Keep in touch Alumni - "Weltweite Probleme sind nur in weltweiten Netzwerken lösbar." - RWTH Publications

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Keep in touch Alumni - "Weltweite Probleme sind nur in weltweiten Netzwerken lösbar." - RWTH Publications
Alumni-Magazin Nr. 69/70 I Wintersemester 2020/2021

keep in touch
 Alumni

„Weltweite Probleme sind nur in
weltweiten Netzwerken lösbar.“
Interview mit Alumnus Prof. Dr. Joybrato Mukherjee,
neuer Präsident des DAAD

Die RWTH und die Corona-Pandemie           Zum Hochschuljubiläum                    Wissenschaft & Wirtschaft
Forschung und Entwicklungen                Wissenschaftliche Ideen vor die Kamera   100 Jahre Flugwissenschaftliche
gegen das Virus                            getragen                                 Vereinigung Aachen (FVA)
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                                       Das Brennstoffzellen-Heizgerät Vitovalor PT2
                                       versorgt einen 4-Personen-Haushalt mit
                                       Wärme, deckt einen großen Teil des Strom-
                                       bedarfs und spart dabei bis zu 40 Prozent
                                       Energie sowie 50 Prozent CO₂ gegenüber
                                       separater Wärme- und Stromerzeugung ein.

    Effizienzsystem                    Überschüssiger Strom kann im Stromspei-
                                       cher-System Vitocharge VX3 vorgehalten

    für Wärme und
                                       und später bei Bedarf abgerufen werden.
                                       Damit steht der selbst erzeugte Strom
                                       genau dann zur Verfügung, wenn er ge-

    Strom                              braucht wird – zum Beispiel für das Aufla-
                                       den eines Elektrofahrzeugs.

                                       Mit der innovativen GridBox haben An-
                                       wender die Stromerzeugung, den Strom-
                                       verbrauch und den Ladezustand des
     Brennstoffzellen-Heizgerät,       Speichers stets im Blick. Die GridBox ver-
     Stromspeicher und intelligentes   bindet alle strombasierten Komponenten
                                       und liefert detaillierte Energiebilanzen für
     Energie-Management                ein intelligentes Energie-Management.

                                       viessmann.de/vitovalor

                                                           Viessmann Deutschland GmbH
                                               35107 Allendorf (Eder) | Telefon 06452 70-0

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erschwerten Bedingungen funktioniert. Ich
                                                                                                                 bin mir sicher, dass vieles aus der neuen
                                                                                                                 digitalen Arbeitswelt erhalten bleiben wird,
                                                                                                                 wie etwa die selbstverständliche Nutzung
                                                                                                                 von Videokonferenzplattformen. Gleichzei-
                                                                                                                 tig ist es natürlich unser aller dringender
                                                                                                                 Wunsch, möglichst bald in eine Präsenz-
                                                                                                                 kultur zurückkehren zu können und die
                                                                                                                 persönlichen Begegnungen wiederaufzu-
                                                                                                                 nehmen.

                                                                                                                 Dieser Wunsch ist mir umso mehr ein An­
                                                                                                                 liegen, als uns die Pandemie in einem denk-
                                                                                                                 bar unglücklichen Moment erwischt hat.
                                                                                                                 Im Jahr 2020 feiert die RWTH ihr 150-jähri-
                                                                                                                 ges Jubiläum, und wir hatten eine Vielzahl
                                                                                                                 an tollen Veranstaltungen geplant. Der im
                                                                                                                 März 2020 geplante Wissenschaftsabend
                                                                                                                 in Berlin, zu dem wir u.a. die Bundeskanz-
                                                                                                                 lerin der Bundesrepublik Deutschland,
                                                                                           Foto: Peter Winandy
                                                                                                                 Dr. Angela Merkel, und den Ministerpräsi-
Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen                                 denten des Landes Nordrhein-Westfalen,
                                                                                                                 Armin Laschet, begrüßen wollten, war das
Angemerkt –                                                                                                      erste Event, das wir schweren Herzens
                                                                                                                 absagen mussten. Auch die Durchführung
Die Rektor-Kolumne                                                                                               des Jubiläumsfestes, des Alumni-Tags, un-
                                                                                                                 serer Jubiläumsausstellung und der großen
Liebe Alumni,                                                    schule den neuen Gegebenheiten anzu-            Jubiläumsshow am 10.10.2020, unserem
                                                                 passen und die aktuellen Entwicklungen          Gründungstag, war nicht möglich. Trotz-
vor Ihnen liegt eine Doppelausgabe un-                           transparent zu kommunizieren.                   dem haben wir das Beste aus der Situation
seres Alumni-Magazins „keep in touch“.                                                                           gemacht und uns einmal mehr von unserer
Nachdem die letzte Ausgabe im Frühjahr                           Eine der großen Herausforderungen ist           innovativen Seite gezeigt – lesen Sie mehr
2020 aufgrund der Corona-Pandemie                                es dabei, die Lehre und Forschung an            dazu im Innenteil. Ich hoffe sehr, dass
nicht erscheinen konnte, haben wir nun                           der RWTH auf hohem Niveau aufrecht zu           sich viele der in diesem Jahr abgesagten
umso mehr Informationen rund um die                              halten und gleichzeitig unseren Teil beizu-     Veranstaltungen, möglichst bald nachholen
RWTH Aachen für Sie zusammengetragen.                            tragen, die Pandemie einzudämmen sowie          lassen. Live-Veranstaltungen sind durch
                                                                 unsere Studierenden und Mitarbeitenden          nichts zu ersetzen, gerade auch im Kontakt
2020 ist für uns alle ein ganz besonderes                        vor einer Ansteckung zu schützen. Mit           zu unseren Alumni.
Jahr. Wir sind mit einer weltweiten Krise                        Blick auf die kurzfristig notwendig gewor-
konfrontiert, die unser Leben auf den Kopf                       dene flächendeckende Digitalisierung der        Ich wünsche Ihnen eine informative und
stellt. Das betrifft die vielen Menschen,                        Lehre hatten wir das Glück, auf eine funk-      unterhaltsame Lektüre, aber vor allem
die an COVID-19 erkrankt sind, die sich                          tionierende Infrastruktur und hervorragen-      Gesundheit, Optimismus und Durchhalte-
um Angehörige sorgen oder auch deren                             de Serviceeinrichtungen wie etwa unser          vermögen! Kommen Sie gut durch diese
berufliche Existenz bedroht ist. Und es                          Center für Lehr- und Lernservices zurück-       Zeit!
betrifft auch uns an der RWTH Aachen.                            greifen zu können. Das Sommersemester
Mit zunehmenden Infektionszahlen sahen                           2020 wurde weitgehend digital durchge-          Mit freundlichen Grüßen aus Aachen
wir uns im März dieses Jahres gezwungen,                         führt, und ebenso sind wir nun auch ins
einen Krisenstab einzurichten, der unseren                       Wintersemester 2020/21 gestartet. Auch          Ihr
Umgang mit der Krise koordiniert. Dieser                         die Arbeit in den Instituten und in der Ver-
Krisenstab wird vom Ständigen Vertreter                          waltung konnte größtenteils ohne Probleme
des Kanzlers, Thomas Trännapp, geleitet                          weitergeführt werden. Viele Mitarbeiterin-
und arbeitet seither unermüdlich daran,                          nen und Mitarbeiter arbeiten derzeit im
die gesetzlichen Regelungen umzusetzen,                          Home-Office, und es freut mich sehr zu          Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult.
das Studien- und Arbeitsumfeld der Hoch-                         sehen, wie gut die Hochschule auch unter        Ulrich Rüdiger

                                                                                                                                    Vorwort | keep in touch | 3
Keep in touch Alumni - "Weltweite Probleme sind nur in weltweiten Netzwerken lösbar." - RWTH Publications
Inhalt
                             Die RWTH und die Pandemie

                             Im Kampf gegen die Pandemie
                                                                                                                            6
                             Forschungen zum Corona-Virus
                             an der Uniklinik der RWTH Aachen .........................
                             RWTH versus Corona – RWTH-Projekte und Aktionen gegen die Pandemie ................. 12

                             „Das Virus experimentiert mit uns“ – Die Corona-Krise aus soziologischer Sicht............ 14

                             #RWTHhilft – Eine Geste der Solidarität mit Studierenden in der Corona-Krise.............. 16

                             Spenden aus China – Chinesische Alumni helfen der RWTH mit Schutzmasken ........... 18

                             A Shared Human Experience –
                             Video Conference with International RWTH Alumni Leaders........................................... 20

