D SZeitschrift - Prekäre Lagen an den Hochschulen
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Prekäre Lagen an den Hochschulen Zeitschrift DDS der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Landesverband Bayern September 2020
2 DDS September 2020 Prekäre Lagen an den Hochschulen Liebe Leserinnen und Leser, 3 Das Corona-Staatsexamen liebe Kolleginnen und Kollegen, Der*Die Autor*in ist der Redaktion bekannt anstelle eines Editorials möchte ich mich für das Titelblatt 5 Studi-Demo in Berlin der DDS-Ausgabe 7-8/2020 entschuldigen. Das Zitat »Wer im- Ohne finanzielle Hilfe geht es für viele Studierende mer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon nicht weiter ist« ist zwar inhaltlich nicht zu beanstanden, dennoch war es von Florian Hahn ein Fehler, es auf der Titelseite einer Gewerkschaftszeitschrift 6 Solidarsemester – Initiative der Studierenden in zu präsentieren. »Corona-Zeiten« von Jacob Bühler Dankenswerterweise gab es zwei kritische Reaktionen, die uns darauf hinwiesen, dass sein Autor, der Großindust- 7 GEW-Empfehlungen zum Wissenschafts- und Studierendenunterstützungsgesetz rielle Henry Ford, nicht nur ein Gewerkschaftsfeind, sondern von Magnus Treiber auch Antisemit war: So versuchte er mit allen Mitteln zu ver- 8 Hochschullehre digital hindern, dass sich Arbeiter*innen bei Ford gewerkschaftlich Erfahrungen und Schlussfolgerungen organisierten. Er nahm es sogar billigend in Kauf, dass sie zu aus dem ersten Corona-Semester Tode kamen, als sie auf dem Höhepunkt der Weltwirtschafts- von Sandra Fluhrer krise ihre Interessen auf der Straße vertraten. Im Zuge des 10 Digitalisierung an Universitäten – »Ford Hunger March«, den in Detroit Arbeitslosenräte und erste persönliche Erfahrungen Auto-, Flugzeug- und Fahrzeugarbeiter*innen für den 7. März von María José Pérez Chillón 1932 organisierten, starben fünf Menschen durch Schüsse, 12 Plädoyer für die offene Diskussion 60 weitere wurden verletzt. Geschossen hatten Polizisten Was Wissenschaft heute gefährdet und Sicherheitsleute von Ford. und wie sich damit umgehen lässt von Dr. Ralf Klausnitzer Antisemitische Hetze betrieb Ford mit seinem Presseor- gan »Dearborn Independent«, das er 1919 erwarb und in 14 »Die Neue Ordnung« – eine wissenschaftliche Zeitschrift driftet nach rechts ab dem er 91 Wochen lang eine Serie mit jüdinnen- und juden- von Dorothea Weniger feindlichen Artikeln veröffentlichte. In vier Bänden zusam- mengefasst publizierte er diese unter dem Titel »Der interna- Was es sonst noch gibt tionale Jude: Ein Weltproblem«. Außerdem unterstützte Ford 16 Tarifrunde 2020 die Verbreitung der »Protokolle der Weisen von Zion«, ein auf Mehr Lohn für die Beschäftigten – gerade in der Krise einer Fälschung beruhendes antisemitisches Pamphlet, das von Petra Nalenz noch heute in Umlauf ist. 17 Völkisches Heimatverständnis in rechter Musik Ford unterstützte darüber hinaus den Nationalsozia- von Timo Büchner lismus, indem er im deutschen Ford-Werk Fahrzeuge für 19 Leser*innenbriefe die Wehrmacht produzierte. In der Fertigung wurden auch 20 Nachrufe Zwangsarbeiter*innen aus Konzentrationslagern eingesetzt. - Ein GEWerschafter der ersten Stunde. Zum Tod von Herbert Langen 1938 erhielt Henry Ford zwei Orden vom NS-Regime: Das - Klaus Liebig ist gestorben Adlerschild des Deutschen Reiches und das Großkreuz des 21 Berichte Deutschen Adlerordens. - Einfach mal machen! All dies wusste ich zum Zeitpunkt der Bildauswahl nicht. - Nicht nur in der Krise: Für gute Arbeit brauchen wir mehr! Gleichwohl trage ich die Verantwortung und entschuldige mich dafür. Rubriken Dorothea Weniger 22 Geburtstage und Jubiläen 24 Kontakte Telefonische Sprechzeiten der GEW-Rechtsstelle mit Beratung für GEW-Mitglieder: Mo und Do von 13.00 - 16.00 Uhr • Tel.: 089 54379959 Save the date Bitte Mitgliedsnummer bereithalten! 25. September: Globaler Klimastreiktag Impressum: DDS • Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im DGB, Landesverband Bayern Die GEW Bayern unterstützt den Appell der »Fridays for Future«- Geschäftsstelle: Schwanthalerstr. 64, 80336 München, 089 5440810 Bewegung zum globalen Klimastreik am 25. September 2020 und E-Mail: info@gew-bayern.de • gew-bayern.de • facebook.com/GEWBayern/ Redaktionsleiterin: Dorothea Weniger, Schwanthalerstr. 64, 80336 München ruft ihre Mitglieder dazu auf, dies ebenfalls zu tun. E-Mail: dorothea.weniger@gew-bayern.de Du möchtest wissen, wo in deiner Nähe welche Aktion stattfindet? Redaktionelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Verena Escherich, Wolfgang Häberle, Hannes Henjes, Karin Just, Petra Nalenz, Gele Neubäcker, Magnus Treiber, Chrissi Wagner, Wolfram Witte Infos gibt es hier: fridaysforfuture.de/save-the-date Gestaltung: Karin Just Bildnachweis: (soweit nicht beim Foto berücksichtigt): Titel: imago images / Michael Weber, Karin Just Druck: Druckwerk GmbH, Schwanthalerstr. 139, 80339 München 089 5029994 Anzeigenannahme: nur über die Redaktionsleitung Anzeigenverwaltung: Druckwerk GmbH, Schwanthalerstr. 139, 80339 München Aktuelle Mitgliedsdaten melden 089 5029994, E-Mail: team@druckwerk-muenchen.de Zur Zeit ist die Anzeigenpreisliste Nr. 14 vom 1.1.2017 gültig. Deine Mitgliedsdaten (Adresse, Bankverbindung, Eingruppierung, Beschäf- Mit Namen oder Namenskennzeichen gekennzeichnete Beiträge stellen die Meinung der betref- tigungsart, Teilzeit, Erziehungsurlaub, Arbeitsstelle ...) haben sich geändert? fenden Verfasser*innen dar und bedeuten nicht ohne Weiteres eine Stellungnahme der GEW Dann kannst du diese online unter gew-bayern.de/anmeldung selbst aktuali- Bayern oder der Redaktion. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Druckschriften wird keine sieren. Dort findest du auch deine Beitragsbescheinigung für das Finanzamt. Gewähr übernommen. Bei allen Veröffentlichungen behält sich die Redaktion Kürzungen vor. Der Du kannst deine Änderungsmitteilungen aber auch weiterhin postalisch Bezugspreis ist für GEW-Mitglieder des Landesverbandes Bayern im Mitgliedsbeitrag inbegriffen. Der an die Geschäftsstelle der GEW Bayern senden oder dich per E-Mail an die Bezugspreis für Nichtmitglieder beträgt jährlich 21 EUR zuzüglich Porto, der Preis der Einzelnummer GEW-Mitgliederverwaltung wenden: mitgliederverwaltung@gew-bayern.de 2,50 EUR zuzüglich Porto. Grundsatz aller Gewerkschaften: Wer weniger verdient, zahlt weniger Die DDS erscheint monatlich mit Ausnahme der Monate Januar und August. Beitrag (wenn es uns mitgeteilt wird!). Der Rechtsschutz wird nur gewährt, Adressenänderung: Ummeldungen bitte an die Landesgeschäftsstelle der GEW. wenn der satzungsgemäße Beitrag entrichtet wurde. Redaktions- und Anzeigenschluss: jeweils am 6. des Vormonats.
