süßschmeckenden Eigen- rend auf deren traditionellen Verwendung als natürliches schaften der Blätter der Stevia-rebaudiana-Pflanze Süßungsmittel, bieten konnte, um andere künstliche Süß- schon seit Jahrhunderten. Dieses traditionelle Wissen stoffe wie Saccharin zu ersetzen, das zu seiner Zeit bereits ist der Ursprung aller späteren Vermarktung von als gesunde Alternative für Menschen mit Diabetes ver Stevia und Stevia-basierten Produkten. Allerdings marktet wurde. So prognostizierte er bereits damals die werden ihre Rechte, aus dieser Verwendung einen erfolgreiche Vermarktung der Stevia-Pflanze. Nutzen zu ziehen, wie sie im Nagoya-Protokoll Ebenfalls basierend auf dem langjährigen traditionel der Konvention über biologische Vielfalt festgelegt len Wissen der Guaraní über die Verwendung der Ste sind, ignoriert. via-Blätter als natürliches Süßungsmittel, was später durch die Studien des Chemikers Ovidio Rebaudi noch substan ziiert wurde, ging Bertoni davon aus, dass der Verzehr der Stevia, vom indigenen Volk der Guaraní als »Kaá he’é« be Pflanze sicher war: zeichnet, wurde außerhalb von Paraguay bekannt, nach dem es 1887 vom schweizerischen Botaniker Dr. Moisés »Stevia ist nicht nur nicht toxisch, sondern im Gegenteil Santiago Bertoni »entdeckt« worden war und er von den gesund, was lange Erfahrungen zeigen und wie es die Guaraní und Mestizen von der Spezies und ihren süßenden Studien von Dr. Rebaudi belegen«2 (Bertoni, 1918). Eigenschaften erfahren hatte. 1894 gelang es ihm, ein paar Blätter zu erwerben. Er ordnete Stevia in die Familie der Darüber hinaus brachte eine Untersuchung diverser histo Korbblütler (Asteraceae) ein, der auch die Sonnenblume rischer Quellen über die Nutzung medizinischer Pflanzen angehört, und gab ihr ihren wissenschaftlichen Namen. durch die Guaraní ebenfalls die Verwendung von Stevia 1918 beschrieb Bertoni explizit, wie er von Kräuter rebaudiana als Süßungsmittel zutage (Noelli, 1998). Man sammlern und indigenen Gruppen in Nordost-Paraguay che Studien aus Paraguay aus den 1970er Jahren stützen über die Pflanze unterrichtet wurde: die Annahme, dass Stevia geeignet ist, Diabetes zu behan deln (Soejarto et al., 1983), die Blätter und Triebe werden »1887, während meiner Erkundung der weitläufigen Wäl- hierfür in Paraguay manchmal lokal in Drogerien oder auf der von Ost-Paraguay, hörte ich, wie Kräutersammler Märkten verkauft. Dieses traditionelle Wissen über Stevia (yerbateros) aus dem Nordosten und Indianer aus dem als ein Süßungsmittel ist die Grundlage aller späteren Ver Mondaíh-Gebiet auf diese Pflanze Bezug nahmen. Letzte- marktung von Stevia und Stevia-basierter Produkte. Die re kannten sie aus den nahegelegenen Graslandgebieten Rechte des Guaraní-Volkes, aus seinem traditionellen Wis von Mbaeverá und Kaa Guasú«1 (Bertoni, 1918). sen einen Nutzen zu ziehen, wie dies in der Konvention über biologische Vielfalt (CBD) festgemacht ist, werden hierbei jedoch ignoriert. Genau wie viele andere indigene Völker haben auch die STEVIA REBAUDIANA BERTONI Guaraní eine lange Geschichte der Ausbeutung und Diskri minierung durchlaufen. Die Guaraní leben heute in Teilen Stevia rebaudiana Bertoni wurde nach dem Chemiker Ovidio von Brasilien, Paraguay, Bolivien und Argentinien. Die Rebaudi benannt, der die Pflanze analysierte, nachdem Gruppe der Guaraní, die Stevia rebaudiana über Jahrhun er von Bertoni darum gebeten worden war (Rebaudi, 1900; derte genutzt haben, sind die Guaraní Kaiowá in Brasilien MAG, 1991; Kienle et al., 2008). Das Ursprungsgebiet bzw. Pai Tavytera, wie sie in Paraguay genannt werden. von Stevia rebaudiana liegt zwischen 22° und 24° südlicher Die Pai Tavytera stellen 15 097 Einwohner, aufgeteilt in Breite bzw. 55° und 56° westlicher Länge. Es umfasst das 61 Gemeinschaften. Die Ausbreitung der Agrarfront hat zu paraguayische Hochland von Amambay und die östlichen Waldrodung und Landvertreibungen geführt, so dass die Gebiete von Mato Grosso do Sul (Katayama et al., 1976). Pai Tavytera heute nur noch einen kleinen Teil ihrer Terri 1 Übersetzung der Autoren. 2 Übersetzung der Autoren.
