Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
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zeitschrift der dramaturgischen gesellschaft 02/16 was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen theater berlin
editorial Konflikte aushalten und sichtbar machen w ie kann politisches Handeln heute aussehen und welche Form findet es im Theater? Nichts war überraschender als der unerschütterte Glaube der etwa 40 an der Auftaktveranstal- ist politisches Handeln immer konkret: die Choreografin Helena Waldmann schickte Dramaturg*innen durch Berlin, um Obdachlosenzeitungen zu verkaufen, die Akteur*innen tung zur diesjährigen Konferenz teilnehmenden Bundestags- der »Konferenz Konkret« retteten das Stadttheater in drei abgeordneten an die Reichweite der eigenen Handlungs- und Stunden und schickten einen eigens engagierten Boten mit Einflussmöglichkeiten, der sich bei unserer soziometrischen Forderungen an den Deutschen Bühnenverein nach Köln, Übung im Bundestag körperlich im Raum manifestierte. während der Landesverband Freies Theater Berlin (LAFT) Dagegen stellte der Soziologe Ingolfur Blühdorn die Sinn- Beratung für Berliner Künstler*innen anbot. In Zusam- haftigkeit dessen, was wir als politisches Handeln begrei- menarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung wurde über poli- fen, angesichts unseres nicht nachhaltigen Gesellschafts- tisches Theater in anderen Ländern sowie über politischen systems fundamental in Frage: Aufgabe von Kunst könne Aktivismus im Internet diskutiert. Der Verband Deutscher es nur sein, die Widersprüche sichtbar zu machen und aus- Bühnen- und Medienverlage präsentierte Thomas Köck, den zuhalten und im Übrigen auf den großen Knall zu warten. diesjährigen Gewinner des Kleistförderpreises für junge Dramatiker*innen, mit seinem Stück paradies fluten, und die Bei unserem Tagungsthema naheliegend, wurde immer AG Musiktheater veranstaltete ein eigenes Panel, das auf ein wieder die Autonomie der Kunst reklamiert – als gäbe es riesiges, zeit- und rahmensprengendes Interesse stieß und da einen Widerspruch. Yael Ronen benannte auf unserem einen Aufbruch im Musiktheater mehr als nur andeutete. Podium Wut als entscheidenden Antriebsmotor ihrer Thea- Diesen handlungszentrierten Ansätzen stellte die Philo- terarbeit und wies darauf hin, dass diese sich natürlich sophin Nikita Dhawan die grundsätzliche Frage entgegen, nicht nur in biografisch-dokumentarischen Verfahren nie- für wen wir überhaupt handeln, und forderte nicht nur die derschlagen kann, sondern eben auch durch Klassiker der Rettung der Ideen der Aufklärung vor den Europäern; sie Theaterliteratur kanalisieren lässt: Wenn man darin einen machte auch per Handzeichen-Aufforderung einen dramati- aufregenden Ausdruck, eine angemessene Form, einen schen Mangel sichtbar: In der dg gibt es (wie in den Drama- zwingenden Stoff findet, um sein Anliegen zu transportie- turgien insgesamt) kaum Menschen mit Migrationshinter- ren. Deshalb ist es kein Zufall, dass gerade Alexander Leipold grund. Während die Hajusom-Performerin Zandile Darko vom Zentrum für Politische Schönheit einen klassischen nachdrücklich Diversität bei der Besetzung von Ensembles griechischen Theaterbegriff für seine Interventionen bean- und Regieaufträgen einforderte, liegt die Notwendigkeit, spruchte. Es ist auch kein Zufall, dass mit Lukas Bärfuss das Bewusstsein für die strukturelle Bedeutung auch der ausgerechnet der Künstler das eindrucksvollste Plädoyer Dramaturgie-Stellen in diesem Zusammenhang zu stärken, für die Autonomie der Kunst hielt, den wir für seinen hef- auf der Hand. Die angestrebte Zusammenarbeit mit dem tigen politischen Aufschrei gegen die Zustände der Schwei- Bundesverband Theater in Schulen (BVTS) bietet ebenso zer Medienlandschaft eingeladen hatten, mit dem er die eine Handlungsoption wie die Gatekeeper-Funktion von gesamte Publizistik seines Landes gegen sich aufgebracht Dramaturg*innen bei der Auswahl von Hospitant*innen. hatte. In den Gesprächen mit den Abgeordneten wurde deut- lich, wie sehr sich die politischen Prozesse in Pragmatismus Die Konferenz hat auch gezeigt, wie einfach politisches erschöpfen, und wie sehr deshalb solche grundsätzlichen Handeln sein kann: Mehr als einen Brief braucht es nicht, Invektiven durch Künstler*innen nötig sind – aus der Politik um mit dem eigenen Bundestagsabgeordneten ins Gespräch selbst werden sie nicht kommen. Deshalb auch betonte der zu kommen. Und spätestens wenn 2020 die Schuldenbremse Zukunftsforscher Reinhold Leinfelder die Rolle der Künste die Theaterlandschaft umzupflügen droht, sollten wir sie bei der Entwicklung positiver Utopien. Und dass es durch- alle auf ihren Standpunkt festnageln: »Irgendwoher wird aus lustvoll ist zu untersuchen, wie die Dinge laufen (und das Geld schon kommen.« warum sie so laufen), machte das Künstlerduo Christiane Dabei ging es im Kern unserer Konferenz aber nicht um Kühl und Chris Kondek mit seinen spielerischen und höchst konkrete Handlungsanweisungen für den Theateralltag, unterhaltsamen Versuchsanordnungen deutlich. Manchmal sondern um Impulse, wie sich Spielräume des (politischen ist politisches Theater aber auch einfach eine wüste Party wie künstlerischen) Handelns in Zeiten rasanter gesell- morgens um zehn, bewiesen Talking Straight. Überhaupt schaftlicher Veränderungen erweitern lassen. Die Theater 1
betriebe »beweglich« zu halten, wie Gastgeber Ulrich Khuon formulierte – darum müsse es jetzt gehen. Keine andere Konferenz der dg hat bisher ein größeres Medienecho gefunden, mit über 400 Theatermacher*innen und über 50 Referent*innen war sie zudem die bisher größte in unse- rer Geschichte. Das zeigt ein überragendes Interesse am Thema, ist aber auch eine Folge unseres Wachstums in den vergangenen Jahren, in denen sich unsere Mitgliederzahl auf über 760 tatsächlich verdoppelt hat. Ermöglicht wurde die Konferenz durch unsere Gastge- ber, das Deutsche Theater und die Heinrich-Böll-Stiftung und die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, denen wir danken. Ohne die großzügige finanzielle Unterstüt- zung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (die zugleich die Schirmherrschaft übernom- men hatte), des Deutschen Bühnenvereins und des Lan- desverbands Berlin des Bühnenvereins wäre eine solche ehrenamtlich konzipierte Konferenz nicht möglich. Auch hierfür herzlichen Dank. Theater machen heißt: Die Welt als veränderbar zu begrei- fen. Strukturen werden von Menschen gemacht, also kann man sie ändern. Es ist ermutigend, dass es z.B. mit dem Ensemblenetzwerk oder – innerhalb der dg – mit der AG Musiktheater mittlerweile eine ganze Reihe von Initiati- ven gibt, die genau das versuchen: politische Schlagkraft zu entwickeln. Am Ende sind die Fragen immer diesel- ben: In welcher Gesellschaft wollen wir leben, welche Geschichten müssen erzählt werden, und welche Formen finden wir dafür? Kathrin Bieligk, Natalie Driemeyer, Uwe Gössel, Christa Hohmann, Christian Holtzhauer, Amelie Mallmann, Harald Wolff und Suzanne Jaeschke 3
