Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...

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Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
zeitschrift
der
dramaturgischen
gesellschaft
02/16

was tun.
politisches handeln jetzt.
dokumentation der
jubiläumskonferenz 60 jahre
dramaturgische gesellschaft
28. bis 31. januar 2016
im deutschen theater berlin
Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
editorial
Konflikte aushalten und sichtbar machen

w ie kann politisches Handeln heute aussehen und welche
  Form findet es im Theater? Nichts war überraschender als der
  unerschütterte Glaube der etwa 40 an der Auftaktveranstal-
                                                                   ist politisches Handeln immer konkret: die Choreografin
                                                                   Helena Waldmann schickte Dramaturg*innen durch Berlin,
                                                                   um Obdachlosenzeitungen zu verkaufen, die Akteur*innen
  tung zur diesjährigen Konferenz teilnehmenden Bundestags-        der »Konferenz Konkret« retteten das Stadttheater in drei
  abgeordneten an die Reichweite der eigenen Handlungs- und        Stunden und schickten einen eigens engagierten Boten mit
  Einflussmöglichkeiten, der sich bei unserer soziometrischen      Forderungen an den Deutschen Bühnenverein nach Köln,
  Übung im Bundestag körperlich im Raum manifestierte.             während der Landesverband Freies Theater Berlin (LAFT)
  Dagegen stellte der Soziologe Ingolfur Blühdorn die Sinn-        Beratung für Berliner Künstler*innen anbot. In Zusam-
  haftigkeit dessen, was wir als politisches Handeln begrei-       menarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung wurde über poli-
  fen, angesichts unseres nicht nachhaltigen Gesellschafts-        tisches Theater in anderen Ländern sowie über politischen
  systems fundamental in Frage: Aufgabe von Kunst könne            Aktivismus im Internet diskutiert. Der Verband Deutscher
  es nur sein, die Widersprüche sichtbar zu machen und aus-        Bühnen- und Medienverlage präsentierte Thomas Köck, den
  zuhalten und im Übrigen auf den großen Knall zu warten.          diesjährigen Gewinner des Kleistförderpreises für junge
                                                                   Dramatiker*innen, mit seinem Stück paradies fluten, und die
  Bei unserem Tagungsthema naheliegend, wurde immer                AG Musiktheater veranstaltete ein eigenes Panel, das auf ein
  wieder die Autonomie der Kunst reklamiert – als gäbe es          riesiges, zeit- und rahmensprengendes Interesse stieß und
  da einen Widerspruch. Yael Ronen benannte auf unserem            einen Aufbruch im Musiktheater mehr als nur andeutete.
  Podium Wut als entscheidenden Antriebsmotor ihrer Thea-               Diesen handlungszentrierten Ansätzen stellte die Philo-
  terarbeit und wies darauf hin, dass diese sich natürlich         sophin Nikita Dhawan die grundsätzliche Frage entgegen,
  nicht nur in biografisch-dokumentarischen Verfahren nie-         für wen wir überhaupt handeln, und forderte nicht nur die
  derschlagen kann, sondern eben auch durch Klassiker der          Rettung der Ideen der Aufklärung vor den Europäern; sie
  Theaterliteratur kanalisieren lässt: Wenn man darin einen        machte auch per Handzeichen-Aufforderung einen dramati-
  aufregenden Ausdruck, eine angemessene Form, einen               schen Mangel sichtbar: In der dg gibt es (wie in den Drama-
  zwingenden Stoff findet, um sein Anliegen zu transportie-        turgien insgesamt) kaum Menschen mit Migrationshinter-
  ren. Deshalb ist es kein Zufall, dass gerade Alexander Leipold   grund. Während die Hajusom-Performerin Zandile Darko
  vom Zentrum für Politische Schönheit einen klassischen           nachdrücklich Diversität bei der Besetzung von Ensembles
  griechischen Theaterbegriff für seine Interventionen bean-       und Regieaufträgen einforderte, liegt die Notwendigkeit,
  spruchte. Es ist auch kein Zufall, dass mit Lukas Bärfuss        das Bewusstsein für die strukturelle Bedeutung auch der
  ausgerechnet der Künstler das eindrucksvollste Plädoyer          Dramaturgie-Stellen in diesem Zusammenhang zu stärken,
  für die Autonomie der Kunst hielt, den wir für seinen hef-       auf der Hand. Die angestrebte Zusammenarbeit mit dem
  tigen politischen Aufschrei gegen die Zustände der Schwei-       Bundesverband Theater in Schulen (BVTS) bietet ebenso
  zer Medienlandschaft eingeladen hatten, mit dem er die           eine Handlungsoption wie die Gatekeeper-Funktion von
  gesamte Publizistik seines Landes gegen sich aufgebracht         Dramaturg*innen bei der Auswahl von Hospitant*innen.
  hatte. In den Gesprächen mit den Abgeordneten wurde deut-
  lich, wie sehr sich die politischen Prozesse in Pragmatismus     Die Konferenz hat auch gezeigt, wie einfach politisches
  erschöpfen, und wie sehr deshalb solche grundsätzlichen          Handeln sein kann: Mehr als einen Brief braucht es nicht,
  Invektiven durch Künstler*innen nötig sind – aus der Politik     um mit dem eigenen Bundestagsabgeordneten ins Gespräch
  selbst werden sie nicht kommen. Deshalb auch betonte der         zu kommen. Und spätestens wenn 2020 die Schuldenbremse
  Zukunftsforscher Reinhold Leinfelder die Rolle der Künste        die Theaterlandschaft umzupflügen droht, sollten wir sie
  bei der Entwicklung positiver Utopien. Und dass es durch-        alle auf ihren Standpunkt festnageln: »Irgendwoher wird
  aus lustvoll ist zu untersuchen, wie die Dinge laufen (und       das Geld schon kommen.«
  warum sie so laufen), machte das Künstlerduo Christiane              Dabei ging es im Kern unserer Konferenz aber nicht um
  Kühl und Chris Kondek mit seinen spielerischen und höchst        konkrete Handlungsanweisungen für den Theateralltag,
  unterhaltsamen Versuchsanordnungen deutlich. Manchmal            sondern um Impulse, wie sich Spielräume des (politischen
  ist politisches Theater aber auch einfach eine wüste Party       wie künstlerischen) Handelns in Zeiten rasanter gesell-
  morgens um zehn, bewiesen Talking Straight. Überhaupt            schaftlicher Veränderungen erweitern lassen. Die Theater

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Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
betriebe »beweglich« zu halten, wie Gastgeber Ulrich Khuon
formulierte – darum müsse es jetzt gehen. Keine andere
Konferenz der dg hat bisher ein größeres Medienecho
gefunden, mit über 400 Theatermacher*innen und über 50
Referent*innen war sie zudem die bisher größte in unse-
rer Geschichte. Das zeigt ein überragendes Interesse am
Thema, ist aber auch eine Folge unseres Wachstums in den
vergangenen Jahren, in denen sich unsere Mitgliederzahl
auf über 760 tatsächlich verdoppelt hat.

Ermöglicht wurde die Konferenz durch unsere Gastge-
ber, das Deutsche Theater und die Heinrich-Böll-Stiftung
und die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, denen
wir danken. Ohne die großzügige finanzielle Unterstüt-
zung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur
und Medien (die zugleich die Schirmherrschaft übernom-
men hatte), des Deutschen Bühnenvereins und des Lan-
desverbands Berlin des Bühnenvereins wäre eine solche
ehrenamtlich konzipierte Konferenz nicht möglich. Auch
hierfür herzlichen Dank.

Theater machen heißt: Die Welt als veränderbar zu begrei-
fen. Strukturen werden von Menschen gemacht, also kann
man sie ändern. Es ist ermutigend, dass es z.B. mit dem
Ensemblenetzwerk oder – innerhalb der dg – mit der AG
Musiktheater mittlerweile eine ganze Reihe von Initiati-
ven gibt, die genau das versuchen: politische Schlagkraft
zu entwickeln. Am Ende sind die Fragen immer diesel-
ben: In welcher Gesellschaft wollen wir leben, welche
Geschichten müssen erzählt werden, und welche Formen
finden wir dafür?