                             150 Jahre RWTH - Lernen. Forschen. Machen.

                             Das Jubiläum
                             in der Pandemie ............................... 24
                             Wissenschaftliche Ideen vor die Kamera getragen –
                             Die RWTH feiert ihren 150sten Geburtstag mit einem Filmabend .................................... 26

                             RWTH-Wissen mit Spaßfaktor –
                             Zum Jubiläum erscheint „Lernen. Forschen. Machen. Das Quiz.“.................................... 28

                             Nur verschoben! – Ausgefallene Jubiläumsveranstaltungen werden nachgeholt ............. 29

                             Alumni persönlich

                             „Weltweite Probleme sind nur in
                             weltweiten Netzwerken lösbar.“
                                                                                                                      30
                             Interview mit Prof. Dr. Joybrato Mukherjee,
                             Alumnus und neuer Präsident des DAAD ...........
                             Wo die großen Fragen der Welt sich treffen – Prof. Dr. Carsten Könneker ...................... 36

                             „Es geht um eine Anerkennungskultur für Vielfalt.“ – Alexis Kamewe engagiert
                             sich für die Integration von ausländischen Menschen in Aachen und der Region ........... 40

4 | keep in touch | Inhalt
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Wissenschaft & Wirtschaft

Gehirnstruktur mit
mikroskopischer Auflösung
Neu in „Science“: der Julich-Brain Atlas .............                                             42
Wirtschaft profitiert erheblich von Wissenschaft –
Hochschulen und Forschungseinrichtungen sorgen
für Innovationen, Arbeitsplätze und Umsätze ................................................................ 46

Erneut mit Ranking-Bestnoten –
RWTH international und in der Informatik mit sehr guten Noten ..................................... 49

„Das einzige, das etwas gewöhnungsbedürftig ist, ist der viele Regen…“ –
Stefan Hecht leitet seit einem Jahr das DWI – Leibniz-Institut für Interaktive Materialien 50

Ein verkannter Rohstoff: Plastikabfall –
Durch Katalyse vom Reststoff zum Wertstoff für nachhaltige Produkte ......................... 52

Spektrum

Ausgewiesener Experte für
Künstliche Intelligenz –
                                                                                                   56
Aachener Ingenieurpreis für
Technologie-Pionier Sebastian Thrun .................
Ein Unternehmen setzt Maßstäbe im Klimaschutz –
Deutscher Umweltpreis für RWTH-Alumnus Hugo Sebastian Trappmann ..................... 60

„Forschen. Bauen. Fliegen.“ – 100 Jahre Fliegerverein an der Aachener Hochschule .... 62

Im Spiegel der europapolitischen Entwicklungen –
Ein Rückblick auf 70 Jahre Internationaler Karlspreis zu Aachen .................................... 67

Weihnachtlicher Besuch des Sultans –
Festschrift „10 Jahre German University of Technology im Oman“ erschienen ............... 70

Alexander von Humboldt, Che Guevara und 20 Tonnen Sand –
Eine kurze Geschichte des Humboldt-Hauses ............................................................... 72

Der Dom, die ewige Baustelle – RWTH-Alumni über den Dächern von Köln .................. 74

                                                                                 Inhalt | keep in touch | 5
Keep in touch Alumni - "Weltweite Probleme sind nur in weltweiten Netzwerken lösbar." - RWTH Publications
Die RWTH und die Pandemie

Im Kampf gegen
die Pandemie
Forschungen zum Corona Virus
an der Uniklinik der RWTH Aachen

                                   Foto: Uniklinik der RWTH Aachen
Keep in touch Alumni - "Weltweite Probleme sind nur in weltweiten Netzwerken lösbar." - RWTH Publications
I
  n den letzten Jahrzehnten standen me-                   der RWTH Aachen haben in den vergan-          Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen
  dizinische Forschung und Wissenschaft                   genen Monaten fieberhaft gearbeitet, um       University, Ausgabe 2.2020, veröffentlicht
  selten so sehr im Fokuss der Öffentlichkeit             neue Erkenntnisse im Kampf gegen Coro-        wurden. Weitere Informationen finden Sie
wie seit Beginn der Corona-Pandemie –                     na zu gewinnen. Nachfolgend beispielhaft      ebenso unter
und das weltweit. Die Menschheit hofft auf                einige Beiträge über die Corona-Projekte
wirksame Therapien für die Betroffenen                    und wissenschaftlichen Arbeiten an der         (dih)
und vor allem auf schnell verfügbare Impf-                Uniklinik, die auch bereits im Wissen-
stoffe gegen das COVID-19-Virus. Auch die                 schaftsmagazin „aachener FORSCHUNG“                     www.ac-forscht.de
Forscherinnen und Forscher der Uniklinik                  der Uniklinik RWTH Aachen und der

Deutschlandweit bisher größte Kohorte:
Charakteristika von 50 Covid-19-Patienten an der Uniklinik RWTH Aachen
Der Landkreis Heinsberg in der Nähe von                   Hier einige wichtige Ergebnisse der Studie:     aufwendige Verfahren kann die Atmung
Aachen ist die Region in Deutschland, in                  · Männer stellen zwei Drittel der Betroffe-     für eine Weile ersetzen, in dem Blut über
der bereits im Februar 2020 eine große                       nen, Frauen nur ein Drittel.                 eine Kanüle aus dem Körper in ein
Zahl infizierter und in der Folge an COVID-               · Alle 50 Patientinnen und Patienten hat-       Gerät geleitet wird, das der Flüssig-
19 erkrankter Menschen auftrat. In der Uni-                  ten bereits eine Vorerkrankung.              keit Kohlendioxid entzieht und sie mit
klinik RWTH Aachen wurden daher sehr                         35 von Ihnen hatten Bluthochdruck,           Sauerstoff anreichert – beides geschieht
früh Patientinnen und Patienten mit COVID-                   29 Diabetes, 25 eine Atemwegserkran-         normalerweise, während das Blut in die
19 in unterschiedlichen Schweregraden                        kung, darunter das chronische Lungen-        Lunge fließt.
behandelt. Unter der Leitung von Profes-                     leiden COPD, Schlaf­apnoe und Asthma.      · Alle Patientinnen und Patienten ohne
sor Michael Dreher, Direktor der Klinik für                  Auch Herz-, Nieren- und Leberleiden          schweres Lungenversagen benötigen
Pneumologie und Internistische Intensiv-                     sowie Krebserkrankungen werden               eine Sauerstoff­therapie.
medizin an der Uniklinik RWTH Aachen,                        genannt.                                   · Patientinnen und Patienten mit einem
haben Aachener Mediziner nun einen                        · Mehr als 80 Prozent hatten zunächst           Lungenversagen hatten häufiger bereits
Fachartikel veröffentlicht, in dem sie die                   Fieber, knapp die Hälfte hatte Husten        eine chronische Atemwegserkrankung
ersten 50 Patientinnen und Patien­ten be-                    oder bereits früh Atembeschwerden.           und waren häufiger übergewichtig als
schreiben und die klinischen Charakteristi-                  Nur je eine Patientin, ein Patient hatte     die COVID-19-Erkrankte in der Klinik,
ka vergleichen. Ein besonderes Augenmerk                     Schnupfen beziehungsweise Kopf-              deren Lunge nicht versagte. Bei anderen
gilt dabei den Verläufen bei Fällen mit oder                 schmerzen, lediglich zwei Halsweh.           Begleiterkrankungen zeigt sich in dieser
ohne ARDS („acute respiratory distress                       Magen-Darm-Beschwerden in Form von           Gruppe kein Unterschied.
syndrome“; Akutes Atemnotsyndrom).                           Erbrechen, Durchfall oder Übelkeit be-
                                                             trafen zu Beginn der Erkrankung immer-     Das Ärzteteam berichtet über diese 50
Dabei zeigen sich einige Unterschiede zu                     hin sechs Patientinnen und Patienten.      Patientinnen und Patienten, während viele
den Berichten über Covid-19-Betroffene                    · Zwischen dem Einsetzen der ersten           von Ihnen noch in Behandlung waren.
aus dem chinesischen Wuhan, aber auch                        Symptome und der Einlieferung ins          35 der 50 waren noch im Krankenhaus,
einige Parallelen. Weil das Krankenhaus                      Krankenhaus lagen im Schnitt nur vier      als die Übersicht verfasst wurde. Acht Pa-
natürlich nur Erkrankte mit schweren Sym-                    Tage. Die Zeit ist kürzer als in den Be-   tientinnen und Patienten konnten entlassen
ptomen aufgenommen hat, sagen diese                          richten Wuhan.                             werden, sieben waren verstorben. Drei
Daten nichts über milde Verläufe der Infek-               · Knapp die Hälfte der beschriebene Pa-       COVID-19-Erkrankte mit einem Lungen-
tion beziehungsweise die davon betroffe-                     tientinnen und Patienten, nämlich 24,      versagen star­ben an einem Multiorganver-
nen Menschen aus. Die Patientinnen und                       hatten ein schweres Lungenversagen.        sagen, vier ohne Lungenversagen starben
Patienten waren im Schnitt 65 Jahre alt.                     Sie benötigten Beatmung, in acht Fällen    an Atemversagen. Sie selbst oder ihre
Das ist älter als der Durchschnitt im chine-                 sogar die so­genannte extrakorporale       Angehörigen hatten eine intensivmedizini-
sischen Wuhan.                                               Membranoxygenierung (ECMO). Das            sche Behandlung abgelehnt.