DDS September 2020 3 Foto: futureteacher Das Corona-Staatsexamen Corona stellte und stellt 2020 die dieren, um überhaupt informiert zu wer- tere Aktualisierung und es stand endgül- ganze Welt auf den Kopf. Von jetzt auf den. Gegen 15 Uhr hieß es dann auch tig fest: Das Staatsexamen ist erst einmal gleich wurden Szenarien Wirklichkeit, auf der Seite des Staatsministeriums, ausgesetzt. die niemand zuvor je für möglich ge- dass das Examen mit sofortiger Wirkung halten hätte. Auch für die diesjährigen ausgesetzt wird. Wie genau es weiter- Das große Warten Lehramtsabsolvent*innen sind die Fol- geht, konnte zu diesem Zeitpunkt natür- gen weitreichend. lich niemand sagen. Auf der Internetsei- Die Pandemie nahm ihren Lauf. Und te des Ministeriums hieß es nur: »Bitte wir warteten. Wochenlang hieß es nur, Es war der 18. März 2020. An diesem setzen Sie als Prüfungsteilnehmer/-in wir sollten uns weiter vorbereiten. Das Tag fanden noch alle Staatsexamens- die Vorbereitung weiter fort.« Für all war leichter gesagt als getan. Da gab es prüfungen statt. Einige Examenskandi- diejenigen, die sich seit Wochen und zum Beispiel Laura1, die ihren Neben- dat*innen sollten am nächsten Tag in Monaten auf diesen einen Tag hin vor- job coronabedingt verloren hatte und die nächste Examensprüfung gehen. Die bereiteten und die Prüfung endlich hin- nun unter Existenzängsten litt. Oder Lage war jedoch ungewiss, immerhin ter sich bringen wollten, war die Nach- Benjamin, der seine Wohnung schon waren die Schulen in Bayern schon ge- richt, dass am nächsten Morgen kein gekündigt hatte und bis zum Beginn des schlossen. Staatsexamen mehr stattfinden wird, Referendariats wieder bei seinen Eltern natürlich erst einmal ein Riesenschock. wohnen wollte und damit keine geeig- Die Absage Das i-Tüpfelchen setzte das Kultusminis- neten Räumlichkeiten mehr hatte, um terium (KM) gegen 16 Uhr, als auf seiner zu lernen. Auch Susanne, die drei kleine Manche Unis schrieben dann die Homepage plötzlich die Information auf- Kinder zu Hause hat, welche nicht mehr Studierenden gegen 14 Uhr an und er- tauchte, dass die Prüfungen bis auf Wei- in den Kindergarten oder die Schule ge- klärten, dass das Staatsexamen vorerst teres stattfinden. Was denn nun? Die hen konnten. Ihr fehlte schlichtweg die nicht mehr stattfindet, von anderen kam Lage war sehr unübersichtlich, die Un- Zeit, um sich weiter vorzubereiten, da nichts. Man musste also Glück haben sicherheit bei den Studierenden groß. und an der »richtigen« Universität stu- Einige Minuten später erfolgte eine wei- 1 Die Namen wurden geändert.
4 DDS September 2020 sie sich um ihre Kinder kümmern muss- Gruppe gab es zahlreiche sehr enga- wurde. Bei den Behandlungen der Peti- te. gierte Lehramtsstudierende, die sich tionen konnte auch jeweils ein Student Zudem waren die Bibliotheken ge- organisierten und Kontakte zu Politik, von #dontforgetyourfutureteachers vor schlossen, der Zugang zu Literatur er- Zeitungen, Radio, Fernsehen, Lehrer*in- Ort Rederecht beantragen, sodass wir schwert. Es war nicht mehr möglich, nenverbänden, Schulen u. v. m. her- zweimal die Möglichkeit hatten, im sich mit Lerngruppen zu treffen bzw. stellten – alles parallel zur eigenen Landtag zu sprechen. Erfreulicherweise sich adäquat auf praktische Prüfungen Examensvorbereitung. #dontforget- konnten wir die Notenmitnahme für die vorzubereiten. Allein und ohne Termin yourfutureteachers wurde zu unse- Staatsexamenskandidat*innen bewir- vor Augen war es schwierig, sich täglich rem Slogan. Die Chancengleichheit ken, die bereits mindestens eine Prü- mehrere Stunden zum Lernen zu moti- des Staatsexamens 2020 im Vergleich fung abgelegt hatten, aber aus diversen vieren. Die andauernde Ungewissheit zu früheren Jahrgängen ist nicht gege- Gründen ihr Examen im Frühjahr nicht war für alle Beteiligten sehr belastend. ben, daher haben wir versucht, alle uns fertigstellen konnten. möglichen Mittel einzusetzen, um auf Die Wiederaufnahme unsere Lage aufmerksam zu machen. Das große Warten geht der Prüfungen So gab es unter uns beispielsweise weiter Examenskandidat*innen, deren Examen Ab 18. Mai 2020 wurden die Prü- vom KM verschlampt wurden. Die davon Inzwischen konnten die »Frühjahrs«- fungen unter Einhaltung des Infektions- betroffenen Studierenden bekamen nun kandidat*innen ihre Staatsexamensprü- schutzes wieder aufgenommen. Die vom KM zwei Alternativen angeboten: fungen hinter sich bringen. Doch die individuelle Situation der zu Prüfenden Note 6 oder nochmal schreiben. Da die Lage bleibt weiter angespannt. Wie wird in den letzten beiden Monaten wur- Note im Staatsexamen über eine späte- es im Herbst mit dem Staatsexamen de dabei leider nicht berücksichtigt. So re Einstellung ins Beamt*innentum ent- weitergehen? Immerhin finden an den freuten sich die einen, endlich ihr Staats- scheidet, kann dieser »Vorschlag« nur Universitäten aktuell keine Präsenzver- examen zu Ende bringen zu können, an- als Zumutung zurückgewiesen werden. anstaltungen zur Vorbereitung statt, die deren war es aber definitiv nicht mehr Bibliotheken sind nur eingeschränkt ge- möglich, ihre Bestleistungen abzurufen. Petitionen im Landtag öffnet und ob der Terminplan für Herbst Das KM gewährte allen Kandida- wie geplant eingehalten werden kann, t*innen lediglich einen Freiversuch. Für Zahlreiche Telefonate und Mails mit muss aufgrund des Infektionsgesche- die meisten Studierenden ist dies aber Politiker*innen brachten uns ein großes hens weiter abgewartet werden. nur bedingt ein Gewinn. Wir sind da- Stück weiter. Besonders dankbar sind Doch auch für uns »Frühjahrs«- rauf angewiesen, unser Referendariat wir für den Einsatz der Abgeordneten kandidat*innen bleibt es spannend. mit dem Schuljahr 2020/21 zu starten der Grünen und der SPD, die Anträge Werden die Ergebnisse rechtzeitig kom- und das Staatsexamen – wenn irgend- stellten, die unsere Situation verbes- men? Können wir im September mit wie möglich – nicht zu wiederholen. sern sollten. Auch wir Studierenden dem Referendariat starten? Was pas- Schnell war auch klar, dass womöglich wurden aktiv: Wir reichten zahlreiche siert, wenn wir das Referendariat auf nicht alle Staatsexamensprüfungen bis Massen- sowie Einzelpetitionen ein, in Probe beginnen können, dieses dann September abschließend korrigiert sein denen wir mehr Transparenz, Fairness aber wieder abbrechen müssen? werden. Für diesen Fall räumte das Mi- und Kulanz forderten. Eine umsetzba- Die Grund- und Mittelschullehrkräfte nisterium ein Referendariat auf Probe re, faire Lösung wäre beispielsweise die unter uns erhielten im Juli die Zuteilung ein, bis die Ergebnisse vorliegen. Dies Anwendung der EWS-Bewertung2 auch ihrer Regierungsbezirke und Landkreise, würde bei Nichtbestehen den Austritt beim Fachexamen gewesen. In diesen wussten aber zu diesem Zeitpunkt teils aus dem Referendariat bedeuten. An Punkten unterstützten uns auch die noch nicht