inhaltsverzeichnis 1 editorial 43 selbstversuch als straßenzeitungs- verkäufer*in 7 zeit der veränderung Corinna Weber Rolf Bolwin 45 wer über politisches theater 9 welche texte braucht das redet, muss auch theater- politische theater ? politisch reden Lukas Bärfuss Konferenz Konkret 11 politisches handeln jetzt 46 geflüchtete und stadtgesellschaft Ingolfur Blühdorn Kristina Stang und Gudrun Herrbold 19 to protest or not to protest 49 kulturpolitik konkret Nikita Dhawan LAFT 27 alle müssen was tun 50 kuscheln mit der klassendifferenz Arne Vogelgesang Lukas Franke 30 aufgeklärter katastrophismus 54 bibliothekar*in kann auch Ein Gespräch mit Milo Rau interessant sein Tagungsnotizen der dg:starter 32 graphic recording Tiziana Jill Beck und Édith Carron 56 kleistförderpreis 2016 Thomas Köck 33 welt(klima)theater Natalie Driemeyer 57 dg-AGs 35 eine schwierige beziehung 62 die dg »Politisches Musiktheater heute« impressum 38 welcome city 63 dg vorstand Paula Hildebrandt und Thari Jungen 40 was tun Felix Meyer-Christian Unser Dank gilt den Gastgebern und Förderern der Konferenz: 5
zeit der veränderung Grußwort von Rolf Bolwin, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins l iebe Dramaturginnen und Dramaturgen, dies ist mein 25 . Jahr als Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins. Wenn ich mich angesichts dessen einmal schen Fragen, die sich uns aktuell stellen, kommen darin vor. Zugestanden, konkret ist das nicht immer. Manchmal hat es schon etwas von Major Tom. Aber so muss es doch frage, was wir denn seitens des Bühnenvereins in all diesen auch sein. Erst in der Loslösung von der Alltagsarbeit, im Jahren so getrieben haben, lautet die Antwort: Zu sicher theoretischen Diskurs erschließt sich die Chance der Ver- 75 % der Zeit haben wir uns mit der Rettung des Stadt- änderung und Entwicklung. Sicher, dann darf es nicht theaters beschäftigt. Im Programmheft der dg finde ich fehlen an praktischen Konsequenzen. Aber daran fehlt es nun unter dem Motto der diesjährigen Jahrestagung »Was doch auch gar nicht. Was ist dafür ein besseres Beispiel als tun. [immerhin Punkt und nicht Fragezeichen] Politisches die gegenwärtige Flüchtlingsdebatte? Handeln jetzt « den Workshop »Das Stadttheater retten in drei Stunden«. Nun, da hätten wir uns also viel Zeit erspa- Oder die Education-Programme, wie sie schön neudeutsch ren können. Das klingt ein wenig wie »The whole Shake- heißen. Auch hier noch einmal Terkessidis: Er kritisiert die speare in two hours«. Die Dramaturgische Gesellschaft ist zuweilen – eher von der Politik als von den Theatern selbst eben doch fantasievoller als der Bühnenverein oder viel- – geführte Rede, mit kultureller Bildung müssten die Kin- leicht auch nur etwas schneller. Oder etwa nicht ganz so der und Jugendlichen an die Kultur herangeführt werden. gründlich? Das kann man sicher angesichts des mehr als Die Umkehrung der Lernrichtung mache Sinn. Kinder und gründlichen Programms der Tagung eher nicht behaupten. Jugendliche seien oft in alle möglichen Formen von ästhe- Entscheidend finde ich aber, dass wenigstens das Stadtthea- tischer Arbeit und »participatory cultures« verwickelt. Ja, ter gerettet werden soll, was ja ein Standpunkt ist, von dem wer bestreitet das denn? Und was heißt das für ein Stadt- man zuweilen – auch im Theater – den Eindruck bekommen theater? Natürlich bedeutet das, dass sich das Theater öff- könnte, dass er nicht allgemein geteilt wird. nen muss, dass es nicht einfach an Althergebrachtem fest- halten kann. Aber tut es das denn nicht? Das Problem liegt Nun will ich angesichts eines anspruchsvollen Programms doch im Spagat des Übergangs in eine veränderte Welt, zum Thema »Theater und Politik« nicht der Versuchung den wir auszuhalten haben: Hier das angestammte Publi- erliegen, doch wieder nur über die Struktur des Stadtthea- kum und dort die, die mit gerade diesem fremdeln, neu in ters zu sprechen. Vielleicht eher über die Rolle des Stadt- unserem Land und in einer anderen Kultur groß geworden theaters. Denn dazu wird man ja immer wieder so heraus- sind, oder einfach nur jung. Und bleibt es nicht auch richtig gefordert, dass zu fragen ist, wer denn hier eigentlich was und wichtig, dass das Theater sich in eine andere Welt vor- erreichen möchte. Mark Terkessidis etwa in seinem letz- tastet, um mit Literatur und Musik, auch Tanz, zu ergrün- ten Traktat für nachtkritik. Da wird als Motiv derer, die das den und zu erspüren, wohin die Reise dieser Gesellschaft Stadttheater erhalten wollen, benannt, das aussterbende gehen könnte? Vielleicht schaffen wir das auch, ohne alles, Bürgertum wolle unter sich ausmachen, was in der Kunst was Theater bisher ausmachte, einfach über Bord zu wer- von Qualität sei. Wer im Apparat – man höre und staune: fen! Ich empfehle jedenfalls etwas mehr Gelassenheit und im Apparat, wo wir doch über Kunst reden – eine Funk- Selbstbewusstsein. Wir alle, die wir um die Zukunft des tion habe, wolle seine Privilegien keinesfalls aufgeben. Theaters in schwierigen Zeiten ringen, sollten uns nicht von Es werde der Dialog verweigert. Der Betrieb habe bisher allzu weitreichenden Erwartungen ins Bockshorn jagen las- erfolgreich alle Veränderungen abgewehrt. Vom muffigen sen. Schon gar nicht, wenn das alles noch garniert wird mit Konsens ist die Rede, dass die Leute in den Institutionen der These, der öffentlichen Hand, den Städten gehe es so schon wüssten, was gut sei. Und so weiter und so weiter. schlecht, man könne sich die ganze Kultur ohnehin nicht mehr leisten. Ich bin stets erstaunt, mit welcher Selbstver- Da fragt man sich nach all den Debatten und Schlachten der ständlichkeit das viele in der Kultur Arbeitende, auch im der letzten Jahre, Ihren und unseren Schritten zur Erneue- Feuilleton, internalisiert haben, ohne sich ein einziges Mal rung und Veränderung, die doch nicht ohne Erfolg waren: genau anzusehen, was der Hintergrund für diese These ist: Auf welchem Stern lebt der Mann? Man muss sich doch nur Das Sparen auf Teufel komm raus, auch dann, wenn wie das Programm Ihrer Tagung anschauen um zu bemerken, zurzeit die Steuereinnahmen erheblich steigen. Wer so dass sich immer etwas Neues tut im Theater. Alle politi- denkt, schwächt letztlich das organisierte Gemeinwesen, 7