Bild links:
Bei schwerstem Lungenversagen übernimmt der künstliche Kreislauf des ECMO-Gerätes
die Funktionen von Herz und Lunge.

                                                                                                   Die RWTH und die Pandemie | keep in touch | 7
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Der lange Weg zum
neuen Medikament

W
               enn sich Forscherinnen und        Rezeptoren, die als Ziel von Stoffen infrage
               Forscher mit einem neuen          kommen. Dann erfolgt die Suche nach
               Krankheitsbild befassen, arbei-   geeigneten Wirkstoffkandidaten: über
ten sie manchmal wie Kriminalisten. Zuerst       Screenings von Substanzbibliotheken, aber
analysieren sie genau den biologischen           auch über die gezielte Synthese von Subs-
Mechanismus hinter der Erkrankung, dann          tanzen, die an das Ziel andocken können.
suchen sie nach Sub­stan­zen, um diesen          Manchmal liegt es nahe, was ein geeigneter
Mechanismus zu be­einflussen. Wie kom-           Wirkstoff zur Behandlung einer Krankheit
pliziert und langwierig muss man sich so         sein könnte: etwa dann, wenn Patientinnen
eine Medikamentenent­wicklung vorstellen?        und Patienten deshalb krank sind, weil
An der Uniklinik RWTH Aachen steht den           ihnen eine bestimmte Substanz teilweise
Forscherinnen und Forschern dafür das            oder ganz fehlt“, erklärt Dr. med. Susanne
Center for Translational & Clinical Research     Isfort, Koordinierende Geschäftsführerin
                                                                                                                           Foto: Uniklinik RWTH Aachen
(CTC-A) zur Seite.                               des CTC-A.
                                                                                                 Dr. med. Susanne Isfort, Koordinierende Geschäftsführerin
Neun von zehn Bundesbürgern unterschät-          Vorklinische Entwicklung: Wirkstoffe            des CTC-A.
zen die Dauer und 79 Prozent die For-            im Auswahlverfahren
schungs- und Entwicklungskosten für ein          Sicherheit ist immer die zentrale Maxime in     Medikamente gegen Krebs oder ähnlich
neues Medikament. Tatsächlich vergehen           der Medikamentenentwicklung. Ehe eine           schwere Erkrankungen; diese müssen
durchschnittlich über 13 Jahre von den           Substanz mit Menschen erprobt werden            direkt bei Patientinnen und Patienten ge-
ersten Tests im Labor bis zur Zulassung.         kann, muss sie ein straffes Prüfprogramm        testet werden. Wie verhält sich der Stoff
Pharmaunternehmen investieren im Schnitt         bestehen: die vorklinische Entwicklung.         im Körper eines Menschen? Welche Dosis
rund eine Milliarde Euro dafür. Der Weg zu       Dazu gehören insbesondere Tests auf             kann ohne Nebenwirkungen verabreicht
einem neuen Medikament, das man beim             schädliche Wirkungen. Toxikologen unter­        werden und ist das Medikament sicher?
Arzt verschrieben bekommt oder in der            suchen dabei, ob und ab welcher Konzen­         Für diese Studien muss der Wirkstoff zuvor
Apotheke kaufen kann, ist lang. Er beginnt       tration die Substanz möglicherweise giftig      unter speziellen Bedingungen hergestellt
nicht mit dem Prozess der Marktzulas-            ist, ob sie Embryonen schädigt, Krebs           werden. Dr. Isfort: „In der Regel nehmen
sung, sondern bereits Jahre zuvor bei            auslöst oder Veränderungen des Erbguts          20 bis 80 Probanden an einer solchen Stu-
der Suche, dem Erforschen, dem Testen            hervorruft. Manches davon kann im Labor         die teil. Sind Ver­träglichkeit und Sicherheit
und Auswerten von Ergebnissen aus den            oder mit Zellkulturen untersucht werden,        geprüft, geht es in den Phasen II a und II
unterschiedlichen Phasen einer Arzneimit-        anderes jedoch lässt sich nur an Organis-       b darum, die Wirk­samkeit und die Dosie-
telentwicklung. Dabei sind Wirkstoffe wie        men studieren. Deshalb sind bestimmte           rung genauer zu untersuchen. Dafür wird
die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen:          Versuche mit mindestens zwei Tierarten          zunächst die Dar­reichungsform entwickelt.
Von rund 10.000 bis 15.000 in der Grund-         gesetzlich vorgeschrieben. Nur Stoffe, die      Bei Phase II a-­Studien prüfen die Exper-
lagenforschung und Präklinik (Phase, in der      sich hier bewähren, kommen für eine Er-         ten das Therapiekonzept (Anmerkung der
Studien noch nicht am Menschen, sondern          probung mit Menschen überhaupt in Be-           Redaktion: Proof of Concept), in Phase II
im Zell- oder Tiermodell durchgeführt wer-       tracht – das dauert eine ganze Weile.           b-Studien geht es ihnen darum, die richtige
den) untersuchten Substanzen erhalten am         Bis zum Abschluss der präklinischen Tests       Dosis zu finden. Phase II-Studien schließen
Ende dieses langen Weges nur ein bis zwei        sind üblicherweise schon mehr als fünf          dann in der Regel schon 50 bis 200 er-
Kandidaten die Zulassung der Arzneimittel-       Jahre vergangen. Ist die Präklinik erfolg-      wachsene Erkrankte ein.“ Die Teilnahme ist
behörden. Zentraler Bestandteil jedes Me-        reich, kann es mit der Entwicklung weiter-      freiwillig. Jede Patientin, jeder Patient wird
dikaments ist sein Wirkstoff, also ein Stoff,    gehen.                                          vorab umfangreich auf­geklärt und muss
der im Körper eine heilende oder lindernde                                                       einer Teilnahme explizit zustimmen. Zudem
Wirkung erzielt. In vielen Fällen beginnt die    Klinische Entwicklung: Erprobung mit            müssen alle klinischen Studien vor Beginn
Suche deshalb mit einer genauen Analyse          Menschen bis hin zur Zulassung                  jeweils von der zuständigen nationalen
der Krankheit. An welcher Stelle können          In einer ersten klinischen Studie, in der Re­   Behörde und einer Ethik-Kommission ge-
Substanzen ein­greifen und den Prozess           gel mit wenigen gesunden Erwachsenen,           nehmigt werden. In der letzten Phase vor
zum Wohl der Betroffenen beeinflussen?           wird zunächst die Verträglichkeit und die       der möglichen Zulassung als Medikament
„Oft sind es Moleküle wie Enzyme oder            Sicherheit getestet. Ausnahmen bilden hier      wird das Arzneimittel an einer größeren

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Quelle: UKA/eigene Darstellung nach: EUPATIE - Europäische Patientenakademie