Die Guaraní haben ihr traditionelles Land verloren, auf dem Seit Jahrhunderten werden Stevia Blätter als natürliches heute oftmals Zuckerrohrplantagen stehen. © Misereor Süßungsmittel etwa für Mate Tee genutzt. © Keystone torien besitzen. Ihr Ernährungssystem, das einst auf Jagd, minister die Rechte einer Gruppe von Guarani auf dieses Fischerei und Sammeln basierte, ist längst kleinbäuerlichen Land bereits anerkannt hatte, bezog die Zuckermühle Mon Anbauformen und der Lohnarbeit auf Viehranches gewi teverde von Bunge weiterhin Zucker von fünf Plantagen chen (Glauser, 2011). 14 der Gemeinschaften haben inzwi auf diesem Gebiet und weigerte sich, die Verträge vorzeitig schen überhaupt kein Land mehr. In einigen Fällen wurde zu kündigen. Bunge ist einer der wichtigsten Zuckerliefe auch von Gewalt durch Viehbesitzer an den Pai Tavytera ranten von Coca-Cola (Oxfam, 2013; Survival, 2013). berichtet. Auch wenn gewaltsame Landkonflikte in Mato Grosso Laut Daten von 2010 leben etwa 46 000 Guaraní Kaiowá do Sul eine lange Geschichte haben, so haben die gewaltsa auf der brasilianischen Seite der Grenze, im Bundesstaat men Übergriffe auf Guaraní in den letzten Jahren drastisch Mato Grosso do Sul. Im Laufe des vergangenen Jahrhun zugenommen. Alleine im Jahr 2014 wurden 25 Kaiowá in derts haben die Kaiowá fast ihr gesamtes Territorium verlo diesem Bundesstaat getötet (CIMI, 2015). Im August 2015 ren, das früher vorwiegend aus Waldfläche bestand. Heute hat die UN-Sonderberichterstatterin für Indigenenrechte, leben sie in sehr klein bemessenen, überfüllten Reservaten, Victoria Tauli-Corpuz, ihre starke Sorge zum Ausdruck ge umringt von Zuckerrohrplantagen und Weideflächen. Viele bracht, dass erneut die Polizei vor Ort angewiesen wurde, Kaiowá haben gar keine Landflächen zur Verfügung und Kaiowá gewaltsam von ihren »tekohas« (ihrem traditionel leben in kleinen Zelten am Straßenrand. In diesem Zusam len Land) zu vertreiben. Ihrer Information zufolge haben menhang verwundert es nicht, dass das traditionelle Wis sich 6000 Indigene geweigert, ihr angestammtes Land zu sen um die Nutzung von Stevia rebaudiana weitgehend verlassen, und kündigten Widerdstand »bis zum Tod« ge verloren gegangen ist. In den letzten Jahren haben sich gen die Vertreibung an. Konflikte um Land und die Gewalt gegen die Guaraní in Dieser Verlust an Territorien ist die zentrale Ursache für Mato Grosso do Sul zugespitzt. 2007 hat sich die brasiliani eine massiver Verarmung unter den Kaiowá. Da es ohne sche Regierung dazu verpflichtet, 36 zusätzliche Gebiete Land sehr wenig andere Optionen gibt, arbeiten viele junge im südlichen Teil von Mato Grosso do Sul zu demarkieren Guaraní Männer auf den Zuckerrohrplantagen unter sehr und für die Guaraní bereitzustellen. Vor allem aufgrund prekären Bedingungen. 2011 arbeiteten schätzungsweise des massiven Widerstands von Großgrundbesitzern wur 10 000 Kaiowá auf den Plantagen, zwischen 2004 und 2010 den diese Demarkationen bislang kaum umgesetzt. Legiti waren 2 600 Guaraní-Männer aus sklavenartigen Arbeitsbe me indigene Ansprüche auf Land prallen auf zunehmende dingungen befreit worden (FIAN, 2012). Andere akute Pro Investitionen in Zuckerrohrmonokulturen von Joint Ventu bleme sind eine nicht ausreichende Gesundheitsversor res zwischen den traditionellen Großgrundbesitzern und gung und als Resultat der Schwierigkeiten und der Pers multinationalen Rohstoffkonzernen. Zwischen 2007 und pektivlosigkeit ein hoher Alkoholkonsum unter den Män 2012 hat sich die Fläche des Zuckerrohranbaus in diesem nern. Die Zahl der Selbstmorde unter den Guaraní in Mato Gebiet von 180 000 ha auf 570 000 ha verdreifacht (Oxfam, Grosso do Sul liegt weit über der Zahl in anderen Gebieten 2013). Ein Beispiel ist der Konflikt um das Gebiet Jatayvary Brasiliens. Zwischen 2000 und 2014 wurden 707 Fälle do in der Region Dourados. Obwohl der brasilianische Justiz kumentiert (CIMI, 2015).
