Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen?
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SIRIUS 2019; 3(2): 154–166 Aufsatz Heinrich Brauß* und Joachim Krause Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen? https://doi.org/10.1515/sirius-2019-2005 advantages in case of a regional war taking place in Europe by having available a capability for escalation dominance. Zusammenfassung: Der Aufsatz befasst sich mit der Frage, Any such war can only be initiated by Russia, not by NATO. was Russland dazu veranlasst hat, nach langer Pause The Western alliance should respond by improving the erneut in nuklearfähige Mittelstreckenwaffen zu investie- conventional defence capabilities with which it is going to ren, die vornehmlich gegen Ziele in Europa gerichtet sind. protect the Baltic States and Poland. Besides that, NATO Die Autoren gelangen zu dem Ergebnis, dass die russische will have to undergo a review of its nuclear forces. Rüstung nicht mit dem Aktions-Gegenreaktions-Theorem erklärt werden kann, sondern sich aus dem spezifisch Keywords: NATO, Russia, Intermediate Nuclear Forces, russischen Militäransatz ergibt. Russland verspricht sich INF-Treaty, Ukraine, Baltic States, Defence Strategy offenkundig entscheidende strategische Vorteile im Sinne einer Eskalationsdominanz gegenüber den USA und der NATO für den Fall eines regionalen Krieges in Europa – eines Krieges, der aller Voraussicht nach nur von Russ- 1 Einleitung land ausgehen würde. Die westliche Allianz sollte auf Deutschland sorgt sich angesichts des Streits über die die Politik Moskaus vor allem mit einer Verbesserung der Einhaltung des Vertrags über das Verbot landgestützter Fähigkeit zur konventionellen Verteidigung der baltischen nuklearer Mittelstreckenwaffen (INF) um die Gefahr eines Staaten und Polens reagieren, denn die russische Mittel- neuen Rüstungswettlaufs. Immer neue Ideen werden streckenrüstung macht nur Sinn im Rahmen eines regio entwickelt, die dazu beitragen sollen, dass es doch noch nalen Kriegsszenarios. Allerdings wird die NATO nicht gelingt, zu einer wie auch immer gearteten Verständigung umhinkommen, das eigene Nukleardispositiv entspre- zu kommen – bislang ohne Erfolg. chend anzupassen. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist heute Schlüsselbegriffe: NATO, Russland, Mittelstrecken primär von einem Ansatz gekennzeichnet, der auf Ver- raketen, INF-Vertrag, Ukraine, baltische Staaten, Verteidi- mittlung und Besänftigung setzt und die eigene Sicher- gungsstrategie heitslage erst einmal zurückstellt. Im Prinzip ist an einem derartigen Ansatz nichts auszusetzen, wenn er zu den gewünschten Ergebnissen und zu einer effektiven Verbes- Abstract: The article asks why Russia has started again serung der Sicherheit führt (und nicht zu problematischen to invest in intermediate-range missiles, which can be Scheinlösungen). Sollte das nicht der Fall sein – und viel used both in conventional and nuclear roles. The authors spricht dafür, dass es hier so ist – dann wäre es an der Zeit, arrive at the conclusion that the Russian efforts cannot strategische Logik zu bemühen und sich in aller Offenheit be explained by resorting to the action-reaction scheme. jener Frage zu stellen, die eigentlich an den Anfang der Rather, the nature of the specific Russian approach heutigen Debatte gehört hätte: Was hat die russische Seite towards military issues should be taken into consider- dazu gebracht, nach mehr als 30 Jahren Pause in nuklear ation. Russia obviously tries to achieve major strategic fähige Mittelstreckenwaffen zu investieren? Was können die strategischen und politischen Ziele sein, die die rus- sische Führung damit verbindet? Was bedeutet das für *Kontakt: Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß, Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, bis 2018 unsere Sicherheit? Und was bleibt zu tun? Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung, E-Mail: brauss@af.dgap.org Prof. Dr. Joachim Krause: Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift SIRIUS und Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, E-Mail: jkrause@politik.uni-kiel.de. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen? 155 2 D as Ausmaß der russischen Auf- abweisende Fähigkeiten aufweisen und Reichweiten von rüstung mit Mittelstreckenwaffen bis zu 3.000 km und mehr haben. Dazu gehören neben den bekannten Kh-55 und Kh-55SM Marschflugkörpern die seit 2013 eingeführten Flugkörper des Typs Kh-101/102. Auch Am Anfang dieser Überlegungen steht ein Befund, der stationiert Russland ballistische Mittelstreckenraketen in der deutschen Debatte weitgehend ignoriert wird: Das des Typs Iskander im Bezirk Kaliningrad, die zwar nicht Ausmaß und die Breite der russischen Rüstungsanstren- unter den INF-Vertrag fallen, die aber Berlin und War- gungen im Bereich der nuklearfähigen Mittelstrecken schau direkt bedrohen können. All die hier genannten waffen übersteigen alles bislang Befürchtete. Zum Groß- Flugkörper können nuklear und konventionell bestückt teil handelt es sich dabei um Marschflugkörper, die mit werden. Hinzu kommt, dass Russland seit Jahren strategi- Hilfe von Terrainverfolgungsradar in niedriger Höhe ope- sche nukleare Angriffssysteme so modifiziert, dass diese rieren und mit hoher Präzision Ziele bekämpfen können.1 auch gegen Europa eingesetzt werden können. Hierzu Nicht nur dass Russland unter dem Bruch des INF-Vertrags gehört vor allem der noch nicht in Dienst gestellte ballis- einen landgestützten Marschflugkörper (9M729, SSC-8 in tische Flugkörper RS-26 Rubezh, der mit einer Reichweite der NATO-Klassifikation)2 entwickelt und getestet hat, es von knapp 5.800 km von russischem Territorium aus Ziele hat bereits an vier verschiedenen Orten des europäischen in Europa angreifen kann.4 Die neuesten Ankündigungen Russlands vier Bataillone mit insgesamt 64 Werfern statio- Präsident Putins, hyperschnelle und extrem manövrier niert.3 Zudem wurde vor wenigen Jahren ein seegestützter fähige Raumgleiter als Kernwaffenträger einzusetzen, nuklearwaffenfähiger Marschflugkörper des Typs Kalibr gibt dieser Dimension eine weitere Relevanz. Diese Gleiter 3M14 eingeführt, der eine Reichweite von über 2.000 km können auch gegen Ziele in Europa eingesetzt werden – hat und der nicht nur von Überwasserschiffen, sondern seien sie konventionell oder nuklear bestückt. auch von getauchten U-Booten der Kilo-Klasse und der Viele argumentieren, dass diese Marschflugkörper neuen Jasen-Klasse unter Wasser gestartet werden kann und Raketen vor allem einen Bezug zu China hätten.5 (3M14 PL). Von den U-Booten der Jasen-Klasse befindet China würde an der Grenze zu Russland Mittelstrecken sich gegenwärtig eine Einheit auf See, weitere werden raketen aufstellen. Dieser Chinabezug wird auch von gerade eingeführt bzw. gebaut. Die russische Marine amerikanischen Autoren betont, die den Ausstieg der USA stattet