Entscheidungspunkte und Entwicklungsschritte bei Arzneimitteln

Anzahl an Probanden getestet. Die Summe                      produkte (BfArM) in Bonn und das Paul-             unerfüllten medizinischen Bedarfs starten,
ist abhängig vom Krankheitsbild und kann                     Ehrlich-Institut (PEI) in Langen bei Frankfurt     wenn ihnen dies wirtschaftlich sinnvoll
je nach Krankheit mehrere Tausend betra-                     am Main. Andere nationale Zulassungs-              erscheint. Umgekehrt gibt es daher viele
gen. So kann man sehen, ob sich Wirk-                        behörden können dann diese zunächst                unerfüllte Bedarfe, für die derzeit keine
samkeit und Unbedenklichkeit bei vielen                      nur in einem Land gültige Zulassung der            neuen Arzneimittel entwickelt werden. Die
unterschiedlichen Probanden bestätigen                       Medikamente nach einer kurzen Prüfung              europäischen und nationalen Gesetzgeber
lassen. Dabei werden auch Wechsel­wir-                       übernehmen. Im Anschluss kann das Me-              sind sich dessen bewusst und unterstüt-
kungen mit anderen Medikamenten erprobt.                     dikament in den Handel gelangen. Dieser            zen die Entwicklung von Arzneimitteln
Manche Phase II-, aber vor allem Phase III-                  Forschungs- und Entwicklungsprozess                beispielsweise für Kinder oder für Patienten
Studien sind typischerweise kon­­trollierte                  erfordert insgesamt viele Ressourcen und           mit seltenen Krankheiten mit Fördermitteln
Studien: Ein Teil der Patientinnen und Pa-                   verursacht hohe Kosten. Unternehmen                und Prämien.
tienten er­hält das neue Mittel, eine andere                 werden nur dann in die Entwicklung eines
Gruppe das bisherige Standardpräparat.                       neuen Produktes zur Befriedigung eines
Auf diese Weise lässt sich der Effekt genau
nachweisen.                                                      Center for Translational & Clinical Research (CTC-A)
                                                                 Das CTC-A wurde von der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen als operative
Endgültige Zulassung von                                         Dienstleistungseinrichtung zur Unterstützung der patientenorientierten Forschung
Medikamenten                                                     gegründet. Die Einrichtung wurde mit der Koordination klinischer Studien an der
Waren alle Studien und Tests erfolgreich,                        Uniklinik RWTH Aachen und der Entwicklung von IT-Strukturen für exzellente Qualität
kann der Hersteller bei den Behörden die                         in klinischen Studien beauftragt. Das CTC-A arbeitet als zentrale Dachorganisation
Zulassung beantragen. Für Länder der                             zur Steuerung und Integration industrieller und eigeninitiierter klinischer Forschung.
Europäischen Union tut er dies bei der                           Die Unterstützung der forschenden Einrichtungen durch das CTC-A erfolgt individuell
europäischen Arzneimittelagentur EMA                             und bedarfsgerecht. Die Aufgabenschwerpunkte liegen in der formalen und adminis-
(European Medicines Agency). In einigen                          trativen Unterstützung bei Förderanträgen und Planung, Durchführung und Auswer-
seltenen Fällen kann er den Antrag auch                          tung klinischer Studien sowie Vollkostenkalkulationen und Vertragsprüfungen und
bei einer nationalen Zulassungsbehörde                           -verhandlungen. Die professionelle Unterstützung wird durch ein effizientes Schnitt-
stellen. In Deutschland sind dies das Bun-                       stellenmanagement gewährleistet.
desinstitut für Arzneimittel und Medizin-

                                                                                                          Die RWTH und die Pandemie | keep in touch | 9
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Die Krankheit
                                                            besser verstehen
                                                            Interview mit Professor Peter Boor,
                           Foto: Uniklinik RWTH Aachen
                                                            Oberarzt am Institut für Pathologie
Univ.-Prof. Dr. med. Peter Boor, Oberarzt am Institut für
Pathologie an der Uniklinik RWTH Aachen.

M
            it oder am Virus verstorben?                    Herr Professor Boor, was hat es mit dem         Infektionskrankheit beizutragen, wodurch
            Obduktionen sollen Antworten                    neu etablierten Obduktions-Register auf         sich am Ende möglicherweise auch neue,
            liefern. Angesichts der COVID-­                 sich?                                           verbesserte Therapieoptionen ableiten
19 Pandemie hat das Institut für Pathologie                 Angesichts der COVID-19-Pandemie haben          lassen. Somit stellen die Obduktionen bei
an der Uniklinik RWTH Aachen im April                       wir am Institut für Pathologie ein zentrales    COVID-19-Infizierten einen potentiell gro-
mit Unterstützung des Bundesverbandes                       Register für klinische Obduktionen von          ßen medizinisch-wissenschaftlichen, aber
Deutscher Pathologen e. V. (BDP) und der                    COVID-19-Erkrankten aufgebaut – DeReg­          auch gesellschaftlichen Wert dar.
Deutschen Gesellschaft für Pathologie                       COVID genannt. Dies war nur möglich
(DGP) ein zentrales Register für klinische                  durch eine enge Kooperation mit dem In-         Was wird konkret untersucht?
Obduktionen von COVID-19-Erkrankten im                      stitut für Medizinische Informatik und dem      Im Rahmen von Obduktionen kann unter
deutschsprachigen Raum aufgebaut. Das                       Center for Translational & Clinical Research    anderem mittels Gewebe- und Organana-
Ziel dieses Registers ist es, möglichst alle                an der Uniklinik RWTH Aachen, sowie             lysen untersucht werden, ob bei den Ver-
Obduktionsfälle von COVID-19-Erkrankten                     mit Unterstützung des Bundesverbands            storbenen nicht sichtbare Vorerkrankungen
deutschlandweit und – falls möglich – im                    Deutscher Pathologen e. V. und der Deut-        vorgelegen haben, welche Vorerkrankun-
deutschsprachigen Raum anonymisiert                         schen Gesellschaft für Pathologie. Das          gen besonders riskant sind, vor allem aber,
zentral elektronisch zu erfassen und an-                    Ziel dieses Registers ist es, möglichst alle    wie das SARS-CoV-2 zum Tod geführt hat.
schließend als zentrale Vermittlungsstelle                  Obduktionsfälle von COVID-19-Erkrankten         Zudem haben wir auch molekularpatholo-
für Datenanalysen und Anfragen zu dienen.                   deutschlandweit faktisch anonymisiert,          gische und ultrastrukturelle Methoden für
                                                            zentral und elektronisch zu erfassen und        den Nachweis des SARS-CoV-2-Virus im
Trotz großer Bemühungen, die Erkrankung                     anschließend als zentrale Vermittlungsstelle    Gewebe bis auf die zelluläre und subzel-
COVID-19 besser zu verstehen, ist über                      für Datenanalysen und Anfragen zu dienen.       luläre Ebene etabliert und validiert. Dies
ihre Entstehung und Entwicklung (Patho­                     Das Bundesministerium für Gesundheit            ermöglicht uns, neue Erkenntnisse über die
genese), deren Ausbreitung innerhalb des                    sowie das Robert Koch-Institut begrüßen         Ausbreitung des Virus zu erlangen.
menschlichen Körpers und über die Aus­                      und unterstützen diese Initiative. Bisher ist
wirkungen auf die jeweiligen Organe und                     über die Pathogenese der Erkrankung, ihre       Könnten durch die Untersuchungen auch
Zellen nur wenig bekannt. Im Interview                      Ausbreitung innerhalb des menschlichen          neue Therapieoptionen abgeleitet werden?
erklärt Professor Peter Boor, Oberarzt am                   Körpers oder über die Auswirkungen auf          Obduktionen hatten und haben auch heute
Institut für Pathologie an der Uniklinik                    die jeweiligen Organe und Zellen wenig be-      unverändert eine besondere Bedeutung
RWTH Aachen, die Aufgaben und Ziele                         kannt. Durch Obduktionen von COVID-19           für das Verständnis der Pathogenese von
des neuartigen Obduktions-Registers von                     infizierten Verstorbenen ist es möglich, zu     Krankheiten, inklusive den Infektions-
COVID-19-Erkrankten.                                        einem verbesserten Verständnis dieser           krankheiten. Beispiele sind nicht nur der

