Wissen schafft Akzeptanz. Bundesstiftung Magnus Hirschfeld - Tätigkeitsbericht 2017
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Inhaltsverzeichnis Geleitwort der Kuratoriumsvorsitzenden Dr. Barley 2 Geleitwort des Vorsitzenden des Fachbeirats Prof. Dr. Schwartz 4 Einführung des Vorstands 5 Referat Kultur, Geschichte und Erinnerung 7 Erforschung der Verfolgung und Repression von LSBTTIQ 7 Archiv der anderen Erinnerungen 10 Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer des Paragrafen 175 StGB 12 Veranstaltung „NS-Terror gegen Homosexuelle – Forschungskontroversen und erinnerungspolitische Positionen“ 12 Referat Gesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung 13 Hirschfeld-Lectures 13 Fachtag „Familie von morgen“ 14 Refugees & Queers 15 Hirschfeld-Akademie 16 Fußball für Vielfalt 18 Förderung von externen Projekten 21 Das Stiftungsjahr im Überblick 32 Veröffentlichungen der Bundesstiftung und ihrer Mitarbeiter_innen sowie Kooperationspartner_innen 36 Tagungsteilnahmen und Vorträge 37 Kommunikation- und Medienarbeit 39 Vermögensanlage 42 Gewinn- und Verlustrechnung 51 Ausblick auf 2018 52 Kuratorium und Fachbeirat 54 Drittmittelförderungen und Spenden 56 Impressum 58 Tätigkeitsbericht 2017
2 Geleitwort der Kuratoriumsvorsitzenden Mit dem am 22. Juli 2017 in Kraft getrete- Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Part- nen Rehabilitierungsgesetz wurden endlich die nerschaften als Ehen zweiter Klasse ist damit Verurteilungen wegen einvernehmlicher ho- endlich beendet. mosexueller Handlungen zwischen Personen über 16 Jahren aufgehoben. Die betroffenen Die Erfolge des Jahres 2017 sind wichtige Mei- Menschen sollen für ihre Verurteilung, den lensteine auf dem Weg zu unserem Ziel, dass damit verbundenen Strafmakel sowie ver- es letztlich keine Rolle spielen darf, welche se- büßte Freiheitsentziehungen xuelle Orientierung jemand hat. finanziell entschädigt werden. Denn wie wir wissen, gehören Bisher wurden insgesamt rund Benachteiligungen, Diffa- 330.000 Euro ausgezahlt. Die mierungen und auch tätliche Entschädigung ist gewiss nicht Angriffe auf Menschen allein mehr als ein Symbol, aber ein aufgrund ihrer sexuellen Ori- wichtiger Schritt. Denn für entierung oder Identität leider Gerechtigkeit ist es nie zu spät! weiterhin zum Alltag. Ich appelliere an alle Betrof- fenen, ihr gutes Recht geltend Die Bundesstiftung Magnus zu machen und bestehende Hirschfeld engagiert sich Unterstützungsangebote zu sowohl mit eigenen als auch nutzen. mit von ihr geförderten Projek- Dr. Katarina Barley ten gegen Diskriminierungen Als sogenannte Kollektivent- und für Akzeptanz. Ich danke schädigung zur Rehabilitierung dem Vorstand sowie allen Mit- der nach Paragraf 175 StGB Verurteilten wurde arbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren Einsatz ebenfalls im vergangenen Jahr mit der instituti- und unterstütze sie, weiter für Frieden, Frei- onellen Förderung der Bundesstiftung Magnus heit und Gleichberechtigung zu arbeiten und zu Hirschfeld aus dem Haushalt des Bundesminis- kämpfen. teriums der Justiz und für Verbraucherschutz begonnen. Diese Förderung wird auch 2018 Es gibt noch eine Menge zu tun. Ob lebensge- fortgesetzt, um die professionelle Arbeit der schichtliche Interviews nicht-heterosexueller Stiftung im Bereich der Forschung und Aufklä- Menschen, die geschichtliche Aufarbeitung ihrer rung zu stärken und dauerhaft zu sichern. Verfolgung, ihre Ausgrenzung im Sport, ihre komplexe Situation als Geflüchtete oder auch Das Jahr 2017 stellt auch mit der Einführung die neue Vielfalt von Familien: Die Bundesstif- der „Ehe für alle“ einen Wendepunkt im Le- tung Magnus Hirschfeld stellt sich gesellschafts- ben vieler Menschen dar. Seit dem 1. Oktober politisch bedeutsamen Fragen und versucht, 2017 können gleichgeschlechtliche Paare nun Antworten für ein gutes Zusammenleben in auch in Deutschland heiraten. Die rechtliche Vielfalt zu finden. Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
G eleitwort 3 Wir werden den Kampf gegen Diskriminierungen und für gleichberechtigte Teilhabe engagiert fortsetzen. Die Rechte von friedlichen Minder- heiten sind zu schützen – unabhängig davon, worauf der Unterschied zur Mehrheitsgesell- schaft beruht. Gerade am Schutz der Rechte auch kleinerer Gruppen von Menschen zeigt sich, wie wir Demokratie und Rechtsstaat als Ganzes begreifen. In diesem Sinne wünsche ich der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld weiterhin viel Erfolg und eine breite gesellschaftliche Unterstützung! Dr. Katarina Barley Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz, Vorsitzende des Kuratoriums der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Tätigkeitsbericht 2017