Kathrin Bieligk, Natalie Driemeyer, Uwe Gössel, Christa
Hohmann, Christian Holtzhauer, Amelie Mallmann,
Harald Wolff und Suzanne Jaeschke

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Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
inhaltsverzeichnis

      1   editorial                                           43   selbstversuch als straßenzeitungs-
                                                                   verkäufer*in
      7   zeit der veränderung                                     Corinna Weber
          Rolf Bolwin
                                                              45   wer über politisches theater
      9   welche texte braucht das                                 redet, muss auch theater-
          politische theater ?                                     politisch reden
          Lukas Bärfuss                                            Konferenz Konkret

     11   politisches handeln jetzt                           46   geflüchtete und stadtgesellschaft
          Ingolfur Blühdorn                                        Kristina Stang und Gudrun Herrbold

    19    to protest or not to protest                        49   kulturpolitik konkret
          Nikita Dhawan                                            LAFT

    27    alle müssen was tun                                 50   kuscheln mit der klassendifferenz
          Arne Vogelgesang                                         Lukas Franke

    30    aufgeklärter katastrophismus                        54   bibliothekar*in kann auch
          Ein Gespräch mit Milo Rau                                interessant sein
                                                                   Tagungsnotizen der dg:starter
    32    graphic recording
          Tiziana Jill Beck und Édith Carron                  56   kleistförderpreis 2016
                                                                   Thomas Köck
    33    welt(klima)theater
          Natalie Driemeyer                                   57   dg-AGs

    35    eine schwierige beziehung                           62   die dg
          »Politisches Musiktheater heute«                         impressum

    38    welcome city                                        63   dg vorstand
          Paula Hildebrandt und Thari Jungen

    40    was tun
          Felix Meyer-Christian

Unser Dank gilt den Gastgebern und Förderern der Konferenz:

                                                                                                        5
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zeit der veränderung
Grußwort von Rolf Bolwin, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins

l   iebe Dramaturginnen und Dramaturgen, dies ist mein
    25 . Jahr als Geschäftsführender Direktor des Deutschen
    Bühnenvereins. Wenn ich mich angesichts dessen einmal
                                                                     schen Fragen, die sich uns aktuell stellen, kommen darin
                                                                     vor. Zugestanden, konkret ist das nicht immer. Manchmal
                                                                     hat es schon etwas von Major Tom. Aber so muss es doch
    frage, was wir denn seitens des Bühnenvereins in all diesen      auch sein. Erst in der Loslösung von der Alltagsarbeit, im
    Jahren so getrieben haben, lautet die Antwort: Zu sicher         theoretischen Diskurs erschließt sich die Chance der Ver-
    75 % der Zeit haben wir uns mit der Rettung des Stadt-           änderung und Entwicklung. Sicher, dann darf es nicht
    theaters beschäftigt. Im Programmheft der dg finde ich           fehlen an praktischen Konsequenzen. Aber daran fehlt es
    nun unter dem Motto der diesjährigen Jahrestagung »Was           doch auch gar nicht. Was ist dafür ein besseres Beispiel als
    tun. [immerhin Punkt und nicht Fragezeichen] Politisches         die gegenwärtige Flüchtlingsdebatte?
    Handeln jetzt « den Workshop »Das Stadttheater retten in
    drei Stunden«. Nun, da hätten wir uns also viel Zeit erspa-      Oder die Education-Programme, wie sie schön neudeutsch
    ren können. Das klingt ein wenig wie »The whole Shake-           heißen. Auch hier noch einmal Terkessidis: Er kritisiert die
    speare in two hours«. Die Dramaturgische Gesellschaft ist        zuweilen – eher von der Politik als von den Theatern selbst
    eben doch fantasievoller als der Bühnenverein oder viel-         – geführte Rede, mit kultureller Bildung müssten die Kin-
    leicht auch nur etwas schneller. Oder etwa nicht ganz so          der und Jugendlichen an die Kultur herangeführt werden.
    gründlich? Das kann man sicher angesichts des mehr als           Die Umkehrung der Lernrichtung mache Sinn. Kinder und
    gründlichen Programms der Tagung eher nicht behaupten.           Jugendliche seien oft in alle möglichen Formen von ästhe-
    Entscheidend finde ich aber, dass wenigstens das Stadtthea-      tischer Arbeit und »participatory cultures« verwickelt. Ja,
    ter gerettet werden soll, was ja ein Standpunkt ist, von dem     wer bestreitet das denn? Und was heißt das für ein Stadt-
    man zuweilen – auch im Theater – den Eindruck bekommen           theater? Natürlich bedeutet das, dass sich das Theater öff-
    könnte, dass er nicht allgemein geteilt wird.                    nen muss, dass es nicht einfach an Althergebrachtem fest-
                                                                     halten kann. Aber tut es das denn nicht? Das Problem liegt
    Nun will ich angesichts eines anspruchsvollen Programms           doch im Spagat des Übergangs in eine veränderte Welt,
    zum Thema »Theater und Politik« nicht der Versuchung              den wir auszuhalten haben: Hier das angestammte Publi-
    erliegen, doch wieder nur über die Struktur des Stadtthea-       kum und dort die, die mit gerade diesem fremdeln, neu in
    ters zu sprechen. Vielleicht eher über die Rolle des Stadt-      unserem Land und in einer anderen Kultur groß geworden
    theaters. Denn dazu wird man ja immer wieder so heraus-           sind, oder einfach nur jung. Und bleibt es nicht auch richtig
    gefordert, dass zu fragen ist, wer denn hier eigentlich was      und wichtig, dass das Theater sich in eine andere Welt vor-
    erreichen möchte. Mark Terkessidis etwa in seinem letz-          tastet, um mit Literatur und Musik, auch Tanz, zu ergrün-
    ten Traktat für nachtkritik. Da wird als Motiv derer, die das     den und zu erspüren, wohin die Reise dieser Gesellschaft
    Stadttheater erhalten wollen, benannt, das aussterbende          gehen könnte? Vielleicht schaffen wir das auch, ohne alles,
    Bürgertum wolle unter sich ausmachen, was in der Kunst           was Theater bisher ausmachte, einfach über Bord zu wer-
    von Qualität sei. Wer im Apparat – man höre und staune:          fen! Ich empfehle jedenfalls etwas mehr Gelassenheit und
    im Apparat, wo wir doch über Kunst reden – eine Funk-            Selbstbewusstsein. Wir alle, die wir um die Zukunft des
    tion habe, wolle seine Privilegien keinesfalls aufgeben.         Theaters in schwierigen Zeiten ringen, sollten uns nicht von
    Es werde der Dialog verweigert. Der Betrieb habe bisher           allzu weitreichenden Erwartungen ins Bockshorn jagen las-
    erfolgreich alle Veränderungen abgewehrt. Vom muffigen            sen. Schon gar nicht, wenn das alles noch garniert wird mit
    Konsens ist die Rede, dass die Leute in den Institutionen         der These, der öffentlichen Hand, den Städten gehe es so
    schon wüssten, was gut sei. Und so weiter und so weiter.          schlecht, man könne sich die ganze Kultur ohnehin nicht
                                                                     mehr leisten. Ich bin stets erstaunt, mit welcher Selbstver-
    Da fragt man sich nach all den Debatten und Schlachten der        ständlichkeit das viele in der Kultur Arbeitende, auch im
    der letzten Jahre, Ihren und unseren Schritten zur Erneue-       Feuilleton, internalisiert haben, ohne sich ein einziges Mal
    rung und Veränderung, die doch nicht ohne Erfolg waren:          genau anzusehen, was der Hintergrund für diese These ist:
    Auf welchem Stern lebt der Mann? Man muss sich doch nur          Das Sparen auf Teufel komm raus, auch dann, wenn wie
    das Programm Ihrer Tagung anschauen um zu bemerken,              zurzeit die Steuereinnahmen erheblich steigen. Wer so
    dass sich immer etwas Neues tut im Theater. Alle politi-          denkt, schwächt letztlich das organisierte Gemeinwesen,

                                                                                                                                      7
Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
welche texte braucht das
                                                                   politische theater?
                                                                   Statement anlässlich einer Podiumsdiskussion auf der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft

                                                                   Lukas Bärfuss

    man könnte auch sagen, den Staat. Über die Motive und die
    Frage, in wessen Interesse das ist, darf diskutiert werden,
    vielleicht auch in einer der vielen interessanten Veranstal-
    tungen Ihrer Tagung. Sie sehen, es ist gut, dass wir wieder
                                                                   g   uten Abend. Herzlichen Dank für diese Einladung. Man
                                                                       hat mich gebeten, ein Statement vorzutragen, ein State-
                                                                       ment zum Titel dieser Veranstaltung. »Was schreiben?
                                                                       Welche Texte braucht das politische Theater? Welches
                                                                                                                                      ter braucht, um einen gewisses Ziel zu erreichen,
                                                                                                                                      werden wir es ihm nicht geben.« Das ist nicht das
                                                                                                                                      Wesen dieser Frage. Nein, es wird vorausgesetzt,
                                                                                                                                      dass, wenn wir definiert haben, was das Theater,
    über Politik reden.                                                Theater braucht der politische Text?« Ich möchte mein          der Text braucht, wir dazu übergehen können, die-
                                                                       Unbehagen ausdrücken. Es betrifft nicht den Begriff des        ses Bedürfnis zu befriedigen.
    60 Jahre Dramaturgische Gesellschaft. Für den vor 170 Jah-         Politischen, es betrifft nicht den Begriff des Theaters, ich
    ren gegründeten Bühnenverein bleiben Sie immer der jün-            störe mich an dem Verb in diesem Satz, dem Verb »brau-         Daraus folgt: In der vorliegenden Frage steckt die
                                                                                                                                                                                            Lukas Bärfuss arbeitet
    gere Bruder oder besser die jüngere Schwester, die er zuwei-       chen«. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen kurz die            unausgesprochene Annahme, es gebe für den als Schriftsteller in Zürich. Er
    len auch ein wenig neidisch beäugt. Denn sie kann sich             Gründe dafür erläutern.                                        Text, für das Theater, ein wünschbares Resultat, schreibt Romane (Hundert
    immer ein wenig befreit vom Alltag des Theaters einfach                                                                           das zu erreichen ist und an dem wir über Erfolg Tage, 2008 und Koala,
    diese grundsätzlichen Debatten leisten, und das ist auch           »Brauchen« hat im Deutschen mindestens vier verschie-          oder Misserfolg urteilen können. Dieses Anti- ausgezeichnet mit dem
                                                                                                                                                                                            Schweizer Buchpreis 2014)
    gut so. Sie, die Dramaturgische Gesellschaft, ist also für         dene Bedeutungen, aber einen logischen Sinn ergibt             zipieren eines Resultates ist ein Merkmal eines
                                                                                                                                                                                            und Theaterstücke (Die
    das Theater unverzichtbar. Und in diesem Sinne begleiten           »brauchen« in der vorliegenden Frage nur in zwei Fäl-          politischen Prozesses. Wir definieren den er- sexuellen Neurosen
    Sie von Herzen meine besten Geburtstagswünsche.                    len: Einerseits im Sinne von »verwenden«, anderer-             wünschten Zustand, um danach zu klären, was unserer Eltern, Die Probe,
                                                                       seits im Sinn von »nötig haben«. Ist mit der Frage ge-         es zu seiner Erreichung braucht. Das Weltklima Öl), die weltweit gespielt
    Berlin, im Januar 2016                                             meint: Welche Texte verwendet das politische Theater?          soll in den nächsten dreißig Jahren bloß um so werden.
                                                                       Welches Theater verwendet der politische Text? Diese           und so viel Grad Celsius steigen, deshalb braucht
                                                                       Frage wäre deskriptiv zu beantworten, und ich glaube           es Maßnahmen, um den C02-Ausstoß zu reduzieren. So-
                                                                       nicht, dass hier heute Abend eine reine Phänomenolo-           wohl die Ziele wie die Mittel, um dieses Ziel zu erreichen,
                                                                       gie des politischen Theaters gefragt ist. Wir können also      sind Teil der politischen Verhandlung. Das zielorientier-
                                                                       davon ausgehen, dass hier »brauchen« in der Bedeutung          te Denken ist für die Politik entscheidend. Nur auf diese
                                                                       von »nötig haben« gemeint ist. Also: Welche Texte hat          Weise kann eine Gesellschaft ihr Handeln ausrichten,
                                                                       das politische Theater nötig? Welches Theater hat der          erst nachdem sie sich auf ein Ziel geeinigt hat. Man wird
                                                                       politische Text nötig? Es ist offensichtlich, dass diese       jeden der unternommenen Schritte so auf seine Tauglich-
                                                                       Frage unvollständig ist. Sie bedarf, um sie beantwor-          keit prüfen. Bringt er mich dem formulierten Ziel näher
                                                                       ten zu können, einer Klärung des »Wozu«. Welche Texte          oder entfernt er mich davon? Ist die Handlung im Lichte
                                                                       braucht das politische Theater, um welches Ziel zu errei-      des gesetzten Zieles opportun? Erreiche ich damit, was
                                                                       chen? Um möglichst viel Publikum anzusprechen? Um              ich erreichen wollte? Ich anerkenne, dass sich Menschen
                                                                       eine Wirkung auf die politischen Prozesse zu nehmen?           ihre Zukunft vorstellen wollen, wissen wollen, was mit
                                                                       Um in der Gesellschaft breit diskutiert zu werden? Um          ihnen geschehen wird, und sie möchten diese Zukunft
                                                                       ganz allgemein die Diskussion anzuregen? Ich will nicht        in ihrem Sinne und mit ihren Mitteln gestalten. Dazu
                                                                       darauf eingehen, was hier gemeint sein könnte, sondern         braucht es Foren, dazu braucht es Orte, es braucht eine
                                                                       allgemeiner feststellen: In diesem Verb »brauchen«, im         Öffentlichkeit. Eine solche zweck-, ziel- und handlungs-
                                                                       Sinne von »nötig haben«, steckt die implizite Annahme,         orientierte Haltung ist aber in der Kunst, und ganz be-
                                                                       es gebe ein Bedürfnis, etwas, was gebraucht wird, was          sonders im Theater, absurd, sinnlos. Nie habe ich in den
                                                                       das Theater, der Text, nötig hat.                              zwanzig Jahren, in denen ich Theater mache, jemanden
                                                                                                                                      am Premierenabend sagen gehört: »Herzlichen Glück-
                                                                       Dieses Bedürfnis wird in der Frage nicht formuliert, wohl      wunsch, wir haben das Ziel, das wir uns gesteckt haben,
                                                                       deshalb nicht, weil es dieses Bedürfnis als solches nicht      erreicht.« Oder: »Dieser Theaterabend ist genau das, was
                                                                       gibt, nicht als einzelnes. Es zerfällt in viele verschiede-    wir erreichen wollten!« Oder, für unseren vorliegenden
                                                                       ne, einzelne, mannigfaltige Bedürfnisse. Gleichzeitig          Fall formuliert: »Wir haben diesem politischen Text gege-
                                                                       impliziert dieses »brauchen«, »nötig haben«, den Willen,       ben, was er brauchte!« Die Begeisterung nach einer erfolg-
                                                                       den Ehrgeiz, dieses Bedürfnis, wenn es denn definiert ist,     reichen Premiere drückt sich auf andere Weise aus:
                                                                       auch zu befriedigen. Andernfalls wäre die Frage sinnlos            Man sagt: »Das war wunderbar!« Oder: »Was war
                                                                       oder zynisch: »Wenn wir wissen, was das politische Thea-       das denn?« Oder: »Das habe ich überhaupt nicht erwar-

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Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
politisches handeln jetzt
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                                                                                                                              Ingolfur Blühdorn