10 | keep in touch | Die RWTH und die Pandemie
Ausbruch des Marburgvirusfiebers und             breiten Methodenspektrum untersucht,           Thrombosierung ist die Infektion der Endo-
in neuer Zeit HIV, sondern auch SARS             um Gemeinsamkeiten und Unterschiede            thelzellen mit SARS-CoV-2, wodurch eine
und MERS, bei denen Autopsie-Befunde             herauszuarbeiten. Eine Gemeinsamkeit ist,      Blutgerinnung in den kleinen Blutgefäßen
geholfen haben, klinische Krankheitsbilder       dass bei beiden Erkrankungen, sowohl bei       ausgelöst werden kann. Im Rahmen der
zu verstehen und damit auch therapeuti-          COVID-19 als auch bei der H1N1-Influenza,      Studie konnte zusätzlich aufgezeigt werden,
sche Konzepte zu beeinflussen. Die ersten        diffuse Alveolarschäden vorliegen. Alveolen    dass durch die hervorgerufene Störung
Ergebnisse aus den COVID-19-Obdukti-             sind die funktionellen Elemente der Lunge,     des Blutflusses eine spezielle Form der
onen deuten bereits auf wichtige Patho-          in denen bei der Atmung der Gasaustausch       Blutgefäßneubildung, eine so­genannte in-
mechanismen hin, wie zum Beispiel eine           zwischen Blut und Luft erfolgt. Diese Schä-    tussuszeptive Angiogenese, angeregt wird.
Beteiligung der Gefäße mit einer Häufung         digungen sind mit einem Ödem, Blutungen        Dabei kommt es zu Einstülpungen in das
von thrombembolischen Komplikationen             und Fibrinablagerungen in den Alveolen         Gefäßlumen. Diese intussuszeptive Angio-
oder Entzündung der kleinsten Gefäße, die        verbunden, die die Sauerstoffzufuhr in das     genese ist der Versuch des Körpers, ein
sogenannte Endotheliitis. Größere Studien        Blut erschweren, weswegen die Patientin-       bereits bestehendes Blutgefäß in zwei Teile
sind jedoch notwendig, um solche Befunde         nen und Patienten beatmet sein müssen,         zu teilen. Diese spezielle Gefäßneubildung
zu bestätigen – eine der Aufgaben des            um ausreichend Sauerstoff für den gesam-       wurde in der COVID-Gruppe unter dem Mi-
Registers.                                       ten Körper zu bekommen. Zudem kommt            kroskop fast dreimal so häufig gesehen wie
                                                 es bei beiden Erkrankungen zur Bildung         in der Influenza-Gruppe. Diese Erkennt-
Gibt es bereits erste Erkenntnisse?              von kleinen Blutgerinnseln, sogenannten        nisse könnten zu einer besseren Therapie
Eine internationale Forschergruppe hat im        Mikrothromben, in den kleinsten Gefäßen,       beziehungsweise Management führen. Es
Rahmen einer Studie, mit Unterstützung           den Kapillaren, in der Umgebung der            sind jedoch dringend weitere Studien erfor-
des Registers, untersucht, inwiefern das         Alveolen. Diese so­genannte Mikroangio-        derlich, um den molekularen Mechanismus
neue Coronavirus SARS-CoV-2 die Lunge            pathie scheint bei COVID-19 deutlich aus-      von COVID-19-bedingten Todesfällen sowie
schädigt, und verglich dazu Gewebepro-           geprägter zu sein. Forscherinnen und           mögliche therapeutische Interventionen
ben von jeweils sieben Patienten, die aktu-      Forscher beobachteten neunmal so viele         näher zu untersuchen.
ell an COVID-19 oder vor Jahren an einer         Mikrothromben wie bei den Erkrankten mit
Influenza A/2009 H1N1 gestorben waren,           Influenza H1N1. Dies könnte den Schwere-
die damals auch als „Schweinegrippe“ be­         grad der Erkrankung erklären, da die                    www.DeRegCOVID.
kannt wurde. Zum Vergleich wurden zu-            Mikrothromben den Abtransport des über                  ukaachen.de
dem zehn gesunde Lungen von Spendern             die Lungen aufgenommenen Sauerstoffs
untersucht. Die Proben wurden mit einem          behindern. Eine mögliche Ursache der

Computertomografieeinsatz
zum Nachweis von COVID-19
Die COVID-19-Arbeitsgruppe der Uniklinik         dardisiert mittels Polymerase-Kettenreak-      Einsatz der ND-CT spricht, dass die CT-
RWTH Aachen unter der Leitung von Pro-           tion (PCR) und Computertomografie des          Ergebnisse weit schneller verfügbar waren
fessorin Christiane Kuhl, Klinikdirektorin der   Thorax untersucht wurden, hat in Fachkrei-     als die Abstrichergebnisse,“ so Dr. Schulze-
Klinik für Diagnostische und Interventionelle    sen bereits erstes Interesse geweckt. Sie      Hagen (Autor der Publikation). „Dies war
Radiologie, hat kürzlich in Kooperation mit      ist die erste europäische, bizentrische Stu-   insbesondere in den Hochprävalenzzeiten
der Klinik für Pneumologie und Internisti-       die, die konkrete Ergebnisse für die Test-     der Pandemie von Bedeutung. Zudem las-
sche Intensivmedizin, der Zentralen Notauf-      genauigkeit von CT und PCR bei COVID-19        sen sich mithilfe der ND-CT falsch-negative
nahme, der Klinik für Kardiologie, Angiolo-      präsentiert – mit vielversprechenden Er-       Abstrichergebnisse korrigieren.“
gie und Internistische Intensivmedizin und       gebnissen für beide Verfahren: Die soge-       Bei rund der Hälfte der testnegativen ND-
dem Labordiagnostischen Zentrum – alle           nannte Native Niedrigdosis-Computerto-         CT zeigten sich pathologische Lungenbe-
Uniklinik RWTH Aachen – sowie der Radio-         mografie (ND-CT) kann COVID-19 bei Pa-         funde, die von den COVID-19-assoziierten
logie am Krankenhaus Düren die ersten            tientinnen und Patienten mit klinischen        Lungenveränderungen korrekt unterschie-
Ergebnisse des regionalen COVID-19-Bild-         Symptomen mit einer zum Abstrich ver-          den wurden. Somit liefert die ND-CT un-
gebungs-Registers Aachen (COBRA) im              gleichbaren Sensitivität nachweisen und        abhängig von den Testverfügbarkeitsas-
Ärzteblatt veröffentlicht.                       von anderen Erkrankungen derselben             pekten auch hilfreiche zusätzliche diagnos-
Die Studie, bei der 191 Patientinnen und         klinischen Symptomatik mit hoher Spezi-        tische Informationen für die weitere Be-
Patienten mit Verdacht auf COVID-19 stan-        fität unterscheiden. „Für den parallelen       handlungsplanung.

                                                                                          Die RWTH und die Pandemie | keep in touch | 11
Innovative Textilien für Gesichts-
                                                                                                                 masken können SARS-CoV-2 direkt
                                                                                                                 inaktivieren
                                                                                                                 Innovative Textilien können SARS-CoV-2-
                                                                                                                 Viruspartikel binnen weniger Stunden um
                                                                                                                 bis zu 99,9 Prozent reduzieren. Forscher
                                                                                                                 der Freien Universität Berlin am Institut für
                                                                                                                 Tier- und Umwelthygiene und des Instituts
                                                                                                                 für Textiltechnik der RWTH Aachen Univer-
                                                                                                                 sity, kurz ITA, haben bei der Erforschung
                                                                                                                 von alternativer persönlicher Schutzaus­
                                                                                                                 rüstung innovative Textilien für Gesichts-
                                                                                                                 masken untersucht, die den Erreger Sars-
                                                                                                                 CoV-2 direkt inaktivieren. Während die
                                                                                                                 Forscher des ITA die chemischen und phy-
                                                                                                                 sikalischen Eigenschaften verschiedener
                                                                                           Foto: Peter Winandy
                                                                                                                 Textilien für Gesichtsmasken untersuchten,
Professor Jan Borchers prüft mit einer Mitarbeiterin den Sitz des Aachen Shields.                                konnten die Forscher der Freien Universität
                                                                                                                 Berlin nachweisen, dass neuartige, von der