einmal, ob sie das Staatsex- der entsprechenden Schule würde dann GEW und der BLLV. Die Abgeordneten amen überhaupt bestanden haben. Vor die Lehrkraft fehlen, die betroffenen im Bildungsausschuss und im Ausschuss welcher Situation die Referendar*innen Referendar*innen wären arbeitslos und für Fragen des öffentlichen Dienstes im im Gymnasium und in der Realschule müssten gegebenenfalls nach wenigen bayerischen Landtag mussten sich so- zu Schuljahresbeginn stehen, weiß zum Wochen zurück an ihren Studienort zie- mit einige Male mit unserer Situation Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Ar- hen. auseinandersetzen. Unsere Petitionen tikels niemand. Wahrscheinlich wird es wurden nach einer kurzen Aussprache bis in die Sommerferien hinein dauern, #dontforgetyourfuture- zwar nach § 80 Nr. 4 der Geschäftsord- bis weitere Informationen bezüglich Er- teachers nung für den Bayerischen Landtag als er- gebnisse und Regierungsbezirk folgen. ledigt betrachtet, bewirkten aber mit Si- Wir warten weiter – und hoffen. Wir reden hier nicht von Einzelschick- cherheit, dass unsere Situation deutlich Schließlich ist es unser Traum, Lehrer*in salen, sondern von einer beachtlichen zu werden und da aktiv zu sein, wo wir Zahl von Lehramtsabsolvent*innen. 2 Die Note im Staatsexamen setzt sich zu 40 Prozent gerade dringender denn je gebraucht aus universitären Leistungen und zu 60 Prozent aus Wie viele Leute die Thematik betrifft, den Leistungen der Staatsexamensprüfungen zu- werden – in den Schulen vor Ort. war uns schnell klar: Zum gegenseitigen sammen. In den Erziehungswissenschaften (EWS) können schlechtere Ergebnisse im Examen durch Austausch gründeten einige von uns auf gute universitäre Vorleistungen kompensiert wer- den, solange am Ende ein »bestanden« erreicht Facebook eine Gruppe für die Be- wurde. Im Fachexamen erfolgt eine andere Berech- Der*Die Autor*in troffenen, der inzwischen über 1.800 nung, das Staatsexamen muss bestanden werden und kann nicht durch Vorleistungen zu einem »be- ist der Redaktion bekannt Mitglieder angehören. Innerhalb der standen« verbessert werden.
DDS September 2020 5 Studi-Demo in Berlin Ohne finanzielle Hilfe geht es für viele Studierende nicht weiter Foto: Christopher Melf Am 20. Juni fand in Berlin eine zen- Euro vom Staat ohne Vorgaben ge- Matter«-Bewegung engagiert, in seiner trale Demonstration der Studierenden schenkt bekämen, während Studierende Rede an, dass das Prozedere der Verga- statt. Auslöser waren die Bedingungen und Lehrende beinahe leer ausgingen. be der Hilfen nicht frei von Rassismus für eine staatliche Soforthilfe für durch Viele Vertreter*innen der Studie- und Diskriminierung sei. So würden die die Corona-Pandemie in Not geratene renden hatten die Demonstration in Informationen zu ihrer Beantragung le- Studierende, die von den Studieren- unzähligen Telefonkonferenzen und diglich auf Englisch und Deutsch ange- denvertretungen scharf kritisiert wer- trotz Corona-Pandemie und dadurch er- boten. den. schwerten Studienbedingungen geplant, Neben der GEW beteiligte sich auch um ein unüberhörbares Zeichen an die DGB-Jugend an der Demonstration. Initiiert wurde die Demo vom Bünd- Bundesministerin Karliczek zu senden. Sonja Stark (DGB-Jugend Brandenburg) nis »Solidarsemester«, in dem auch der Als die Demo am Bildungsministerium berichtete, dass alle acht Gewerkschaf- Bundesausschuss der Studentinnen und vorbeizog, stimmten die Studierenden ten hinter den Forderungen der Stu- Studenten der GEW (BASS) vertreten ist. dann auch lautstark in die Sprechchöre dierenden stünden. Die Landesstudie- »BAföG für alle, sonst gibt’s Krawalle« rendenvertretung Baden-Württemberg Demonstrierende und »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr betonte das Versagen der Bildungsmi- machen ihrem Ärger Luft uns die Bildung klaut« ein. nisterin – die Landesregierung hatte Bereits vor der Demo sammelten wir zuvor Nottelefone einrichten und kurz- Trotz Wind und Regen kamen ca. 350 vom Bündnis über 50.000 Unterschrif- fristig finanzielle Hilfen bereitstellen Studierende aus ganz Deutschland zur ten und verfassten einen offenen Brief 1. müssen – und forderte, wie viele andere Auftaktkundgebung auf den Washing- Da die Hilfen erst seit Juni beantragt Studierendenvertreter*innen auch, ih- tonplatz. Andreas Keller, stellvertreten- werden können, lautete auch hier der ren Rücktritt. der GEW-Bundesvorsitzender und Leiter Grundtenor: Die Finanzhilfen sind lä- Bei der Abschlusskundgebung soli- des Vorstandsbereichs Hochschule und cherlich und kommen viel zu spät, denn darisierte sich ein Vertreter des Netz- Forschung, eröffnete sie unter dem Mot- bereits Mitte März hatten viele ihre Jobs werks für gute Arbeit in der Wissen- to »Aus der Corona-Krise darf keine Bil- verloren. schaft (NGAWiss) mit den Forderungen dungskrise werden« und forderte die des Bündnisses Solidarsemester. Gleich- Regierung zum Kurswechsel auf: »Es Weitere Themen: zeitig wies er auch auf die coronabe- kann und darf nicht sein, dass die Politik Rassismus und Probleme dingte Lage der prekär beschäftigten die soziale Ungerechtigkeit in unserem in der Lehre Dozent*innen hin, die ihre Lehrmateria- Bildungssystem, die Deutschland schon lien und technische Ausstattung für das heute zum Weltmeister in sozialer Aus- Angesichts des UN-Weltflüchtlings- Homeoffice aus eigener Tasche bezah- lese gemacht hat, weiter vertieft.« tags, der auch auf den 20. Juni fiel, und len müssten. Darüber hinaus führe die Auch Nicole Gohlke, hochschulpoli- der aktuellen rassistischen Morde in Aussetzung des Präsenzlehrbetriebs zu tische Sprecherin der Partei die LINKE, den USA, prangerte Angelo vom Anti- unbezahlter Mehrarbeit, wohingegen in wandte sich an die Studierenden. Sie Rassismus-Referat der Universität Pots- marode Banken regelmäßig Milliarden wies darauf hin, dass derzeit zehn Mrd. dam, der sich auch in der »Black Lives gesteckt würden. Euro in die Rüstungsindustrie fließen 1 Offener Brief: Studieren in Zeiten von Corona – soziale Für die GEW sprachen abschlie- und Firmen wie Lufthansa neun Mrd. Notlage gemeinsam bewältigen; vgl. fzs.de ßend noch Stefanie Sonntag, Referen-