welche texte braucht das politische theater? Statement anlässlich einer Podiumsdiskussion auf der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft Lukas Bärfuss man könnte auch sagen, den Staat. Über die Motive und die Frage, in wessen Interesse das ist, darf diskutiert werden, vielleicht auch in einer der vielen interessanten Veranstal- tungen Ihrer Tagung. Sie sehen, es ist gut, dass wir wieder g uten Abend. Herzlichen Dank für diese Einladung. Man hat mich gebeten, ein Statement vorzutragen, ein State- ment zum Titel dieser Veranstaltung. »Was schreiben? Welche Texte braucht das politische Theater? Welches ter braucht, um einen gewisses Ziel zu erreichen, werden wir es ihm nicht geben.« Das ist nicht das Wesen dieser Frage. Nein, es wird vorausgesetzt, dass, wenn wir definiert haben, was das Theater, über Politik reden. Theater braucht der politische Text?« Ich möchte mein der Text braucht, wir dazu übergehen können, die- Unbehagen ausdrücken. Es betrifft nicht den Begriff des ses Bedürfnis zu befriedigen. 60 Jahre Dramaturgische Gesellschaft. Für den vor 170 Jah- Politischen, es betrifft nicht den Begriff des Theaters, ich ren gegründeten Bühnenverein bleiben Sie immer der jün- störe mich an dem Verb in diesem Satz, dem Verb »brau- Daraus folgt: In der vorliegenden Frage steckt die Lukas Bärfuss arbeitet gere Bruder oder besser die jüngere Schwester, die er zuwei- chen«. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen kurz die unausgesprochene Annahme, es gebe für den als Schriftsteller in Zürich. Er len auch ein wenig neidisch beäugt. Denn sie kann sich Gründe dafür erläutern. Text, für das Theater, ein wünschbares Resultat, schreibt Romane (Hundert immer ein wenig befreit vom Alltag des Theaters einfach das zu erreichen ist und an dem wir über Erfolg Tage, 2008 und Koala, diese grundsätzlichen Debatten leisten, und das ist auch »Brauchen« hat im Deutschen mindestens vier verschie- oder Misserfolg urteilen können. Dieses Anti- ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2014) gut so. Sie, die Dramaturgische Gesellschaft, ist also für dene Bedeutungen, aber einen logischen Sinn ergibt zipieren eines Resultates ist ein Merkmal eines und Theaterstücke (Die das Theater unverzichtbar. Und in diesem Sinne begleiten »brauchen« in der vorliegenden Frage nur in zwei Fäl- politischen Prozesses. Wir definieren den er- sexuellen Neurosen Sie von Herzen meine besten Geburtstagswünsche. len: Einerseits im Sinne von »verwenden«, anderer- wünschten Zustand, um danach zu klären, was unserer Eltern, Die Probe, seits im Sinn von »nötig haben«. Ist mit der Frage ge- es zu seiner Erreichung braucht. Das Weltklima Öl), die weltweit gespielt Berlin, im Januar 2016 meint: Welche Texte verwendet das politische Theater? soll in den nächsten dreißig Jahren bloß um so werden. Welches Theater verwendet der politische Text? Diese und so viel Grad Celsius steigen, deshalb braucht Frage wäre deskriptiv zu beantworten, und ich glaube es Maßnahmen, um den C02-Ausstoß zu reduzieren. So- nicht, dass hier heute Abend eine reine Phänomenolo- wohl die Ziele wie die Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, gie des politischen Theaters gefragt ist. Wir können also sind Teil der politischen Verhandlung. Das zielorientier- davon ausgehen, dass hier »brauchen« in der Bedeutung te Denken ist für die Politik entscheidend. Nur auf diese von »nötig haben« gemeint ist. Also: Welche Texte hat Weise kann eine Gesellschaft ihr Handeln ausrichten, das politische Theater nötig? Welches Theater hat der erst nachdem sie sich auf ein Ziel geeinigt hat. Man wird politische Text nötig? Es ist offensichtlich, dass diese jeden der unternommenen Schritte so auf seine Tauglich- Frage unvollständig ist. Sie bedarf, um sie beantwor- keit prüfen. Bringt er mich dem formulierten Ziel näher ten zu können, einer Klärung des »Wozu«. Welche Texte oder entfernt er mich davon? Ist die Handlung im Lichte braucht das politische Theater, um welches Ziel zu errei- des gesetzten Zieles opportun? Erreiche ich damit, was chen? Um möglichst viel Publikum anzusprechen? Um ich erreichen wollte? Ich anerkenne, dass sich Menschen eine Wirkung auf die politischen Prozesse zu nehmen? ihre Zukunft vorstellen wollen, wissen wollen, was mit Um in der Gesellschaft breit diskutiert zu werden? Um ihnen geschehen wird, und sie möchten diese Zukunft ganz allgemein die Diskussion anzuregen? Ich will nicht in ihrem Sinne und mit ihren Mitteln gestalten. Dazu darauf eingehen, was hier gemeint sein könnte, sondern braucht es Foren, dazu braucht es Orte, es braucht eine allgemeiner feststellen: In diesem Verb »brauchen«, im Öffentlichkeit. Eine solche zweck-, ziel- und handlungs- Sinne von »nötig haben«, steckt die implizite Annahme, orientierte Haltung ist aber in der Kunst, und ganz be- es gebe ein Bedürfnis, etwas, was gebraucht wird, was sonders im Theater, absurd, sinnlos. Nie habe ich in den das Theater, der Text, nötig hat. zwanzig Jahren, in denen ich Theater mache, jemanden am Premierenabend sagen gehört: »Herzlichen Glück- Dieses Bedürfnis wird in der Frage nicht formuliert, wohl wunsch, wir haben das Ziel, das wir uns gesteckt haben, deshalb nicht, weil es dieses Bedürfnis als solches nicht erreicht.« Oder: »Dieser Theaterabend ist genau das, was gibt, nicht als einzelnes. Es zerfällt in viele verschiede- wir erreichen wollten!« Oder, für unseren vorliegenden ne, einzelne, mannigfaltige Bedürfnisse. Gleichzeitig Fall formuliert: »Wir haben diesem politischen Text gege- impliziert dieses »brauchen«, »nötig haben«, den Willen, ben, was er brauchte!« Die Begeisterung nach einer erfolg- den Ehrgeiz, dieses Bedürfnis, wenn es denn definiert ist, reichen Premiere drückt sich auf andere Weise aus: auch zu befriedigen. Andernfalls wäre die Frage sinnlos Man sagt: »Das war wunderbar!« Oder: »Was war oder zynisch: »Wenn wir wissen, was das politische Thea- das denn?« Oder: »Das habe ich überhaupt nicht erwar- 8 9
politisches handeln jetzt Politisches Handeln im Zeichen der Post-Politik 1 Ingolfur Blühdorn tet.« Von einem Theaterabend werden wir gerade dann berührt, inspiriert, bewegt, wenn wir sehen, dass nicht einfach ein Ehrgeiz befriedigt wurde. Und aus unserer Arbeit wissen wir alle: Mit viel Arbeit und Anstrengung leicht können wir also unsere Erfahrungen teilen, auch hier, uns darüber unterhalten, wie wir die Offenheit be- wahren, ohne uns zu fragen, was das Theater »brauchen« und was sein Ziel und sein Zweck sein könnte. i m Theater eröffnen sich zuweilen Denk- und Kommuni- kationsräume, die über die Möglichkeiten der universi- tären Sozialwissenschaften und der Politik hinausgehen. Ganz im Gegensatz zum Wissenschafts- und Politikbe- lungen zum Handeln so unerschöpflich, die prak- tischen Erfolge aber so marginal sind, habe ich mich darauf verlegt, die Bedingungen, Möglich- keiten und Grenzen politischen Handelns – und kann man vielleicht einen ordentlichen Theaterabend trieb gibt es nämlich im Theater derzeit ein auffällig zwar insbesondere hinsichtlich seiner normati- stemmen, erzwingen. Einzigartige Momente aber ge- Haben Sie vielen Dank! großes Bedürfnis nach Politisierung und »gesellschafts- ven Grundlagen – zu erkunden. schehen, sie passieren. Sie passieren dann, wenn die be- kritischen« Fragestellungen. Das zeigt auch das Pro- Wenn es um politisches Handeln im Zeichen teiligten Künstler aufhören, kontrollieren zu wollen. gramm der Jubiläumskonferenz der Dramaturgischen der Post-Politik gehen soll, dann ist die nähere Ingolfur Blühdorn ist Gesellschaft. Der Titel der Tagung formuliert zunächst Beschäftigung mit diesem Phänomen Post-Politik Professor für Soziale Auch als Autor geht es mir so. Was mir von meiner Arbeit eine Frage: »Was tun?