RWTH versus Corona                                                                                               Schweizer Firma Livinguard entwickelte
                                                                                                                 Textilien im Vergleich zu bisher üblichen für
Weitere RWTH-Projekte und Aktionen                                                                               die Maskenproduktion genutzten Materia-
                                                                                                                 lien hohe Mengen an SARS-CoV-2-Virus­
gegen die Pandemie im Überblick                                                                                  partikeln innerhalb weniger Stunden um
                                                                                                                 bis zu 99,9 Prozent reduzieren können.
Fab Lab der RWTH unterstützt im                                Qualitätstests von FFP2-Masken und
Kampf gegen die Corona-Pandemie                                Filtermaterialien für Krankenhäuser               Darüber hinaus hat das ITA die „Need-
Das Fab Lab der RWTH Aachen stellt seine                       und Anbieter von Schutzausrüstung                 Mask“-Plattform geschaffen. Das ist ein
3D-Drucker, Lasercutter und anderen digi-                      Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler          gemeinnütziges Projekt für die Beschaf-
talen Fertigungsmaschinen für die schnelle                     der RWTH Aachen haben gemeinsam mit               fung von Schutzmasken in Europa mit dem
Produktion dringend benötigter Teile im                        Partnern aus der Region ein dreistufiges          Ziel, diejenigen, die Masken herstellen,
Medizinbereich zur Verfügung. So können                        Testverfahren für FFP2-Masken und Filter-         mit denjenigen zu vernetzen, die Masken
im Kampf gegen die Corona-Pandemie                             materialien entwickelt. Hieran waren neben        benötigen. Ziel sei es eine Verbindung
beispielsweise Visiere für Ärzte, Notfall-                     dem RWTH-Lehrstuhl für Chemische Ver­             zwischen dem Bedarf und der Versorgung
Beatmungsautomaten für Krankenhäuser,                          fahrenstechnik das DWI – Leibniz-Institut         mit Schutzkleidung, insbesondere mit
aber auch Unterarm-Türdrücker für Büro­                        für Interaktive Materialien e.V. und das          Gesichtsmasken, herzustellen.
türen gefertigt werden.                                        Institut für Arbeits-, Sozial- und Umwelt-
Sie erreichen auf kurzem Weg lokale und                        medizin der Uniklinik RWTH Aachen be­
regionale Einrichtungen, die ihren Betrieb                     teiligt. Unterstützung aus der Industrie                   https://www.need-mask.com/
aufrechterhalten müssen. „Wir können                           lieferten die Spin-offs FURTHRresearch
keine zertifizierten Medizinprodukte liefern.                  und ZUMOLab sowie die Messtechnik­
Aber wir helfen für den Notfall vorzusor­                      firma TSI. Am Messstand in der Aachener
gen, in dem die regulären Bestände in den                      Verfahrenstechnik (AVT) sind in den letzten
Krankenhäusern nicht mehr ausreichen.                          Wochen bereits zahlreiche Masken geprüft
Artikel wie die Unterarm-Türdrücker bei­                       und zumeist positiv bewertet worden.
spielsweise senken Infektionsrisiken in                        „Seit Beginn der Corona-Krise benötigen
Büros wichtiger Einrichtungen, dies sind                       die Krankenhäuser deutlich mehr FFP2-
keine Medizinprodukte“, erklärt Professor                      Masken. Diese beziehen sie zum Teil von
Jan Borchers, Inhaber des Lehrstuhls für                       neuen Lieferanten. Wir haben innerhalb
Informatik 10, wo auch das Fab Lab ange-                       weniger Tage das Testverfahren entwickelt,
siedelt ist.                                                   welches die Krankenhäuser in ihrer Quali-
                                                               tätskontrolle unterstützt“, erläutert Dr. John
                                                               Linkhorst, Oberingenieur am Lehrstuhl für
                                                               Chemische Verfahrenstechnik.

12 | keep in touch | Die RWTH und die Pandemie
Entwicklungen neuer und einfacher              Lösung von den eigenen Beschäftigten            We are open – Lösungen für
Beatmungsgeräte                                und den involvierten Partnern kommen.           Geschäftsmodelle in der Krise
Aufgerüttelt durch den verheerenden Man-       Diese Entwicklung eines Beatmungsge-            Von der aktuellen Corona-Pandemie sind
gel an Beatmungsplätzen in vielen Ländern      rätes wurde von einem Team des E.ON             viele Unternehmen aller Branchen betrof-
zu Beginn der Corona-Pandemie arbeiten         Energy Research Centers (ERC) der RWTH          fen. Um Krisen wie diese zu überstehen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler       Aachen intensiv unterstützt und erfolgt in      sind oftmals individuelle Anpassungen des
der RWTH gleich mit mehreren Projekten         enger Abstimmung mit Medizinerinnen und         Geschäftsmodells notwendig. Das Institut
an der Entwicklung von geeigneten Be­          Medizinern des Luisenhospitals, des Aka-        für Technologie- und Innovationsmanage-
atmungsgeräten:                                demischen Lehrkrankenhaus der Medizi-           ment der RWTH Aachen, kurz RWTH TIM,
                                               nischen Fakultät sowie weiterer Kranken-        hat Anpassungen von Geschäftsmodellen,
Der „People’s Ventilator PV1000“ soll die      häuser. Informationen wurden zusätzlich         sogenannte Geschäftsmodell-Muster, aus
Lücke als einfaches und robustes Gerät         von der Klinik für Anästhesiologie (UKA)        aktuellen und vergangenen Wirtschaftskri-
schließen, dass sich dennoch für einen         und Lehrstuhl für Medizinische Informa-         sen gesammelt, unter wissenschaftlichen
mehrwöchigen Einsatz auf der Intensivsta-      tionstechnik zur Verfügung gestellt. Die        Gesichtspunkten analysiert und für Unter-
tion eignet. Angestoßen vom Lehrstuhl für      Beatmungsgeräte ermöglichen eine indivi-        nehmen aufbereitet. Damit können Unter-
Medizinische Informationstechnik (MedIT),      duelle Einstellung der relevanten Druck-        nehmen gezielt nach Lösungsoptionen für
dem Institut für Kraftfahrzeuge (ika) und      niveaus sowie der Atemfrequenz und erlau-       ihre aktuelle Situation suchen oder sich von
dem Lehrstuhl Informatik 11 – Embedded         ben eine variable Sauerstoffbeimischung.        den Lösungen anderer inspirieren lassen.
Software (i11) arbeiten seit April mehr als                                                    Die aufbereiteten Geschäftsmodell-Muster
30 Personen ehrenamtlich unter der             SARS-CoV-2-Viren im Abwasser                    unterstützen Unternehmen mit anschauli-
Leitung von Professor Steffen Leonhardt        Seit Beginn der Pandemie arbeiten For-          chen Beispielen und Tipps und Tricks bei
(MedIT) an der technischen Realisierung        schergruppen an Methoden, den Nachweis          der Umsetzung.
und der organisatorischen Umsetzung des        von SARS-CoV-2 Viren im Abwasser für
Projekts. Dabei wurden zahlreiche Unter-       die Überwachung des COVID-19 Infekti-           Tausende wissenschaftliche Artikel
stützerinnen und Unterstützer aus weiteren     onsgrads der Bevölkerung zu verwenden.          zu COVID-19? Besseren Durchblick
RWTH-Einrichtungen und aus der regiona-        Die Idee ist einfach: Da infizierte Personen    erhalten mit dem „COVID-19 Evidence
len Wirtschaft gewonnen.                       SARS-CoV-2 Viren über die Fäkalien abge-        Navigator“
                                               ben, könnten Abwasserproben Aufschluss          Das TIM bringt ebenso seine Fähigkeiten in
In dem Projekt CORESPONSE haben                über die Infektionszahlen aller an eine Klär­   der Textanalytik ein, um die aktuell rasant
RWTH-Wissenschaftlerinnen und Wissen­          anlage angeschlossenen Einwohner liefern.       wachsende wissenschaftliche Evidenz zu
schaftler in einem interdisziplinären Team     Bei ausreichender Empfindlichkeit könnten       COVID-19 maschinell vorzustrukturieren
eine sehr einfache Beatmungspumpe ent­         solche Analysen Behörden als Frühwarn-          und so leichter zugänglich und besser für
wickelt. Die Pumpe betätigt herkömmliche       system dienen, um lokal ansteigende Fall-       Interessenten aus Wissenschaft, Wirtschaft,
Beatmungsbeutel, sogenannte Ambu-Bags,         zahlen im Einzugsgebiet einer Kläranlage        Politik und Medien nutzbar zu machen.
die normalerweise für eine Beatmung            frühzeitig zu erkennen. Ein Kon­sortium aus     Das TIM hat hierzu ein kostenfreies Online
„von Hand“ genutzt werden. Neben den           Frankfurter Virologen, Ökotoxikologen und       Tool mit dem Namen „COVID-19 Evidence
Ambu-Bags sind Kunststoffteile aus dem         Evolutionsforschern und Aachener Wasser-        Navigator“ entwickelt, das jeden Tag min-
3D-Drucker, ein Elektromotor, Stromver-        forschern konnte jetzt erstmals für Deutsch-    destens einmal aktualisiert wird.
sorgung und Kleinteile – beispiels­weise       land zeigen, dass sich SARS-CoV-2 Gen-
Schrauben – für den Bau einer Beatmungs-       material mit modernen molekularen Me-
pumpe erforderlich. Für die Herstellung der    thoden in Kläranlagen nachweisen lässt.
Kunststoffteile ist ein Standard-FDM 3D-       Analysen ergaben in allen neun während
Drucker mit mindestens 20 mal 20 Zenti-        der ersten Pandemiewelle im April 2020
meter Bauplatte ausreichend.                   beprobten Kläranlagen 3 bis 20 Genkopien
                                               pro Milliliter Rohabwasser. Das Verfahren
Das Unternehmen Viessmann hat sich             lässt sich nun in der so genannten Abwas-
entschieden, ebenfalls ein Gerät für die       serbasierten Epidemiologie einsetzen.
Notbeatmung zu entwickeln und dabei auf
Standardbaugruppen zurückzu­greifen, die
eine kurzfristige Produktion in hoher Stück-
zahl und Qualität erlauben. Dr. Markus
Klausner, Chief Technology Officer Viess-
mann Climate Solutions, betont dabei,
dass sämtliche Ideen für diese innovative