derzeit eine ganze Reihe von Überwasserschiffen aus dem INF-Vertrag in der Hauptsache damit begründen, mit Kalibr 3M14 T/S-Flugkörpern aus, die bei Reichweiten dass Washington die Fähigkeit behalten müsse, gegen chi- von bis zu 2.600 km von unterschiedlichen Positionen nesische Mittelstreckenraketen handlungsfähig zu blei- aus Angriffe auf Landziele in Europa erlauben. Hinzu ben.6 Dieses Argument hat zweifellos seine Berechtigung. kommt, dass auch eine weitere Modernisierung luft- Aber: wenn die Aufrüstung Russlands bei Mittelstrecken- gestützter Marschflugkörper stattgefunden hat, die radar- raketen und Marschflugkörpern primär Asien und andere Schauplätze im Sinn hätte, bei denen Russland als Groß- 1 Vgl. die tabellarische Übersicht im Anhang. macht ernst genommen werden möchte, dann bleibt die 2 Zu den technischen Details der SSC-8 vgl. die Angaben auf der Web- Frage unbeantwortet, warum die landgestützten Marsch- seite des CSIS „Missile Defense Project“ zum Thema „SSC-8 (Novator flugkörper des Typs 9M729 gerade im europäischen Teil 9M729), https://missilethreat.csis.org/missile/ssc-8-novator-9m729/. Russlands stationiert und zudem die Nordmeerflotte mit 3 Bereits 2017 hatte die New York Times davon berichtet, dass Russ- land zwei Bataillone mit SSC-8 Marschflugkörpern stationiert habe, Jasen-U-Booten und Kalibr-Marschflugkörpern ausgerüs- davon eines in Kapustin Jar, der andere Stationierungsort sei nicht bekannt, vgl. Michael Gordon: „Russia Deploys Missile, Violating 4 Vgl. den Beitrag von Stefan Hinz in diesem Heft. Treaty and Challenging Trump“, New York Times, 14.2.2017. Diese 5 Stratfor Worldview, “RIP INF: China, Russia, and America May Meldung wurde einen Monat später von dem stellvertretenden Vor- Enter into a Deadly Arms Race”, 2.2.2019; The National Interest Blog, sitzenden der Joint Chiefs of Staff, General Paul Selva, im Rahmen https://nationalinterest.org/blog/buzz/rip-inf-china-russia-and- einer Kongressanhörung bestätigt; vgl. Michael Gordon: „Russia Has america-may-enter-deadly-arms-race-43017; Ryan Browne: “What’s Deployed Missile Barred by Treaty, U.S. General Tells Congress“, New behind Trump’s decision to ditch a decades-old arms control treaty?”, York Times, 8.3.2017. Anfang dieses Jahres berichtete die FAZ, dass CNN, 22.10.2018; https://edition.cnn.com/2018/10/21/politics/trump- laut amerikanischen Informationen bereits vier Bataillone aufgestellt russia-inf-treaty-decision/index.html; seien, vgl. Thomas Gutschker: „Russland verfügt über mehr Rake- 6 Keith K. C. Hui: „Analyst says US pulls out of INF pact because ten als bislang bekannt“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, of China“, China Daily Mail, 6.2.2019; https://chinadailymail. 10.2.1019; dabei handelt es sich um ein Ausbildungsbataillon auf dem com/2019/02/06/analyst-says-us-pulls-out-of-inf-pact-because-of- Testgelände Kapustin Jar in Südrussland, ein Bataillon in Kamyšlov, china/; siehe auch Jesse Johnson: „China’s missile buildup — a threat östlich von Jekaterinburg, ein weiteres im nordossetischen Mosdok to U.S. bases in Japan — likely a key factor in Trump plan to exit INF“, sowie eines in Šuja nahe Moskau Japan Times, 22.10.2018. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
156 Heinrich Brauß und Joachim Krause Abb. 1: Das erste U-Boot der Jasen Klasse, die Severodvinsk tet werden und nicht etwa die Pazifikflotte. Besorgniser verspricht. Investitionen in Waffensysteme dieser Grö- regend ist dabei das Ausmaß der Modernisierung und Aus- ßenordnung werden nicht einfach so gemacht – oder weil weitung der russischen Lagerkapazitäten für Kernwaffen Politiker an einer „Rüstungsschraube“ drehen wollen. in Europa, am stärksten auf der Halbinsel Kola (dem rus- Entweder stellen sie eine Reaktion auf westliche Rüstungs- sischen Teil Skandinaviens) und in der russischen Exklave anstrengungen dar, oder dahinter steht ein strategisches Kaliningrad.7 All dies sind Indikatoren dafür, dass Russ- Konzept, das auf politische und militärische Grundsatz- land in großem Umfang eine auf Europa zielende Aufrüs- entscheidungen zurückgeführt und auf westlicher Seite tung mit Raketen, Marschflugkörpern und Trägersystemen gründlich untersucht werden muss – und gegebenenfalls betreibt, die mit relativ großer Genauigkeit Ziele in Europa Gegenmaßnahmen auslösen sollte. aus unterschiedlichen Entfernungen treffen können – ent- Die russische Aufrüstung lässt sich nicht als Antwort weder mit konventionellen oder mit nuklearen Spreng auf westliche Rüstungsschritte interpretieren, denn seit köpfen. Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts sind taktische und „euro-strategische“ Kernwaffen westlicher Staaten massiv reduziert worden. Die amerikanischen Pershing II- 3 Die Motive Russlands Raketen und die Marschflugkörper des Typs BGM-109G Gryphon wurden im Zuge der Implementierung des INF- Vertrags abgebaut und zerstört. Bis auf eine kleine Zahl Wenn Russland mit seinen begrenzten wirtschaftlichen von rund 200 Flugzeug-Bomben des Typs B-61, die in Kapazitäten einen derart großen Aufwand betreibt, dann mehreren europäischen Ländern unter US-Aufsicht gela- sollte man sich auch in Deutschland ernsthaft mit der gert sind, gibt es keine amerikanischen taktischen Atom- Frage befassen, was sich die politische und militärische waffen mehr in Europa. Die B-61 Bomben würden von Führung in Moskau von diesen enormen Investitionen Bombenflugzeugen ausgebracht, die verwundbar sind. Seit 1991 führen US-Überwasser-Kriegsschiffe keine Kern- 7 Vgl. Nilsen 2018, Kristensen 2018. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen? 157 waffen mehr mit sich. In diesem Zusammenhang hatten Russlands eigene Sicherheit absolut zu definieren, also die USA auch darauf verzichtet, die sehr effektiven und auf Kosten der Sicherheit Anderer, vor allem von Staaten zielgenauen seegestützten Tomahawk-Marschflugkörper und Bündnissen in seiner Nachbarschaft. Was diesem mit nuklearen Sprengköpfen auszurüsten. Diese Fest Konzept derzeit im Wege steht, ist die NATO. Würde sie legung ist unter dem Eindruck des russischen Bruchs des geschwächt, ihre Geschlossenheit unterminiert, ihre INF-Vertrags mittlerweile aufgegeben worden – ohne dass Entscheidungsfähigkeit in einer Krise paralysiert oder ihre allerdings schon ein entsprechender nuklearer Flugkör- Verteidigungsfähigkeit in einem Konflikt zunichtegemacht per beschafft worden wäre. Auch die britischen und fran und würde die NATO daraufhin kollabieren, hätte Russ- zösischen Kernwaffenarsenale wurden drastisch reduziert. land freie Bahn, und seine Kontrolle über Europa würde Diese befinden sich auf nukleargetriebenen U-Booten, die sich wie von selbst ausbreiten. Diesem strategischen Ziel in offenen Gewässern operieren, oder könnten, im Falle dienen die neuen nuklearfähigen Mittelstreckenraketen Frankreichs, auch mit Kampfflugzeugen ins Ziel gebracht 9M729 ebenso wie die