4 Geleitwort des Vorsitzenden des Fachbeirates D as Jahr 2017 hat wichtige Ereignisse persönlichen Einsatz in dieser wichtigen An mit sich gebracht, die wir eindeutig als gelegenheit noch einmal ganz herzlich danken. emanzipative Fortschritte für eine plu- Was die Forschungs- und Bildungsaktivitä- ralistische und gendergerechte Gesellschaft be- ten der Bundesstiftung angeht, möchte ich aus grüßen können: Im Juli 2017 wurde vom deut- wissenschaftlicher Sicht vor allem deren konti- schen Parlament das „Gesetz zur Einführung des nuierlichen Einsatz für Forschungsprojekte über Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Verfolgung und Diskriminierung homosexueller Geschlechts“ verabschiedet, das die bisherige Menschen hervorheben. Die Ergebnisse des ers- Ungleichbehandlung heirats- ten diesbezüglichen Projekts, williger Heterosexueller und das die Jahre zwischen 1933 lediglich „verpartnerter“ Ho- bis 1945 sowie die Nachkriegs- mosexueller beendet hat. Und zeit bis 1969/73 mit Blick auf im selben Monat des vergange- homosexuelle Männer und nen Jahres trat das „Gesetz zur Frauen im Lande Rheinland- strafrechtlichen Rehabilitierung Pfalz fokussierte und von der der nach dem 8. Mai 1945 we- Bundesstiftung in Kooperation gen einvernehmlicher homose- mit dem Institut für Zeitge- xueller Handlungen verurteil- schichte München-Berlin (IfZ) ten Personen“ in Kraft, das die geleitet worden ist, konnte im nach den zwischen 1949 und Januar 2017 der Öffentlichkeit 1994 in der Bundesrepublik vorgestellt werden. Deutschland und in der DDR geltenden diskriminierenden Prof. Dr. Michael Schwartz Im weiteren Verlauf des Jahres Strafrechtsbestimmungen ver- haben Bundesstiftung und IfZ urteilten homosexuellen Men- auch die Erarbeitung einer auf schen nicht nur die juristische Rehabilitierung diesen Ergebnissen basierenden bildungsorien- zuspricht, sondern ihnen auch eine (wenngleich tierten Wanderausstellung beratend begleitet, geringfügige) finanzielle Entschädigung für erlit- die mittlerweile im Januar 2018 in Mainz eröff- tene Haftzeiten gewährt. net worden ist. Fortgesetzt wird die beratende Begleitung des weit umfangreicher struktu- Dieses letztere Gesetz ist in entscheidenden rierten Projekts der Universität Stuttgart über Punkten von der im Juni 2016 veröffentlichten Baden-Württemberg, das von der Weimarer Zeit „Uracher Erklärung“ fast aller damaligen Mit- bis in die 1970er Jahre reicht und neben der glieder_innen unseres Fachbeirats nicht unbeein- Verfolgung und Diskriminierung homosexuel- flusst geblieben. Dem mittlerweile in ein anderes ler Menschen auch nach Fällen von Trans*- und Ressort der Bundesregierung gewechselten intersexuellen Personen sucht. Im Dezember des früheren Bundesminister der Justiz und früheren Jahres 2017 haben Bundesstiftung und IfZ mit Kuratoriumsvorsitzenden der Bundesstiftung Hilfe der Landesregierung von Rheinland-Pfalz Magnus Hirschfeld, Herrn Heiko Maas, möchte ein weiteres landesspezifisches Forschungs- ich namens unseres Gremiums für seinen projekt begonnen, das sich der Diskriminierung Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
G eleitwort 5 homosexueller Frauen durch Ehe-, Scheidungs- ist sehr zu begrüßen und wird sich durch das und Familienrecht widmet. Engagement von Beirät_innenen und Mitarbei- ter_innen hoffentlich auch in Zukunft fortsetzen. Einzelne Mitglieder des Fachbeirats und Mit- Abschließend möchte ich dem hochenga- arbeiter der Bundesstiftung haben im Jahre gierten Team der Geschäftsstelle der Bundes- 2017 auch an zwei großen wissenschaftlichen stiftung für seine wichtige Arbeit sehr herzlich Tagungen zur Verfolgung und Diskriminierung danken. homosexueller Menschen im 20. Jahrhundert mitgewirkt, die ich als Hochschullehrer der Uni- versität Münster zum einen mit der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, zum anderen mit der Justizakademie des Landes Nordrhein- Westfalen in Recklinghausen mitorganisiert und im Mai bzw. Dezember 2017 durchgeführt habe. Prof. Dr. Michael Schwartz Diese deutliche Präsenz der Bundesstiftung im Vorsitzender des Fachbeirats deutschen Forschungs- und Erinnerungsdiskurs der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Tätigkeitsbericht 2017
6 Einführung des Vorstandes Wissen schafft Akzeptanz. Liebe Leser_innen, die Familie(npolitik)“. Die Dokumentation dazu erscheint voraussichtlich Ende 2018. das Jahr 2017 war ein in jeder Hinsicht auf Am 14. Mai enthüllten wir zusammen mit regendes und fruchtbares Jahr: Unsere Stiftung der Stadt Magdeburg eine Gedenktafel am Ort wurde aufgrund eines Beschlusses des Deut- der ersten Arztpraxis von Dr. Magnus Hirschfeld schen Bundestags erstmals durch eine institu- in der Magdeburger Innenstadt. Danach began- tionelle Förderung des Bundesministeriums der nen in unserer Stiftung die Vorbereitungen für Justiz und für Verbraucherschutz gefördert. Da- das Gedenkjahr 2018/2019 „150 Jahre Magnus durch konnten wir aus allen bisherigen Halbtags- Hirschfeld“ (14.5.2018) und „100 Jahre Institut nun Ganztagsstellen machen für Sexualwissenschaft (2019; und eine Halbtagsstelle – die offizielle Eröffnung: 9.7.1919). Assistenz der Geschäftsfüh- Gemeinsam mit Betroffe- rung/Projektförderungsma- nen der Gesetzgebung durch nagement – wieder neu einrich- den § 175 StGB, die ihre ten. Durch die Zuwendung des Lebensgeschichte im Rahmen Bundes haben wir außerdem unseres Interviewprojektes unsere externe Fördertätigkeit „Archiv der anderen Erinne- wieder aufnehmen und knapp rungen“ geteilt haben, und der 133.000 Euro an 34 Projekte in Antidiskriminierungsstelle des ganz Deutschland ausschütten Bundes freuten wir uns am können. 