     tet.« Von einem Theaterabend werden wir gerade dann
     berührt, inspiriert, bewegt, wenn wir sehen, dass nicht
     einfach ein Ehrgeiz befriedigt wurde. Und aus unserer
     Arbeit wissen wir alle: Mit viel Arbeit und Anstrengung
                                                                   leicht können wir also unsere Erfahrungen teilen, auch
                                                                   hier, uns darüber unterhalten, wie wir die Offenheit be-
                                                                   wahren, ohne uns zu fragen, was das Theater »brauchen«
                                                                   und was sein Ziel und sein Zweck sein könnte.
                                                                                                                              i   m Theater eröffnen sich zuweilen Denk- und Kommuni-
                                                                                                                                  kationsräume, die über die Möglichkeiten der universi-
                                                                                                                                  tären Sozialwissenschaften und der Politik hinausgehen.
                                                                                                                                  Ganz im Gegensatz zum Wissenschafts- und Politikbe-
                                                                                                                                                                                               lungen zum Handeln so unerschöpflich, die prak-
                                                                                                                                                                                               tischen Erfolge aber so marginal sind, habe ich
                                                                                                                                                                                               mich darauf verlegt, die Bedingungen, Möglich-
                                                                                                                                                                                               keiten und Grenzen politischen Handelns – und
     kann man vielleicht einen ordentlichen Theaterabend                                                                          trieb gibt es nämlich im Theater derzeit ein auffällig       zwar insbesondere hinsichtlich seiner normati-
     stemmen, erzwingen. Einzigartige Momente aber ge-             Haben Sie vielen Dank!                                         großes Bedürfnis nach Politisierung und »gesellschafts-      ven Grundlagen – zu erkunden.
     schehen, sie passieren. Sie passieren dann, wenn die be-                                                                     kritischen« Fragestellungen. Das zeigt auch das Pro-             Wenn es um politisches Handeln im Zeichen
     teiligten Künstler aufhören, kontrollieren zu wollen.                                                                        gramm der Jubiläumskonferenz der Dramaturgischen             der Post-Politik gehen soll, dann ist die nähere        Ingolfur Blühdorn ist
                                                                                                                                  Gesellschaft. Der Titel der Tagung formuliert zunächst       Beschäftigung mit diesem Phänomen Post-Politik          Professor für Soziale
      Auch als Autor geht es mir so. Was mir von meiner Arbeit                                                                    eine Frage: »Was tun?«, die zugleich auch die Antwort ist:   ein zentraler Punkt. Diesem Phänomen werde              Nachhaltigkeit an der
     am Theater geblieben ist, sind jene Erfahrungen, die ich                                                                     »Was tun!« Der zweite Teil des Titels benennt, worüber       ich mich gleich zuwenden, nicht zuletzt, weil ich       Wirtschaftsuniversität Wien
                                                                                                                                                                                                                                                       und leitet dort das Institut
     nicht gebraucht habe, die ich nicht gesucht habe, die mir                                                                    das Theater, diese Konferenz, nachdenken soll und will:      glaube, dass der Begriff oftmals sehr unbedacht
                                                                                                                                                                                                                                                       für Gesellschaftswandel und
     zufielen jenseits meines Ehrgeizes. Ich wollte eine Ge-                                                                      »Politisches Handeln Jetzt«, und verlangt gleichzeitig,      verwendet wird. Zuvor will ich aber noch kurz           Nachhaltigkeit (IGN).
     schichte über die Zwangsmaßnahmen in der Schweizeri-                                                                         jede weitere Verzögerung zugunsten sofortiger Aktion         beim politischen Handeln jetzt bleiben, um die Be-
     schen Psychiatrie schreiben, und was dabei heraus kam,                                                                       zu vermeiden: »Politisches Handeln Jetzt!«. Das Theater,     sonderheit unserer gegenwärtigen Situation her-         1 Der Text ist eine durch-
     ist eine Liebesgeschichte, eine Geschichte der Passionen,                                                                    die Kunst, die Künstler, so heißt es im Programmheft,        auszuarbeiten, die man als einen doppelten Hand-        gesehene Fassung des
                                                                                                                                                                                                                                                       Eröffnungsvortrages der
     des Begehrens, eine Geschichte über die Frage, welchen                                                                       wollen »konkret interventionistisch« sein; diese gesamte     lungsnotstand bezeichnen kann.3
                                                                                                                                                                                                                                                       Jubiläumskonferenz der
     Körper wir als schön empfinden. Hier, in diesem Theater,                                                                     Veranstaltung soll »handlungsorientiert« sein und »zu                                                                Dramaturgischen Gesell-
     wollte ich eine Geschichte über die Folgen der Rohstoff-                                                                     eigenem Tun anregen«.                                        Der doppelte Handlungsnotstand                          schaft, gehalten am
     sucht der westlichen Gesellschaft schreiben, und alles,                                                                          Diese Entschlossenheit zu handeln ist angesichts der     Angesichts der Klimakrise, der Flüchtlingskrise,        29. Januar 2016 im
     was ich zustande brachte, war eine Gespenstergeschich-                                                                       vielfältigen Krisen und Notstände sicher löblich. Zwei-      der Überschuldung öffentlicher Haushalte, der sich       Deutschen Theater Berlin.
                                                                                                                                                                                                                                                       2 Luhmann, Niklas
     te, eine Geschichte über die Einsamkeit, über Menschen,                                                                      fellos, wir müssen »was tun«! Gleichzeitig scheint mir       immer weiter verschärfenden sozialen Ungleich-
                                                                                                                                                                                                                                                       (1970): Soziologische
     die ganz auf sich selbst gestellt sind und auf sich zurück-                                                                  dieser Handlungsdrang aber bedenklich, denn gerade           heit, der Krise des Kapitalismus, der Hilflosigkeit     Aufklärung. Wiesbaden:
     fallen. Ich habe das, was ich zu brauchen meinte, eigent-                                                                    in einer Situation, in der wir die normative Ordnung, die    der Politik, des um sich greifenden Rechtspopu-         Verlag für Sozialwissen-
     lich nie erhalten. Die Schauspieler haben meinen Text                                                                        uns in Europa und weit darüber hinaus lange Halt und         lismus, des schleichenden Zusammenbruchs des            schaften.
     anders gelesen, die Regie hat andere Bilder gefunden,                                                                        Orientierung gegeben hat, vor unseren Augen zerfallen        europäischen Projektes, neuer religiöser und sä-        3 Blühdorn, Ingolfur
                                                                                                                                                                                                                                                       (2015): »A Much-needed
     das Publikum hat anders reagiert. In dieser Differenz                                                                        sehen, während neue Populismen, Nationalismen und            kularer Fundamentalismen, der Anfeindungen der
                                                                                                                                                                                                                                                       Renewal of Environmen-
     zwischen meinem Anspruch und meiner Wirkung erfuhr                                                                           religiöse Fundamentalismen allerorten die seltsamsten        Demokratie, der terroristischen Bedrohung unse-         talism? Eco-politics in the
     ich die Kunst. In dieser Differenz wurde eine Erfahrung                                                                      Blüten treiben, ist möglicherweise Nicht-Handeln sogar       rer Freiheit, unserer Werte entfaltet sich in der Tat   Anthropocene«, in: Hamil-
     möglich, für mich, für das Theater, hoffentlich auch für                                                                     noch dringender als Handeln. Nicht-Handeln darf dann         ein enormer Handlungsdruck. Wann immer es uns           ton, Clive; Gemenne, Fran-
     das Publikum. In dieser Möglichkeit, gemeinsam mit                                                                           natürlich nicht bedeuten, überhaupt gar nichts zu tun,       gelingt – oder passiert –, dass wir für einen Moment    çois; Bonneuil, Christophe
                                                                                                                                                                                                                                                       (Eds.): The Anthropocene
     anderen eine Erfahrung zu machen, sie zu teilen, darin                                                                       sondern sich zunächst gründlich mit den Möglichkeiten,       aus unseren hochentwickelten Zerstreuungs-, Ab-
                                                                                                                                                                                                                                                       and the Global Environ-
     liegt das utopische Potenzial des Theaters. Und darin                                                                        Bedingungen und Grenzen politischen Handelns ausein-         lenkungs- und Betäubungspraktiken ausbrechen,           mental Crisis: Rethinking
     liegt das Widerständige des Theaters. Die Gesellschaft,                                                                      anderzusetzen. Das Projekt bleibt also Kritik, aber nicht    wird unerbittlich klar: Die wirtschaftliche, soziale,   Modernity in a New Epoch.
     in der wir leben, definiert von den meisten Dingen den                                                                       im aktivistisch-normativen, sondern im Kantschen Sin-        politische und normative Ordnung, an der wir uns        London: Routledge, 156-167.
     Zweck und das Ziel, gerade auch von Menschen. Man                                                                            ne; Aufklärung, aber nicht im idealistischen, sondern im     mit aller Kraft festzuhalten versuchen, ist nicht zu
     kann davon halten, was man will, aber die Folge davon                                                                        Luhmannschen Sinne.2                                         halten. Sie ist nicht nur, was längst praktisch überall Kon-
     ist eine Erfahrungsarmut. Erfahrung braucht Offenheit.                                                                           So jedenfalls verstehe ich meine eigene Arbeit als       sens ist, wirtschaftlich, ökologisch und sozial nicht nachhal-
     Wer eine Erfahrung machen will, muss akzeptieren, dass                                                                       Sozialwissenschaftler, der sich vor allem mit politischer    tig, sondern sie ist nicht zu halten.
     er nicht weiß, was geschehen wird.                                                                                           Partizipation und Demokratie einerseits und Umwelt-               Vor diesem Hintergrund erscheint politisches Handeln
                                                                                                                                  und Nachhaltigkeitspolitik andererseits befasst, zwei        jetzt als ein kategorischer Imperativ. Entsprechende An-
     Und das kann gefährlich werden. Sehr wahrscheinlich                                                                          Themenbereichen also, in denen es an aktivistischen          weisungen gibt es, wie gesagt, in unbegrenztem Aus-
     wird das Ziel so nicht erreicht, der Zweck nicht erfüllt.                                                                    Mobilisierungsrufen und praktischen Handlungsanwei-          maß – von Politikberater*innen, Wissenschaftler*innen,
     Nur wenn Künstler und Texte sich eine Offenheit erhal-                                                                       sungen wahrlich nicht fehlt, sehr wohl aber an nennens-      Technologie expert*innen, Bewegungsaktivist*innen etc.
     ten, nicht nach ihrem Zweck oder Ziel fragen, bleiben sie                                                                    werten gesellschaftlichen Veränderungen. Und gerade          Und selbst wenn es (noch) keinen klaren Plan gibt, so
     gefährlich und ermöglichen eine Erfahrung. Und viel-                                                                         weil in diesen beiden Bereichen die Aufrufe und Empfeh-      schafft Handeln doch immerhin Zuversicht. Es signali-