Kalibr-Marschflugkörper und die werden. Beide Szenarien sind aber realistischerweise nur luftgestützten Marschflugkörper. Die bereits bestehende vorstellbar, wenn die Sicherheit Frankreichs oder Großbri- vielfache konventionelle und nukleare Bedrohung erhält tanniens von außen existentiell bedroht wäre, also durch damit eine neue militärische und politische Qualität. Vor die Drohung eines Nukleareinsatzes gegen deren Territo- allem mit der 9M729 verschafft sich die russische Führung rien. Dies ist aber sehr unwahrscheinlich, da Russland mit eine zusätzliche, besondere Option zur Durchsetzung einem vernichtenden nuklearen Gegenschlag zu rechnen ihrer Strategie mit weitreichenden Implikationen. hätte. Russischen Planern ist dies sehr wohl bewusst. Mit einer Reichweite von über 2.000 km, landgestützt Dafür einen derart großen Aufwand zu treiben, wäre reine und mobil und daher schwer zu identifizieren und zu Mittelverschwendung, was den normalerweise kühl kalku- bekämpfen, kann die 9M729 mit geringer Vorwarnzeit lierenden russischen Militärs klar sein dürfte. jedes Ziel im größten Teil Europas erreichen – Hauptstädte, Wenn das gängige Rüstungswettlauf-Theorem die militärische Hauptquartiere und für die Überlebens- und umfassende russische Aufrüstung im Bereich der euro- Verteidigungsfähigkeit unserer Länder kritische zivile und strategischen Raketen nicht erklären kann, dann ist es militärische Infrastruktur. Ähnliches gilt im Prinzip für die geboten, sich mit strategischen Überlegungen zu befas- Kalibr-Marschflugkörper sowie die anderen oben genann- sen, die dieser Rüstung zugrunde liegen. Hierzu sind die ten Mittelstreckenwaffen. Wegen der geringen Vorwarnzeit Merkmale der eingeführten Waffensysteme ebenso in aber könnte die 9M729 die Reaktionsfähigkeit der NATO Betracht zu ziehen wie die übrigen militärischen Aktivitä- und damit die Aufmarsch- und Verteidigungsfähigkeit der ten Moskaus der vergangenen Jahre in Europa vor dem Hin- Verbündeten zu einem frühen Zeitpunkt eines Konfliktes, tergrund der politischen und strategischen Ausrichtung womöglich entscheidend, schwächen und als Folge die Russlands und seiner damit einhergehenden Militärdok- Entscheidungsfähigkeit einzelner Alliierter oder der NATO trin. Diese sieht unter anderem vor, dass konventionelle als ganzer paralysieren. Da die 9M729 zudem zwar nahezu und nukleare Kräfte und Mittel einen integrierten Verbund ganz Europa bedrohen kann, nicht aber die USA, könnte bilden und dass auch der Einsatz von Nuklearwaffen oder hinter dieser Beschaffung die Absicht der russischen die Drohung mit ihnen ein Mittel der operativen Kriegsfüh- Führung stehen, die USA aus einem Konflikt in Europa rung darstellen. Die naheliegende Erklärung ist die, dass herauszuhalten zu wollen, zumal wenn er eine nukleare Russland die Fähigkeit zur Eskalationsdominanz in einem Dimension hätte. Dies könnte die auf Europa erweiterte regionalen Konflikt in Europa anstrebt und sie in abseh nukleare Abschreckung der USA unterminieren, die strate- barer Zeit erreichen könnte. Anders ausgedrückt: Russ- gische Einheit des Bündnisgebiets aufbrechen und in zwei land betreibt diese enormen Investitionen, weil es sich Zonen unterschiedlicher Sicherheit aufteilen und damit davon entscheidende strategische Vorteile gegenüber den die Sicherheit Europas von der Sicherheit Nordamerikas USA und der NATO für den Fall eines regionalen Krieges abkoppeln – der Albtraum aller deutschen Regierungen in Europa verspricht – eines Krieges, der aller Voraussicht schon im Kalten Krieg. nach nur von Russland ausgehen würde. Der russischen Regierung ist bewusst, dass sie einen Das Selbstverständnis von der Einmaligkeit Russ- lang andauernden Krieg mit dem Westen und eine strategi- lands und der daraus erwachsene Machtanspruch, die sche Auseinandersetzung mit der NATO auf absehbare Zeit Geschichte des Landes als einer jahrhundertelangen nicht gewinnen kann. Aber in der Beurteilung aller oben Geschichte der Eroberung eines Riesenreiches und seine dargelegten Faktoren könnte Moskau zu der Auffassung geostrategische Lage mit einer mehr als 20.000 Kilome- gelangen, dass es eine regionale Eskalationsdominanz ter langen Landgrenze begründen Moskaus Bestreben, erlangt hat und daher das Risiko einer militärischen Aus- Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
158 Heinrich Brauß und Joachim Krause einandersetzung in Europa am Rande der NATO beherr- klassische konventionelle Operationen zur Besetzung und schen und deren Handlungsfähigkeit untergraben kann. Verteidigung von Territorien bis hin zum Einsatz nuklearer Eine solche Perzeption kann die Risikobereitschaft und Waffen.8 Aggressivität Moskaus in einer Krise, aber bereits auch Kriege werden in ihren Konsequenzen und in Bezug schon in Friedenszeiten deutlich erhöhen. Der Zwischen- auf das Eintreten möglicher Ereignisse (auch das Ein- fall im Asovschen Meer könnte dafür ein Beispiel sein. schreiten dritter Parteien) voll durchdacht. Wie in einem Sollte es in Europa zu einem regionalen Krieg kommen, Schachspiel stellt sich die russische Führung dabei auf würde Moskau alles daransetzen, ihn zu seinen Gunsten unterschiedliche Szenarien und Strategien eines Gegners zu entscheiden und mit Hilfe dieser Mittelstreckenwaffen ein. Einen hohen Stellenwert nehmen dabei regionale zu beenden – entweder konventionell oder auch nuklear. Kriege an der Peripherie Russlands ein. Zentral ist die Das hört sich für deutsche Ohren erst einmal befremd- Frage, wie diese unter Nutzung von unterschiedlichen lich an, aber vieles spricht dafür, dass die russische Mitteln zu Gunsten Russlands erfolgreich beendet werden Führung davon ausgeht, dass es in den kommenden können. Dabei wird in der russischen Militärdoktrin auch Jahren zu einer kriegerischen Auseinandersetzung in Kernwaffen eine zentrale Rolle bei der Eskalationskon- Europa kommen kann. Dies steht auch im Einklang mit trolle zugewiesen, wenngleich das übergeordnete Ziel wissenschaftlichen Analysen, die sich mit dem spezifisch bleibt, den umfassenden strategischen Kernwaffenkrieg russischen Ansatz von Kriegsführung und von Anwen- zu vermeiden.9 In diesem Zusammenhang werden dung von Gewalt generell befassen. Die Verteidigungs auch nicht-nukleare Präzisionswaffen in das militärische politik der westlichen Allianz hat sich in den vergangenen Kalkül einbezogen. Bei ihnen handelt es sich hauptsäch- 70 Jahren auf Abschreckung durch nukleare Vergeltungs- lich um Marschflugkörper und ballistische Raketen kurzer androhung und/oder durch Versagen von militärischen und mittlerer Reichweite, die entweder land- oder see- Optionen mit konventionellen Streitkräften im Rahmen gestützt sind oder von Flugzeugen aus gestartet werden. der Kollektiven Verteidigung beschränkt. In den zurück- Solche weitreichenden konventionellen Waffen, die auch liegenden drei Jahrzehnten war sie zudem vor allem mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden können, durch Interventionen zur Stabilisierung von Krisenherden sollen in einem regionalen Krieg den Gegner zum Aufge- und Konflikten außerhalb der Bündnisgrenzen im Sinne ben zwingen.10 kollektiver Sicherheit (meist gemischt militärisch-zivil) gekennzeichnet. Demgegenüber war der sowjetische und ist heute auch der russische Ansatz zum Einsatz militärischer 4 R egionale Kriege in Europa – Gewalt grundlegend anders. Dieser ist durch das oben welche Schauplätze? beschriebene russische Selbstverständnis geprägt, das faktisch die Unterwerfung der Sicherheitsinteressen Aber wo könnten derartige Kriege stattfinden? Und wären seiner Nachbarstaaten unter den russischen Machtan- dort auch aus russischer Sicht legitime defensive Interes- spruch verlangt. Hinzu kommt ein militärstrategisches sen betroffen? Oder würde dort die gewaltsame Umsetzung Denken, das Kriege antizipiert, die gewonnen werden der revisionistischen Politik Putins beginnen, der wieder- müssen unter Ausnutzen der Schwächen der anderen holt die Auflösung der Sowjetunion als größte Katastrophe Seite bei Vermeidung der Ausnutzung der eigenen Schwä- des 20. Jahrhundert bezeichnet hat? Defensive Interessen chen durch den Gegner. Russisches Denken geht (abgese- Russlands wären nur dann als gegeben anzusehen, sollte hen von der nuklearstrategischen Konfrontation mit den es größere Truppenkonzentrationen der NATO an Russ- USA) nicht von dem Primat der Vermeidung und raschen lands Grenzen geben, die zu großräumigen Angriffsopera- Beendigung von Kriegen und der Schadenslimitierung tionen fähig wären und deren Aktivitäten als Vorbereitung aus, sondern davon, Kriege zu gewinnen – und auch nur einer Invasion Russlands gewertet werden könnten. Diese jene Kriege zu initiieren, bei denen man sicher ist, sie auch gibt es aber weder im Baltikum noch in Skandinavien gewinnen zu können. Dabei wird das gesamte Spektrum noch in Polen, in der Ukraine oder im Kaukasus. an militärischen und nicht-militärischen Instrumenten in Betracht gezogen. Dieses Spektrum umfasst Desinformati- 8 Covington 2016, Adamsky 2015, Johnson 2018, Johnson 2019, Pe- onskampagnen, Destabilisierungsoperationen und Cyber- ters/Anderson/Menke 2018, Kroenig 2018, Giles 2016, Palmer 2018, Angriffe schon in Friedenszeiten sowie hybride Angriffe, Dick 2019. die unterhalb der Schwelle von offener Anwendung von 9 Johnson 2018, 16 und 20, Warden 2018, 13, Kroenig 2018. militärischer Gewalt von außen bleiben, und schließlich 10 Warden 2018, 13 f, Johnson 2018, 26. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen? 159 Die möglichen Schauplätze eines regionalen Krieges Sicherheit womöglich bedroht sei.11 Es herrschte betretene lägen dort, wo Russland glaubte, seinen Einfluss wieder Stille im Raum. Kurze Zeit danach marschierte Russland in herstellen zu müssen oder wo es die Chancen sieht, eine Georgien ein. Die Folgen sind bekannt. radikale Änderung des strategischen Status quo durch Heute steht Russland mit Streitkräften im Donbass und eine nachhaltige Schwächung der NATO zu bewirken, bindet dort beträchtliche Landstreitkräfte der Ukraine. Es und zwar mit begrenztem oder beherrschbarem militä- hat die Halbinsel Krim besetzt und unrechtmäßig annek- rischem und politischem Risiko. Eine solche Situation tiert und zu einer großen militärischen Festung ausge- könnte eintreten, wenn die USA mehr und mehr Teile baut. Die dortigen vielfachen Luftverteidigungssysteme, ihrer Kräfte nach Ostasien verlegten, wo diese dann im die Marschflugkörper, die konventionellen oder nuklea- Südchinesischen Meer und im Pazifik gebunden wären. ren (ballistischen) Kurz- und Mittelstreckenraketen gegen Wenn sich gleichzeitig die wirtschaftliche Lage in Russ- Boden-, Luft-, und Seeziele, die weitreichende Artillerie land weiter verschlechtert und die Zustimmung der rus- und die elektronischen Kriegsführungssysteme decken sischen Bevölkerung zum Regime schwindet, könnte der als sogenannte Anti Access/Area Denial (A2/AD) Capabi russische Präsident Vladimir Putin die Flucht nach vorne lities große Teile des Schwarzen Meeres, den nördlichsten antreten, indem er mit einer entscheidenden militärischen Teil der Türkei und den östlichsten Teil Rumäniens ab. Operation und mit der damit verbundenen Mobilisierung Russland kontrolliert die Straße von Kerč und damit den nationalistischer Emotionen in der russischen Bevölke- Zugang zum Asovschen Meer. Es hat noch immer Streit- rung seine Herrschaft wieder zu festigen versuchte. Das kräfte im von Moldawien abtrünnigen Transnistrien im ist derzeit zwar nur ein theoretisches Szenario, aber es Südwesten der Ukraine stationiert. Außerdem ist Russland passt zu den zu beobachtenden Rüstungsentwicklungen in der Lage, sehr rasch größere Verbände an Landstreit- auf Seiten Russlands. kräften an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen. So Derzeit kommen zwei regionale Schauplätze für sähe die militärische Ausgangslage für eine weitere militä- solche Vorstöße in Betracht: entweder (1) die Ausdeh- rische Operation gegen die Ukraine aus. nung der militärischen Operationen in der Ukraine mit Als ein Denkmodell für eine Fortsetzung der rus dem Ziel, deren Lebensfähigkeit als unabhängiger Staat sischen Intervention in der Ukraine kann man sich das fol- noch stärker zu bedrohen als bisher oder deren unabhän- gende generische, aber realitätsnahe Szenario vorstellen: gige Staatlichkeit zu zerstören; oder (2) ein begrenzter Künstlich herbeigeführte Zwischenfälle und Provokatio- Angriff gegen einen oder mehrere baltische Staaten und nen aus dem Instrumentenkasten der hybriden Kriegsfüh- Teile Polens mit dem Ziel, die Glaubwürdigkeit der NATO rung, wie man sie seit den Tagen der Besetzung der Krim und der kollektiven Verteidigungsgarantie zu unterminie- kennt, groß angelegte, systematische Desinformations- ren und damit ihre Rolle und Funktion zu diskreditieren. kampagnen, geschürte Unruhen in von Russen bewohn- In beiden Fällen würde Russland vermutlich versuchen, mit schnellen Vorstößen militärische Fakten, ein fait 11 Über die Rede ist in den Medien berichtet worden, wobei der accompli, zu schaffen, bevor der Westen, die USA oder Schwerpunkt auf der Warnung Putins vor einer weiteren Erweiterung die NATO als ganze eingreifen könnten. In beiden Fällen der NATO lag. Die Infragestellung der Eigenständigkeit der Ukraine würden russische Mittelstreckenwaffen eine wichtige wurde dabei kaum erwähnt; vgl. „Putin warns Nato over expansion“, The Guardian, 4.4.2008, sowie Steven Erlanger: „Putin, at NATO Mee- Rolle spielen. ting, Curbs Combative Rhetoric“, New York Times, 5.4.2009. Die Rede ist im Volltext nirgendwo mehr zu finden, weder auf der Webseite der NATO noch auf der Webseite des russischen Präsidenten. Lediglich 4.1 Der Schauplatz Ukraine auf der Webseite der ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN finden sich jene Ausschnitte der