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 11 3 STEVIA: INDUSTRIELLE ENTWICKLUNG UND KOMMERZIELLES POTENZIAL 3.1 AUSBREITUNG UND VERWENDUNG VON Getrieben wird die Nachfrage nach Steviolglykosiden STEVIA-PFLANZEN ganz klar von der wachsenden Besorgnis über die Zunah me von Fettleibigkeit und Diabetes und einem zunehmen Obwohl die Verwendung von Stevia-Blättern bereits den Bewusstsein über gesunde Ernährung in der westli seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bekannt war, wurde chen Welt. Steviolglykoside sind kalorienfrei und bis zu Stevia erst ab den 1970er-Jahren kommerzialisiert. 300 Mal süßer als Saccharose; dadurch sind sie eine der Heute wächst die Nachfrage nach natürlichen, zucker- süßesten bekannten natürlichen Substanzen (Nikolova, freien Produkten, die auf Süßstoffen wie Steviolgly 2015; Lemus-Mondaca et. al, 2012; MAG, 1991). kosiden basieren, als Folge der zunehmenden Besorgnis 2009 schätzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), über Fettleibigkeit und Diabetes, weltweit rasch an. dass Steviolglykoside das Potenzial haben, über die nächs ten Jahre hinweg 20 – 30 % des Marktes mit Zuckerersatz stoffen auszumachen (WHO, 2009). Von den Umsätzen mit Heute sind Steviolglykoside, der reine Süßstoff, der aus Steviolglykosiden sowie Lebensmitteln und Getränken, der Stevia-Pflanze gewonnen wird, in vielen Supermärk die diese als Süßstoff enthalten, wird erwartet, dass sie ten, Gemischtwarengeschäften und Drogerien zu finden, 2015 bei 8–11 Milliarden US-Dollar liegen werden (Indus und das Interesse an der kommerziellen Nutzung wächst tryARC, 2014). Mintel nennt auch Zahlen für den wach weltweit. Im Gegensatz dazu ist die wilde Stevia-Pflanze senden Markt der Steviolglykoside selbst und schätzt, dass heute praktisch ausgerottet (MAG, 1991; Willi 2006). sich dieser zwischen 2013 und 2017 mehr als verdoppeln Der kommerzielle Einsatz von Stevia, meist in Form wird: von 110 Mio. US-Dollar auf 275 Mio. US-Dollar von Steviolglykosiden, begann erst in den frühen 1970er- (Mintel, 2014). Jahren (Kienle et al., 2008). Nachdem Süßstoffe wie Cycla mat und Saccharin in den Verdacht gekommen waren, krebserregend zu sein, begann die Suche nach einem neu 3.2 INDUSTRIELLE ENTWICKLUNG WELTWEIT en Süßungsmittel, und japanische Wissenschaftler wur den bei der Stevia-Pflanze fündig. Bei zwei japanischen Heute werden Stevia-Pflanzen in vielen Ländern auch Expeditionen wurden im Ursprungsland circa 500 000 außerhalb von Paraguay kommerziell angebaut, Wildpflanzen ausgegraben und nach Japan gebracht. Das insbesondere zur Herstellung von Steviolglykosiden. japanische Unternehmen Morita Kagaku Kogyo Co., Ltd. stellte dann 1971 als erstes einen kommerziellen Süßstoff auf Stevia-Basis her (Morita Kagaku Kogyo Co., Ltd., MITGLIEDER DES INTERNATIONAL STEVIA COUNCIL 3 2007). Raffinerien (Herstellung Verwender von Stevia als Mittlerweile wird die beinahe vergessene Pflanze aus gemäß JECFA-Spezifi Zutat Paraguay weltweit zu einem richtig großen Geschäft, an kationen) Coca Cola Company dem multinationale Unternehmen wie Cargill, Coca Cola Cargill Nordzucker und PepsiCo beteiligt sind. Für die verschiedenen Moleküle, Ingredion die den Stevia-Blättern ihren süßen Geschmack verleihen Morita Erzeuger und Produzenten und unter dem Begriff »Steviolglykoside« zusammenge Pure Circle von Blättern: Sweet Green fasst werden, besteht auf dem Weltmarkt für Nahrungsmit Real Stevia Fields (Produktion von tel eine wachsende Nachfrage, und zwar für Süßstoffe, Zu SteviaOne Blättern in den USA) ckeraustauschstoffe und Nahrungsergänzungsmittel. So Verdure Science werden sie zu einer »Alternative« von zunehmender Be Assoziierte Mitglieder deutung für den noch wachsenden Weltmarkt der Süßstof DSM fe (OECD/FAO, 2013). 3 International Stevia Council Membership – www.internationalsteviacouncil.org/index.php?id=7