                                                                                        Die RWTH und die Pandemie | keep in touch | 13
„Das Virus experimentiert mit uns“.
Die Corona-Krise aus soziologischer Sicht

P
         rofessor Dr. Stefan Böschen ist         Stärkung eines autoritären Regimes durch-     Karbach: Was für Taten?
         Sprecher des Human Technology           zusetzen. Aus Ungarn und Polen kamen          Böschen: Sind Gesellschaften bereit, aus
         Centers (HumTec), als Plattform         keine guten Nachrichten! Das bringt mich      dieser Krise zu lernen? Und werden sie
für interdisziplinäres Lehren und Forschen       zu einem entscheidenden Punkt.                Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand
ein Baustein des Zukunftskonzeptes der                                                         stellen? Es ist zum Beispiel eine unglaub­
Exzellenzinitiative der RWTH, und lehrt an       Karbach: Welchen Punkt meinen Sie?            liche Wendung, dass die USA den Sozial-
der Philosophischen Fakultät das Fach            Böschen: Der Punkt, dass dieses Realex-       staat entdecken und zwei Billionen US-
„Technik und Gesellschaft“. Der Soziologe        periment immer auch ein Experiment mit        Dollar investieren. Das ist bemerkenswert
sprach mit Thorsten Karbach, Leiter des          den politischen Voraussetzungen sozialer      und auch verstörend – man glaubt, dass
Dezernats Presse und Kommunikation der           Ordnungen ist. Kulturelle soziale Ordnun-     ein Sozialstaat auf die Schnelle etabliert
RWTH, über das Realexperiment Corona-            gen sind verschieden und reagieren unter­     werden kann – daran arbeiten wir in Euro-
Krise, über die Handlungsfähigkeit der Poli-     schiedlich: Wie haben es die Chinesen ge-     pa seit 150 Jahren.
tik und notwendiges Expertenwissen.              macht? Wie hat Singapur reagiert? Welche
                                                 Reaktion gab es in Südkorea? Was lief in      Karbach: Soll das heißen, es kann kein
Karbach: Wie erleben Sie als Soziologe           Italien und Spanien anders, dass sich die     „Weiter so wie vor der Krise“ geben?
diese Zeit, in der die Welt zu einem Real­       Lage dort so dramatisch zuspitzte? Das ist    Böschen: Das wäre uns allen zu wünschen.
labor wurde?                                     ein kompliziertes Geflecht von Fragen, es     Ich weiß nicht, ob es raumgreifende Ver-
Böschen: Was wir in den vergangenen Mo-          greifen unterschiedliche gesellschaftliche    änderungen gibt. Uns wurde die Abhän-
naten erlebten und jetzt aktuell wieder erle-    Teilbereiche ineinander wie Ökonomie,         gigkeit von der Globalisierung vor Augen
ben, kann als Experimentieren mit sozialen       Öffentlichkeit, Wissenschaft, Recht. Die      geführt. Es zeigte sich, dass eine rein auf
Praktiken, aber auch mit Rechten beschrie-       Frage, wie staatliche Politik und Kontrolle   ökonomische Effizienz aufgebaute soziale
ben werden. Die Kontaktbegrenzung oder           durchgreifen kann, soll oder nicht soll,      Ordnung ihre Grenzen hat. Die ‚Durchöko-
gar -sperre ist ein weitgehender von einer       erhält einen besonderen Stellenwert.          nomisierung‘ des Gesundheitswesens ist
Fülle von Eingriffen, selbst Familien konnten                                                  der falsche Weg, aber lässt sich ein ande-
sich nicht sehen. Auch die Versammlungs-         Karbach: Erwarten Sie in Deutschland          rer finden – und auch durchsetzen? Eine
und Religionsfreiheit sind Grundrechte. All-     einen gesellschaftlichen Druck, etwa den      Krise kann sinnstiftend sein. Sie lässt uns
tagspraktiken wurden eingeschränkt, und          Pflegebereich neu aufzustellen?               lernen, sie schafft Solidarität. Sie lässt uns
es ist bemerkenswert, wie stark Menschen         Böschen: Wie oft wurde schon von einem        erfahren, dass Politik nicht so handlungs-
in dieser Situation zunächst Folgebereit-        Pflegenotstand gesprochen? Sind wir als       unfähig ist, wie es sonst oftmals, etwa in
schaft an den Tag legten. Dazu empfinde          Gemeinschaft bereit, diesen Bereich nach      der Flüchtlingsfrage, suggeriert wird. Politik
ich eine gewisse Ambivalenz.                     der Krise neu aufzustellen? Können und        ist durchaus handlungsfähig – das stimmt
                                                 wollen wir Puffer einbauen, damit Struktu-    grundsätzlich zuversichtlich. Auch wenn
Karbach: Inwiefern?                              ren stabiler sind und hohen Anforderungen     die konkreten Umsetzungswege, etwa mit
Böschen: Der überwiegende Teil der Be-           standhalten können? Dies gilt auch für        Blick auf den in der Zwischenzeit entstan-
völkerung verhält sich diszipliniert und sagt:   Liefer- und Produktionsketten bestimmter      denen Flickenteppich der Corona-Regeln
Diese Maßnahmen sind sinnvoll, das müs-          Produkte, wie die Abhängigkeit von Sai-       in Deutschland, wiederum Probleme der
sen wir jetzt machen. Ich habe aber auch         sonarbeitern in der Landwirtschaft zeigt.     bisherigen Staatsorganisation sichtbar
Unbehagen darüber, wie leicht sich das           Wir brauchen mehr als das Klatschen im        machen.
umsetzen ließ. Zumal wir in anderen Län-         Bundestag für systemrelevante Dienst-
dern der Europäischen Union beobachten,          leistungen. Es müssen Taten folgen und        Karbach: Wir können diese Krise also als
dass diese Krise zum Anlass genommen             Puffer geschaffen werden, auch wenn dies      große Chance betrachten?
wurde, um weitreichende Maßnahmen zur            nicht kosteneffizient ist.                    Böschen: Es können neue Denkwege be­