22. Juni über den Beschluss Beispiele aus unserer ei- des Deutschen Bundestages genen Projektarbeit: Im Januar für ein Aufhebungsgesetz, stellten wir gemeinsam mit durch das die Urteile kollektiv dem Land Rheinland-Pfalz und aufgehoben und eine individu- dem Institut für Zeitgeschichte Jörg Litwinschuh elle Opferentschädigung mög- München-Berlin (IfZ) die Ergeb- lich wird. In den vergangenen nisse unserer Kooperationsstudie „Strafrechtli- Jahren haben wir gemeinsam mit Betroffenen che Verfolgung und gesellschaftliche Repression und weiteren Zeitzeugen sehr intensiv hinter den von Schwulen und Lesben in der Nachkriegszeit“ Kulissen an der Ermöglichung dieses Gesetzes vor. Ab 2018 wird eine Wanderausstellung des mitgewirkt. Mit dem hart umkämpften Gesetz rheinland-pfälzischen Familienministeriums zur Rehabilitierung und Entschädigung der durch durch Rathäuser und Schulen in Rheinland-Pfalz den Paragrafen 175 StGB verurteilten Homose- ziehen. Im November beauftragte das Ministe- xuellen wurde ein entscheidender Beitrag dazu rium das IfZ in Kooperation mit unserer Stiftung, geleistet, den diskriminierten Opfern ihre Würde die Diskriminierung und Verfolgung lesbischer wieder zurückzugeben und deren Leiden anzu- Mütter durch Kindesentzug zu erforschen und in erkennen. Die BMH wird das Thema auch weiter Videos zu dokumentieren. intensiv begleiten. Im April veranstalteten wir erstmals mit zahlreichen evangelischen Institutionen den Am 30. Juni folgte im Deutschen Bundestag Fachtag „Familie von morgen. Neue Werte für mit der Ehe für alle ein weiterer historischer Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
E inführung des V orstands 7 Beschluss zur völligen rechtlichen Gleichstellung der (75 Prozent der befragten Stiftungen) und der „Arbeit Homosexuellen. Ich danke allen Politiker_innen, NGOs, für Toleranz, Vielfalt und gegen Diskriminierung“ Rechtsexpert_innen und homosexuellen Paaren, die (64 Prozent). Unsere Stiftung wird in den kommenden Prozesse geführt haben: Durch ihre teils jahrzehnte- Jahren – mehr denn je – als Akzeptanzförderin und als langen Anstrengungen haben sie auf dieses Ergebnis Antidiskriminierungsstiftung gebraucht werden und hingearbeitet und nie aufgegeben. gefragt sein. Dazu braucht es Bildung und Forschung. Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Homo- und Transphobie, Rechtsextremismus und reli- Bildung entwickelt sich unser Modellprojekt „Refu- giösem Fundamentalismus werden wir selbstbewusst gees and Queers. Politische Bildung an der Schnitt- und unaufgeregt entgegentreten helfen. Dazu braucht stelle von LSBTTIQ und Flucht/Migration/Asyl“ zu es auch neue Bündnispolitiken, starke LSBTTIQ-Koali- einem queeren Leuchtturm. tionär_innen und liberale Partner_innen in Kirchen und Die kontinuierlich hohe Zahl der Förderanträge wie Religionsgemeinschaften. Bitte fordern und fördern auch deren inhaltliche Bandbreite sind nicht nur ein Sie uns kräftig auf diesem Weg! Beleg für die Wichtigkeit unserer Stiftung, sondern auch dafür, welchen Stellenwert und Bedeutung sie in Zum Schluss bleibt mir der Hinweis auf freudige An- den wenigen Jahren seit ihrer Gründung erlangt hat. lässe, um gemeinsam mit Ihnen das Hirschfeld-Jahr Diesen hohen Erwartungen wollen wir auch weiterhin einzuleiten: Am 14. Mai gedenken wir den Lebens- gerecht werden. leistungen von Dr. Magnus Hirschfeld und seinen Zu guter Letzt ist es mir an dieser Stelle ein großes Mitkämpfer_innen in einem großen Festakt in Berlin. Bedürfnis, mich im Namen der Bundesstiftung Mag- Am 12. Juli bringt die Deutsche Post anlässlich des nus Hirschfeld bei unserem früheren Kuratoriumsvor- 150. Geburtstages unseres Namensgebers eine Brief- sitzenden Bundesjustizminister a. D. Heiko Maas, den marke heraus, die wir mit einem Festakt im Centrum weiteren Mitgliedern des Kuratoriums und des wissen- Judaicum – Stiftung Neue Synagoge Berlin, präsen schaftlichen Fachbeirats für ihre Arbeit und den pro- tieren. Mit vielen weiteren Veranstaltungen und Pro- duktiven wie bereichernden Austausch zu bedanken. jekten werden die beiden kommenden Jahre ganz im Fokus von Magnus Hirschfeld und seinem Institut Ein besonderer Dank gilt zudem auch all jenen Men- für Sexualwissenschaft stehen. schen und Einrichtungen, die beispielsweise durch Drittmittelförderungen, Spenden und als Koope- Berlin, 25. April 2018 rationspartner_innen unsere Arbeit ermöglicht und unterstützt haben. Last but not least danke ich allen Mitarbeiter_innen der Stiftung, die erneut Großartiges geleistet haben: Ohne sie wäre die Stiftung nichts. Stiftungen sehen sich als „zentrale Player innerhalb der Demokratieförderung in Deutschland“. Dies zeigt eine Umfrage des Bundesverbandes Deutscher Stif- tungen, in welchem wir Mitglied sind. Der Schwer- Jörg Litwinschuh punkt im Einsatz für mehr Demokratie liegt auf der Geschäftsführender Vorstand „Förderung des bürgerschaftlichen Engagements“ der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld Tätigkeitsbericht 2017