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 12 Dem Unternehmen SteviaOne zufolge erfolgte bereits 2012 1 mu, d.h. 667 m2, angebaut wird (Bamber und Fernandez- 80 % des weltweiten Anbaus in China, 5 % in Paraguay, Stark, 2012; Kienle, 2011). 3 % in Argentinien, 3 % in Brasilien und 3 % in Kolumbi Geerntet werden kann bereits im ersten Jahr, wobei in en. Weiterer Anbau erfolgte in Indien, Japan, Kenia, Süd Paraguay bis zu vier Ernten im Jahr möglich sind (Nikkei korea, Taiwan, Vietnam und den USA (SteviaOne, 2012; Asian Review, 2015). Der Stevia-Anbau bietet Kleinbauern Gmuer, 2015). Die Anbauflächen in China belaufen sich auf in Paraguay also Vorteile; dazu kommt die Möglichkeit circa 20 000 bis 25 000 Hektar (Kienle, unveröffentlicht), wertschöpfender Verarbeitung sowohl für den Inlands- als und weltweit wurden 2011 geschätzte 30 000 ha Ste auch den Exportmarkt. Die Bauern benötigen jedoch im via-Pflanzen zur Herstellung von Steviolglykosiden ange mer noch Hilfe, sowohl was den Zugang zu Märkten be baut (Quelle Sante, 2011). trifft als auch betreffend Beratungsstellen und Plattformen Heute, und insbesondere nach dem Wegfall der Restrik für den Informationsaustausch unter Bauern, und meist tionen in den USA und der EU (Details dazu siehe unten), sind sie nur dann erfolgreich, wenn sie mit anderen Erzeu sind Steviolglykoside in Hunderten von Lebensmitteln gern zusammenarbeiten können und einen fairen Zugang und Getränken anzutreffen, darunter Cerealien, Tees, Säfte, zu Finanzierungsmöglichkeiten bekommen (Bamber und Milchmischgetränke, Joghurts und kohlesäurehaltige Erfri Fernandez-Stark, 2012). schungsgetränke (Evolva, 2014). Coca Cola und PepsiCo Das paraguayische Landwirtschaftsministerium (MAG) haben jeweils ein kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk fördert den Stevia-Sektor im Rahmen seines Programmes mit Steviolglykosiden auf den Markt gebracht, unter der zur Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Bezeichnung »Coca Cola Life« bzw. »Pepsi Next« (Coca Raums (WTO, 2005; MAG, 2006). Mit der aufstrebenden Cola, 2014; PepsiCo, 2015). Die größten Märkte liegen in Produktion an anderen Orten, darunter auch der sich ent den USA, Japan, China und der EU (Gmuer, 2015). wickelnde Einsatz von Technologien zur biosynthetischen Zur Vertretung der Interessen von denjenigen Unter Herstellung (SynBio) (siehe unten in Kapitel 4), könnte das nehmen, die an der Vermarktung von Steviolglykosiden riesige Potenzial zur Entwicklung der Kleinbauern am Ste beteiligt sind, wurde 2010 der International Stevia Council via-»Geburtsort« zerstört werden. als weltweiter Fachverband gegründet. Zu seinen Mitglie Die Aussichten für die Märkte für Stevia-Blätter und dern gehören Unternehmen, die industriell Steviolglykosi Nebenprodukte, die in Paraguay angebaut und von dort aus de herstellen und raffinieren und diese als Stevia-Süßungs exportiert werden, sind im Allgemeinen unsicher. 