«, die zugleich auch die Antwort ist: ein zentraler Punkt. Diesem Phänomen werde Nachhaltigkeit an der am Theater geblieben ist, sind jene Erfahrungen, die ich »Was tun!« Der zweite Teil des Titels benennt, worüber ich mich gleich zuwenden, nicht zuletzt, weil ich Wirtschaftsuniversität Wien und leitet dort das Institut nicht gebraucht habe, die ich nicht gesucht habe, die mir das Theater, diese Konferenz, nachdenken soll und will: glaube, dass der Begriff oftmals sehr unbedacht für Gesellschaftswandel und zufielen jenseits meines Ehrgeizes. Ich wollte eine Ge- »Politisches Handeln Jetzt«, und verlangt gleichzeitig, verwendet wird. Zuvor will ich aber noch kurz Nachhaltigkeit (IGN). schichte über die Zwangsmaßnahmen in der Schweizeri- jede weitere Verzögerung zugunsten sofortiger Aktion beim politischen Handeln jetzt bleiben, um die Be- schen Psychiatrie schreiben, und was dabei heraus kam, zu vermeiden: »Politisches Handeln Jetzt!«. Das Theater, sonderheit unserer gegenwärtigen Situation her- 1 Der Text ist eine durch- ist eine Liebesgeschichte, eine Geschichte der Passionen, die Kunst, die Künstler, so heißt es im Programmheft, auszuarbeiten, die man als einen doppelten Hand- gesehene Fassung des Eröffnungsvortrages der des Begehrens, eine Geschichte über die Frage, welchen wollen »konkret interventionistisch« sein; diese gesamte lungsnotstand bezeichnen kann.3 Jubiläumskonferenz der Körper wir als schön empfinden. Hier, in diesem Theater, Veranstaltung soll »handlungsorientiert« sein und »zu Dramaturgischen Gesell- wollte ich eine Geschichte über die Folgen der Rohstoff- eigenem Tun anregen«. Der doppelte Handlungsnotstand schaft, gehalten am sucht der westlichen Gesellschaft schreiben, und alles, Diese Entschlossenheit zu handeln ist angesichts der Angesichts der Klimakrise, der Flüchtlingskrise, 29. Januar 2016 im was ich zustande brachte, war eine Gespenstergeschich- vielfältigen Krisen und Notstände sicher löblich. Zwei- der Überschuldung öffentlicher Haushalte, der sich Deutschen Theater Berlin. 2 Luhmann, Niklas te, eine Geschichte über die Einsamkeit, über Menschen, fellos, wir müssen »was tun«! Gleichzeitig scheint mir immer weiter verschärfenden sozialen Ungleich- (1970): Soziologische die ganz auf sich selbst gestellt sind und auf sich zurück- dieser Handlungsdrang aber bedenklich, denn gerade heit, der Krise des Kapitalismus, der Hilflosigkeit Aufklärung. Wiesbaden: fallen. Ich habe das, was ich zu brauchen meinte, eigent- in einer Situation, in der wir die normative Ordnung, die der Politik, des um sich greifenden Rechtspopu- Verlag für Sozialwissen- lich nie erhalten. Die Schauspieler haben meinen Text uns in Europa und weit darüber hinaus lange Halt und lismus, des schleichenden Zusammenbruchs des schaften. anders gelesen, die Regie hat andere Bilder gefunden, Orientierung gegeben hat, vor unseren Augen zerfallen europäischen Projektes, neuer religiöser und sä- 3 Blühdorn, Ingolfur (2015): »A Much-needed das Publikum hat anders reagiert. In dieser Differenz sehen, während neue Populismen, Nationalismen und kularer Fundamentalismen, der Anfeindungen der Renewal of Environmen- zwischen meinem Anspruch und meiner Wirkung erfuhr religiöse Fundamentalismen allerorten die seltsamsten Demokratie, der terroristischen Bedrohung unse- talism? Eco-politics in the ich die Kunst. In dieser Differenz wurde eine Erfahrung Blüten treiben, ist möglicherweise Nicht-Handeln sogar rer Freiheit, unserer Werte entfaltet sich in der Tat Anthropocene«, in: Hamil- möglich, für mich, für das Theater, hoffentlich auch für noch dringender als Handeln. Nicht-Handeln darf dann ein enormer Handlungsdruck. Wann immer es uns ton, Clive; Gemenne, Fran- das Publikum. In dieser Möglichkeit, gemeinsam mit natürlich nicht bedeuten, überhaupt gar nichts zu tun, gelingt – oder passiert –, dass wir für einen Moment çois; Bonneuil, Christophe (Eds.): The Anthropocene anderen eine Erfahrung zu machen, sie zu teilen, darin sondern sich zunächst gründlich mit den Möglichkeiten, aus unseren hochentwickelten Zerstreuungs-, Ab- and the Global Environ- liegt das utopische Potenzial des Theaters. Und darin Bedingungen und Grenzen politischen Handelns ausein- lenkungs- und Betäubungspraktiken ausbrechen, mental Crisis: Rethinking liegt das Widerständige des Theaters. Die Gesellschaft, anderzusetzen. Das Projekt bleibt also Kritik, aber nicht wird unerbittlich klar: Die wirtschaftliche, soziale, Modernity in a New Epoch. in der wir leben, definiert von den meisten Dingen den im aktivistisch-normativen, sondern im Kantschen Sin- politische und normative Ordnung, an der wir uns London: Routledge, 156-167. Zweck und das Ziel, gerade auch von Menschen. Man ne; Aufklärung, aber nicht im idealistischen, sondern im mit aller Kraft festzuhalten versuchen, ist nicht zu kann davon halten, was man will, aber die Folge davon Luhmannschen Sinne.2 halten. Sie ist nicht nur, was längst praktisch überall Kon- ist eine Erfahrungsarmut. Erfahrung braucht Offenheit. So jedenfalls verstehe ich meine eigene Arbeit als sens ist, wirtschaftlich, ökologisch und sozial nicht nachhal- Wer eine Erfahrung machen will, muss akzeptieren, dass Sozialwissenschaftler, der sich vor allem mit politischer tig, sondern sie ist nicht zu halten. er nicht weiß, was geschehen wird. Partizipation und Demokratie einerseits und Umwelt- Vor diesem Hintergrund erscheint politisches Handeln und Nachhaltigkeitspolitik andererseits befasst, zwei jetzt als ein kategorischer Imperativ. Entsprechende An- Und das kann gefährlich werden. Sehr wahrscheinlich Themenbereichen also, in denen es an aktivistischen weisungen gibt es, wie gesagt, in unbegrenztem Aus- wird das Ziel so nicht erreicht, der Zweck nicht erfüllt. Mobilisierungsrufen und praktischen Handlungsanwei- maß – von Politikberater*innen, Wissenschaftler*innen, Nur wenn Künstler und Texte sich eine Offenheit erhal- sungen wahrlich nicht fehlt, sehr wohl aber an nennens- Technologie expert*innen, Bewegungsaktivist*innen etc. ten, nicht nach ihrem Zweck oder Ziel fragen, bleiben sie werten gesellschaftlichen Veränderungen. Und gerade Und selbst wenn es (noch) keinen klaren Plan gibt, so gefährlich und ermöglichen eine Erfahrung. Und viel- weil in diesen beiden Bereichen die Aufrufe und Empfeh- schafft Handeln doch immerhin Zuversicht. Es signali- 10 11