6 DDS September 2020 tin im Vorstandsbereich Hochschule Schüler*innen und Student*innen als doch entsprächen die Hilfen nicht ihren und Forschung, und Sabrina Arneth, Einladung zum Studium gedacht, be- aktuellen finanziellen Sorgen. Bundessprecherin der Studentinnen kämen es heute nur noch 12 Prozent Leonie vom fzs fügte hinzu, dass es und Studenten. Sie konzipierten ih- der Studierenden. Die Hälfte davon ist auch Kritik über die Soforthilfen und ren Redebeitrag als Grundlagense- ein zwar zinsloses, aber dennoch zu- Kredite hinaus gebe: So benutzen viele minar »Bildungspolitik in der BRD für rückzuzahlendes Darlehen. Universitäten für die Onlinelehre daten- Anfänger*innen«. Dabei stellten sie Die beiden letzten Redebeiträge schutzrechtlich problematische Dienste fest, dass Bildungsministerin Karliczek hielten Nadja vom Bundesausschuss wie ZOOM. Außerdem seien an mehre- formal nicht an dem Grundlagense- Ausländischer Studierender (BAS) und ren Unistandorten »Online Proctored«- minar teilnehmen könne, da der er- Leonie vom Freien Zusammenschluss Prüfungen im Gespräch, bei denen Stu- folgreiche Abschluss im Modul »Bil- der Studierendenschaften (fzs). Nad- dierende während der Prüfung über die dungs- und Chancengerechtigkeit in ja berichtete davon, dass jährlich ca. Webcam beobachtet werden. einer demokratischen Gesellschaft« 300.000 ausländische Studierende nach vorausgesetzt werde. Dann folgte ein Deutschland kämen. Davon sind viele von Florian Hahn historischer Abriss zum BAföG2. In wei- vor gewaltsamen Konflikten aus ihren Landessprecher der Studen- ser Vorausschau auf das Jahr 2021, in Ländern geflohen. Um ein Studium in tinnen und Studenten Bayern, dem dieses 50 Jahre alt wird, erinner- Deutschland beginnen zu können, müss- Delegierter im Bundesaus- ten sie an seine Anfänge: 1971 noch ten sie aber über entsprechende finanzi- schuss der Studentinnen und Studenten, als Vollzuschuss für fast 50 Prozent der elle Mittel verfügen. Sie seien nun zwar zweiter Sprecher der dankbar, dass auch sie die Soforthilfe Fachgruppe Hochschule und 2 Bundesausbildungsförderungsgesetz und die Kredite beantragen können, Forschung München Solidarsemester – Initiative der Studierenden in »Corona-Zeiten« Wirklich überbrückt wird mit der Hilfe allerdings nicht viel. Wegen tech- nischer Schwierigkeiten begann die Auszahlung erst Anfang Juli. Also über drei Monate nach Beginn der Corona- Krise. Zudem können nur Studierende, die maximal 500 EUR auf ihrem Kon- to haben, diese Hilfe beantragen. Um die Notlage nachzuweisen, müssen alle Kontoauszüge der letzten Monate eingereicht werden. Eine weitere Ein- schränkung: Wer noch 400 EUR auf sei- nem Konto hat, bekommt auch nur 100 EUR. Echte Hilfe sieht anders aus – die Überbrückungshilfe des BMBF ist Armut per Gesetz. Hochschulgruppe Bamberg in Aktion. Foto: Christopher Melf Um das nicht widerstandslos hin- zunehmen, gründeten zahlreiche Or- Wegen der Corona-Pandemie ver- beantragt, muss sich also verschulden ganisationen der Studierenden auf loren etwa 40 Prozent der Studieren- und womöglich mehrere tausend Euro Initiative des freien zusammenschlus- den ihre Jobs. Viele von ihnen sind auf einschließlich Zinsen zurückzahlen. ses von student*innenschaften (fzs) ihren Nebenjob angewiesen, um sich Diese Hürde nehmen nur wenige Stu- den Zusammenschluss »Solidarsemes- ihr Studium finanzieren zu können. Sie dierende auf sich. ter 2020». Auf der Homepage (soli- arbeiten z. B. in der Gastronomie oder Ab Anfang Juni konnten Studierende darsemester.de) findet ihr unsere For- auf Veranstaltungen – in Branchen dann endlich eine sogenannte »Über- derungen, für die es jetzt gemeinsam also, die vom Lockdown besonders ge- brückungshilfe« beantragen. Hierfür einzutreten gilt. troffen wurden. Während das Bundes- hatte die Bundesregierung 100 Mio. ministerium für Bildung und Forschung EUR zur Verfügung gestellt. Die Studie- (BMBF) zwar recht früh angekündigt rendenwerke, die für die Bearbeitung hatte, Studierende zu unterstützen, der Anträge zuständig sind, können pro kam außer einem als zinslos angeprie- Antrag gerade mal 25 EUR berechnen. von Jacob Bühler senen KfW-Kredit lange nichts. Das Es wurde also viel zu wenig Geld bereit- Vorstandsmitglied des Problem: Er muss vollständig zurück- gestellt, als dass man damit den rund freien zusammenschlusses gezahlt werden und zinslos sind auch 1 Mio. Studierenden, die ihren Job ver- von student*innenschaften nur die ersten Monate. Wer den Kredit loren haben, helfen könnte. (fzs)
DDS September 2020 7 GEW-Empfehlungen zum Wissenschafts- und Studierendenunterstützungsgesetz Der Bundestag beschloss am 7. Mai Inzwischen hat sich manches geklärt. BAföG-Bezug anrechnungsfrei. Natur- 2020 ein Gesetz »zur Unterstützung So hat sich die Onlinelehre eingespielt. gemäß lässt das Gesetz zu wünschen von Wissenschaft und Studierenden Sie ist nun auch für das Wintersemester übrig; weitergehende Entwürfe und Än- aufgrund der Covid-19-Pandemie«. vorgesehen. Stipendien und Abgabe- derungsanträge anderer Fraktionen fan- Nachfolgend eine kritische Betrach- fristen für Abschlussarbeiten wurden den keine Beachtung. tung. verlängert. Sonstige Prüfungen finden nahezu wie gewohnt statt, allerdings Bewertung der Lage Die Schließung der bayerischen aus rechtlichen Gründen selten als rei- durch die GEW Universitäten am 10. März 2020 ließ ne Onlineprüfung. In der Regel werden zunächst viele Fragen offen. Auch die Hausarbeiten oder Klausurantworten Andreas Keller, Leiter des Vorstands- ministerielle Verpflichtung der bayeri- einfach elektronisch eingereicht. Münd- bereichs Hochschule und Forschung schen Hochschullehrer*innen zur »Mit- liche Prüfungen – auch Disputationen der GEW, war im zuständigen Bundes- wirkung an Online-Angeboten« vom – sind über Video und auch wieder als tagsausschuss als Sachverständiger no- 31. März 2020 bot wenig mehr als den Präsenzprüfungen möglich, allerdings miniert. Grundsätzlich begrüßt die GEW Verweis auf die mögliche Vielgestaltig- erst nach Genehmigung durch das je- die politische Initiative, Studierende keit digitaler Lehre, versäumte es indes weilige Dekanat. und im Hochschulwesen Beschäftig- nicht, bei Nichterfüllen Pflichtverletzung te zu unterstützen, äußert aber auch zu unterstellen. Neue gesetzliche deutliche Kritik: So sollten Hochschu- Bestimmungen len Zeitverträge mit betroffenen Wis- Pandemiebedingte Not- senschaftler*innen nicht nur um min- lagen Nicht alle Probleme lassen sich aber destens sechs Monate verlängern auf einfache Weise lösen, insbesondere dürfen, sondern dazu verpflichtet wer- Unbeantwortet blieben dafür Fragen dann nicht, wenn finanzielle Notlagen den, wenn jene dies wünschen. Zudem wie diese: Wird das Sommersemester auftreten oder wissenschaftliche Quali- müssten auch studentische Beschäftig- grundsätzlich angerechnet? Wie müs- fikationen auf dem Spiel stehen. Darauf te in die Regelung einbezogen werden. sen Prüfungen aussehen? Wie wird mit hat der Bundestag inzwischen reagiert BAföG sollte pauschal um mindestens der Befristung von Qualifikationsstellen und im Mai einen Gesetzentwurf von ein Semester verlängert werden und verfahren? Ein Positionspapier des Bun- CDU/CSU und SPD »zur Unterstützung für in Not geratene Studierende eine desausschusses der Studentinnen und von Wissenschaft und Studierenden nicht rückzahlungspflichtige Soforthilfe Studenten (BASS) und des Bundesfach- aufgrund der Covid-19-Pandemie« als bereitgestellt werden.2 All dies fehlt nun gruppenausschusses Hochschule und »Wissenschafts- und Studierenden- im Gesetz. Forschung (BFGA HuF) der GEW nahm unterstützungsgesetz« (Drucksache bereits am 6. April Stellung und forder- 19/18699) angenommen. te eine bestmögliche, flexible und den In zwei Artikeln wird darin das Wis- Nöten angepasste Lehre, Fristverlän- senschaftszeitvertragsgesetz (Wiss- gerungen bei Abgaben von Arbeiten, ZeitVG) und das Berufsausbildungsför- von Magnus Treiber Praxisphasen und die Aussetzung von derungsgesetz (BAföG) anlassbezogen Mitglied der DDS-Redaktion Exmatrikulationen sowie finanzielle geändert: Zum einen kann die Befris- Nothilfen für Studierende einschließlich tung wissenschaftlicher Qualifikations- der Möglichkeit, Arbeitslosengeld II zu stellen pandemiebedingt um höchstens beziehen.1 sechs Monate hinausgeschoben wer- den, zum anderen bleiben zusätzliche 1 Forderungen zum Schutz der Studierenden und Beschäftigten in Hochschule und Forschung in der Nebeneinkünfte in »systemrelevante« 2 BAföG und Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Regie- Corona-Krise; Download: gew.de Tätigkeitsbereichen für Studierende mit rung muss nachbessern!; vgl. gew.de