2011 mittel aus natürlicher Quelle vermarkten. stoppte Japan den Import von Stevia aus Paraguay, weil be züglich der Maul- und Klauenseuche Bedenken bestanden. Dies, in Verbindung mit einem Absinken der Preise für Ste 3.3 ANBAU VON STEVIA IN PARAGUAY via-Blätter, hat Berichten zufolge dazu geführt, dass die pa raguayischen Exporte von 1,2 Mio. US-Dollar im Jahr 2011 Obwohl China das Hauptland für den Anbau und den auf gerade einmal 368 000 US-Dollar 2014 sanken (Nikkei Export von Stevia-Blättern ist, produziert und exportiert Asian Review, 2015). Im Februar 2015 kündigte die Regie auch Paraguay heute noch die Nutzpflanze, und die rung Japans dann allerdings in einer Kehrtwende an, dass Regierung von Paraguay fördert den Sektor zum das Land angeblich die gesamten paraguayischen Stevia- Zwecke der ländlichen Entwicklung. Stevia hat ein Blätter-Exporte aufkaufen wolle. Das Paraguayan Network riesiges Potenzial, zu einem funktionsfähigen kleinbäu- for Investment and Export, ein Zweig des paraguayischen erlichen Sektor in Paraguay beizutragen. Wirtschaftsministeriums, bestätigt, dass sich die Preise jetzt stabilisiert hätten (REDIEX, 2015). Vom Trend her bewegt sich die Regierung von Paragu Offenbar wurde bis 2005 die gesamte paraguayische Ste ay klar in die Richtung, den paraguayischen Stevia-Sektor via-Ernte ins benachbarte Brasilien exportiert. Seither wer zu unterstützen. Ihr Ziel ist es, von den bestehenden Mar den getrocknete Stevia-Blätter jedoch auch in andere Län ketingstrategien der Unternehmen, die Stevia mit Paragu der wie die USA, Japan, Deutschland, Argentinien, Mexiko, ay in Verbindung bringen, und dem zunehmenden Ver Frankreich und sogar nach China, derzeit wichtigstes Pro braucherwissen zu profitieren und so Paraguays Exporte duktionsland, exportiert (GIZ, 2008). an Stevia- Blättern und Steviolglykosiden deutlich zu er Anders als Zuckerrohr oder Mais (Ausgangsmaterial für höhen. Zu diesem Zweck ist sie darauf aus, die internati den High Fructose Corn Syrup, HFCS) wird die Ste onalen Standards, die vom Gemeinsamen Sachverständi via-Pflanze überwiegend von Kleinbauern angebaut, einer genausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe von FAO und seits, weil der Anbau arbeitsintensiv ist, und andererseits, WHO (JECFA) definiert werden (und dadurch indirekt weil er in diversifizierten Systemen erfolgen kann. In Para auch die nationalen Standards in den USA und der EU) guay verfügt der durchschnittliche Kleinbauer nur über zu verändern, damit die Stevia-Pflanze nicht länger ge 5–10 ha Ackerland und baut Stevia in Fruchtfolge mit an genüber der chemisch gereinigten oder synthetisch herge deren Nutzpflanzen wie Baumwolle, Maniok, Sesam oder stellten Steviolglykoside diskriminiert wird, was stark Soja an. Ähnlich ist der Anbau in China, wo Stevia typi negative Folgen auf den Stevia-Anbau in Paraguay haben scherweise von Vertrags-Kleinbauern auf Flächen von könnte.
Stevia-Blätter werden in Paraguay traditionellerweise Steviolglykoside werden mittels eines chemisch-physikali- als natürliches Süßungsmittel genutzt und verkauft. schen Prozesses aus Stevia Blättern hergestellt. Diese Anlage © getty images steht in Paraguay, die meisten Produktionsstandorte befinden sich jedoch in anderen Ländern. © getty images 3.4 DER UNTERSCHIED ZWISCHEN STEVIA- Verbesserung der Erträge an Rebaudioside A konzentriert, BLÄTTERN UND STEVIOLGLYKOSIDEN die ein gutes Geschmacksprofil aufweisen (während andere teilweise einen bitteren Nachgeschmack haben) (IFST, Wenngleich Unternehmen, die Steviolglykosid-basierte 2015, Kuznesof, 2007). Produkte vermarkten, die beiden gerne durcheinander- Es ist wichtig, zu erkennen, dass Steviolglykoside nicht bringen, bestehen doch entscheidende Unterschiede so »natürlich« sind, wie viele Unternehmen in ihrer Wer zwischen Stevia-Blättern (dem traditionellen Süßungs- bung behaupten. Ferner können diverse Chemikalien zum mittel) und Steviolglykosiden (dem kommerziell Einsatz kommen, um die Steviolglykoside aufzubereiten entwickelten, industriell hergestellten Süßstoff). Die (Watson, 2012), und viele dieser Produktionsverfahren wer Unterschiede ergeben sich aus den Produktions