siert das Vorhandensein von Optionen sowie die Fähig- haben.5 Angesichts dieses planetarischen Notstands ist Gegenstück zur herrschenden Logik der Verdinglichung, hin das oberste Gebot sein soll, sich niemals von einer keit und den Willen zu entscheiden, zu gestalten. Und Handeln wohl noch dringender geboten als je zuvor! Das Objektivierung, Kommodifizierung, Ungleichheit, Un- Ordnung vereinnahmen zu lassen, die in sozialer und es schafft gegenüber denen, die Zeit verlieren, indem Anthropozän ist die »Menschenzeit«.6 Menschen haben terdrückung und Ausbeutung zum Erscheinen zu brin- ökologischer Hinsicht gleichermaßen zerstörerisch ist. sie entweder gar nichts tun oder »nur« reflektieren, das die Aufgabe des planetarischen Managements übernom- gen: die alternative, sozial und ökologisch befreite und Zumindest wird es jetzt mehr denn je zum Zwang, poli- Gefühl moralischer Überlegenheit: Wer irgendwas tut, men. Allerdings gibt es im Anthropozän – das ist sein versöhnte Gesellschaft. Politisch war der Name für die- tischem Handeln die Reflexion über seine gesellschaft- jetzt, muss sich nicht vorwerfen (lassen), der stetigen zweites wichtiges unterscheidendes Merkmal – für poli- ses Gegenstück »wahre Demokratie«, die Herrschaft des lichen Rahmenbedingungen vorauszuschalten, die im Verschärfung der vielfältigen Krisen tatenlos zuzuse- tisches Handeln endgültig keinen verlässlichen norma- dann nicht mehr nur seinem Anspruch nach autonomen rasenden Zerstreuungs-, Ablenkungs- und Betäubungs- hen. tiven Bezugspunkt mehr, nicht einmal mehr einen öko- Subjekts. Demokratisierung war das emanzipatorisch-po- betrieb systematisch ausgeblendet wird. Das bringt mich In den frühen 1990er Jahren, als die Welt zwar längst logischen, weil nämlich der modernistische Dualismus litische Projekt. Die politische Führerschaft für dieses nun zum Phänomen der Post-Politik. postmodern, die Krisenlage aber noch weniger viel- von Natur und Gesellschaft, Natur und Kultur, Subjekti- Projekt übernahm mit den neuen sozialen Bewegungen schichtig war, schrieb Ulrich Beck, mit der ökologischen vität und Objektivität obsolet geworden ist. der 1970er Jahre die so genannte Zivilgesellschaft. Sie Post-Politik Krise hätten sich moderne Gesellschaften »einen neuen Was immer wir bisher als kategorischen Imperativ wurde zur Speerspitze der egalitären, redistributiven Dieser Begriff bezeichnet für die Mehrheit seiner inhaltlichen Sinnhorizont« geschaffen. 4 Die ökologische betrachtet haben, zuletzt eben die kategorischen Impe- und ökologischen Demokratisierung. Benutzer*innen einen Zustand, in dem die wesentli- Frage sei für die »postmoderne, abgeschlaffte, rative der Ökologiekrise oder des Klimawandels, verliert Doch erstens hat sich das (Selbst-)Verständnis von chen Parameter, die das gesellschaftliche Leben 4 Beck, Ulrich (1993): Die gesättigte, sinnleere, fatalistische Gänseleber- im Anthropozän den Status der normativen Verbind- Zivilgesellschaft seither erheblich verändert und paral- bestimmen, nicht mehr politisch ausgehandelt 9 Swyngedouw, Erfindung des Politi- schen. Frankfurt am Main: Kultur« eine Art »Himmelsgeschenk«, weil sie lichkeit. Ulrich Becks »Himmelsgeschenk« wird jetzt lel dazu das Verhältnis der Zivilgesellschaft zur Demo- werden, sondern als unverhandelbare Systemim- Erik; Wilson, Japhy Suhrkamp. nämlich jenseits von Religion und transzenden- plötzlich wertlos; seine zweite oder reflexive Moderne kratie. Erinnert sei hier nur an die rechtspopulistischen perative und Alternativlosigkeiten dargestellt (Eds.) (2014): The Post-Political and Its 5 Crutzen, Paul J. (2006): taler Vernunft »neue Fraglosigkeiten – Rigidi- wird von einer neuen, einer »dritten« Moderne abgelöst. 7 Bewegungen. Zweitens hat sich auch das Verhältnis der werden. 9 Hier wird nicht nur das demokratische Discontents: Spaces of The »anthropocene«. täten« schaffe, die der zermürbenden postmo- Das genau ist die besondere Situation, mit der – und in Zivilgesellschaft zur bestehenden gesellschaftlichen Grundprinzip der Freiheit, Selbstbestimmung Depoliticization, Spec- Berlin, Heidelberg: Springer. dernen »Dauer- und Selbstbefragung endlich der – wir uns arrangieren müssen. Was bedeutet das für Ordnung verändert: Der aktivierende Staat sieht in der und Volkssouveränität ausgesetzt, sondern noch tres of Radical Politics. 6 Schwägerl, Christian (2010): Menschenzeit: ein Ende bereiten«. Jetzt könne nicht nur wieder politisches Handeln? Wie soll – und kann – politisches Zivilgesellschaft kaum mehr eine Bedrohung, sondern grundlegender der Gestaltungsanspruch der Po- Edinburgh: Edinburgh Zerstören oder gestalten? gehandelt werden, sondern es müsse »gehandelt Handeln aussehen, wenn sich in dieser dritten Moderne vielmehr eine unverzichtbare Ressource. Und drittens litik überhaupt deutlich reduziert. Die Bedeutung University Press. Die entscheidende werden, und zwar sofort, überall, von allen, unter der ökologisch-soziale Notstand des Planeten und der hat sich sowohl das Verständnis von Demokratie selbst der Politik schnurrt hier nämlich zusammen Epoche unseres Planeten. allen Umständen«. Die ökologische Krise, sagte normative Notstand des Post-Ökologismus 8 zu einem als auch das Verhältnis zwischen der Demokratie und auf das möglichst effektive Management des vermeint- München: Riemann Verlag. Beck, ließe die Option der »Ökologiedienstver- doppelten Handlungsnotstand addieren? der bestehenden Ordnung verändert: Der Neoliberalis- lich oder tatsächlich Unabänderlichen. Zur Erklärung 7 Zu den drei Phasen der Moderne vgl. Kapitel 1 weigerung« einfach nicht mehr zu. Sie katapul- mus hat die Demokratie längst für seine anti-egalitäre dieses Zustands wird zumeist auf die Globalisierung in: Blühdorn, Ingolfur tiere die Gesellschaft in eine neue, eine zweite, Orientierungssuche Agenda vereinnahmt, und illiberale Verständnisse von verwiesen, in deren Vollzug sich die gesellschaftlichen (2013): Simulative Demo- eine reflexive Moderne. In guter kritischer Tradition halten wir einstweilen an Demokratie breiten sich aus. Funktionssysteme, allen voran das ökonomische, weit kratie: neue Politik nach Unter den heutigen Bedingungen der multi- den normativen Ansprüchen und Erwartungen fest, die Vor diesem Hintergrund haben sich die Rolle, die über nationalstaatliche Grenzen hinaus ausgedehnt und der postdemokratischen plen Krise scheint das noch viel mehr zu gelten bis in die zweite, reflexive Moderne hinein Gültigkeit be- Qualität, die Realität von politischem Handeln grund- sich damit jeder wirksamen politischen Kontrolle entzo- Wende. Berlin: Suhrkamp 8 Blühdorn, Ingolfur als vor 25 oder 30 Jahren. Denn was Ulrich Beck anspruchten: Politisches Handeln sollte emanzipatorisch legend gewandelt: Politisches Handeln ist zahnlos, gen haben. Ganz wesentlich wird die Post-Politik aber (2000): Post-ecologist seinerzeit als »Risikogesellschaft« beschrieb, die sein, auf das gerichtet, was in der bestehenden Ordnung gleichgeschaltet, neutralisiert. Tatsächlich stellt sich auch als das Ergebnis strategischer »Entpolitisierung« Politics. London; man mit den Mitteln einer »reflexiven Moderni- noch nicht verwirklicht oder noch ausgeschlossen ist. die Frage, ob es überhaupt noch Formen von politischem erklärt, die von anti-demokratischen Eliten betrieben New York: Routlegde. sierung« bändigen könne, um in einer »zweiten