8 DDS September 2020 Hochschullehre digital Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus dem ersten Corona-Semester Foto: imago images / Panthermedial Die Umstellung auf digitale Lehre mich an den Ohrmuscheln schmerzt. liegenden Nerven: Nach einem Soft- musste auch an Hochschulen inner- Aber man hört mich damit besser und wareupdate vertragen sich Scanner und halb weniger Wochen bewerkstelligt die Kopfhörer schlucken einen Teil der Computer nur noch bedingt. Zu sehr werden. Meine Erfahrungen im digita- Baugeräusche von nebenan, wo zurzeit ärgere ich mich nicht: Den Zeitverlust len Seminar: Seit Langem bestehende Küche und Terrasse erneuert werden. durch die Technik gleicht aus, dass ich Schieflagen spitzen sich zu. Hinter mir sind Fragmente meiner Woh- im Moment nicht pendeln muss. nung zu sehen: ein Stück Bücherregal, Wie sich digitale Lehre die halbe Couch, die Zimmertür. Auf Digitales Multitasking anfühlt den anderen Videobildern deuten sich ähnliche Settings an. Ab und zu läuft je- Der digitale Seminarraum ist eine Freitagvormittag im Sommer 2020. mand im Hintergrund durchs Bild, ein*e Herausforderung für meinen Sehsinn. Ich sitze am Schreibtisch des Wohn- und Mitbewohner*in, ein Kind. In-die-Augen-Schauen lässt sich im Vi- Arbeitszimmers meiner kleinen Woh- Knapp 90 Minuten lang möchte ich deogespräch durch einen Blick in die nung, vor mir der Computerbildschirm. mit 19 Studierenden ein Gedicht von Kamera simulieren. Damit mir selbst Er zeigt 20 Kästchen, in neun davon be- Heiner Müller über den mythischen Sän- Mimik und erhobene Hände meiner wegen sich Köpfe, Schultern, ab und zu ger Orpheus diskutieren. Neben Dutzen- Gesprächspartner*innen nicht völlig Hände. Einige der halben menschlichen den anderen Materialien konnten sich entgehen, schaue ich regelmäßig in die Körper sind zwischendurch in Zeitlupe die Studierenden das Gedicht als PDF Galerie der Kästchen. So springen mei- zu sehen oder verpixeln für ein paar Se- von einer Lernplattform herunterladen. ne Augen hin und her zwischen Kamera, kunden. Elf Kästchen enthalten kein Be- Die Bibliotheken haben geschlossen. Bildschirm und den Unterlagen auf dem wegtbild, sondern nur je zwei Initialen. Mein heimisches Bücherregal ist zum Schreibtisch. Ein Kasten zeigt meine obere Kör- Glück gut gefüllt. Mehrere Abende Möglichst oft sollte ich auch in die perhälfte. Ich trage ein Headset, das verbrachte ich mit Scannen und blank Leiste mit den Namen der Teilnehmen-
DDS September 2020 9 den blicken. Dort blinken ab und zu klei- viele Studierende aus dem letzten Se- und Medienbeiträge zum Thema zeigen ne blaue Hand-Bildchen auf. So melden mester, darunter sehr gute, kämpfen je nach Karrierestufe, Vertragsverhältnis sich Studierende ohne Kamera zu Wort seit Wochen mit dem Abschluss ihrer und privater Lebenssituation Ähnliches und die, deren echte Hände ich zu lan- Hausarbeiten, blockiert durch Ängste, oder Drastischeres. In allen Fällen offen- ge übersehe. Ab und zu schreibt auch Einsamkeit, geschlossene Bibliotheken. bart sich das Virus nicht als Auslöser der jemand rechts unten etwas in den Chat. Mit den Studierenden aus den aktuellen Schwierigkeiten, sondern als ihr Verstär- Obwohl sie von kleinen Ping-Lauten be- Kursen spreche ich über Hausarbeitsthe- ker: Auch für die Lage an den Universitä- gleitet werden, sehe ich die Nachrichten men, über den Ablauf digitaler mündli- ten wirkt Corona wie ein Brennglas. oft erst gegen Ende der Sitzung. Mein di- cher Prüfungen, biete Unterstützung bei Der Zugang zur Lehre und ihre Qua- gitales Multitasking hat Grenzen. der Literaturbeschaffung an. Von vielen lität hängen im Moment mehr denn je Nach dem Seminar brummt mir der sehe ich in den Zweiergesprächen zum von der Wohn- und Lebenssituation und Kopf, währenddessen bin ich vom Mee- ersten Mal ein (häufig ruckelndes) Vi- der technischen Ausstattung wie digita- ting regelrecht absorbiert. Allerdings deobild, höre eine (häufig abgehackte) len Weiterbildung der Beteiligten ab. Für brauche ich gefühlt 50 Prozent meiner Stimme. Schnell ist die nächste Stunde die Lehrenden sind hier die Vertragsver- Aufmerksamkeit für die Koordination. um, die ich im digitalen Raum verbringe. hältnisse und Perspektiven an den Hoch- Inhaltlich schaffen wir nach meinem Nach einer Mittagspause unterrichte ich schulen ausschlaggebend. Wer befristet Empfinden weniger als in der Präsenz- meinen zweiten Kurs. Ich bewege mich beschäftigt ist – das sind fast 90 Prozent lehre. Es gelingt mir weniger gut, für auf das Ende meiner Habilitationsphase des wissenschaftlichen Personals an den die Texte zu begeistern. Die Gefahr, dass zu und brauche möglichst viele lange Universitäten –, wer sich zugleich quali- Diskussionen zerfasern, erscheint mir Schreibtage, weshalb ich die Lehre auf fiziert und am Lebenslauf feilt, vielleicht größer. Wenn während der Sitzung der einen Tag gelegt habe. Die Vorbereitung Kinder betreut, beengt wohnt, nicht Paketbote klingelt oder das Nachbar- mache ich vor allem abends und am Wo- gern digital kommuniziert, hat es gerade kind ans Fenster klopft, verliere ich den chenende. noch viel schwerer, gute Lehre zu geben, Faden. und/oder büßt nebenbei massiv an For- Die Uhr tickt schungszeit und Privatleben ein. Selbst Wie geht es wo diese Faktoren nicht zutreffen, bleibt den Studierenden? Im Hinterkopf meldet sich die Fra- das Problem gelungener digitaler Kom- ge, ob ich das mühsam eingeworbene munikation komplexer Inhalte. Von den 19 Studierenden beteiligen Forschungsstipendium in den USA im sich vier aktiv am Gespräch, vier weitere Oktober werde antreten können und Universitäten wirken zumindest interessiert, über die falls nein, wie es im Herbst für mich wei- könnten Orte kritischer elf ohne Video kann ich wenig sagen. tergeht: Kann ich meine aktuelle Stelle Öffentlichkeiten sein Die Gründe dafür, dass sie fast durchweg doch noch kurzfristig