Rede Putins im englisch übersetzten Wort- Schon während der Sitzung des NATO-Russland-Rats auf laut, in denen er die Lage in der Ukraine als extrem kompliziert dar- stellt und ein Bild von der Ukraine malt, welches ihr weitgehend jegli- Ebene der Staats- und Regierungschefs im Rahmen des che Eigenständigkeit abspricht. Putin wies in dieser Rede darauf hin, NATO-Gipfeltreffens 2008 in Bukarest sprach der russi- dass in der Ukraine 17 Millionen Russen leben würden; https://www. sche Präsident Putin – voller Zorn über die Zusage der unian.info/world/111033-text-of-putins-speech-at-nato-summit- Allianz an die Adresse der Ukraine und Georgiens, dass bucharest-april-2-2008.html. Teilweise hat Putin auch abweichend beide eines Tages NATO-Mitglied würden – in Anwesen- vom Redemanuskript gesprochen. Das betrifft insbesondere die oben erwähnten Drohungen. Der Bericht über die mündlichen Einlassun- heit der Staatschefs der Allianz der Ukraine eine eigene gen Putins und dessen Wirkung auf die anwesenden Staats- und Re- Staatlichkeit ab und kündigte mit drohendem Unterton gierungschefs der NATO in der Sitzung des NATO-Russland-Rats in an, dass Russland überall da seiner Verantwortung nach- Bukarest stammt von einem damaligen hochrangigen Mitglied des kommen würde, wo russische Bürger lebten und deren Internationalen Stabs der NATO, der an der Sitzung teilnahm. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
160 Heinrich Brauß und Joachim Krause ten Landesteilen durch eingesickerte Untergrundkämpfer gen. Die Botschaft wäre klar: Jede Einmischung von west- und ‚Aufständische‘, eine Verschärfung des Krieges im licher Seite mit militärischen Mitteln könnte zu nuklearer Osten, herbeigeführte Zwischenfälle im Asovschen Meer Eskalation mit dramatischen Folgen führen. und behauptete Angriffsvorbereitungen der Ukraine gegen Wäre Russland damit erfolgreich, würde sich die Russland würden von der russischen Führung als Vorwand gesamte strategische Lage in Südosteuropa und im gesam- genommen, um die militärischen Operationen gegen die ten Schwarzmeerraum, einschließlich der Türkei, und Ukraine großflächig auszuweiten. Beispielsweise könnten die dortige Kräftekonstellation grundlegend verändern. russische Landstreitkräfte (unter Sperrung der Straße von Rumänien sähe sich einer direkten militärischen Bedro- Kerč und des See- und Luftraums über dem Asovschen hung gegenüber, und die gesamte NATO-Verteidigungs- Meer und bei Bindung starker ukrainischer Streitkräfte planung müsste angepasst werden. Der Aufbau einer im Osten und entlang der Grenze zu Russland) versuchen, starken permanenten militärischen Präsenz des Bündnis- von Osten aus schnell über Mariupol hinaus vorzusto- ses entlang seiner gesamten Ostflanke wäre das Gebot der ßen, die Landverbindung zur Krim zu schließen und den Stunde. Moskau hätte allerdings seine Pufferzone gegen- Raum südlich des Dnjepr zu besetzen. Sie könnten, koor- über der Allianz eingebüßt. diniert mit den Kräften auf der Krim und gegebenenfalls in Transnistrien weiter in Richtung Odessa vorstoßen, dem größten und wichtigsten Hafen der Ukraine, ihn auch von 4.2 Der Schauplatz Baltikum See aus blockieren und das Land damit von einer seiner entscheidenden Lebensadern abtrennen. Die Regierung Ein analoges Vorgehen der russischen Führung im bal- in Kiev könnte vor die Wahl gestellt werden: entweder die tischen Raum wäre selbst im Falle einer strategischen Fortsetzung des Krieges und damit die Zerstörung und ‚Ablenkung‘ der USA in Ostasien ungleich risikoreicher, Besetzung weiter Teile des Landes oder die Assoziierung aber nicht auszuschließen. Die baltischen Staaten, Polen, mit Russland.12 Deutschland und Dänemark sind NATO-Mitglieder. Für sie Die gesamte Operation würde unterstützt und abgesi- gälte die Beistandsgarantie des Washingtoner Vertrags. chert einerseits durch zielgenaue konventionelle Raketen Schweden und Finnland sind NATO-Partner und durch aus der Tiefe des russischen Raums, die wichtige militäri- koordinierte Übungen und Einsatzplanung eng mit der sche Ziele und zivile Infrastruktur in der Ukraine bekämp- NATO verbunden.13 Die USA haben starke Land-, Luft- und fen würden, die für die Operationen der ukrainischen Seestreitkräfte in Europa stationiert, vor allem in Deutsch- Streitkräfte von wesentlicher Bedeutung wären. Außer- land und Polen. Sie sind auch zu Übungen mit Land-, Luft- dem wäre die russische Führung vermutlich bestrebt, und Seestreitkräften regelmäßig in den baltischen Staaten sofort mit Beginn der Operationen die militärische Kon- und im Ostseeraum insgesamt präsent. trolle über das Schwarze Meer und dessen Luftraum zu Die Streitkräfte Estlands, Lettlands, Litauens und erreichen – gegen angenommene mögliche westliche Polens sind auf die Verteidigung ihrer Länder vorbereitet. Interventionsversuche. Die vier multinationalen Battlegroups der NATO dort sig- Darüber hinaus könnte die russische Führung den nalisieren der Moskauer Führung, dass sie selbst im Falle Zugang zum Schwarzen Meer sperren. Sie könnte Polen eines begrenzten Einfalls in eines dieser Länder unmit- und Rumänien oder sogar Zentraleuropa in die Zielliste telbar in einen militärischen Konflikt mit der gesamten für nuklearbestückte Mittelstreckenraketen aufnehmen Allianz geriete, einschließlich der drei nuklearen Mächte und die betroffenen Nationen, aber auch die USA und die der NATO: USA, Frankreich und Großbritannien. NATO- NATO, gezielt darüber in Kenntnis setzen. Putin wäre auf Kampfflugzeuge sichern ständig den Luftraum über den allen Kanälen mit der Warnung zu vernehmen, dass Russ- baltischen Staaten. Außerdem hat die NATO seit der hyb- land eine Nuklearmacht sei und sich nicht scheuen würde, riden Aggression Russlands gegen die Ukraine im Jahre seine nationalen Interessen mit allen Mitteln zu verteidi- 2014 ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit systematisch verstärkt und ihre Verteidigungsausgaben 12 Würde sich die ukrainische Regierung allerdings weigern, sich deutlich erhöht: Seit 2014 haben die europäischen Ver- einer russischen Erpressung zu beugen, stünde Moskau möglicher- bündeten und Kanada rund 88,5 Milliarden US-Dollar weise ein längerer, verlustreicher Zermürbungskrieg bevor, der von mehr für Verteidigung ausgegeben, bis Ende 2020 werden Kiev womöglich mit Guerilla-Taktiken geführt würde, auch zu An- es weit mehr als 100 Milliarden US-Dollar sein. Allein die schlägen in Russland führen würde und schließlich die USA auf den Plan rufen könnte. Deshalb würde Russland alles daransetzen, sehr USA haben im Rahmen ihrer European Defence Initiative schnell vollendete Tatsachen zu schaffen und die Ukraine militärisch zu strangulieren. 13 Vgl. Hedlund 2017. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen? 161 in diesem Jahr 6,5 Milliarden US-Dollar für mehr Truppen, sche Streitkräfte die baltischen Staaten oder Teile davon Übungen, vorausstationierte Ausrüstung und für Infra- besetzt, bevor NATO-Verstärkungskräfte entscheidend struktur aufgewandt.14 eingreifen könnten, könnte Moskau innehalten und die Gleichwohl genießt Russland einige wichtige, geo- NATO vor die Wahl stellen, entweder einen großen Krieg graphisch bedingte, militärische Vorteile. Die baltischen zu riskieren mit unberechenbarer Eskalationsmöglichkeit Staaten und Polen haben eine gemeinsame Grenze mit oder klein beizugeben und zuzustimmen, dass die balti- Russland. Die russischen Streitkräfte sind so disloziert, schen Staaten – im besten Fall – die NATO verließen und dass starke Verbände rasch über relativ kurze Entfernun- ‚neutral‘ würden. Die politischen Folgen für die NATO und gen überallhin an die russische Westgrenze verlegt und die Sicherheit Europas wie auch für das transatlantische dort konzentriert werden können. NATO-Truppen, die Bündnis dürften dramatisch sein. Es könnte das Ende der Alliierte am Rande des Bündnisgebiets im Norden, Nord- Allianz einläuten. osten, Osten und Südosten verstärken sollten, müssten dagegen mehrere Landesgrenzen und größere Entfernun- gen überwinden, um in den Einsatzraum zu gelangen, mit allen damit verbundenen militärischen Risiken. Russland 5 W elche Gegenmaßnahmen sind genießt also zunächst einen Raum-Zeit-Kräfte-Vorteil. notwendig? Außerdem könnte Russland den Aufmarsch der NATO zur raschen Verstärkung im Osten unter Kriegsbedingungen Bei der Beschreibung der beiden generischen Szena- durch seine A2/AD-Fähigkeiten verzögern und schwä- rien sollte klargeworden sein, dass man die Aufstellung chen. Dazu hat es die entsprechenden Fähigkeiten im der neuen russischen Mittelstreckenwaffen nicht isoliert Oblast Kaliningrad, der wie ein Keil ins NATO-Territorium betrachten darf, sondern im Zusammenhang der gesam- hineinragt, und auch im Rahmen der Baltischen Flotte. ten russischen Strategie in Frieden, Krise und Krieg ana- Das Suwalki Gap zwischen Kaliningrad und Weißruss- lysieren muss. Diese Waffen haben einen militärischen land wirkt wie ein Flaschenhals für den Zugang von Zweck im Verbund mit russischer konventioneller Kriegs- NATO-Streitkräften zu den baltischen Staaten und könnte führung, sie haben als ein Instrument der russischen Kon- womöglich das erste Ziel eines russischen Angriffs sein, fliktstrategie gegenüber dem Westen aber auch eine stra- um diese vom restlichen NATO-Territorium abzuschnei- tegische und politische Wirkung, die sich in einer Krise den. entfaltet und daher bereits im Frieden spürbar werden Käme die russische Führung zu dem Schluss, dass die kann – durch Einschüchterung mit dem Verweis auf die gesamte strategische Lage einen militärischen Angriff mit Existenz der Waffen und deren Parameter und Kapazi- begrenztem Ziel, aber weitreichenden politischen und stra- täten, durch Nötigung oder Erpressung mit der Drohung tegischen Wirkungen erlaubt oder sogar begünstigt und ihres Einsatzes in Krise und Krieg. Daraus folgt, dass das damit verbundene Risiko beherrschbar wäre, könnte seitens der NATO Gegenmaßnahmen notwendig werden, sie sich zu einem schnellen Vorstoß mit konventionel- mit denen die strategische und politische Wirkung dieser len Streitkräften in die baltischen Staaten und einen Teil Waffen neutralisiert werden kann. Im Wesentlichen geht Polens entschließen. Ziel wäre es, die baltischen Staaten es darum, die Vorstellung Moskaus zu konterkarieren, von Kaliningrad aus von der restlichen NATO abzutren- Russland besäße unter den genannten Szenarien die nen. Mit weitreichenden konventionellen Mittelstrecken- Fähigkeit zur militärischen und politischen Eskalations- waffen könnte Moskau versuchen, wichtige Ziele auszu- dominanz. Im Einzelnen geht es darum, das Risikokalkül schalten, die für den Aufmarsch von NATO-Streitkräften in Moskaus gezielt und entschlossen zu beeinflussen. Bei der Europa und über den Atlantik hinweg zur Verstärkung der Analyse von Gegenmaßnahmen der NATO ist es geboten, angegriffenen Verbündeten von wesentlicher Bedeutung den Gesamtzusammenhang der Abschreckungs- und Ver- wären. Drohungen mit dem Einsatz von nuklearen Mittel- teidigungsstrategie der NATO mit ihren konventionellen streckenwaffen würden dazu dienen, europäische Regie- und nuklearen Komponenten im Blick zu behalten. Da rungen zu entmutigen, ihre Streitkräfte einzusetzen. Diese sich die Bedrohung durch die neuen Mittelstreckenwaffen Drohungen könnten desto glaubhafter sein, je größer die (sowohl konventionell als auch nuklear) in erster Linie im Unsicherheiten unter den europäischen Staaten darüber Kontext konventionell oder hybrid geführter Eroberungs- wären, wie glaubhaft die amerikanische nukleare Sicher- operationen der russischen Streitkräfte im Rahmen regi- heitsgarantie für ihre Verbündeten noch ist. Hätten russi- onaler Kriegsszenarien ergibt, sollten Gegenmaßnahmen in erster Linie darauf abzielen, Russland die Fähigkeit zu 14 Meyer zum Felde 2018. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
162 Heinrich Brauß und Joachim Krause versagen, derartige Operationen erfolgreich zu führen.15 1. Die Reaktionsfähigkeit der Nato wird weiter erhöht, Was die konventionelle Komponente der NATO-Strategie indem Aufklärung und Alarmierung verstärkt und die betrifft, gilt es alles zu unternehmen, um die Fähigkeit Entscheidungsverfahren weiter beschleunigt werden. zur raschen, wirkungsvollen Verstärkung von Alliierten 2. Die Kommandostruktur der NATO, also das Netz ihrer zu gewährleisten, wenn diese bedroht würden. Das gilt militärischen Hauptquartiere, wird wieder befähigt, vor allem für diejenigen, die eine gemeinsame Grenze mit Verteidigungsoperationen mit Großverbänden, nun Russland haben und sich einer möglichen direkten mili- auch unter Cyber-Bedrohung, zu führen. Zwei neue tärischen Bedrohung ausgesetzt sehen, insbesondere das Hauptquartiere, das Joint Force Command in Norfolk/ Baltikum. Mit Blick auf die Ukraine und die Schwarzmeer- Virginia und das Joint Support and Enabling Command region ist die Herausforderung anders gelagert. Während in Ulm werden für das Management von Truppen die Ukraine kein Bündnismitglied ist und daher nicht bewegungen über den Atlantik und quer durch Europa die kollektive Verteidigungsgarantie der NATO genießt,16 zuständig – amerikanisch-deutsche Kooperation im könnten die EU, Kanada und die USA eine politische Droh- Dienst der NATO. kulisse aufbauen, die vor allem Sanktionen beinhalten 3. Cyber-Abwehr und die Fähigkeit, Cyber-Operationen sollte, die Russland massiv treffen würden. zu führen, werden weiter verstärkt. Die Allianz hat auf ihrem Gipfel in Brüssel im Jahr 2018 4. Die Einsatzbereitschaft der alliierten Streitkräfte wird eine Fülle von Entscheidungen getroffen, die der weiteren weiter verbessert. Bereits im Jahr 2015 wurde der Verbesserung der Abschreckung und, wenn nötig, Vertei- Umfang der NATO Response Force auf rund 40.000 digung gegen konventionelle oder hybride Bedrohungen