Es müsse darauf zielen, die Subjektivitäten und Identi- Handeln gibt, die die bestehende Ordnung wirklich he- werde, um anti-egalitäre und exklusive Interessen gegen Moderne« dann endlich all die emanzipatori- täten, individuell und kollektiv, zur Geltung zu bringen, rausfordern und über sie hinaus weisen. Selbst die ver- emanzipatorische Forderungen nach demokratischer schen Versprechen umzusetzen, die die bisherige »ers- denen bisher ihre Freiheit und Selbstbestimmung noch meintlich radikalste Herausforderung dieser Ordnung, Rechtfertigung abzuschirmen. Dieses Verständnis von te« oder »lineare« Moderne noch nicht einlösen konnte, verwehrt waren. In der post-marxistischen und post-fa- der Terrorismus, ist offensichtlicher denn je eine Art Post-Politik ist keineswegs falsch. Und in dem Maße, wie hat sich inzwischen in die noch sehr viel schwierigere schistischen Tradition galt zweitens der Grundsatz, dass Rettungsring – böswillig könnte man sagen: »ein Him- diese Analyse zutrifft, ist dann auch klar, worauf politi- Konstellation des Anthropozäns weiter entwickelt. Im politisches Handeln die etablierte Ordnung, die beste- melsgeschenk«, das diese Ordnung umso dringender sches Handeln zielen muss: auf die Machtstrukturen, die Anthropozän – das wird als das unterscheidende Merk- henden Herrschaftsstrukturen, kontinuierlich kritisch braucht, je mehr ihre wirtschaftlichen, sozialen, öko- diese Entpolitisierung ermöglichen, und auf die Repo- mal dieser neuen erdgeschichtlichen Epoche jenseits des herausfordern müsse, dass politisches Handeln sich nie- logischen und politischen Schieflagen die Revision de- litisierung der vermeintlich nicht mehr verhandelbaren Holozäns beschrieben – ist die menschliche Aktivität zu mals von der bestehenden Ordnung vereinnahmen und mokratischer Errungenschaften erforderlich machen, Inhalte. Aber diese Analyse erfasst bestenfalls die halbe einem bestimmenden Faktor der Entwicklung unseres instrumentalisieren lassen dürfe. Insbesondere müsse die aber ihrerseits doch ein Quantum demokratischer Wahrheit. Planeten geworden, und zwar dergestalt, dass sich die es sich mit allen Mitteln seiner kapitalistischen Inwert- Legitimierung benötigt. So wird es gerade angesichts Ein komplexeres Verständnis von Post-Politik und Probleme der Risikogesellschaft inzwischen zu einem setzung versperren und stattdessen – ebenso wie die au- der Notstandsrhetorik zum Zwang, vom schnellen »Was der postpolitischen Konstellation ergibt sich, wenn wir ihre umfassenden »planetarischen Notstand« ausgewachsen thentische Kunst – stets darauf gerichtet sein, gerade das tun« Abstand zu nehmen – zumindest, wenn es weiter- zweite wesentliche Ursache, die Entpolitisierung, ins 12 13
Verhältnis zu ihrem Gegenstück, zur Politisierung, set- Werten, der Hybridisierung und Dynamisierung von selbst unveränderlichen Norm, sondern auch die schritt- der Vernunft inhärenten Prinzipien der Freiheit, Gleich- zen. Politisierung war und ist das Instrument, mit dem Identitäten und der entsprechend zunehmenden Gefahr weise Weiterentwicklung dieser Norm selbst. Unter ande- heit und Brüderlichkeit. In jedem Falle aber wäre all dies emanzipatorische Bewegungen etablierte normative und der demokratischen Selbstlähmung verspricht Entpoliti- rem hat die individuelle Dimension des autonomen Subjekts eine emanzipatorische Verlängerung des Kantischen Auszugs institutionelle Ordnungen aufzubrechen versuchen, um sierung, dass sich zumindest ein gewisses Maß an politi- gegenüber der kollektiven erheblich an Bedeutung gewon- aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Es wäre der Freiräume für Werte, Identitäten und Lebensformen zu scher Handlungsfähigkeit, Legitimität und Autorität si- nen. Zweitens wird die Autonomie des Subjekts heute im- Auszug aus Becks zweiter Moderne, die ja ein neuerlicher schaffen, die sich bisher nicht entfalten konnten. Politi- chern oder zurückgewinnen lasse. Und das scheint umso mer weniger als Unterschiedenheit und Unabhängigkeit Anlauf sein sollte, die Versprechen der Aufklärung ein- sierung macht Anspruch auf Entscheid- und Gestaltbar- dringlicher, je mehr sich die latenten Krisen zu akuten von Markt und Konsum verstanden, und immer mehr als zulösen – genau die Versprechen, deren Implikationen keit. Sie stellt die etablierte Ordnung in Frage, aber stets Notständen zuspitzen. Freiheit und Selbstbestimmtheit in Markt und Konsum. nunmehr vor allem als Zumutungen wahrgenommen und innerhalb eines Rahmens, der selbst nicht zur Diskus- Entpolitisierung ist mithin, zumindest auch, eine Drittens hat das solchermaßen individualisierte und in als Ballast abgeworfen werden. Kaum auszudenken, was sion steht, sondern die legitimierende und Autorität ver- Strategie, um das emanzipatorische Projekt zu sichern, den Markt integrierte Subjekt gewissermaßen seinen das für politisches Handeln bedeuten würde, das ja stets schaffende Norm angibt, an deren Maßstab politisiert, wenn es in Gefahr ist, seine eigenen normativen Grund- Aggregatzustand verändert. Im Zuge der fortlaufenden emanzipatorisch sein soll und ausgerichtet auf das Ideal d.h. in Frage gestellt wird. lagen zu zersetzen. Sie soll im Interesse der selbstbe- Modernisierung wurde nämlich das Ideal der verfestigten der wahren Demokratie. Für die neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er stimmten Bürger*innen, im Interesse der politischen und gefestigten Identität abgelöst oder zumindest ergänzt Jahren – aber letztlich für alle emanzipatorischen Be- Gestaltung, »die Sache«, das wahre Gemeinwohl, in den durch das Ideal des vielschichtigen, flexiblen, flüchtigen, Peak Democracy wegungen seit der Französischen Revolution überhaupt Mittelpunkt rücken, die für die richtige Entscheidung er- also eben gerade nicht mit sich identischen Ichs. Der Ar- Tatsächlich führt die Emanzipation zweiter Ordnung mo- – war diese ihrerseits nicht zur Diskussion stehende forderliche Fachkompetenz garantieren, und Reibungs- beitsmarkt, der berufliche Erfolg, das Management des derne Gesellschaften an einen Wendepunkt, an dem der Bezugsgröße die aufklärerische Norm des autonomen verluste wie die auszehrende Wirkung reiner Machtstrei- privaten Lebens erfordern Flexibilität, Vielseitigkeit, In- Grenznutzen von mehr Demokratie in dem Sinne, wie die Subjekts: die unantastbare Würde des Menschen, die als tigkeiten minimieren. Die postpolitische Konstellation ist novationsbereitschaft und Außenorientierung. Die noch neuen sozialen Bewegungen sie noch verstanden hatten, universell vorgestellten Menschenrechte, oder auch ka- entsprechend also keineswegs bloß das Machwerk einer von den sozialen Bewegungen emph-atisch eingeforderte minimal oder sogar negativ wird: Ich bezeichne diesen tegorische ökologische Imperative, die der Norm des au- anti-demokratischen, ihre eigenen Privilegien sichernden Idealvorstellung des Subjekts ist damit all ihren Implika- Punkt als peak democracy. Mehr Demokratie