8 Referat Kultur, Geschichte und Erinnerung Dr. Daniel Baranowski ist seit 2015 wissenschaftlicher Referent Kultur, Geschichte und Erinnerung. Er war zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Forschungsprojekte zur Verfolgung und Repression von LSBTTIQ in Kooperation mit anderen Einrichtungen Die Erforschung der Geschichte der LSBTTIQ von Lesben, Schwulen und Trans*-Personen – ihrer Diskriminierungen, Repressionen und vor, nach und während der Zeit des National- Verfolgungen wie auch ihrer gesellschaftlichen sozialismus? Wie konnten LSBTTIQ angesichts Emanzipationsprozesse – ist einer der zentralen der Ausgrenzung und staatlichen Verfolgung Arbeitsschwerpunkte der Bundesstiftung Mag- Freundschaften und Beziehungen pflegen, sich nus Hirschfeld. in Gruppen zusammenschließen oder politisch In Zusammenarbeit mit dem Institut für organisieren – zumal fernab der Metropolen mit Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) konnten in ihren ausgeprägten subkulturellen Strukturen? Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg erst- Fragen wie diese waren bislang gar nicht mals umfangreiche Projekte zur Aufarbeitung oder lediglich unzureichend zu beantworten. der strafrechtlichen Verfolgung und Diskriminie- Denn nicht nur fehlten entsprechende Forschun- rung auf den Weg gebracht werden. gen zumindest für Flächenländer jenseits der Metropolen, und damit insbesondere für Le- „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale ho- benssituationen in kleineren Städten und ländli- mosexueller Männer in Baden und Württemberg chen Regionen, viele entscheidende Materialien im Nationalsozialismus und in der Bundesrepub- waren unzureichend archiviert, zum Teil vernich- lik Deutschland“ tet, die raren vorhandenen Quellen wiederum oft nicht recherchiert und gesichtet. Welche Folgen hatten die gesellschaftlichen und juristischen Repressionen für das Leben Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
R eferat K ultur , G eschichte und E rinnerung 9 Mit dem 2016 gestarteten Forschungspro- Begleitet wird das Forschungsvorhaben durch jekt „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale ein Public History-Projekt. Geplant sind unter homosexueller Männer in Baden und Würt- anderem die bessere Vernetzung von LSBTTIQ- temberg im Nationalsozialismus und in der Gruppen, Geschichtswerkstätten, Museen, Bundesrepublik Deutschland“ setzt das Land Archiven und politischen Bildungsprojekten. Baden-Württemberg nicht nur ein wichtiges Darüber hinaus sollen Workshops und Veran- gesellschaftspolitisches Zeichen. Es schließt staltungen zur LSBTTIQ-Geschichte durchge- zudem auch „einen blinden Fleck in der wissen- führt werden. Zentrales Werkzeug für diese schaftlichen Forschung über Strafverfolgung Aktivitäten ist die Webseite www.lsbttiq-bw. und gesellschaftliche Ausgrenzung von Homose- de. Sie fungiert gleichermaßen als Wissensspei- xuellen“ in der Geschichte des Bundeslandes, so cher- und Kommunikationsplattform und dient die baden-württembergische Ministerin Theresia zum einen dazu, die interessierte Öffentlichkeit Bauer (Bündnis 90/Die Grünen). Das von ihr ge- am Stand der Forschungen teilhaben zu lassen. führte Ministerium für Wissenschaft, Forschung Zum anderen wird sie dazu genutzt, Geschichts- und Kunst hat dafür bereits Mittel in Höhe von zeug_innen zu finden und Bürger_innen zur Mit- 250.000 Euro bereitgestellt, die vollumfäng- hilfe zu bewegen, um beispielsweise persönliche lich an die Universität Stuttgart ausgeschüttet Unterlagen wie Fotos, Briefe, Zeitschriften oder wurden. Deren Direktor der Abteilung für Neuere Korrespondenzen mit Behörden den beteiligten Geschichte am Historischen Institut, Prof. Dr. Historiker_innen zur Verfügung zu stellen. Wolfram Pyta, leitet dort die Forschungen in Ermöglicht wurde die Entwicklung dieses Kooperation mit der BMH und dem IfZ. Internetportals 2016 durch die Förderung des Das Forschungsdesign dieses Projekts Sozialministeriums in Baden-Württemberg umgreift erstmals systematisch die Geschichte und 2017 durch eine Förderung der BMH; die lesbischer, schwuler, bisexueller, transgender, Pflege der Plattform im zweiten Halbjahr 2017 trans- und intersexueller sowie queerer Men- wurde durch die Universität Stuttgart finanziell schen in Baden und Württemberg während des gesichert. Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik und lässt LSBTTIQ nicht nur als Opfer von Ver- Zum Jahresende 2017 legte das Forschungs folgung und Diskriminierung, sondern ebenso team der Universität Stuttgart bereits einen deutlich als Akteur_innen in verschiedenen his- ersten Zwischenstands-Bericht ihrer Arbeit am torischen Konstellationen sichtbar werden. Modul I vor. Neben den grundlegenden Vorar- beiten wie der Analyseoptik und Ausführungen zum methodischen Vorgehen konnten bereits Das auf drei Jahre angelegte For die Forschungsergebnisse zu den Lebenswelten schungsprojekt soll 2019/20 abge in der Weimarer Republik ausformuliert werden. schlossen sein und ist in drei Module „Baden ist nicht Berlin und Württemberg nicht aufgeteilt: Weimar“ haben die Autor_innen dieses Kapitel der Studie überschrieben. Damit soll deutlich • Modul I untersucht die Lebenswelten und gemacht werden, dass das lebensweltliche Verfolgungsschicksale homosexueller Män- Gefüge homosexueller Männer in den 1920er ner im Nationalsozialismus und nach 1945. und beginnenden 1930er Jahren im deutschen Dieses Teilprojekt konnte 2017 bereits ab- Südwesten keineswegs etwa mit dem in Berlin geschlossen werden. vergleichbar war. Dennoch, so die Historikerin • Modul II erforscht die staatliche Repression Dr. Julia Munier, hätten sich – insbesondere in und Verfolgung nach § 175 RStGB/StGB. den Groß- und Universitätsstädten wie Mann- Für dieses Teilprojekt wurden die benötigten heim, Stuttgart und Karlsruhe und befördert Mittel beim Ministerium für Wissenschaft, durch künstlerisch-avantgardistische, wissen- Forschung und Kultur beantragt. schaftlich-liberale und sexualaufklärerische • Modul III fokussiert auf die Lebensweisen Kontexte – Freundschaftsbünde und Aktions- und Repression von lesbischen Frauen sowie gruppen sowie private Netzwerke bilden können. intersexueller und Trans*-Personen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialis- ten hatten sich dann allerdings die Bedingungen auch im Südwesten dramatisch verändert. Die Tätigkeitsbericht 2017
10 R eferat K ultur , G eschichte und E rinnerung zunächst in Berlin vollzogenen Maßnahmen zur Schriftsetzers, haben sich als aufschlussreiche Zurückdrängung bzw. tendenziellen Zerstörung Dokumente erwiesen. In diesem genannten der homosexuellen Lebenswelten wirkten sich Fall lässt sich exemplarisch die Bedeutung der auch auf Baden und Württemberg aus. Schweiz für Homosexuelle aus (Süd-)Deutsch- Das Forscher_innenteam konnte in diesem land nachvollziehen. Für sie war das an Baden Zusammenhang nicht nur neu entdeckte Ego- und Württemberg angrenzende Nachbarland mit Dokumente auswerten, so etwa jene des als seiner lebendigen Homosexuellenszene insbe- „Stuttgarter Originals“ bezeichneten Trans- sondere in der frühen Phase des Nationalsozia- vestiten Toni Simon (1887–1979). Auch Akten- lismus und in den 1950er Jahren ein wichtiger funde, wie etwa im Staatsarchiv Ludwigsburg Zufluchtsort. zum Schicksal eines in Friedrichshafen lebenden „Verfolgung und Diskriminierung von Homo sexualität in Rheinland-Pfalz“ Am 13. Dezember 2012 beschloss der Land- Herausforderungen gestellt. Nicht nur waren die tag Rheinland-Pfalz einstimmig den Antrag zur Aktenfindung und Sichtung erschwert, auch das „Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung Aufspüren privater und persönlicher Dokumente und Rehabilitation homosexueller Menschen“ von Betroffenen erwies sich als schwierig. Zu- in Rheinland-Pfalz. „Die Aufarbeitung ist ein dem mussten die beiden Historiker_innen die wichtiger Schritt, um die nachfolgenden Gene- Erfahrung machen, dass Geschichtszeug_innen rationen gegenüber homophoben Tendenzen zu aufgrund der lebensgeschichtlichen Nachwir- sensibilisieren“, erklärte die zuständige Fami- kung der erlebten Diskriminierungen nur geringe lienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Bereitschaft zu Interviews zeigten. Grünen). Ihre Vorgängerin, Irene Alt (Bündnis 90/ Dennoch gelang es, die Verfolgungs- und Die Grünen), hatte nach dem Beschluss die ent- Diskriminierungsgeschichte von lesbischen sprechenden Forschungen und damit die erste Frauen und schwulen Männern zwischen 1946 umfassende Studie zur Repression Homosexu- und 1973 in Rheinland-Pfalz – und damit in eller für ein deutsches Flächenland in Auftrag einem Flächenland der Bundesrepublik Deutsch- gegeben. land mit starker katholischer Prägung – in einer Fünf Jahre später liegt dieses erste große, 382-seitigen Publikation nachzuzeichnen. Der mit 100.000 Euro staatlich finanzierte For- Schwerpunkt lag dabei auf der Verfolgung ho- schungsprojekt vor, das vom IfZ in Zusammen- mosexueller Handlungen zwischen Männern, arbeit mit der BMH und mit Unterstützung einer doch konnten auch neue Sichtweisen auf juris- Projektgruppe diverser Landesressorts, der tische und gesellschaftliche Diskriminierungen Landeszentrale für Politische Bildung sowie des lesbischer Frauen erarbeitet werden. im zivilgesellschaftlichen Raum hochengagier- Im Ergebnis war die strafrechtliche Ver- ten Verbandes QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. folgung männlicher Homosexualität von der umgesetzt wurde. Gründung des Landes Rheinland-Pfalz 1946 bis zur Reform des Paragrafen 175 StGB im Jahr Am 23. Januar 2017 präsentierte die Staats- 1969 erheblich: Gegen 5.939 Tatverdächtige sekretärin im rheinland-pfälzischen Famili- wurde ermittelt, 2.880 Männer und Jugendliche enministerium und Landesbeauftragte für wurden verurteilt. Zusätzlich erlebten noch weit Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und