den durch Patente geschützt (Näheres hierzu siehe unten in prozessen. Kapitel 5). Steviolglykoside werden mit heißem Wasser aus Stevia- rebaudiana-Bertoni-Blättern gewonnen, wobei der wässrige Die Blätter der Pflanze Stevia rebaudiana enthalten eine Auszug dann durch die Zugabe von Salzen (z.B. Ca(OH)2, Anzahl unterschiedlicher Moleküle, die für deren süßen CaCO3, FeCl3 oder AlCl3) einer Fällung unterzogen wird. Geschmack verantwortlich sind. Diese werden unter dem Die gefällte Lösung wird dann in der weiteren Behandlung Begriff »Steviolglykoside« zusammengefasst. Die traditio durch ein Ionenaustauscherharz (anionisch und kationisch) nell als Stevia rebaudiana bekannten Blätter enthalten Ste gefiltert, um Salz- und Ionen-Moleküle zu entfernen. Dieser vioside und Rebaudioside A, Rebaudoside C sowie Dulco Ionenaustausch-Prozess erzielt schon eine teilweise Entfär side, neben den Rebaudosiden D und Rebaudosiden E die bung der wässrigen Lösung. Diesem Schritt folgt eine weite nur in Spuren gefunden werden Zu den am besten schme re Entfärbung mittels Adsorptionsharzen. Dadurch wird ein ckenden gehören Rebaudiosid D, welches jedoch nur in Raffinat von Steviolglykosiden erzeugt (FDA, 2008). Spezi sehr kleinen Mengen in den Blättern einiger Sorten enthal elle Adsorptionsharze können die Steviolglykoside ein ten ist (Kinghorn, 2002) und Rebaudoside M, das nur in schließen. Das Harz wird dann mit einer Alkohollösung sehr spezifischen Sorten gefunden wird (Ohta et al., 2010). ausgewaschen, wodurch die Steviolglykoside gelöst wer Durch gezielte Züchtung wird die Anzahl der nachweis den und eine Kristallisierung in Methanol oder wässrigem baren Steviolglykoside in Stevia-Pflanzen erhöht. Beispiels Ethanol erfolgt, was zu hochgereinigten Steviolglykosiden weise konnte nachgewiesen werden, dass von 21 in der Sor führt. Das Endprodukt wird dann noch sprühgetrocknet te Stevia rebaudiana Morita enthaltenen Glykosiden zehn (JECFA, 2010; EC, 2012). ganz neu sind, Rebaudiosid M eingeschlossen (Ohta et al., Kritisch ist, dass einige dieser Extraktions- bzw. Herstel 2010). Seit ca. 10 Jahren hat sich die Zucht vor allem auf die lungsprozesse nicht unbedingt immer umweltfreundlich
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 14 PRODUKTION VON STEVIOLGLYKOSIDEN MITTELS CHEMISCHEM-PHYSIKALISCHEM PROZESS TRADITIONELLE NUTZUNG KOMMERZIELLE PRODUKTION Fällungssalze Ca (OH)2, CaCO3, FeCI3 or AICI3 H 2O Filtrierung Ausfällung alc ‰ Entsalzung und Entfärbung durch Ionenaustausch- Prozess Adsorptionsharz Spülung mittels zum Auffangen Alkohollösung zur von Steviolglyko- Freisetzung der siden Steviolglykoside aus dem Adsorptionsharz LEGENDE Steviolglykoside Abfallprodukte Aufreinigung durch Fällungssalze Rekristallisation mittels Methanol Fällungssalze gebunden oder wässerigem an Abfallprodukte Ethanol Säule mit entsprechendem Adsorptionsharz Sprühtrocknen, alc ‰ zu 95 % reinen Stevia-Blätter Steviolglykosiden
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 15 sind (Kienle, 2011; Watson, 2012). Die gewonnenen Steviol rung oder Synthese durch gentechnisch veränderte Organis glykoside können auch unerwünschte Artefakte und Iso men hergestellt werden, unterscheiden zu können« (CCFA, mere enthalten, die sich während des chemisch-physikali 2015). Paraguay bemüht sich auch um eine Erweiterung schen Reinigungsprozesses bilden (BAG, 2010). der zulässigen Tagesdosis (ADI) für Steviolglykoside mit niedrigerem Reinheitsgrad. Paraguays Antrag an den JEC FA-Ausschuss könnte bedeutende Konsequenzen für die 3.5 ZULASSUNG VON STEVIOLGLYKOSIDEN Kennzeichnung Stevia-basierter Produkte haben, falls er erfolgreich ist. IIn Paraguay