wird zur Be- tonomen Subjekts einbeschrieben seien. Elite, sondern – zumindest auch – selbst die Verlängerung tionen von Konsequenz, Selbstdisziplin, Prinzipientreue, lastung, zum Beispiel weil unter Bedingungen der Be- Wenn nun aber dieser vorpolitische normative Be- der emanzipatorischen Agenda. So schwierig es auch sein Innerlichkeit und Gemeinwohlorientierung zur Belastung schleunigung und Komplexität die Ressourcen der Men- zugspunkt nicht unpolitisch bleibt, sondern selbst zum mag: Politisches Handeln muss das reflektieren! Wie bri- geworden. schen vom Management des persönlichen Lebens meist 10 Mair, Peter (2006): Gegenstand der Politisierung wird, dann entfal- sant diese Sachlage tatsächlich ist, wird noch klarer, wenn So hat sich also das gesellschaftliche Verständnis von bereits so vollständig ausgeschöpft werden, dass für öf- Ruling the void: The hol- tet sich schnell ein Wirbelsturm der Unsicher- wir sie noch einmal aus der Perspektive der emanzipatori- Autonomie, Subjektivität und Identität, das der normati- fentliche Angelegenheiten schlicht keine Kapazi- 12 Blühdorn, Ingolfur lowing of Western heit. Die entfesselte Politisierung führt dann in schen Zentralkategorie, der Norm des autonomen Subjekts, ve Referenzpunkt des emanzipatorisch-demokratischen täten mehr frei sind. Zweitens scheinen sich viele (2013): »Die postdemokrati- democracy. New Left den Worten des bereits zitierten Ulrich Beck in durchdenken. Projektes ist und im normativen Zentrum politischen der drängendsten Probleme – und Bedingungen sche Wende«, in: Simulative Review, 42, 25-51. »Unlebbarkeiten der Individualisierung« und Handelns stehen soll, im Zuge der fortschreitenden Mo- des erfüllten Lebens – auf nicht-demokratische Demokratie: neue Politik 11 Crozier, Michel; Huntington, Samuel P.; in die »Unlebbarkeit der Moderne« überhaupt. Emanzipation zweiter Ordnung dernisierung grundlegend verändert. Sowohl die post- Weise deutlich besser, bzw. auf demokratische nach der postdemokra- tischen Wende. Berlin: Watanuki, Joji (1975): Und hier liegt der Zusammenhang zwischen der Diese protestantisch-aufklärerische Norm ist, wie ge- marxistische als auch die bürgerliche Tradition diagnosti- Weise überhaupt nicht mehr, lösen zu lassen: Suhrkamp Verlag, 114-166. The Crisis of Democracy: emanzipatorischen Politisierung auf der einen sagt, der Dreh- und Angelpunkt des emanzipatorischen zieren hier vor allem Entfremdung und Verfall. Angesichts die Wirtschaft ankurbeln, die Umwelt schonen, Report on the Governa- Seite und der Post-Politik und dem sich ausbrei- Projekts. Besonders nachdrücklich ist diese Norm des der sich neu eröffnenden Freiheiten und Möglichkeiten bezahlbare Konsumgüter bereitstellen, Terror bility of Democracies to tenden anti-political sentiment 10 auf der anderen: halb individualistisch, halb kollektiv, auf jeden Fall aber muss man aber wohl eher von Emanzipation aus zu eng ge- abwehren usf. Drittens, und vielleicht am allerwichtigs- the Trilateral Comission. Triangle Papers Vol. 8. Die Politisierung und Ausdifferenzierung ge- als autonom gedachten Subjekts zuletzt von den neuen wordenen Zwängen sprechen. Ich nenne das Emanzipation ten: Wenn die Grenzen des Wachstums überdeutlich her- New York: New York lebter Ideale von Subjektivität, Identität, Selbst- sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er artikuliert zweiter Ordnung12. In ihrem Vollzug wird die inzwischen he- vortreten und schon der bloße Statuserhalt, geschweige University Press. bestimmung und Selbstverwirklichung gehörte worden, die dieser Norm auch zu der breiten gesell- gemonial gewordene Norm des freien und selbstbestimm- denn weitere Wohlstandsgewinne, nur noch durch Wohl- nämlich zum Kernprogramm der emanzipatori- schaftlichen Verankerung verholfen haben, die sie heu- ten Individuums so neu interpretiert, dass eine Befreiung standsverminderung an anderer Stelle erreicht werden schen Bewegungen. Und diese Politisierung und Subjek- te hat. Ulrich Beck hat insofern ganz zu Recht von einer von restringierenden Elementen früherer Subjektivitäts-, können, werden die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit tivierung aller Referenznormen führte nicht nur, wie von »Renaissance der politischen Subjektivität« in den 1980er Identitäts- und Autonomieverständnisse vollzogen wird. und Brüderlichkeit nicht nur für die Eliten zur Belastung, konservativer Seite11 bereits in den 1970er Jahren gearg- Jahren gesprochen. Wenn wir Immanuel Kants berühmten Auszug der Bür- sondern überall dort, wo es Erreichtes zu verteidigen gilt wöhnt wurde, unvermeidlich zu government overload und Nun blieb aber dieses Ideal des autonomen Sub- ger aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit als die Emanzi- und sozialer Abstieg droht. Die derzeitige Flüchtlingskri- ungovernability, sondern sie schlägt – und zwar in eman- jekts, dieses normative Herzstück sowohl der Moderne pation erster Ordnung bezeichnen wollen, dann könnte se zeigt das in aller Deutlichkeit. Tatsächlich beobachten zipatorischer Absicht – in Entpolitisierungsbestrebungen als auch des emanzipatorisch-demokratischen Projekts, diese Emanzipation zweiter Ordnung als der Auszug der wir statt des Kantischen und noch von Beck in Aussicht um. Denn angesichts der stetig wachsenden Komple- vom Prozess der fortschreitenden Modernisierung nicht Bürger aus der Kantischen Norm des autonomen Subjekts ver- gestellten Kosmopolitanismus heute allenthalben den xität von Problem- und Interessenkonstellationen, der selbst unberührt. Modernisierung bedeutete nicht ein- standen werden, d.h. als der Auszug aus den kategori- Versuch, durch Grenzziehung, Abspaltung und Allein- fortschreitenden Pluralisierung von gesellschaftlichen fach nur die schrittweise Durchsetzung dieser für sich schen Imperativen der Vernunft und der Abschied von den gänge wenigstens ein gewisses Maß an Sicherheit und 14 15