mehr Betroffene Demütigungen, moralische Ab- Geschlechtsidentität, Dr. Christiane Rohle- wertungen und schwere berufliche Nachteile – der, gemeinsam mit den am Projekt Betei- nicht zuletzt im Zuge von Ermittlungsverfahren. ligten auf einer Veranstaltung im Landes- Neben beispielhaften Fällen wie dem eines museum Mainz der Öffentlichkeit die zentralen Koblenzer Polizisten, der nach seiner Verhaftung Forschungsergebnisse. nur noch die Selbsttötung als Ausweg sah, öff- net die Studie den Blick dafür, wer auf Ländere- Bei ihren Forschungen sahen sich Dr. Kirs- bene für die Durchsetzung des Paragrafen 175 ten Plötz und Dr. Günter Grau vor besondere StGB verantwortlich zeichnete. So profilierten Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
R eferat K ultur , G eschichte und E rinnerung 11 sich rheinland-pfälzische Gründungsväter wie ihr Kind entzogen, weil sie nunmehr eine lesbi- Justizminister Dr. Adolf Süsterhenn, Minister- sche Beziehung führte. Ein solches gerichtliches präsident Peter Altmeier und der aus der regio- Vorgehen war möglicherweise weiterverbreitet nalen CDU stammende Bundesfamilienminister und mit der vorliegenden Studie bekommt diese Dr. Franz-Josef Wuermeling als rigide Wächter schwerwiegende Repression gegenüber lesbi- einer christlich-konservativ verstandenen „Sitt- schen Müttern endlich historische Aufmerksam- lichkeit“, die sie als Leitlinie der Landesverfas- keit. Zurzeit fördern das rheinland-pfälzische sung und -politik einsetzten. Besonders Süster- Familienministerium und die BMH hierzu eine henn und Wuermeling agierten in diesem Sinne neue Studie: „Juristische Diskriminierung lesbi- weit über Rheinland-Pfalz hinaus; Grundgesetz scher Frauen. Der Entzug des Sorgerechts bzw. und Bundespolitik tragen ihre Spuren. Erhebli- der elterlichen Gewalt in Rheinland-Pfalz“. Diese chen Einfluss hatten zudem Institutionen wie beim IfZ in Auftrag gegebene Studie hat das der Volkswartbund – eine katholische Laienorga- Ziel zu erforschen, ob die bisher rekonstruier- nisation mit enger Anbindung an den Erzbischof ten Einzelfälle tatsächlich relativ selten waren von Köln – im Kampf gegen öffentliche Unsitt- oder sie lediglich die bekannt gewordene „Spitze lichkeit, der „Homosexualität als akute öffentli- eines Eisbergs“ darstellen und sehr viel weiter che Gefahr“ ansah. reichende Wirkungen solcher Diskriminierungen Eine weitere weitreichende Erkenntnis der stattgefunden haben. Studie ist es, dass lesbische Liebe nach 1945 nachweislich bewusst diskriminiert wurde. So Eine 47-seitige Kurzzusammenfassung der Stu- setzte sich das Land Rheinland-Pfalz für eine die ist unter http://mh-stiftung.de/wp-content/ Zensur ein, die positive Beschreibungen lesbi- uploads/Kurzfassung.pdf abrufbar, die Langfas- scher Beziehungen der Öffentlichkeit entzog. sung unter https://mffjiv.rlp.de/fileadmin/MFF- Einer Mutter wurde von einem Gericht in Mainz JIV/Familie/8_Gesamtdokument_final_2.pdf. Archiv der anderen Erinnerungen Mit dem 2013 gestarteten Projekt „Archiv der von Einzelnen, deren persönliche Sichtweise anderen Erinnerungen“ trägt die BMH dazu bei, auf vergangene Ereignisse und ihr Leben, die durch lebensgeschichtliche Videointerviews mit das Spektrum von LSBTTIQ-Geschichte erhellen LSBTTIQ individuelle Erfahrungen zu sammeln, und erweitern. zu archivieren und mittelfristig für Wissenschaft 2017 konnten acht Videointerviews durch- und Forschung zugänglich zu machen. Das Pro- geführt werden: fünf mit Frauen sowie drei mit jekt umfasst die Vorbereitung, Durchführung, Männern. Insgesamt umfasst das „Archiv der Sicherung, Nachbereitung und Erschließung anderen Erinnerungen“ nunmehr 42 lebens- der Interviews und möchte die Lebenswelten geschichtliche Interviews (davon 20 Männer-, von LSBTTIQ insbesondere von den 1950er bis 20 Frauen- und 2 Trans*-Interviews) mit einer 1980er Jahren bewahren und sichtbar machen. Gesamtlänge von nahezu 150 Stunden. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die persön- Auf Basis der bisherigen Erfahrungen und liche Lebensgeschichte – ob sie von Diskrimi- unter Einbeziehung der Rückmeldungen der nierungen und Ausgrenzungen geprägt ist oder Interviewten wurde 2017 eine Handreichung nicht – mit der Frage nach der sexuellen Orien- erarbeitet. Mit dieser ca. 60-seitigen Verfah- tierung und/oder geschlechtlichen Identität ver- renserläuterung wird ein einheitliches organisa- knüpft ist. Es geht weniger um eine historische torisches und methodisches Vorgehen sicher- Dokumentation der LSBTTIQ-Geschichte als sol- gestellt. Sie ist verbindliche Grundlage aller cher, als vielmehr um die konkreten Erfahrungen Arbeiten im Rahmen des Videoarchivs. und die vielen, durchaus heterogenen Stimmen Tätigkeitsbericht 2017