10                                                                                                                                                                                                                                                                              11
Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
siert das Vorhandensein von Optionen sowie die Fähig-        haben.5 Angesichts dieses planetarischen Notstands ist       Gegenstück zur herrschenden Logik der Verdinglichung,       hin das oberste Gebot sein soll, sich niemals von einer
                        keit und den Willen zu entscheiden, zu gestalten. Und        Handeln wohl noch dringender geboten als je zuvor! Das       Objektivierung, Kommodifizierung, Ungleichheit, Un-         Ordnung vereinnahmen zu lassen, die in sozialer und
                        es schafft gegenüber denen, die Zeit verlieren, indem        Anthropozän ist die »Menschenzeit«.6 Menschen haben          terdrückung und Ausbeutung zum Erscheinen zu brin-          ökologischer Hinsicht gleichermaßen zerstörerisch ist.
                        sie entweder gar nichts tun oder »nur« reflektieren, das     die Aufgabe des planetarischen Managements übernom-          gen: die alternative, sozial und ökologisch befreite und    Zumindest wird es jetzt mehr denn je zum Zwang, poli-
                        Gefühl moralischer Überlegenheit: Wer irgendwas tut,         men. Allerdings gibt es im Anthropozän – das ist sein        versöhnte Gesellschaft. Politisch war der Name für die-     tischem Handeln die Reflexion über seine gesellschaft-
                        jetzt, muss sich nicht vorwerfen (lassen), der stetigen      zweites wichtiges unterscheidendes Merkmal – für poli-       ses Gegenstück »wahre Demokratie«, die Herrschaft des       lichen Rahmenbedingungen vorauszuschalten, die im
                        Verschärfung der vielfältigen Krisen tatenlos zuzuse-        tisches Handeln endgültig keinen verlässlichen norma-        dann nicht mehr nur seinem Anspruch nach autonomen          rasenden Zerstreuungs-, Ablenkungs- und Betäubungs-
                        hen.                                                         tiven Bezugspunkt mehr, nicht einmal mehr einen öko-         Subjekts. Demokratisierung war das emanzipatorisch-po-      betrieb systematisch ausgeblendet wird. Das bringt mich
                             In den frühen 1990er Jahren, als die Welt zwar längst   logischen, weil nämlich der modernistische Dualismus         litische Projekt. Die politische Führerschaft für dieses    nun zum Phänomen der Post-Politik.
                        postmodern, die Krisenlage aber noch weniger viel-           von Natur und Gesellschaft, Natur und Kultur, Subjekti-      Projekt übernahm mit den neuen sozialen Bewegungen
                        schichtig war, schrieb Ulrich Beck, mit der ökologischen     vität und Objektivität obsolet geworden ist.                 der 1970er Jahre die so genannte Zivilgesellschaft. Sie     Post-Politik
                        Krise hätten sich moderne Gesellschaften »einen neuen            Was immer wir bisher als kategorischen Imperativ         wurde zur Speerspitze der egalitären, redistributiven       Dieser Begriff bezeichnet für die Mehrheit seiner
                        inhaltlichen Sinnhorizont« geschaffen. 4 Die ökologische     betrachtet haben, zuletzt eben die kategorischen Impe-       und ökologischen Demokratisierung.                          Benutzer*innen einen Zustand, in dem die wesentli-
                                 Frage sei für die »postmoderne, abgeschlaffte,      rative der Ökologiekrise oder des Klimawandels, verliert          Doch erstens hat sich das (Selbst-)Verständnis von     chen Parameter, die das gesellschaftliche Leben
   4 Beck, Ulrich (1993): Die
                                 gesättigte, sinnleere, fatalistische Gänseleber-    im Anthropozän den Status der normativen Verbind-            Zivilgesellschaft seither erheblich verändert und paral-    bestimmen, nicht mehr politisch ausgehandelt 9 Swyngedouw,
         Erfindung des Politi-
  schen. Frankfurt am Main:
                                 Kultur« eine Art »Himmelsgeschenk«, weil sie        lichkeit. Ulrich Becks »Himmelsgeschenk« wird jetzt          lel dazu das Verhältnis der Zivilgesellschaft zur Demo-     werden, sondern als unverhandelbare Systemim- Erik; Wilson, Japhy
                     Suhrkamp. nämlich jenseits von Religion und transzenden-        plötzlich wertlos; seine zweite oder reflexive Moderne       kratie. Erinnert sei hier nur an die rechtspopulistischen   perative und Alternativlosigkeiten dargestellt (Eds.) (2014): The
                                                                                                                                                                                                                                                                    Post-Political and Its
   5 Crutzen, Paul J. (2006): taler Vernunft »neue Fraglosigkeiten – Rigidi-         wird von einer neuen, einer »dritten« Moderne abgelöst. 7    Bewegungen. Zweitens hat sich auch das Verhältnis der       werden. 9 Hier wird nicht nur das demokratische Discontents: Spaces of
        The »anthropocene«. täten« schaffe, die der zermürbenden postmo-             Das genau ist die besondere Situation, mit der – und in      Zivilgesellschaft zur bestehenden gesellschaftlichen        Grundprinzip der Freiheit, Selbstbestimmung Depoliticization, Spec-
 Berlin, Heidelberg: Springer.
                                 dernen »Dauer- und Selbstbefragung endlich          der – wir uns arrangieren müssen. Was bedeutet das für       Ordnung verändert: Der aktivierende Staat sieht in der      und Volkssouveränität ausgesetzt, sondern noch tres of Radical Politics.
     6 Schwägerl, Christian
        (2010): Menschenzeit:
                                 ein Ende bereiten«. Jetzt könne nicht nur wieder    politisches Handeln? Wie soll – und kann – politisches       Zivilgesellschaft kaum mehr eine Bedrohung, sondern         grundlegender der Gestaltungsanspruch der Po- Edinburgh: Edinburgh
 Zerstören oder gestalten? gehandelt werden, sondern es müsse »gehandelt             Handeln aussehen, wenn sich in dieser dritten Moderne        vielmehr eine unverzichtbare Ressource. Und drittens        litik überhaupt deutlich reduziert. Die Bedeutung University Press.