Schutz im Wirbelwind des entfesselten Liberalismus will!« oder »Hier kann jeder meine Meinung sagen!« brin- eine Vielfalt gesellschaftlicher Akteure bereitwillig und rung und Exklusion. Es ist obszön – und alternativlos? und Kapitalismus zu erreichen. Diese Sicherheit liegt gen diese Transformation auf den Punkt. Hier sprechen engagiert beteiligt; konkreter: die Allianz all derer, die Stunden später berichten die Medien vom Mut und der freilich nur noch darin, dass man sich von der Verkleine- Demokraten, die sich aus den Verbindlichkeiten, die mit im Sinne der Emanzipation zweiter Ordnung ein gemein- Standhaftigkeit der aufrichtigen Bürger*innen, die sich rung, vom Ballastabwerfen, wenigstens kurzfristig einen dem traditionellen Verständnis von demokratischer Bür- sames Interesse daran haben, die bestehende, offen- nicht einschüchtern lassen und ihre Geschäftigkeit in Wettbewerbsvorteil für die nächste Etappe des Exklusi- gerschaft oder gar kosmopolitischer Weltbürgerschaft sichtlich nicht nachhaltige – nicht haltbare – Ordnung den Einkaufsstraßen unerschrocken fortsetzten. Die ge- onskampfes verspricht. einhergehen, befreit haben, und sich unbedingter denn der stetig zunehmenden Ausgrenzung und Ungleichheit genüberliegende Zeitungsseite informiert derweil, wel- Das traditionelle Versprechen, dass wir gemeinsam je als Mittelpunkt ihrer Welt verstehen. Sie schaffen sich dennoch aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wollen sie sich che Artikel beim Discounter »Jetzt in der Aktion!« sind. stark seien, verkehrt sich somit in die Hoffnung, dass wir Kommunikations- und Handlungsformen, in denen die aber versichern, dass die Werte der Gleichheit, der sozia- Wenn Theater, Kunst und Sozialwissenschaft auch im in der kleineren Gruppe oder sogar alleine stärker oder widersprüchlichen Bedürfnislagen der postdemokrati- len Gerechtigkeit und ökologischen Integrität unvermin- Zeichen der Post-Politik daran festhalten wollen, sich am stärksten seien. Das Prinzip der Inklusion verwandelt schen Konstellation be- und verarbeitet werden können. derte Gültigkeit behalten. Völlig abwegig ist daher auch nicht als Ressource vereinnahmen zu lassen, dann kann sich in das der Exklusion – wohlgemerkt im Zeichen der Ihr Dilemma, und das moderner Konsumentendemokra- die Vorstellung, emanzipatorische Werte, Demokratie, »Was tun. Politisches Handeln jetzt« nur bedeuten, diese Emanzipation. Die Theorie der Emanzipation zweiter tien überhaupt, liegt darin, dass sie einerseits demokrati- Politik würden hier bloß noch inszeniert; die wahre De- Widersprüche sichtbar zu machen. Ordnung führt uns also an einen Punkt, an dem deutlich sche Normen und ihr demokratisches Selbstverständnis mokratie sei zur simulativen Demokratie verkommen. wird, dass die Wiederbelebung der sogenannten echten aufrechtzuerhalten versuchen, andererseits aber gleich- Solche Behauptungen sind in dem Maße falsch (oder Demokratie, die Rückeroberung der Demokratie aus den zeitig eine Politik betreiben, die sich, der Emanzipation selbst simulativ), in dem sie implizieren, die authenti- Fängen anti-egalitärer Eliten, wie sie dem überwiegen- zweiter Ordnung und der postdemokratischen Wende sche Alternative sei überhaupt noch eine Option und ein den Teil der sich als emanzipatorisch-kritisch verste- entsprechend, von eben diesen demokratischen Normen politisches Projekt. henden Linken vorschwebt, nicht nur ein soziologisch abwendet, zugunsten einer Agenda der Entpolitisierung, Jenseits der rein kommunikativen Themenparks ist zunehmend unplausibles, sondern auch ein normativ Individualisierung, ökonomischen Effizienz, materiellen das unspezifische und immer wohlmeinende Was tun zunehmend zweifelhaftes Projekt ist. Genau genom- Ungleichheit und sozialen Exklusion. Zur Bewältigung die Grundform der Simulation. Gerade indem es, wie men muss politisches Handeln, das dieser Agenda folgt, dieses Dilemmas entwickeln sie Kommunikations- und immer andeutungsweise, in der Aktion die etablier- möglicherweise in genau dem Maße, wie es sich weigert Handlungsformen, mit denen demokratisch-egalitäre te Ordnung herausfordert und die Alternative erlebbar zur Kenntnis zu nehmen, dass die postdemokratische Kon- Werte artikuliert und erlebbar gemacht werden können, macht, stabilisiert politisches Handeln jetzt genau das, stellation sich im Zuge des emanzipatorischen Fort- ohne dass dabei die gleichermaßen gültigen postdemo- worauf es sich kritisch bezieht. Nicht nur Politik wird schrittes herausbildet, als reaktionär bezeichnet werden. kratisch-exklusiven Wertpräferenzen in Frage gestellt hier zum Theater; nicht nur Politiker*innen werden zu werden müssen. Diese Kommunikations- und Hand- Politikdarsteller*innen, sondern die Darstellung, das Das postdemokratische Paradox lungsformen sind meines Erachtens das Kernstück und Zum-Erscheinen-Bringen und Erlebbar-Machen von ega- Nun ist es allerdings so, dass die Emanzipation zweiter unterscheidende Merkmal unserer heutigen liberalen litären Werten, von Demokratie, des Politischen, ist ein Ordnung zwar der Demokratie, wie die neuen sozialen Demokratien. Ich bezeichne sie als Diskurse der Simulation breit angelegtes gesellschaftliches Projekt. Und im glei- Bewegungen der 1980er Jahre sie noch verstanden hat- und entsprechend die derzeitige Erscheinungsform der chen Maße, wie das Bewusstsein der Nicht-Haltbarkeit ten, den normativen Boden entzieht, aber gleichzeitig liberalen Demokratie als simulative Demokratie. der bestehenden Ordnung einerseits und der entschiede- entfaltet sie auch – eben als Emanzipationsprozess – die ne Verteidigungskonsens andererseits sich verfestigen, Freiheits-, Selbstbestimmungs-, Selbstverwirklichungs- Kollektives Theater steigt das Bedürfnis nach Arenen, in denen die Kritik, und Zentralitätsansprüche moderner Individuen immer Von großer Bedeutung ist dabei, dass diese simulative die Alternative, kommuniziert und erlebbar gemacht weiter. So wachsen zwar ständig die Zweifel an der De- Demokratie auf gar keinen Fall bloß als ein Projekt von werden kann. Hier liegt wohl auch die Erklärung für die mokratie und das anti-demokratische Gefühl,13 aber gleich- neo-liberalen Eliten verstanden werden darf, die zum eingangs festgestellte auffällige Nachfrage nach politi- zeitig verlangen moderne Bürger*innen doch immer Zwecke der Manipulation, Täuschung und Kontrolle der sierter, engagierter Kunst. 13 Ranciére, Jacques selbstbewusster und kompromissloser nach de- Massen, der berühmten 99 Prozent, politische Scheinver- Aber jenseits des gesellschaftskritischen Theaters ist (2011): Der Hass der mokratischer Partizipation, Repräsentation, Le- anstaltungen inszenieren. Simulative Demokratie ent- das Bekenntnis zum Status Quo unerschütterlich. Am al- Demokratie. Berlin: gitimation und Responsivität. Ich bezeichne das steht vielmehr, wie ich zu zeigen versucht habe, im Zuge lerdeutlichsten wird das bei der kollektiven Neuvereidi- August Verlag. als das postdemokratische Paradox. Dieses ist dafür der Emanzipation zweiter Ordnung, und muss daher, so gung, die auf jeden terroristischen Anschlag folgt: »Wir verantwortlich, dass wir im Moment entgegen irritierend das ist, als emanzipatorische Errungenschaft ver- stehen fest zusammen«, bekennen wir dann ritualisiert, populären Abgesängen auf die Demokratie keineswegs standen werden! Wenn Begriffe wie Täuschung und Illu- »und werden unsere Freiheit, unsere Werte, mit Ent- deren Ende oder Tod beobachten, sondern vielmehr eine sionierung hier überhaupt angemessen sind, könnten die schiedenheit und allen zur Verfügung stehenden Mitteln grundlegende Transformation der Demokratie. Simulationsdiskurse allenfalls als Praktiken der kollekti- verteidigen.« Das ist ein klares Bekenntnis zur Ordnung Populäre Sprüche wie »Hier darf jeder machen, was ich ven Selbstillusionierung begriffen werden, an denen sich der Nichtnachhaltigkeit, der fortschreitenden Zerstö- 16 17
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