verlängern? Wer schweigen und sich nicht zeigen wol- prüft eigentlich meine Studierenden, Alle betrifft der drohende Kultur- len, sind vermutlich vielfältig: fehlende wenn sie ihre Leistungsnachweise auf- wandel an den Universitäten durch die technische Voraussetzungen, Schüch- grund der aktuellen Lage erst im neuen Digitalisierung. Da auch im Winterse- ternheit, manchmal sicher auch man- Semester erbringen können? Prüfungs- mester noch fast überall digital gelehrt gelnde Vorbereitung. Der Eindruck vom rechtlich sind die Verlängerungen an werden soll, haben mehr als 5.800 Leh- Seminarkollektiv stellt sich bei mir nicht meiner Hochschule geklärt, arbeits- rende an deutschen Hochschulen den ein, bei den Studierenden mutmaßlich rechtlich nicht. Aufruf »Zur Verteidigung der Präsenz- ebenso wenig. Vor Corona hatte ich für Sollte ich mich besser auf den Ab- lehre« unterzeichnet, der die Rolle der den Kurs einen gemeinsamen Archiv- schluss der Habilitation konzentrieren Universitäten als Orte kollektiver Koprä- besuch, einen Theaterabend und einen und das Stipendium im Homeoffice an- senz für die Erzeugung kritischer Öffent- Gastvortrag mit gemeinsamem Mittag- treten? Das Ende meiner maximalen lichkeiten hervorhebt. essen organisiert. Nichts davon ließ sich Befristungsdauer rückt näher. Hinzu Dass diese Rolle angeknackst ist, hat realisieren. kommt die Befürchtung, dass in den indes weitere Gründe, die vor der Krise Um wenigstens einige Verluste auf- nächsten Jahren noch weniger Profes- schon bestanden: das außer Kontrolle zufangen, gibt es individuelle Schreibauf- suren ausgeschrieben werden, und die geratene Befristungswesen, der enor- gaben und angeleitete digitale Gruppen- Frage, wann es zu spät sein könnte, ein me Publikations- und Drittmitteldruck, phasen. Beides klappt gut, kostet mich Kind zu bekommen. Ohne Auslands- die teils katastrophale Gebäudesituati- aber viel Zeit. Die Struktur meiner Kurse zuschlag liegt das Stipendium bei rund on, die Korsette der Modularisierung, ist didaktischer als in früheren Semes- 1.700 EUR. Das reicht nicht für die teu- Qualifizierung und Projektförmigkeit. tern: Ich lade laufend Hinweise, Hilfe- re Münchner Miete, für die Beiträge zur Der Schaden ist längst angerichtet. Was stellungen und Zusatzmaterialien hoch, Kranken- und Rentenversicherung und bleibt, ist die Pflicht für Politik und Hoch- versuche mehr Austausch unter den die anderen Lebenshaltungskosten. schulen, ihn zu verrin- Studierenden anzuregen. Ein Großteil gern. der Angebote bleibt vermutlich unge- Corona als Brennglas nutzt. Dass alle jetzt mehr Zeit haben, ist von Sandra Fluhrer ein Mythos. Meine Erfahrungen und Sorgen sind Literaturwissenschaftlerin Nach dem Seminar findet meine ein winziger Ausschnitt aus einem wei- an der FU Berlin und FAU Videosprechstunde statt. Erschreckend ten Feld. Gespräche mit Kolleg*innen Erlangen-Nürnberg
10 DDS September 2020 Digitalisierung an Universitäten – erste persönliche Erfahrungen Die Corona-Pandemie verändert bereitzustellen, um die grundlegenden bei Onlineprüfungen auch schon vor auch die Lehre und Forschung an den Prämissen der Grundrechte einhalten Corona oft der Fall war, und ausschließ- Hochschulen. Auch dort muss vieles zu können. Über solche materiellen lich dafür gute Noten zu vergeben. auf »digitale Füße« gestellt werden, Hilfen hinaus ist andererseits unsere Leider hat sich dieses Verständnis der um den Betrieb unter anderen Voraus- Solidarität gefragt. Wo der Staat nicht Wissenskontrolle bereits in den Köpfen setzungen fortsetzen zu können. ausreichend zu handeln vermag, erle- vieler Studierender festgesetzt. Gute ben wir eine bewegende Sensibilisie- Dozent*innen werden trotz der gege- Betrachtet man erste Erfahrungen rung gegenüber den systematischen benen Beschränkungen versuchen, das mit der den Universitäten und anderen Ungerechtigkeiten. Wir merken, was »Lernen für das Leben« und den ver- Bildungseinrichtungen aufgezwunge- wirklich wichtig ist. antwortungsvollen, differenzierenden nen Digitalisierung, so kristallisieren und (selbst)kritischen Umgang mit sich zwei wesentliche Bereiche heraus: Höherer Zeitaufwand vielfältigen Inhalten in den Mittelpunkt zum einen die Erfahrung, die von der ihrer Lehre zu stellen und kritisches individuellen Arbeitssituation und per- Der Wegfall einer vollständigen Denken zu fördern. sönlichen Prägung abhängig ist, und »Anwesenheits«-Kommunikation er- zum anderen die gesellschaftlich re- fordert von Lernenden und Lehrenden Auswirkungen auf den levante, über persönliche Situationen nicht nur zu Beginn der Umstellung Arbeitsplatz hinausgehende Digitalisierung aller Le- einen deutlich höheren Zeitaufwand. bensbereiche. Dieser ist einerseits den Schwierigkei- Vorgesetzte, die Transparenz, In- Wenngleich sich die individuellen ten, sich im häuslichen Umfeld nur auf tegrität und Chancengleichheit nicht Erfahrungen stark voneinander unter- die Arbeit zu konzentrieren, und an- gebührend beachten, können im di- scheiden mögen, so lassen sich den- dererseits dem Fehlen der gewohnten gitalen Arbeitsalltag unbequeme Kol- noch einige markante Aspekte sowie Arbeitswerkzeuge und Ressourcen ge- leg*innen etwa durch die Einschrän- deren positive wie auch negative Aus- schuldet. Sind aber die ersten Schwie- kung der Zugriffe auf die notwendige wirkungen hervorheben. rigkeiten überwunden, kann sich aus Technik und Informationen noch leich- dieser Ausgangslage durchaus eine ter ausgrenzen bzw. über gezwunge- Zunehmende tiefgründige Auseinandersetzung mit nermaßen offengelegte Informationen Bildungsungerechtigkeit den jeweiligen Bildungsinhalten erge- Machtverhältnisse und Kontrollmecha- ben. Da die Herangehensweise aber nismen verschärfen. Zudem erlauben Bereits vor der Corona-Pandemie eine andere ist, benötigen wir neue es digitale Besprechungen, Arbeits- benachteiligte Menschen bekommen Blickwinkel und Perspektiven, um die- und Koordinationsprozesse fachlich die Spaltung der Gesellschaft nun noch se greifbarer, verständlicher und span- vielleicht weniger kompetenten, dafür mehr zu spüren. Wir Dozent*innen nender darzustellen. technisch versierteren Kolleg*innen zu sehen fast täglich, wie sowohl Studie- übertragen, Diskussionen einzuschrän- rende aus weniger privilegierten Ver- Qualität der Lehre ken und das Arbeitsklima zu beschädi- hältnissen als auch prekär beschäftigte gen. Kolleg*innen nicht länger mithalten Demgegenüber leidet allerdings die In gut funktionierenden Institutio- können und aus dem System Hoch- Qualität der Lehre unter der wesentlich nen gilt jedoch das Gegenteil: Im Sinne schule fallen. einfacheren Möglichkeit, in Prüfungen eines kollaborativen, also kollegialen Hier sind einerseits die Institutio- bloße kognitive Inhalte abzufragen Arbeitens hat jede*r gleichermaßen nen gefordert, notwendige Ressourcen (Multiple Choice, Lückentexte), wie es Zugang zu wichtigen Informationen.