Mann verdreifacht und ihre sehr schnelle Speerspitze dienen und die nunmehr umgesetzt werden.17 Von ihnen aufgestellt, die Very High Readiness Joint Task Force profitiert vor allem die Sicherheit im Baltikum und auch in von rund 5.000 Mann. Nun wird mit der NATO Readi der Schwarzmeerregion, sie dienen aber auch der Sicher- ness Initiative 4–30 bis 2020 die Einsatzbereitschaft heit der gesamten NATO. Umgekehrt hängt die Sicherheit von weiteren 30 Bataillonen, 30 Kampfflugzeug- im Baltikum und in der Schwarzmeerregion entscheidend staffeln und 30 Kriegsschiffen so erhöht, dass sie in von der Kohärenz und Glaubwürdigkeit der Sicherheits- maximal 30 Tagen im Einsatzraum sein können. Sie vorsorge der Allianz insgesamt ab, so dass es in ihrem werden zu hoch einsatzbereiten Brigaden, Geschwa- gesamten Verantwortungsbereich – von Nord-Norwegen, dern und maritimen Einsatzgruppen weiterentwickelt. dem Nordatlantik und Atlantik, über den Ostsee- und 5. Die Bedingungen für die rasche Verlegung alliier- Schwarzmeerraum, bis hin zur Mittelmeerregion, Nord ter Truppen innerhalb Europas über Ländergren- afrika und dem Nahen Osten – keine wesentlichen Lücken zen hinweg werden durchgreifend verbessert – für gibt, die Russland in einer Krise ausnutzen könnte, um die Übungen im Frieden und zum raschen Aufmarsch von NATO zu erschüttern oder zu erpressen. NATO-Truppen, vor allem auch von US- und kanadi- Die Brüsseler Entscheidungen gehen davon aus, dass schen Streitkräften, in einer sich zuspitzenden Krise. sich die NATO in mehreren Regionen mit Widersachern, NATO und EU arbeiten dazu eng zusammen. Die Euro- Risiken und Bedrohungen unterschiedlicher Art konfron- päische Kommission stellt viele Milliarden Euro für tiert sieht, die überall dort unverhofft, quasi über Nacht, die Verbesserung von Infrastruktur bereit und leistet und gleichzeitig auftreten können. Dies erfordert ein damit auch einen wichtigen Beitrag zur transatlan Höchstmaß an Reaktionsfähigkeit, Flexibilität und Ein- tischen Lastenteilung. satzbereitschaft, um mit den richtigen Kräften zur rechten Zeit am richtigen Ort sein zu können. Einige der wichtigs- Mit Blick auf die baltischen Staaten und Polen muss vor ten Maßnahmen, um diesen Imperativ umzusetzen, sind allem der Raum-Kräfte-Zeit-Vorteil Russlands ausge im Folgenden aufgeführt: glichen werden.18 Die multinationalen Battlegroups in den baltischen Staaten und Polen sollten verstärkt werden mit Kampfunterstützungskräften wie Artillerie und Flugab- wehr, und auch in Estland, Lettland und Litauen sollten 15 Siehe auch Elbridge Colby/Walter Slocombe: „Eine Landnahme sie eine permanent präsente amerikanische Kampfkom- durch Moskau verhindern“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ponente erhalten, die den Abschreckungswert der Battle 3.4.2019, S. 8 („Fremde Federn“). groups noch einmal erhöhen würde. NATO-Luftstreitkräfte 16 Theoretisch könnte die Ukraine die NATO um Hilfe ersuchen und die NATO darauf positiv antworten; diese Option dürfte aber derzeit sind die Verstärkungskräfte der ersten Stunde. Sie müssen politisch unwahrscheinlich sein. 17 Brauß 2018. 18 Vgl. Vershbow/Breedlove 2019, Kramer/Binnendijk 2018 Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
Was will Russland mit den vielen Mittelstreckenwaffen? 163 verzugslos eingesetzt werden können und dies vermehrt land nicht unbeantwortet bleiben. Die Allianz ist dabei, und demonstrativ üben. Für die rasche Verlegung von Optionen zu prüfen, die die strategische Wirkung dieser Verstärkungskräften käme der Luftverteidigung und Rake- Waffen glaubwürdig konterkarieren können.19 Dabei tenabwehr der NATO und der einzelnen Verbündeten eine kommt es darauf an, die Geschlossenheit des Bündnisses zentrale Rolle zu. Sie muss im Lichte der neuen Bedro- zu wahren und die Glaubwürdigkeit der Abschreckung hung aus Russland angepasst und neu ausrichtet werden. der NATO als ganzer zu erhalten ebenso wie die der erwei- Zudem sollte die Beschaffung von Flug- und Raketen terten nuklearen Abschreckung der USA. Es kommen aus abwehrsystemen kurzer und mittlerer Reichweite für alle europäischer Sicht daher nur Lösungen in Betracht, die europäischen Verbündeten hohe Priorität erhalten. Diese die strategische Einheit des Bündnisgebiets über den waren in den Jahren vor 2014 stark reduziert worden, als Atlantik hinweg wahren und die Anbindung des Abschre- sich die NATO auf Kriseneinsätze praktisch ohne Luftbe- ckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO in Europa drohung konzentrierte. Die sichtbare maritime Präsenz an das nuklearstrategische Potential der USA gewährleis- der NATO auf der Ostsee, einschließlich mit Kriegsschiffen ten. Die Glaubwürdigkeit von Abschreckung erfordert, der USA, sollte deutlich erhöht werden, um zu demonstrie- dass die Allianz jederzeit über ein ganzes Spektrum an ren, dass die NATO nicht gewillt ist, in einer Krise und im Optionen verfügt, aus dem diejenigen aktiviert würden, Konfliktfall der russischen Baltischen Flotte die Kontrolle welche die russische Führung in einer Krise am wahr- über die Ostsee zu überlassen. Dies ist auch wichtig, um scheinlichsten von einem militärischen Angriff abhalten im Konfliktfall die A2/AD-Glocke über dem Oblast Kali- und damit auch die Drohung entkräften könnten. ningrad mit koordinierter Wirkung aus der Luft, von See Die USA planen, der auf Europa konzentrierten rus- und von Land aus ausschalten zu können. Gemeinsame sischen Nukleardrohung kurzfristig mit seegestützten Übungen und koordinierte Planung mit Schweden und Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen von begrenzter Finnland sollten weiter intensiviert werden. Sprengkraft entgegenzuwirken. Diese Waffen werden Alle Entscheidungen und Maßnahmen, welche die zurzeit produziert.20 Langfristig ist die Beschaffung von NATO jetzt zur Stärkung ihres konventionellen Abschre- seegestützten Marschflugkörpern (SLCM) geplant. 