           Die entscheidende werden, und zwar sofort, überall, von allen, unter      der ökologisch-soziale Notstand des Planeten und der         hat sich sowohl das Verständnis von Demokratie selbst       der Politik schnurrt hier nämlich zusammen
 Epoche unseres Planeten. allen Umständen«. Die ökologische Krise, sagte             normative Notstand des Post-Ökologismus 8 zu einem           als auch das Verhältnis zwischen der Demokratie und         auf das möglichst effektive Management des vermeint-
   München: Riemann Verlag.
                                 Beck, ließe die Option der »Ökologiedienstver-      doppelten Handlungsnotstand addieren?                        der bestehenden Ordnung verändert: Der Neoliberalis-        lich oder tatsächlich Unabänderlichen. Zur Erklärung
      7 Zu den drei Phasen der
         Moderne vgl. Kapitel 1
                                 weigerung« einfach nicht mehr zu. Sie katapul-                                                                   mus hat die Demokratie längst für seine anti-egalitäre      dieses Zustands wird zumeist auf die Globalisierung
     in: Blühdorn, Ingolfur tiere die Gesellschaft in eine neue, eine zweite,        Orientierungssuche                                           Agenda vereinnahmt, und illiberale Verständnisse von        verwiesen, in deren Vollzug sich die gesellschaftlichen
     (2013): Simulative Demo- eine reflexive Moderne.                                In guter kritischer Tradition halten wir einstweilen an      Demokratie breiten sich aus.                                Funktionssysteme, allen voran das ökonomische, weit
    kratie: neue Politik nach        Unter den heutigen Bedingungen der multi-       den normativen Ansprüchen und Erwartungen fest, die               Vor diesem Hintergrund haben sich die Rolle, die       über nationalstaatliche Grenzen hinaus ausgedehnt und
  der postdemokratischen
                                 plen Krise scheint das noch viel mehr zu gelten     bis in die zweite, reflexive Moderne hinein Gültigkeit be-   Qualität, die Realität von politischem Handeln grund-       sich damit jeder wirksamen politischen Kontrolle entzo-
    Wende. Berlin: Suhrkamp
         8 Blühdorn, Ingolfur
                                 als vor 25 oder 30 Jahren. Denn was Ulrich Beck     anspruchten: Politisches Handeln sollte emanzipatorisch      legend gewandelt: Politisches Handeln ist zahnlos,          gen haben. Ganz wesentlich wird die Post-Politik aber
       (2000): Post-ecologist seinerzeit als »Risikogesellschaft« beschrieb, die     sein, auf das gerichtet, was in der bestehenden Ordnung      gleichgeschaltet, neutralisiert. Tatsächlich stellt sich    auch als das Ergebnis strategischer »Entpolitisierung«
              Politics. London; man mit den Mitteln einer »reflexiven Moderni-       noch nicht verwirklicht oder noch ausgeschlossen ist.        die Frage, ob es überhaupt noch Formen von politischem      erklärt, die von anti-demokratischen Eliten betrieben
           New York: Routlegde. sierung« bändigen könne, um in einer »zweiten        Es müsse darauf zielen, die Subjektivitäten und Identi-      Handeln gibt, die die bestehende Ordnung wirklich he-       werde, um anti-egalitäre und exklusive Interessen gegen
                                 Moderne« dann endlich all die emanzipatori-         täten, individuell und kollektiv, zur Geltung zu bringen,    rausfordern und über sie hinaus weisen. Selbst die ver-     emanzipatorische Forderungen nach demokratischer
                        schen Versprechen umzusetzen, die die bisherige »ers-        denen bisher ihre Freiheit und Selbstbestimmung noch         meintlich radikalste Herausforderung dieser Ordnung,        Rechtfertigung abzuschirmen. Dieses Verständnis von
                        te« oder »lineare« Moderne noch nicht einlösen konnte,       verwehrt waren. In der post-marxistischen und post-fa-       der Terrorismus, ist offensichtlicher denn je eine Art      Post-Politik ist keineswegs falsch. Und in dem Maße, wie
                        hat sich inzwischen in die noch sehr viel schwierigere       schistischen Tradition galt zweitens der Grundsatz, dass     Rettungsring – böswillig könnte man sagen: »ein Him-        diese Analyse zutrifft, ist dann auch klar, worauf politi-
                        Konstellation des Anthropozäns weiter entwickelt. Im         politisches Handeln die etablierte Ordnung, die beste-       melsgeschenk«, das diese Ordnung umso dringender            sches Handeln zielen muss: auf die Machtstrukturen, die
                        Anthropozän – das wird als das unterscheidende Merk-         henden Herrschaftsstrukturen, kontinuierlich kritisch        braucht, je mehr ihre wirtschaftlichen, sozialen, öko-      diese Entpolitisierung ermöglichen, und auf die Repo-
                        mal dieser neuen erdgeschichtlichen Epoche jenseits des      herausfordern müsse, dass politisches Handeln sich nie-      logischen und politischen Schieflagen die Revision de-      litisierung der vermeintlich nicht mehr verhandelbaren
                        Holozäns beschrieben – ist die menschliche Aktivität zu      mals von der bestehenden Ordnung vereinnahmen und            mokratischer Errungenschaften erforderlich machen,          Inhalte. Aber diese Analyse erfasst bestenfalls die halbe
                        einem bestimmenden Faktor der Entwicklung unseres            instrumentalisieren lassen dürfe. Insbesondere müsse         die aber ihrerseits doch ein Quantum demokratischer         Wahrheit.
                        Planeten geworden, und zwar dergestalt, dass sich die        es sich mit allen Mitteln seiner kapitalistischen Inwert-    Legitimierung benötigt. So wird es gerade angesichts             Ein komplexeres Verständnis von Post-Politik und
                        Probleme der Risikogesellschaft inzwischen zu einem          setzung versperren und stattdessen – ebenso wie die au-      der Notstandsrhetorik zum Zwang, vom schnellen »Was         der postpolitischen Konstellation ergibt sich, wenn wir ihre
                        umfassenden »planetarischen Notstand« ausgewachsen           thentische Kunst – stets darauf gerichtet sein, gerade das   tun« Abstand zu nehmen – zumindest, wenn es weiter-         zweite wesentliche Ursache, die Entpolitisierung, ins