war der Konsum und Vertrieb von Stevia- Blättern noch nie irgendwelchen Restriktionen unter- Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit worfen (MAG, 1991), aber in anderen Ländern werden (European Food Safety Authority, EFSA) umfassende toxikologische Langzeitstudien für die 2010 empfahl die EFSA den Einsatz von Steviolglykosiden Zulassung von Lebensmitteln und Zusatzstoffen als süßenden Lebensmittelzusatzstoff, entsprechend den verlangt, so auch für Stevia-Blätter und Steviolglykosi- JECFA-Ergebnissen, und empfahl auch den gleichen ADI. de. Allerdings gelten in verschiedenen Ländern unter- Steviolglykoside wurden daraufhin 2011 in der EU als Zu schiedliche Regelungen. Hier gehen wir kurz auf die satzstoff E 960 zum Verzehr zugelassen (EU, 2011). weltweiten Standards und die Zulassung speziell von Bei nachfolgenden Überlegungen ging es vornehmlich Steviolglykosiden in der EU und den USA ein. um die Wahrscheinlichkeit, mit der Kinder mehr als die empfohlene Menge verzehren könnten (EFSA, 2011; EFSA, Der Gemeinsame Sachverständigenausschuss für 2014), und um einen Vorschlag zur Erweiterung der er Lebensmittelzusatzstoffe von FAO und WHO (JECFA) laubten Einsatzbereiche, der von der Tata Global Beverages Beim JECFA-Ausschuss handelt es sich um einen interna GB Ltd. eingereicht worden war und dazu führen könnte, tionalen wissenschaftlichen Ausschuss, der von der Welt dass die betreffenden Begrenzungen gelockert werden ernährungsorganisation (FAO) und der Weltgesundheits (EFSA, 2015). organisation (WHO) gemeinsam verwaltet wird. Er ist dafür verantwortlich, Bewertungen über die Sicherheit US-Bundesbehörde »Food and Drug Administration« von Lebensmittelzusatzstoffen und auch Einschätzungen (FDA) zu Kontaminanten in Lebensmitteln abzugeben (FAO & In den USA gibt es drei Wege der Zulassung. Die FDA kann WHO, 2015). einen Lebensmittelzusatzstoff entweder zulassen, in die Po Der JECFA-Ausschuss liefert auch die Standards für die Herstellung von Steviolglykosiden (JECFA, 2010; JECFA, 2010a). 2009 untersuchte der JECFA-Ausschuss For schungsarbeiten zur Sicherheit von Steviolglykosiden (vor allem Steviosid und Rebaudiosid A) und kam zu dem Er gebnis, dass diese sicher seien, allerdings nur in begrenz ten Mengen. Er empfahl eine zulässige Tagesdosis (Accep table Daily Intake, ADI) von 0 – 4 mg/kg Körpergewicht Stevioläquivalent und einen geforderten Reinheitsgrad von mehr als 95 % (JECFA, 2009).4 Auf Anforderung der Regierungen der Vereinigten Staa ten und von Malaysia hat der JECFA-Ausschuss jetzt aller dings mit einer Neubewertung begonnen, um den Einsatz von synthetischem Rebaudiosid E und M als primäre Ste violglykoside in Lebensmitteln und Getränken zu erlau ben – obwohl diese noch nie eine Stevia-Pflanze gesehen haben und nicht als »natürlich« betrachtet werden können (siehe Kapitel 4 über biosynthetische Herstellung). Eine erste Entscheidung wird für das JECFA-Meeting im Juni 2016 erwartet. Widerstand hiergegen kommt von der Regierung in Pa Während Steviolglykoside für den Verkauf in den USA, in raguay, die verlangt, dass »eine Analysemethodik entwi Europa, der Schweiz und anderen Ländern zugelassen sind, ist ckelt wird, um zwischen natürlichen Glykosiden aus der der Verkauf von Stevia Blättern in denselben Regionen Pflanze und Glykosiden, die aus enzymatischer Verände nicht gestattet. © Fotolia 4 Gemäß der OECD-Prüfrichtlinie 453 basiert der ADI-Wert jedoch nur auf den Ergebnissen einer zweijährigen Studie mit Ratten. Die Studie legt eine soge- nannte »Dosis ohne Wirkung« (»No Observed Effect Level«, NOEL) fest und der ADI wird dadurch ermittelt, dass diese Zahl durch 100 dividiert wird.