14 | keep in touch | Die RWTH und die Pandemie
Foto: Peter Winandy

Prof. Dr. Stefan Böschen

schritten und damit Möglichkeiten zur            achten, dass die Expertise weniger             Karbach: In der Klimaschutzdebatte wer-
Weiterentwicklung geschaffen werden. Ich         öffentlich umstritten ist. Es fiel auf, dass   den wissenschaftlichen Erkenntnisse aber
möchte aber nicht von Chance sprechen,           Virologen sehr präsent und erste Adresse       oftmals in Frage gestellt…
denn damit geht ein Bild kalkulatorischen        für alle Gespräche wurden. Aber welche         Böschen: Doch ist in der Zwischenzeit klar,
Abwägens einher. Um was es geht, ist die         Rolle spielten die Juristen oder Psycholo-     dass diese Infragestellungen von sehr
Schulung unseres Möglichkeitssinns. Wir          gen? Wo sind die Pädagogen oder wir            interessierten Kreisen erfolgen und viele
müssen uns darüber verständigen, dass            Soziologen? Wir sehen die Effekte des          der Argumente von Klimawandelleugnern
und wie wir als Gesellschaft lernen wollen.      virologischen Regimes auf die Gesellschaft.    klar wiederlegt sind. Zudem ist der Fall bei
Es muss in Zukunft ein Leben mit dem             Zum Beispiel, dass häusliche Gewalt zu­        Corona anders gelagert. Mit dem Coro-
Virus geben. Wie können wir Restaurants          nimmt. Was wir beobachten, ist ein Real­       na-Virus steht ein unmittelbares Risiko für
betreiben in Zeiten von Corona? Wie kön-         experiment und das ist mehr als das Ex-        viele Menschen im Raum - jeden kann es
nen wir ins Kino oder Theater gehen? Da          periment von uns mit einem Virus, sondern      treffen. Deswegen wird Experten in hohem
sind gute Ideen nötig. Es ist wichtig, künftig   auch anders herum: das Virus experimen-        Maße geglaubt, wenn sie uns Maßnahmen
soziale Kreativität freizusetzen, um aus         tiert mit uns.                                 aufzeigen. Beim Thema Klimawandel ist
mehr oder weniger starren Regimen der                                                           das anders. Da sehen wir zwar Effekte, die
Sozialdistanzierung herauszukommen und           Karbach: Welche aktive Rolle muss Wis-         absolute Bedrohung ist aber nicht so deut-
soziale Interaktion zu ermöglichen, auch         senschaft an dieser Stelle einnehmen?          lich wie bei diesem Virus. Wer die Bilder
wenn das Virus weiterhin präsent ist.            Böschen: Die Wissenschaft muss in ihrer        aus einem Krankenhaus in Bergamo oder
                                                 ganzen Bandbreite zur Wirkung kommen.          von einer Beerdigung in Italien sieht, und
                                                 Für mich ist relevant, wie soziales Leben      dann noch behauptet, das Virus sei unge-
Karbach: Welche Rolle nimmt vor dem              mit dem Virus möglich ist und wie sich         fährlich, der muss enorme Fähigkeiten zur
Hintergrund der aktuellen Geschehnisse           Normalität neu einstellt. Universitäten        Ausblendung haben. Aber der Klimawan-
die wissenschaftliche Expertise auch in          müssen als Transformationsakteure eine         del trifft nicht jeden derart offensichtlich.
der Meinungsbildung ein?                         Vorreiterrolle einnehmen. Das Vertrauen in
Böschen: Der britische Soziologe Anthony         diese Institutionen ist sehr hoch, Wissen-      Thorsten Karbach
Giddens hat moderne Gesellschaften da­           schaftlerinnen und Wissenschaftlern wird
durch gekennzeichnet, dass sie Experten­         grundsätzlich Gehör geschenkt.
systeme ausbilden. Wir konnten nun beob­

                                                                                          Die RWTH und die Pandemie | keep in touch | 15
#RWTHhilft
Eine Geste der Solidarität mit Studierenden in der Corona-Krise

D
          ie Corona-Pandemie beeinflusst       und im Rektorat ein. „Solche Konsequenzen        gitalem Semester sind sie nach wie vor in
          unser Leben. Viele von uns er­       konnten wir uns alle vorher nicht ausmalen.      Aachen, können nicht ausreisen oder
          fahren bisher unbekannte Ein­        Sofort haben wir über digitale Meetings ge-      bleiben be­wusst vor Ort. Sie müssen ihre
schränkungen, ob im Beruflichen oder           meinsam mit AStA, Rektorat, RWTHextern           Miete zahlen, sind durch die Pandemie
privat. Auch die RWTH Aachen musste            und unserem Förderverein proRWTH alle            sozial eingeschränkt. Es fehlt die familiäre
sich an die neuen Gegebenheiten anpas-         Strukturen geschaffen, um ab April zu            Nähe oder das Umfeld, das finanzielle Pro-
sen, verschob wichtige Jubiläums-Termine       unserer großen Spendenaktion #RWTH-              bleme abmildert und nicht alle können sich
und stellte sich mit digitalem Semester,       hilft aufzurufen.“, so Rektor Prof. Dr. Ulrich   erfolgreich auf ein anderes Stipendium be-
virtuellen Meetings und Kursen sowie           Rüdiger.                                         werben, da die Bewerbungsprozesse oft
Homeoffice um.                                                                                  kompliziert und zu langwierig sind.“ So
                                               Die Initiative wurde zügig in die Tat umge­      zeichnete sich schon früh im letzten Som-
Die Studierenden standen ebenfalls vor         setzt und hat sich gelohnt, denn bisher          mersemester ab, dass viele der Studieren-
großen Herausforderungen. Dazu zählten         konnten Spenden in Höhe von 50.320 €             den ein Semester aufgrund der veränder-
ein verspäteter Semesterbeginn, die Um-        an insgesamt 86 Studierende in Form von          ten Studien- und Rahmenbedingungen
stellung der Vorlesungen auf digitale Lehre,   Überbrückungsstipendien weitergereicht           verlieren könnten oder das Studium sogar
die vorübergehende Schließung der Biblio-      werden. Alle haben also mitgezogen:              abbrechen müssen. Wenn man Gschlössl
theken und Lernräume, die Einschränkung        Verwaltung, Studierendenvertretung,              reden hört, merkt man ihm deutlich an, wie
von Lerngruppen, die Aussetzung von            Freundesverein und nicht zuletzt die vielen      engagiert er hinter dieser Sache steht. Er
Lern- und Forschungsmöglichkeiten an           Spenderinnen und Spender: Unternehmen,           selber hat mit seinem Team die Anträge
den Instituten und Lehrstühlen, der Wegfall    Hochschulangehörige, Alumni, Aachener            bearbeitet, auf Förderwürdigkeit eingehend
familiärer Unterstützung oder der Verlust      Bürgerinnen und Bürger, Mitglieder im            geprüft und durfte dabei keine unnötige
ihres Nebenjobs. Sozusagen von heute           Förderverein und Personen aus der Lokal-         Zeit verstreichen lassen. „Es musste und
auf morgen hat die Corona-Pandemie das         politik. Die Stipendien wurden eingesetzt,       muss schnell und unbürokratisch geholfen
gewohnte Leben lahmgelegt und auch den         damit die technischen Herausforderungen          werden. Es gab einige Anträge, die wir
Lehrbetrieb beeinträchtigt.                    zum digitalen Studium und finanzielle Eng-       wirklich mit dem Wort ‚Härtefall‘ bezeich-
                                               pässe bewältigt werden konnten. „Es hat          nen können.“, so Gschlössl. Auch jetzt
Viele Professorinnen und Professoren er­       mich sehr beeindruckt zu sehen, wie viele        zum Wintersemester reißen die Anfragen
fahren diese Situation bei ihren Studieren-    Menschen – auch Außenstehende – sich             nicht ab. Vor diesem Hintergrund baten der
den sehr direkt. Prof. Dr. Bernd Markert       der RWTH Aachen freundschaftlich ver-            Rektor wie auch die Studierendenschaft
vom Institut für Allgemeine Mechanik und       bunden fühlen und trotz eigener Einschrän-       den Vorstand von proRWTH um weitere
Rektoratsbeauftragter für Alumni bestätigt:    kungen unsere Hochschule hier solidarisch        Unterstützung der Aktion #RWTHhilft.
„Jeder, der an der RWTH studiert hat, weiß,    unterstützen. Wir haben Freunde!“, stellt
dass das Studium nicht immer einfach ist       Prof. Dr. Ernst Schmachtenberg, Vorsitzen-       Dass diese Corona-Pandemie sich so
und man oft auf sich alleine gestellt ist.     der des Fördervereins und proRWTH und            lange durch die Semester zieht, war für
Der zum Teil enorme Druck, die geforder-       ehemaliger Rektor der Aachener Hoch-             alle an der Hochschule zunächst undenk-
ten Leistungen zu erbringen, ist einfach so    schule dankbar fest.                             bar. Doch mit jedem weiteren Treffen des
schon da und auch die finanziellen Eng­                                                         RWTH-Corona-Krisenstabs, jeder weiteren
pässe kennen sicher viele noch aus ihren       Auch die Dankbarkeit unter der Studieren­        Maßnahme und jedem weiteren einge-
Studienjahren. Nun verstärkt sich dieser       denschaft ist sehr groß, da wohl nicht           henden Antrag wurde klar, dass auch das
Druck zu einer richtigen Wucht unter           jeder von ihnen auf andere Unterstützung         Wintersemester betroffen sein wird. „Im
Corona.“ Ein richtiger Alarm ging durch die    hoffen kann. So bestätigt Marc Gschlössl         März hatten viele geglaubt, bis zum Herbst
Studierendenschaft: Wie nur kann man           vom Allgemeinen Studierendenausschuss            würde sich die Lage soweit normalisieren
zusammenhalten, trotz aller räumlichen         (AStA) der RWTH Aachen: „Rund 18 Prozent         und dass solche Härten nicht mehr wieder
Trennung und füreinander da sein? Dieser       der Einwohner in Aachen sind Studierende,        auftreten.“, erklärt Prof. Dr. Ernst Schmach-
Hilferuf ging quasi gleichzeitig beim AStA     davon 25 Prozent Internationale. Trotz di-       tenberg, „Aber die Realität sieht für die

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