12 R eferat K ultur , G eschichte und E rinnerung Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer des Paragrafen 175 StGB Am 22. Juni 2017 beschloss der Bundestag schließlich die Tatsache, dass der Gesetzestext einstimmig, alle Personen die nach dem 8. Mai kurz vor der abschließenden Abstimmung noch 1945 nach § 175 StGB bzw. § 151 StGB-DDR einmal geändert wurde. Nunmehr sind Betrof- verurteilt wurden, zu rehabilitieren. Die gegen sie fene von der Rehabilitierung ausgeschlossen, ergangenen Urteile sind kraft Gesetzes aufgeho- wenn ihre Urteile auf sexuellen Handlungen ben und die Betroffenen können auf Antrag eine mit unter 16-Jährigen basieren. Die ursprüng- Entschädigung erlangen. lich vorgesehene Altersgrenze von 14 Jahren Für die BMH wie auch für die Antidiskrimi- (entsprechend des allgemeinen Schutzalters für nierungsstelle des Bundes, die sich gemeinsam sexuelle Handlungen) war auf Druck der CDU/ für eine Aufhebung der Urteile eingesetzt hat- CSU-Fraktion angehoben worden. ten, war dies ein Tag der Freude. Betroffen wa- Die BMH hat nach Inkrafttreten des Auf- ren davon auch einzelne Interviewte des „Archiv hebungsgesetzes alle Betroffenen aus dem der anderen Erinnerungen“. Interviewprojekt bei der Antragstellung für Fünf von ihnen hat die BMH zur ersten Le- Entschädigung unterstützen können. Weiteren sung des Gesetzentwurfes und zu einem Treffen Personen, die die BMH wegen Hilfestellung kon- mit dem damaligen Bundesjustizminister Heiko taktiert hatten, konnte durch Vermittlung an die Maas begleitet. Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren Enttäuschend für alle Beteiligten war e.V. (BISS) weitergeholfen werden. „NS-Terror gegen Homosexuelle – Forschungs kontroversen und erinnerungspolitische Positionen“ Die Verfolgung und Ermordung von Homo- Konzentrationslager besucht. „Unsere Blumen sexuellen zwischen 1933 und 1945 war über mit Schleife, mit denen wir an die Rosa-Winkel- Jahrzehnte aus dem kollektiven Gedenken an Häftlinge erinnern wollten, waren noch am Tag die Verbrechen des Nationalsozialismus ausge- unserer Abfahrt bereits in einem Müllcontainer klammert. Eine differenzierte Aufarbeitung hat gelandet“, schildert Lutz van Dijk den ernüch- erst sehr spät und auf Druck der homosexuellen ternden Abschluss dieser Reise. Inzwischen aber Emanzipationsbewegung begonnen. werde auch in Polen zum Schicksal Homosexu- Über deren Stand informierte am 25. April eller in der NS-Zeit geforscht, wie van Dijk an 2017 eine gemeinsame Veranstaltung der Stif- einigen erfreulichen Beispielen darlegte. „Um die tung Denkmal für die ermordeten Juden Euro- Nazi-Ideologie umfassend zu begreifen, müssen pas, der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste wir die ganze Wahrheit zulassen“, begründete e.V. und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld van Dijk die Wichtigkeit, gerade auch der Häft- im Berliner Dokumentationszentrum Topogra- linge in Auschwitz weiterhin zu gedenken. phie des Terrors. Prof. Dr. Michael Schwartz vom „So sehr alle Geschichtsschreibung sich Institut für Zeitgeschichte München – Berlin immer auch an aktuellen Interessen und politi- skizzierte in seinem Vortrag die Entwicklung der schen und anderen Widersprüchen reiben wird, Erinnerungskultur in Deutschland und den aktu- so sehr darf der Anspruch nach wahrhaftiger ellen Forschungsstand. und vollständiger Erforschung nicht aufgegeben Der Historiker und Schriftsteller Dr. Lutz werden – über alle möglicherweise trennen- van Dijk beleuchtete das Erinnern an die Häft- den politischen, weltanschaulichen und religi- linge mit dem Rosa Winkel in der Gedenk- ösen Grenzen und Meinungsverschiedenheiten stätte Auschwitz. 1989 hatte er gemeinsam hinweg.“ mit anderen schwulen Männern, darunter auch einem Überlebenden, das ehemalige Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
13 Referat Gesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung Dr. Carolin Küppers ist seit 2015 wissenschaftliche Referentin Gesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung. Sie forscht zu medialen Diskursen über queere Fluchtmigration und leitet Bildungsworkshops zu Gendersensibilisierung, Homo- und Transfeindlichkeit sowie zur Situation von LSBTTIQ in Deutschland. 12. Hirschfeld-Lecture Substanzgebrauch stellt in queeren Commu- Debatten darüber würden vielmehr polarisiert nities sowohl eine gängige Praxis als auch ein geführt. Auf der einen Seite werden die Folgen, Gesundheitsrisiko dar. Erfahrungen gesellschaft- die Substanzkonsum für die Betroffenen und licher Stigmatisierung und Diskriminierung spie- ihr Umfeld haben können, klein geredet oder gar len dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. nicht erst thematisiert; auf der anderen Seite Diesem Thema widmete sich am 25. Oktober werden die positiven Aspekte von und Motive 2017 in Berlin die 12. Hirschfeld-Lecture, zu der für den Rausch, wie beispielsweise Neugier und die BMH gemeinsam mit den Kooperationspart- Lust, wenig wahrgenommen. Zwischen diesen nern Deutsche AIDS-Hilfe und Schwulenbera- Positionen ist es für Menschen, die beim Sub- tung Berlin ins Wilde Oscar/Lebensort Vielfalt stanzkonsum die Kontrolle verlieren, wie auch eingeladen hatte. für deren Umfeld schwierig, einen solidarischen Unter dem Titel „Queers und Substanzge- Umgang zu finden. Dazu kommt, dass sie