12                                                                                                                                                                                                                                                                                           13
Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
Verhältnis zu ihrem Gegenstück, zur Politisierung, set-         Werten, der Hybridisierung und Dynamisierung von              selbst unveränderlichen Norm, sondern auch die schritt-          der Vernunft inhärenten Prinzipien der Freiheit, Gleich-
                      zen. Politisierung war und ist das Instrument, mit dem          Identitäten und der entsprechend zunehmenden Gefahr           weise Weiterentwicklung dieser Norm selbst. Unter ande-          heit und Brüderlichkeit. In jedem Falle aber wäre all dies
                      emanzipatorische Bewegungen etablierte normative und            der demokratischen Selbstlähmung verspricht Entpoliti-        rem hat die individuelle Dimension des autonomen Subjekts        eine emanzipatorische Verlängerung des Kantischen Auszugs
                      institutionelle Ordnungen aufzubrechen versuchen, um            sierung, dass sich zumindest ein gewisses Maß an politi-      gegenüber der kollektiven erheblich an Bedeutung gewon-          aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Es wäre der
                      Freiräume für Werte, Identitäten und Lebensformen zu            scher Handlungsfähigkeit, Legitimität und Autorität si-       nen. Zweitens wird die Autonomie des Subjekts heute im-          Auszug aus Becks zweiter Moderne, die ja ein neuerlicher
                      schaffen, die sich bisher nicht entfalten konnten. Politi-      chern oder zurückgewinnen lasse. Und das scheint umso         mer weniger als Unterschiedenheit und Unabhängigkeit             Anlauf sein sollte, die Versprechen der Aufklärung ein-
                      sierung macht Anspruch auf Entscheid- und Gestaltbar-           dringlicher, je mehr sich die latenten Krisen zu akuten       von Markt und Konsum verstanden, und immer mehr als              zulösen – genau die Versprechen, deren Implikationen
                      keit. Sie stellt die etablierte Ordnung in Frage, aber stets    Notständen zuspitzen.                                         Freiheit und Selbstbestimmtheit in Markt und Konsum.             nunmehr vor allem als Zumutungen wahrgenommen und
                      innerhalb eines Rahmens, der selbst nicht zur Diskus-               Entpolitisierung ist mithin, zumindest auch, eine         Drittens hat das solchermaßen individualisierte und in           als Ballast abgeworfen werden. Kaum auszudenken, was
                      sion steht, sondern die legitimierende und Autorität ver-       Strategie, um das emanzipatorische Projekt zu sichern,        den Markt integrierte Subjekt gewissermaßen seinen               das für politisches Handeln bedeuten würde, das ja stets
                      schaffende Norm angibt, an deren Maßstab politisiert,           wenn es in Gefahr ist, seine eigenen normativen Grund-        Aggregatzustand verändert. Im Zuge der fortlaufenden             emanzipatorisch sein soll und ausgerichtet auf das Ideal
                      d.h. in Frage gestellt wird.                                    lagen zu zersetzen. Sie soll im Interesse der selbstbe-       Modernisierung wurde nämlich das Ideal der verfestigten          der wahren Demokratie.
                           Für die neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er          stimmten Bürger*innen, im Interesse der politischen           und gefestigten Identität abgelöst oder zumindest ergänzt
                      Jahren – aber letztlich für alle emanzipatorischen Be-          Gestaltung, »die Sache«, das wahre Gemeinwohl, in den         durch das Ideal des vielschichtigen, flexiblen, flüchtigen,      Peak Democracy
                      wegungen seit der Französischen Revolution überhaupt            Mittelpunkt rücken, die für die richtige Entscheidung er-     also eben gerade nicht mit sich identischen Ichs. Der Ar-        Tatsächlich führt die Emanzipation zweiter Ordnung mo-
                      – war diese ihrerseits nicht zur Diskussion stehende            forderliche Fachkompetenz garantieren, und Reibungs-          beitsmarkt, der berufliche Erfolg, das Management des            derne Gesellschaften an einen Wendepunkt, an dem der
                      Bezugsgröße die aufklärerische Norm des autonomen               verluste wie die auszehrende Wirkung reiner Machtstrei-       privaten Lebens erfordern Flexibilität, Vielseitigkeit, In-      Grenznutzen von mehr Demokratie in dem Sinne, wie die
                      Subjekts: die unantastbare Würde des Menschen, die als          tigkeiten minimieren. Die postpolitische Konstellation ist    novationsbereitschaft und Außenorientierung. Die noch            neuen sozialen Bewegungen sie noch verstanden hatten,
                      universell vorgestellten Menschenrechte, oder auch ka-          entsprechend also keineswegs bloß das Machwerk einer          von den sozialen Bewegungen emph-atisch eingeforderte            minimal oder sogar negativ wird: Ich bezeichne diesen
                      tegorische ökologische Imperative, die der Norm des au-         anti-demokratischen, ihre eigenen Privilegien sichernden      Idealvorstellung des Subjekts ist damit all ihren Implika-       Punkt als peak democracy. Mehr Demokratie wird zur Be-
                      tonomen Subjekts einbeschrieben seien.                          Elite, sondern – zumindest auch – selbst die Verlängerung     tionen von Konsequenz, Selbstdisziplin, Prinzipientreue,         lastung, zum Beispiel weil unter Bedingungen der Be-
                           Wenn nun aber dieser vorpolitische normative Be-           der emanzipatorischen Agenda. So schwierig es auch sein       Innerlichkeit und Gemeinwohlorientierung zur Belastung           schleunigung und Komplexität die Ressourcen der Men-
                      zugspunkt nicht unpolitisch bleibt, sondern selbst zum          mag: Politisches Handeln muss das reflektieren! Wie bri-      geworden.                                                        schen vom Management des persönlichen Lebens meist
      10 Mair, Peter (2006): Gegenstand der Politisierung wird, dann entfal-          sant diese Sachlage tatsächlich ist, wird noch klarer, wenn        So hat sich also das gesellschaftliche Verständnis von      bereits so vollständig ausgeschöpft werden, dass für öf-
 Ruling the void: The hol- tet sich schnell ein Wirbelsturm der Unsicher-             wir sie noch einmal aus der Perspektive der emanzipatori-     Autonomie, Subjektivität und Identität, das der normati-         fentliche Angelegenheiten schlicht keine Kapazi- 12
                                                                                                                                                                                                                                                                            Blühdorn, Ingolfur
         lowing of Western heit. Die entfesselte Politisierung führt dann in          schen Zentralkategorie, der Norm des autonomen Subjekts,      ve Referenzpunkt des emanzipatorisch-demokratischen              täten mehr frei sind. Zweitens scheinen sich viele (2013): »Die postdemokrati-
       democracy. New Left den Worten des bereits zitierten Ulrich Beck in            durchdenken.                                                  Projektes ist und im normativen Zentrum politischen              der drängendsten Probleme – und Bedingungen sche Wende«, in: Simulative
            Review, 42, 25-51.
                               »Unlebbarkeiten der Individualisierung« und                                                                          Handelns stehen soll, im Zuge der fortschreitenden Mo-           des erfüllten Lebens – auf nicht-demokratische Demokratie: neue Politik
         11 Crozier, Michel;
  Huntington, Samuel P.; in die »Unlebbarkeit der Moderne« überhaupt.                 Emanzipation zweiter Ordnung                                  dernisierung grundlegend verändert. Sowohl die post-             Weise deutlich besser, bzw. auf demokratische nach der postdemokra-
                                                                                                                                                                                                                                                                          tischen Wende. Berlin:
      Watanuki, Joji (1975): Und hier liegt der Zusammenhang zwischen der             Diese protestantisch-aufklärerische Norm ist, wie ge-         marxistische als auch die bürgerliche Tradition diagnosti-       Weise überhaupt nicht mehr, lösen zu lassen:
                                                                                                                                                                                                                                                                          Suhrkamp Verlag, 114-166.
 The Crisis of Democracy: emanzipatorischen Politisierung auf der einen               sagt, der Dreh- und Angelpunkt des emanzipatorischen          zieren hier vor allem Entfremdung und Verfall. Angesichts        die Wirtschaft ankurbeln, die Umwelt schonen,
  Report on the Governa- Seite und der Post-Politik und dem sich ausbrei-             Projekts. Besonders nachdrücklich ist diese Norm des          der sich neu eröffnenden Freiheiten und Möglichkeiten            bezahlbare Konsumgüter bereitstellen, Terror
  bility of Democracies to
                               tenden anti-political sentiment 10 auf der anderen:    halb individualistisch, halb kollektiv, auf jeden Fall aber   muss man aber wohl eher von Emanzipation aus zu eng ge-          abwehren usf. Drittens, und vielleicht am allerwichtigs-
 the Trilateral Comission.
       Triangle Papers Vol. 8. Die  Politisierung und Ausdifferenzierung ge-          als autonom gedachten Subjekts zuletzt von den neuen          wordenen Zwängen sprechen. Ich nenne das Emanzipation            ten: Wenn die Grenzen des Wachstums überdeutlich her-
          New York: New York   lebter  Ideale von Subjektivität, Identität, Selbst-   sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er artikuliert         zweiter Ordnung12. In ihrem Vollzug wird die inzwischen he-      vortreten und schon der bloße Statuserhalt, geschweige
             University Press. bestimmung und Selbstverwirklichung gehörte            worden, die dieser Norm auch zu der breiten gesell-           gemonial gewordene Norm des freien und selbstbestimm-            denn weitere Wohlstandsgewinne, nur noch durch Wohl-
                               nämlich zum Kernprogramm der emanzipatori-             schaftlichen Verankerung verholfen haben, die sie heu-        ten Individuums so neu interpretiert, dass eine Befreiung        standsverminderung an anderer Stelle erreicht werden
                      schen Bewegungen. Und diese Politisierung und Subjek-           te hat. Ulrich Beck hat insofern ganz zu Recht von einer      von restringierenden Elementen früherer Subjektivitäts-,         können, werden die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit
                      tivierung aller Referenznormen führte nicht nur, wie von        »Renaissance der politischen Subjektivität« in den 1980er     Identitäts- und Autonomieverständnisse vollzogen wird.           und Brüderlichkeit nicht nur für die Eliten zur Belastung,
                      konservativer Seite11 bereits in den 1970er Jahren gearg-       Jahren gesprochen.                                                 Wenn wir Immanuel Kants berühmten Auszug der Bür-           sondern überall dort, wo es Erreichtes zu verteidigen gilt
                      wöhnt wurde, unvermeidlich zu government overload und               Nun blieb aber dieses Ideal des autonomen Sub-            ger aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit als die Emanzi-   und sozialer Abstieg droht. Die derzeitige Flüchtlingskri-
                      ungovernability, sondern sie schlägt – und zwar in eman-        jekts, dieses normative Herzstück sowohl der Moderne          pation erster Ordnung bezeichnen wollen, dann könnte             se zeigt das in aller Deutlichkeit. Tatsächlich beobachten
                      zipatorischer Absicht – in Entpolitisierungsbestrebungen        als auch des emanzipatorisch-demokratischen Projekts,         diese Emanzipation zweiter Ordnung als der Auszug der            wir statt des Kantischen und noch von Beck in Aussicht
                      um. Denn angesichts der stetig wachsenden Komple-               vom Prozess der fortschreitenden Modernisierung nicht         Bürger aus der Kantischen Norm des autonomen Subjekts ver-       gestellten Kosmopolitanismus heute allenthalben den
                      xität von Problem- und Interessenkonstellationen, der           selbst unberührt. Modernisierung bedeutete nicht ein-         standen werden, d.h. als der Auszug aus den kategori-            Versuch, durch Grenzziehung, Abspaltung und Allein-
                      fortschreitenden Pluralisierung von gesellschaftlichen          fach nur die schrittweise Durchsetzung dieser für sich        schen Imperativen der Vernunft und der Abschied von den          gänge wenigstens ein gewisses Maß an Sicherheit und