DDS September 2020 11 Lerninhalte werden immer wieder ge- jedoch nur, wenn wir es schaffen, sie senden Entscheidungen teilnehmen meinsam überprüft, kritisch in Frage als Mittel und nicht als Zweck zu imple- können. gestellt und neu durchdacht. mentieren, ihre Vorzüge clever für alle zu nutzen und sie nicht in die Hände von Größte Schwächen der Mächtigen zu übergeben. Digitali- María José Pérez Chillón der digitalen Lehre sierung muss in den Dienst der Gesell- Mitarbeiterin des Sprachen- schaft gestellt und all ihren Mitgliedern zentrums der Friedrich-Alex- Dringlich bleiben für Lehrende und zugänglich gemacht werden, damit die- ander-Universität Erlangen- Nürnberg (FAU) Lernende konkrete alltägliche Proble- se frei, kooperativ und fernab zerstöre- me: Lehrkräfte, die keine zusätzliche rischer Auswirkungen an zukunftswei- Zeit aufwenden können (oder wollen), leisten derzeit weniger. Die Lehre wird GEW Bayern und Medien dadurch oberflächlicher oder fällt ganz aus. Insbesondere prekär beschäftigte Pressemitteilungen der GEW Bayern seit Juni 2020 Lehrkräfte leiden unter wirtschaftlicher n GEW stellt To-do-Liste für das Kultusministerium zum neuen Schuljahr auf – PM 33 Unsicherheit, sind frustriert und haben v. 16.6.2020 wenig Möglichkeiten und Mittel, sich n Regelbetrieb in allen Schulen? GEW reagiert auf irritierende Meldungen aus dem zur Wehr zu setzen. Vorzüge, die die Di- Kultusministerium – PM 34 v. 24.6.2020 gitalisierung auch mit sich bringen mag, n Abschlussprüfungen an den Schulen: GEW Bayern kritisiert Durchbrechung der können sie kaum nutzen. Quarantänevorschriften durch Regelung des Kultusministeriums – PM 35 v. 1.7.2020 Mit Blick auf Studierende erlebe n GEW: »Politik muss Hygienestandards an Schulen sicherstellen« – GEW stellt Ergeb- ich, teils begeistert, teils überfordert, nisse einer repräsentativen Umfrage zur Hygiene an Schulen vor – PM 36 v. 2.7.2020 wie ich mit E-Mails von Studierenden n Die GEW zum neuen Schuljahr: Die Schulanfänger*innen nicht vergessen! – PM 37 überschüttet werde. Diese, von über- v. 16.7.2020 kommenen Strukturen befreit, bewe- n »Erhobener Zeigefinger« statt Unterstützung – PM 38 v. 21.7.2020 gen sich selbstsicher in einer digitalen n GEW übt erneut scharfe Kritik am mangelhaften Arbeits- und Gesundheitsschutz für Umwelt ohne Hierarchien, versuchen staatliche Schulen in Bayern – PM 39 v. 24.7.2020 Neues und probieren anderes aus. Sie Alle Pressemitteilungen der GEW Bayern sind hier zu finden: gew-bayern.de forschen kreativ und bitten interessiert GEW-Kolleg*innen zum Nachhören um Rückmeldungen. Allerdings gehö- ren diese Studierenden meist zu den »Radio Lora« ist ein Münchner Community Radio. Unsere Kollegin Beate Stoelzel ver- antwortet dort die Sendungen zu Bildungsthemen. Dafür interviewt sie u. a. auch GEW- Privilegierten. Kolleg*innen. Auf dem Audioportal Freier Radios können sie nachgehört werden: Andere bleiben trotz anfänglichen n »UNS REICHT‘S – breiter Protest gegen die drohende Mehrarbeit an bayerischen Schwungs nach mehreren Versuchen, Schulen« (6.2.2020) u. a. mit Christiane Wagner: freie-radios.net/99763 mit der neuen Situation klarzukom- n »Die Grenzen von Social Distancing« und »die Situation von Betreuer*innen in men, sich technisch auszurüsten und Kitas aus arbeitsrechtlicher Sicht« (3.6.2020) u. a. mit Wolfram Witte und Mario selbst zu organisieren, leider auf der Schwandt: freie-radios.net/102760 Strecke und können all diese Herausfor- n »Sommersemester 2020 virtuell – die Unis im Corona-Stress« (2.7.2020) u. a. mit derungen allein kaum bewältigen. Hier Patrick Weißler und Eduard Meusel: freie-radios.net/103243 sind die Lehrenden besonders gefragt, n »Jetzt Bildungsteilhabe von Geflüchteten sichern« (18.7.2020) u. a. mit Doris aber leider auch oft chancenlos. Weber: freie-radios.net/103480 Digitalisierung per se ist nicht falsch, sie ist aber auch nicht vorbehaltlos gut; Anzeige es hängt von uns ab, wie wir sie einset- zen. Wenn wir jedoch nicht eine noch ungerechtere Gesellschaft schaffen wollen, müssen wir an vielen Stützpfei- lern des Ausbildungssystems grund- legende Veränderungen vornehmen: Zugangsmöglichkeiten zur Bildung müs- sen erleichtert und notwendige Vor- Von hier an geht es aufwärts! aussetzungen für alle Beteiligten ge- Hier erwarten Sie ein intensives und individuell ausgerichtetes Psychotherapieangebot, ein schaffen werden. Digitalisierung darf erstklassiges Krisenmanagement, kreative Förderung ihres Potentials, viele erlebnisintensive auf keinen Fall den Algorithmen, die Erfahrungen und erfreuliche Rahmenbedingungen (moderne Einzelzimmer, Genießer- Küche, wunderbare Umgebung). Wir behandeln die gängigen Indikationen wie Depressio- nur den Profit, die Leistung berechnen, nen, Burn-Out, Ängste, psychosomatische Erkrankungen. überlassen werden. Wir benötigen eine Kostenübernahme: Private Krankenversicherungen / Beihilfe tiefere philosophische Auseinanderset- Gunzenbachstr. 8 zung mit uns selbst und unserer Rolle in Info-Tel.: 07221 / 39 39 30 76530 Baden-Baden Welt und Umwelt. Digitalisierung kann Chancen er- öffnen und uns den Alltag erleichtern, www.leisberg-klinik.de
12 DDS September 2020 Plädoyer für die offene Diskussion Was Wissenschaft heute gefährdet und wie sich damit umgehen lässt Foto: imago images / Alexander Pohl Müssen sich Wissenschaftler*innen ren und methodischen Überprüfungen. nen dokumentieren damit nicht nur zukünftig hinter Pseudonymen verste- Um verlässliche Erkenntnisse zu gewin- ihre mühsam errungenen Resultate, cken, um in postliberalen Zeiten The- nen, investieren Wissenschaftler*innen sondern markieren zugleich ihre Positi- sen und Theorien zu publizieren? Nach die wichtigsten (und knappsten) Res- onen in einem Feld, auf dem sich stets privaten und öffentlichen Anfeindun- sourcen, die wir Menschen haben: Zeit auch andere Akteur*innen tummeln. gen gegen Wissenschaftler*innen – und Aufmerksamkeit. Die so erzeugten Schließlich und nicht zuletzt geht es etwa gegen den Physiker Harald Lesch, Einsichten müssen publiziert und den auch im Wettbewerbssystem Wissen- der die Klimapolitik der AfD kritisierte Angehörigen der Scientific Community schaft um Prioritäten und damit ver- – drängt sich dieser Eindruck auf. zugänglich gemacht werden. Denn wie bundene Gewinnchancen: Wer bei der wohl nur wenige andere gesellschaft- Entwicklung von Algorithmen oder bei Um kurz an Trivialitäten zu erinnern: liche Praktiken sind die Arbeitsformen der Synthese neuer Materialien die Wissenschaft ist und bleibt die (ziem- der methodischen Erkenntnisproduk- Nase vorn hat, streicht sowohl das sym- lich großartige) Arbeit von Menschen. tion auf wechselseitige Beobachtung bolische Kapital des*r Innovators*in als Und zwar von gut ausgebildeten und abonniert. auch ökonomische Vorteile ein. universitär sozialisierten Individuen, Mit anderen Worten: Die Veröffent- Dabei gilt das schon aus dem Neu- die in kommunikativen Zusammenhän- lichung von Forschungsergebnissen un- en Testament bekannte Matthäus- gen gesichertes Wissen erzeugen – und ter dem Namen ihrer Produzent*innen Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. zwar durch mehr oder minder komplexe ist essenzieller Bestandteil wissen- Wer bereits eine gewisse Aufmerk- Verfahren mit regelgeleiteten Prozedu- schaftlicher Arbeit. Denn Forscher*in- samkeit (und damit verbundene Ka-