DER BITTER-SÜSSE GESCHMACK VON STEVIA November 2015 // 16 sitivliste aufnehmen oder als GRAS (generally recognized Ähnlich ist die Situation in der EU, wo Stevia-Blätter as safe) einstufen, wenn er allgemein als sicher angesehen ebenfalls nicht zum Verkauf freigegeben sind. Sie würden wird. Die Bundesgesetzgebung erlaubt jetzt allerdings, eine Zulassung nach der Novel-Food-Verordnung benöti dass Lebensmitteln bestimmte Zutaten zugesetzt werden, gen (FSA, 2015). Ein neuartiges Lebensmittel (Novel für die der GRAS-Status (GRAS-Notifizierung) ohne Betei Food) ist ein Lebensmittel, das vor dem 15. Mai 1997 in ligung der FDA ermittelt wurde. Überhaupt scheint die der EU noch nicht in nennenswertem Umfang verzehrt Wachsamkeit der FDA über Zusatzstoffe insgesamt abzu worden war. In der EU ist ein Antrag auf Vermarktung der nehmen.5 lebenden Pflanze und deren getrockneter Blätter als neu Im Hinblick auf Steviolglykoside hat die FDA 2008 die artiges Lebensmittel aufgrund unzureichender Datenlage ersten beiden GRAS-Notifizierungen (Nr. 252 und 253) bislang abgelehnt worden. Zwischenzeitlich ist ein neuer über Rebaudiosid A-Süßstoffe akzeptiert, basierend auf Antrag vorgelegt worden, der allerdings momentan blo der Bewertung durch den JECFA-Ausschuss (siehe oben). ckiert ist, weil das Sicherheitsdossier unvollständig ist. Dies heißt, dass Unternehmen jetzt Steviolglykoside in In der Schweiz sind Stevia-Blätter ebenfalls nicht zuge den USA als Süßstoffe herstellen und verkaufen dürfen lassen, da die gesundheitliche Unbedenklichkeit nicht (FDA, 2015a). vollständig belegt sei (BAG, ohne Datum). Erlaubt ist ein zig ein Anteil von maximal 2 % Stevia-Blättern in Kräu tertees. 3.6 ABLEHNUNG VON ANTRÄGEN AUF ZULASSUNG VON STEVIA-BLÄTTERN Völlig im Gegensatz zu der Situation bei der Zulassung von Steviolglykosiden dürfen Stevia-Blätter in den USA, Europa und der Schweiz nicht auf den Markt gebracht werden. Dies scheint damit zu tun zu haben, dass wenig kommerzielles Interesse daran besteht, die teuren Zulassungsverfahren für Stevia-Blätter zu durchlaufen. In der Praxis heißt dies, dass die Produkte großer multinationaler Konzerne sehr viel leichter Zugang zu den Märkten bekommen als Produkte, die auf der traditionellen Verwendung von Stevia-Blättern aus kleinbäuerlichem Anbau beruhen. In den USA hat die FDA momentan eine Importwarnung ausgesprochen, welche die Beschlagnahme von importier ten Stevia-Blättern vorschreibt, sofern diese als Lebensmit telzusatzstoffe eingesetzt werden sollen6 (aber nicht, wenn sie als Nahrungsergänzungsmittel gekennzeichnet7 oder für spezifisch aufgelistete Zwecke wie zur Forschung oder Wei terverarbeitung bestimmt sind). In der Warnung heißt es: »Hinsichtlich der Verwendung in konventionellen Lebens- mitteln sind Stevia-Blätter nicht als Lebensmittelzusatz- stoff zugelassen und in den Vereinigten Staaten aufgrund der unzureichenden toxikologischen Datenlage nicht für GRAS befunden worden. Für ganze Stevia-Blätter liegt keine GRAS-Mitteilung vor. Hinsichtlich der Verwendung in Nahrungsergänzungsmitteln unterliegen Inhaltsstoffe (einschließlich Stevia) nicht den Bestimmungen für Le- bensmittelzusatzstoffe« (FDA, 2015b). 5 www.washingtonpost.com/national/food-additives-on-the-rise-as-fda-scrutiny-wanes/2014/08/17/828e9bf8-1cb2-11e4-ab7b-696c295ddfd1_story.html 6 Lebensmittelzusatzstoffe im weitesten Sinne sind Stoffe, die Lebensmitteln zugesetzt werden. Rechtlich handelt es sich um »jegliche Substanz, bei der die vorgesehene Verwendung dazu führt, oder bei der nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie dazu führt, dass sie – unmittelbar oder mittelbar – Bestandteil eines Lebensmittels wird oder dessen Beschaffenheit in sonstiger Weise verändert« (FDA 2014). 7 »Ein Nahrungsergänzungsmittel ist ein Produkt, das über den Mund aufgenommen wird und eine Lebensmittelzutat enthält, welche dazu bestimmt ist, die Nahrung zu ergänzen« (FDA 2015).
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