14                                                                                                                                                                                                                                                                                              15
Was tun. politisches handeln jetzt. dokumentation der jubiläumskonferenz 60 jahre dramaturgische gesellschaft 28. bis 31. januar 2016 im deutschen ...
Schutz im Wirbelwind des entfesselten Liberalismus                will!« oder »Hier kann jeder meine Meinung sagen!« brin-        eine Vielfalt gesellschaftlicher Akteure bereitwillig und    rung und Exklusion. Es ist obszön – und alternativlos?
                und Kapitalismus zu erreichen. Diese Sicherheit liegt             gen diese Transformation auf den Punkt. Hier sprechen           engagiert beteiligt; konkreter: die Allianz all derer, die   Stunden später berichten die Medien vom Mut und der
                freilich nur noch darin, dass man sich von der Verkleine-         Demokraten, die sich aus den Verbindlichkeiten, die mit         im Sinne der Emanzipation zweiter Ordnung ein gemein-        Standhaftigkeit der aufrichtigen Bürger*innen, die sich
                rung, vom Ballastabwerfen, wenigstens kurzfristig einen           dem traditionellen Verständnis von demokratischer Bür-          sames Interesse daran haben, die bestehende, offen-          nicht einschüchtern lassen und ihre Geschäftigkeit in
                Wettbewerbsvorteil für die nächste Etappe des Exklusi-            gerschaft oder gar kosmopolitischer Weltbürgerschaft            sichtlich nicht nachhaltige – nicht haltbare – Ordnung       den Einkaufsstraßen unerschrocken fortsetzten. Die ge-
                onskampfes verspricht.                                            einhergehen, befreit haben, und sich unbedingter denn           der stetig zunehmenden Ausgrenzung und Ungleichheit          genüberliegende Zeitungsseite informiert derweil, wel-
                    Das traditionelle Versprechen, dass wir gemeinsam             je als Mittelpunkt ihrer Welt verstehen. Sie schaffen sich      dennoch aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wollen sie sich     che Artikel beim Discounter »Jetzt in der Aktion!« sind.
                stark seien, verkehrt sich somit in die Hoffnung, dass wir        Kommunikations- und Handlungsformen, in denen die               aber versichern, dass die Werte der Gleichheit, der sozia-   Wenn Theater, Kunst und Sozialwissenschaft auch im
                in der kleineren Gruppe oder sogar alleine stärker oder           widersprüchlichen Bedürfnislagen der postdemokrati-             len Gerechtigkeit und ökologischen Integrität unvermin-      Zeichen der Post-Politik daran festhalten wollen, sich
                am stärksten seien. Das Prinzip der Inklusion verwandelt          schen Konstellation be- und verarbeitet werden können.          derte Gültigkeit behalten. Völlig abwegig ist daher auch     nicht als Ressource vereinnahmen zu lassen, dann kann
                sich in das der Exklusion – wohlgemerkt im Zeichen der            Ihr Dilemma, und das moderner Konsumentendemokra-               die Vorstellung, emanzipatorische Werte, Demokratie,         »Was tun. Politisches Handeln jetzt« nur bedeuten, diese
                Emanzipation. Die Theorie der Emanzipation zweiter                tien überhaupt, liegt darin, dass sie einerseits demokrati-     Politik würden hier bloß noch inszeniert; die wahre De-      Widersprüche sichtbar zu machen.
                Ordnung führt uns also an einen Punkt, an dem deutlich            sche Normen und ihr demokratisches Selbstverständnis            mokratie sei zur simulativen Demokratie verkommen.
                wird, dass die Wiederbelebung der sogenannten echten              aufrechtzuerhalten versuchen, andererseits aber gleich-         Solche Behauptungen sind in dem Maße falsch (oder
                Demokratie, die Rückeroberung der Demokratie aus den              zeitig eine Politik betreiben, die sich, der Emanzipation       selbst simulativ), in dem sie implizieren, die authenti-
                Fängen anti-egalitärer Eliten, wie sie dem überwiegen-            zweiter Ordnung und der postdemokratischen Wende                sche Alternative sei überhaupt noch eine Option und ein
                den Teil der sich als emanzipatorisch-kritisch verste-            entsprechend, von eben diesen demokratischen Normen             politisches Projekt.
                henden Linken vorschwebt, nicht nur ein soziologisch              abwendet, zugunsten einer Agenda der Entpolitisierung,              Jenseits der rein kommunikativen Themenparks ist
                zunehmend unplausibles, sondern auch ein normativ                 Individualisierung, ökonomischen Effizienz, materiellen         das unspezifische und immer wohlmeinende Was tun
                zunehmend zweifelhaftes Projekt ist. Genau genom-                 Ungleichheit und sozialen Exklusion. Zur Bewältigung            die Grundform der Simulation. Gerade indem es, wie
                men muss politisches Handeln, das dieser Agenda folgt,            dieses Dilemmas entwickeln sie Kommunikations- und              immer andeutungsweise, in der Aktion die etablier-
                möglicherweise in genau dem Maße, wie es sich weigert             Handlungsformen, mit denen demokratisch-egalitäre               te Ordnung herausfordert und die Alternative erlebbar
                zur Kenntnis zu nehmen, dass die postdemokratische Kon-           Werte artikuliert und erlebbar gemacht werden können,           macht, stabilisiert politisches Handeln jetzt genau das,
                stellation sich im Zuge des emanzipatorischen Fort-               ohne dass dabei die gleichermaßen gültigen postdemo-            worauf es sich kritisch bezieht. Nicht nur Politik wird
                schrittes herausbildet, als reaktionär bezeichnet werden.         kratisch-exklusiven Wertpräferenzen in Frage gestellt           hier zum Theater; nicht nur Politiker*innen werden zu
                                                                                  werden müssen. Diese Kommunikations- und Hand-                  Politikdarsteller*innen, sondern die Darstellung, das
                   Das postdemokratische Paradox                                  lungsformen sind meines Erachtens das Kernstück und             Zum-Erscheinen-Bringen und Erlebbar-Machen von ega-
                   Nun ist es allerdings so, dass die Emanzipation zweiter        unterscheidende Merkmal unserer heutigen liberalen              litären Werten, von Demokratie, des Politischen, ist ein
                   Ordnung zwar der Demokratie, wie die neuen sozialen            Demokratien. Ich bezeichne sie als Diskurse der Simulation      breit angelegtes gesellschaftliches Projekt. Und im glei-
                   Bewegungen der 1980er Jahre sie noch verstanden hat-           und entsprechend die derzeitige Erscheinungsform der            chen Maße, wie das Bewusstsein der Nicht-Haltbarkeit
                   ten, den normativen Boden entzieht, aber gleichzeitig          liberalen Demokratie als simulative Demokratie.                 der bestehenden Ordnung einerseits und der entschiede-
                   entfaltet sie auch – eben als Emanzipationsprozess – die                                                                       ne Verteidigungskonsens andererseits sich verfestigen,
                   Freiheits-, Selbstbestimmungs-, Selbstverwirklichungs-         Kollektives Theater                                             steigt das Bedürfnis nach Arenen, in denen die Kritik,
                   und Zentralitätsansprüche moderner Individuen immer            Von großer Bedeutung ist dabei, dass diese simulative           die Alternative, kommuniziert und erlebbar gemacht
                   weiter. So wachsen zwar ständig die Zweifel an der De-         Demokratie auf gar keinen Fall bloß als ein Projekt von         werden kann. Hier liegt wohl auch die Erklärung für die
                   mokratie und das anti-demokratische Gefühl,13 aber gleich-     neo-liberalen Eliten verstanden werden darf, die zum            eingangs festgestellte auffällige Nachfrage nach politi-
                   zeitig verlangen moderne Bürger*innen doch immer               Zwecke der Manipulation, Täuschung und Kontrolle der            sierter, engagierter Kunst.
     13 Ranciére, Jacques selbstbewusster und kompromissloser nach de-            Massen, der berühmten 99 Prozent, politische Scheinver-             Aber jenseits des gesellschaftskritischen Theaters ist
      (2011): Der Hass der mokratischer Partizipation, Repräsentation, Le-        anstaltungen inszenieren. Simulative Demokratie ent-            das Bekenntnis zum Status Quo unerschütterlich. Am al-
      Demokratie. Berlin: gitimation und Responsivität. Ich bezeichne das         steht vielmehr, wie ich zu zeigen versucht habe, im Zuge        lerdeutlichsten wird das bei der kollektiven Neuvereidi-
             August Verlag. als das postdemokratische Paradox. Dieses ist dafür   der Emanzipation zweiter Ordnung, und muss daher, so            gung, die auf jeden terroristischen Anschlag folgt: »Wir
                            verantwortlich, dass wir im Moment entgegen           irritierend das ist, als emanzipatorische Errungenschaft ver-   stehen fest zusammen«, bekennen wir dann ritualisiert,
                   populären Abgesängen auf die Demokratie keineswegs             standen werden! Wenn Begriffe wie Täuschung und Illu-           »und werden unsere Freiheit, unsere Werte, mit Ent-
                   deren Ende oder Tod beobachten, sondern vielmehr eine          sionierung hier überhaupt angemessen sind, könnten die          schiedenheit und allen zur Verfügung stehenden Mitteln
                   grundlegende Transformation der Demokratie.                    Simulationsdiskurse allenfalls als Praktiken der kollekti-      verteidigen.« Das ist ein klares Bekenntnis zur Ordnung
                   Populäre Sprüche wie »Hier darf jeder machen, was ich          ven Selbstillusionierung begriffen werden, an denen sich        der Nichtnachhaltigkeit, der fortschreitenden Zerstö-

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