DDS September 2020 13 pitalien) gewonnen hat, erhält noch theoretisch reflektierte »asymmetri- nach den abratenden Brexit-Voten von mehr. Kleine Differenzen in den Start- sche Kriegsführung« nun ihn selbst traf: Wirtschaftsexpert*innen mit dezidier- bedingungen können sich so zu gra- Die Observator*innen von »Münkler- ter Wissenschaftsfeindlichkeit kontert: vierenden Diskrepanzen entwickeln. Watch« blieben – trotz seiner mehrfa- »Was sagen Sie dazu, dass der weit Gerade junge Wissenschaftler*innen chen Bitten und Forderungen um offene überwiegende Teil der britischen Ge- brauchen Publikationen, um ihren er- Diskussion – anonym und also gesichts- sellschaft von Experten die Nase gestri- folgreichen Verbleib in der Wissen- lose Gegenspieler*innen, deren Akti- chen voll hat?« Was läuft falsch? schaft zu sichern. Bedingung dafür onen bis zu medialer Aufmerksamkeit Die Dimensionen dieses Problemfel- bleiben Identität und Visibilität von und dem Besuch der ARD im Hörsaal des lassen sich hier nicht einmal andeu- Wissenschaftsakteur*innen: Forsche- führten. Aufschlussreich begründeten ten. Deshalb nur knapp: Offenkundig rinnen und Forscher, Hochschullehre- die Münkler-Beobachter*innen die haben sich die Expert*innenkulturen rinnen und Hochschullehrer müssen Wahrung ihrer Anonymität mit dem von Wissenschaft und Forschung einer- bekannt und sichtbar sein, um ihre Hinweis auf den drohenden Verlust von seits und die kulturell diversifizierten Wissensansprüche behaupten und als Chancen innerhalb des Universitätssys- Sektoren der Öffentlichkeit anderer- innovative Eigenleistungen geltend tems: Was darauf hindeutet, dass sie seits so weit auseinanderentwickelt, machen zu können. Die Bekanntheit trotz ihrer Aversionen gegen die von dass Kommunikationen zwischen ih- des eigenen Namens ist an diese unab- ihm präsentierte Wissenschaft in ihren nen schwierig geworden sind. Kataly- dingbaren Markierungsfunktionen ge- Mauern verbleiben wollten. Warum? sator und Ergebnis dieser Differenzie- knüpft. Kann im Falle unter Pseudonym Der individuellen Betroffenheit rungsprozesse sind jene intrinsischen veröffentlichter Ergebnisse immerhin von Akteur*innen stehen quantitative Spezialisierungen, die zum Wesen des zu einem späteren Zeitpunkt ein erho- Daten und soziologische Erhebungen modernen Wissenschaftsbetriebs ge- bener Wissensanspruch als Eigenleis- gegenüber, die ein anderes Bild der hören und seinen viel beschworenen tung reklamiert werden – so wären die gesellschaftlichen Haltung zur Wis- Fortschritt ermöglichen: Arbeitsteilige Folgen fatal: Aus Furcht vor öffentli- senschaft zeigen. Zum einen verfügen Prozesse bei der Beobachtung und Be- chen Reaktionen ducken sich Forscher wissenschaftliche Einrichtungen in schreibung von Umweltausschnitten und Forscherinnen weg. Sie bringen Deutschland prinzipiell über ansehn- führen zu immer höherem Auflösungs- ihre Thesen und Theorien vor, wollen liche Mittel (auch wenn der Etat der vermögen und genaueren Observa- dafür jedoch nicht als sichtbare Perso- Deutschen Forschungsgemeinschaft in tionen; zugleich sinken die Chancen nen einstehen und angegriffen werden. Höhe von 3,4 Milliarden Euro im Jahr zur Re-Integration dieser Wissensbe- 2018 nicht einmal die Hälfte der Bau- stände in übergreifende Aussagen und Empfindungen, kosten des Berliner Flughafens BER weltanschauliche Deutungen. Doch Erhebungen, ausmacht). Zum anderen belegt das gerade deshalb bleiben »richtige Re- Explorationen »Wissenschaftsbarometer 2019« ein duktionen« (so Niklas Luhmann) über- relativ hohes Interesse an Wissenschaft lebensnotwendig: Es muss gelingen, Die Furcht von Forschenden und und Forschung sowie ein nicht zu un- die Ergebnisse wissenschaftlicher Ex- Lehrenden vor öffentlichen Angriffen terschätzendes Grundvertrauen der plorationen – die heute wichtiger als je ist nicht unbegründet. Auch wenn an- Bevölkerung: Rund die Hälfte der Be- zuvor sind – in angemessener Weise zu ders als in den USA hierzulande Ovids fragten einer repräsentativen Umfrage kommunizieren und die Diffusion von »Metamorphosen« oder Shakespeares glaubt den Ergebnissen wissenschaftli- Wissen auch in breite Bevölkerungs- »Kaufmann von Venedig« ohne Warn- cher Arbeit – und demonstriert damit kreise zu realisieren. hinweise gelesen werden können, sind ein deutlich höheres Vertrauen in die Denn nur, wenn wir die Prozesse deutsche Universitäten ebenfalls zum Forschung als in Wirtschaft, Medien unserer natürlichen, sozialen und kul- Kampfplatz geworden. Gerade hier und Politik. Nun lässt sich auch dagegen turellen Welt in ihrer Komplexität beob- aber teilen politisch vielleicht anders- sicher einwenden, dass die Organisati- achten und beschreiben und vielleicht denkende Menschen ein gemeinsa- on »Wissenschaft im Dialog« (WiD) als auch erklären können, haben wir eine mes Interesse, die wissenschaftliche, gemeinnützige Organisation der deut- Chance, als Gattungswesen zu überle- also offen-kritische Diskussion. Diese schen Wissenschaftsverbände so etwas ben. Interessanterweise wird uns diese ist ein hohes Gut und sollte nicht vor- wie eine Lobbyagentur und den Inte- Einsicht von einem 16-jährigen Mäd- schnell zur Disposition gestellt werden. ressen dieser Institutionen verpflich- chen vermittelt, das ihr Gesicht zeigt Der durchaus provokante, inzwischen tet sei: Dennoch sollte die verbreitete und ihren Namen nennt, wenn sie auf emeritierte Ideenhistoriker Herfried Wertschätzung von Wissenschaft nicht ihrer schwarzen Jacke die triviale und Münkler sah sich einer öffentlichkeits- abgetan werden. dennoch wichtige Botschaft um die wirksamen Beobachtung ausgeliefert, Welt trägt: »Unite behind the science.« die seine universitären Vorlesungen auf Richtige Reduktionen einem Blog mit globaler Verbreitung kommentierte und kritisierte.1 Als si- Doch warum kommt es trotz die- gnifikant muss diese Vorführung auch ser Akzeptanz von Wissenschaft und von Dr. Ralf Klausnitzer deshalb gelten, weil die von Münkler gesellschaftlicher Alimentierung zu wissenschaftlicher Mitarbei- Irritationen? Wie kann es passieren, ter am Institut für deutsche 1 Vgl. Darstellung des Falles: »Zwischen Krösus und Kontroversen« vom 18.5.2018 auf campus-mainz. dass ein britischer Justizstaatssekre- Literatur der Humboldt- net tär auf die Frage von Journalist*innen Universität Berlin
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