21 ckungs- und Verteidigungsdispositivs ins Werk setzt, Darüber hinaus werden offenbar die Entwicklung und dienen auch der Sicherheit der Verbündeten in der Aufstellung landgestützter, zielgenauer Mittelstrecken- Schwarzmeer-Region: Rumänien, Bulgarien und der waffen mit hochwirksamen konventionellen Gefechtsköp- Türkei. Es kommt darauf an, die Kohärenz von Abschre- fen in Betracht gezogen, die russische Führungseinrich- ckung und Verteidigungsvorsorge entlang der gesamten tungen bedrohen und die militärische Handlungsfähigkeit Ostflanke der NATO zu gewährleisten. Die Aufklärungs- Russlands lähmen könnten.22 Generell muss gelten: Alle tätigkeit der NATO im und über dem Schwarzen Meer zielführenden Optionen müssen ergebnisoffen analysiert sollte intensiviert und perpetuiert und die militärische und die optimale dann ausgewählt werden, keine darf aus Übungspräsenz der NATO, vor allem der USA, zu Lande, kurzsichtigen oder opportunistischen Gründen vorschnell in der Luft und auf See, erhöht werden. Allerdings wird zur Seite gelegt werden. Vorfestlegungen einzelner Regie- dies durch den Vertrag von Montreux von 1936 erschwert, rungen auf eine bestimmte Option oder der Ausschluss der die Größe und Dauer des Aufenthaltes von Kriegs- einer anderen schaden der Geschlossenheit des Bündnis- schiffen im Schwarzen Meer von Staaten begrenzt, die ses und können die Sicherheit Europas unterminieren statt nicht Anrainer sind – und die Türkei hat bisher auf ihrer sie zu vermehren. Auch die Entwicklung landgestützter alleinigen Zuständigkeit für die Implementierung des Ver- nuklearer Mittelstreckenwaffen sollte man nicht von vorn- trags gepocht. In jedem Fall sollten Übungen der alliier- herein ausschließen. Sie können Moskau möglicherweise ten Luftstreitkräfte und die Verstärkung der südöstlichen am ehesten an den Verhandlungstisch bringen, weil von NATO-Verbündeten mit Landstreitkräften regelmäßig und ihnen die Botschaft ausginge, dass russisches Territorium demonstrativ geübt werden. Die Aufstellung der russischen nuklearfähigen Mit- 19 Brauß/Mölling 2019. telstreckenwaffen machen die rasche Umsetzung aller 20 “W76-2 supports national security initiative requested by the oben beschriebenen Maßnahmen zur Stärkung des kon- President in the 2018 Nuclear Posture Review”, Pressemeldung der ventionellen Dispositivs der NATO und die Verabschie- National Nuclear Security Administration vom 25.2.2019; https:// www.energy.gov/nnsa/articles/nnsa-completes-first-production- dung einer kohärenten Militärstrategie noch dringlicher. unit-modified-warhead. Natürlich dürfen auch, was die nukleare Komponente der 21 Department of Defense 2018, 54 f. Abschreckungsstrategie der NATO betrifft, der Bruch des 22 Paul Sonne: “U.S. military to test missiles banned under faltering INF-Vertrags und die Aufstellung der 9M729 durch Russ- nuclear pact with Russia,” Washington Post 13.3.2019. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
164 Heinrich Brauß und Joachim Krause kein Sanktuarium bleibt, wenn Russland Europa nuklear tung von Rüstungskontrolle) geprägte Ordnung zerstören bedroht. Dagegen scheinen in Deutschland viele Beob- möchte. achter und Politiker eine größere Furcht vor möglichen Für deutsche wie europäische Sicherheit bedeutet Gegenmaßnahmen der NATO zu haben, die noch gar nicht diese Erkenntnis, dass die Konzepte von Abschreckung entschieden geschweige denn realisiert sind, als vor den und Rüstungskontrolle angepasst werden müssen, denn russischen Mittelstreckenraketen, die jetzt schon Berlin die Lage hat sich mit der Einführung russischer Mittel- bedrohen können. streckenwaffen qualitativ verändert und wird sich weiter Schließlich muss der russischen Führung immer ändern. wieder durch angemessene strategische Kommunika- Was die Rolle von Abschreckung betrifft, so ist es in tion klar gemacht werden, dass die NATO ein nukleares erster Linie geboten, die Fähigkeiten zur Abwehr konven Bündnis ist und bleibt und dass jeglicher Einsatz von tioneller oder hybrider Aggressionen im Baltikum und Nuklearwaffen gegen das Bündnis die Natur eines Kon- in Ostpolen so zu verstärken, dass sich Russland keine flikts fundamental verändern würde, der dann nicht mehr Chancen auf ein rasches fait accompli in dieser Region beherrschbar wäre und Russland selbst einen unakzep ausrechnen kann.24 In diesem Zusammenhang ist es von tablen hohen Schaden zufügen könnte, der in keinem Ver- besonderer Bedeutung, dass die von der NATO beschlos- hältnis zu dem angestrebten militärischen und politischen senen Maßnahmen zur Erhöhung der Reaktionsfähigkeit Gewinn stünde.23 und der Einsatzbereitschaft ihrer schnellen Reaktions- kräfte und ihrer weiteren Verstärkungskräfte konsequent und so rasch wie möglich umgesetzt werden. Sie müssen 6 Fazit eingebettet sein in eine kohärente Strategie und gründliche Vorausplanung. Die NATO-Militärbehörden entwickeln daher derzeit eine NATO-Militärstrategie für Abschre- Die Motive hinter den massiven russischen Rüstungsan- ckung und Verteidigung in Europa und den angrenzen- strengungen im Bereich präziser Mittelstreckenwaffen den Seegebieten. Sie wird die erste seit 1967 sein, als mit in Europa (die sowohl konventionell als auch nuklear der legendären MC 14/3 die Strategie der Flexible Response bestückt werden können) erschließen sich nicht durch etabliert wurde. das in der deutschen politischen Debatte immer wieder Deutschland kommt bei alledem eine Schlüsselrolle bemühte Aktions-Reaktions-Theorem. Sie sind nicht die zu. Aufgrund seiner zentralen Lage hätte die Bundes- Folge westlicher Rüstungsanstrengungen oder politischer wehr die Aufgabe, zusammen mit den USA bedrohte oder Missverständnisse, sondern sie sind Konsequenz eines angegriffene Verbündete mit als erste zu verstärken. Als strategischen Konzepts der russischen politischen und zentraleuropäische Drehscheibe hätte Deutschland die militärischen Führung, welches darauf abzielt, Kriege an Verlegung nordamerikanischer und (west-)europäischer der europäischen Peripherie führen und erfolgreich zu Streitkräfte zu ermöglichen und deren Aufmarsch zu schüt- Ende bringen zu können (einschließlich mit durch Nuk- zen. Die Bundeswehr muss dazu so rasch wie möglich die learwaffen untermauerter Eskalationsdominanz). Da die volle Einsatzbereitschaft erreichen und anspruchsvolle NATO nicht beabsichtigt und auch nicht plant, einen Krieg zusätzliche Streitkräfteziele der NATO erfüllen. Die Vertei- gegen Russland aus dessen Peripherie heraus zu führen, digungsministerin hat besondere und bisher erfolgreiche müssen derartige Vorbereitungen auf russischer Seite als Anstrengungen unternommen, um zusammen mit zahlrei- Versuch gesehen werden, für von Moskau initiierte regi- chen kontinentaleuropäischen Verbündeten unter deut- onal begrenzte Kriege im baltischen Raum oder in der scher Federführung als Rahmennation militärische Fähig- Schwarzmeerregion die Bedingungen dafür zu schaffen, keiten zu entwickeln und multinationale Verbände und dass die NATO nicht eingreift und so die Abschreckung Großverbände aufzustellen.25 Die Bundesregierung muss der NATO unterlaufen werden kann. Diese Anstrengungen aber auch die notwendigen Mittel bereitstellen, um das im Bereich der Mittelstreckenwaffen passen in das Muster erforderliche Fähigkeitsprofil der Bundeswehr zu finanzie- einer russischen Politik, welche die strategische Konfron- ren. Dies ist nur möglich, wenn die Bundesregierung den tation mit dem Westen sucht und die internationale, von Wehretat Jahr für Jahr signifikant erhöht. Wie alle anderen westlichen Vorstellungen (insbesondere von der Bedeu- 24 Vgl. zur Rolle von Abschreckung unter den heutigen Bedingungen 23 NATO Brussels Summit Declaration 2018; Brauß/Mölling 2019, De Wijk 2018 sowie Bergeron 2018. S. 3/4 25 Meyer zum Felde 2018, 114 f. Unangemeldet Heruntergeladen am | 14.07.19 15:22
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