in der brauch – Dauerthema und Tabu“ stellte Dipl. Gesundheitsfürsorge zudem häufig auf trans*- Psych. Dr. Gisela Wolf Daten aus der aktuellen und homofeindliche Vorannahmen treffen. Wie Forschung über Sucht und Substanzkonsum also solidarisch über Substanzkonsum disku- bei queeren Personen vor und zeichnete Com- tieren? Wie die Folgen von Substanzgebrauch in munity-Diskussionen zum Thema exemplarisch der Community thematisieren, ohne das Verhal- nach. ten Einzelner zu problematisieren, aber doch den Aktuellen Studien zufolge konsumieren gesellschaftlichen Kontext im Blick behalten, in queere Menschen häufiger riskante psychotrope dem dies stattfindet? Substanzen. Eine offene, wertungsfreie und Auf diese Fragen versuchte Gisela Wolf diskriminierungssensible Diskussion darüber mit ihrem Vortrag Anregungen und Antworten finde leider nur selten statt, so Gisela Wolf. Die zu geben. Im Anschluss vertiefte Moderator Tätigkeitsbericht 2017
14 R eferat G esellschaft , T eilhabe und A ntidiskriminierung Richard Lemke (Universität Mainz) die Thematik Deutschland bzw. in Berlin im Besonderen. im Gespräch mit den Gästen Dr. Pum Kom- Gisela Wolfs Vortrag „Queers und Subs- mattam (Psychologischer Psychotherapeut/ tanzgebrauch – Dauerthema und Tabu“ wurde Lesbenberatung LesMigraS), Tanya Dolis (Psy- im Dezember 2017 als Band 12 der Hirschfeld- chologische Psychotherapeutin), Arnd Bächler Lecture-Reihe im Wallstein Verlag Göttingen (Schwulenberatung), Dr. Dirk Sander (DAH), Timo veröffentlicht. Koch (Teilnehmer 12 Schritte Programm) und Dr. Martin Viehweger (Veranstalter „Let’s talk about Seit Mai 2017 liegt mit „Koalitionen des Über sex and drugs“). Die Diskussionsrunde erörterte lebens. Queere Bündnispolitiken im 21. Jahr- die Prävalenzzahlen von riskantem Substanzge- hundert“ auch die 11. Hirschfeld Lecture in brauch in der LSBTTIQ-Community und beleuch- Buchform vor, die am 20. November 2016 von tete die Versorgungssituation z.B. im Bereich Prof. Dr. Sabine Hark im Rahmen der 3. Hirsch- Prävention und psychologische Beratung in feld-Tage in Leipzig gehalten wurde. Fachtag „Familie von morgen. Neue Werte für die Familie(npolitik)“ Welche Familie ist gemeint, wenn es in Artikel 6 Aufgeteilt war die Tagung in drei große des Grundgesetzes heißt: „Ehe und Familie ste- thematische Bereiche: Im ersten Block mit der hen unter dem besonderen Schutze der staatli- Überschrift „Die gelebte Vielfalt von Familie – chen Ordnung“? Der Fachtag „Familie von mor- gestern und heute“ wurde nachgezeichnet, wie gen. Neue Werte für die Familie(npolitik)“ vom 5. sich das Bild der Familie im Laufe der Zeit von bis 7. April 2017 in Berlin sollte Orientierung bie- der christlich-bürgerlichen Familie im Kaiserreich ten, wie ein gutes Zusammenleben der verschie- bis zu vielfältigen aktuellen Lebensgemeinschaf- denen Familienformen weiterhin gestärkt wer- ten ausdifferenziert hat. den kann, und die Chancen einer Familienvielfalt Die thematischen Einheiten am zweiten Tag aufzeigen. Zu der Veranstaltung im Tagungswerk beschäftigten sich vor allem mit den Bedingun- Jerusalemkirche in Berlin-Kreuzberg eingeladen gen unter denen Kinder in vielfältigen Familien hatten die BMH und die Evangelische Akademie mit erwerbstätigen Eltern aufwachsen und wel- zu Berlin und der Evangelische Kirchenkreis Ber- chen Einfluss Bildung auf vielfältige Formen von lin Stadtmitte als Kooperationspartner. Familien hat. Um das Potenzial und die Herausforderun- In drei parallelen Sektionen standen außer- gen der gelebten Vielfalt von Familie für Politik dem die Themen Partnerschaft, intergenera- und Ethik näher zu fassen, wurden deskriptive tionale Beziehungen sowie Geschlechterrollen Zugänge (historisch, soziologisch) mit normati- und familiäre Beziehungen im Mittelpunkt. Hier ven Zugängen (ethisch, rechtlich, politisch) mit wurden sehr unterschiedliche Aspekte betrach- ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen und tet: von verschiedenen Fürsorgebeziehungen Leitbildern ins Gespräch gebracht. Darunter wa- in Familien über Regenbogenfamilien bis hin zu ren Menschen mit Verantwortung in der Famili- polyamoren Familienkonstellationen. enpolitik, Multiplikator_innen in der Sozialarbeit Der dritte, auf ethisch-theologische Aspekte und in der kirchlichen Gemeindearbeit, aus den ausgerichtete Block des Fachtags, griff die Frage Bereichen Gender Studies, Diversity und Regen- auf, welche Kriterien es für das Zusammenleben bogenfamilien. Darüber hinaus nahmen kirchli- verschiedener Familienformen gibt. Die abschlie- che Fachbeauftragte für die Arbeit mit Familien, ßende Podiumsdiskussion schlug schließlich Kindern und Jugendlichen, Wissenschaftler_in- den Bogen von alten Bildern zu neuen Rollen nen und Studierende aus den Bereichen Päda- in Familie und Gesellschaft. Zentral war dabei gogik, Soziologie, Geschichtswissenschaften, unter anderem die Forderung, künftig in der Kulturwissenschaften, Theologie und Religi- institutionellen Familienpolitik verstärkt auch onspädagogik und Medienvertreter_innen am plurale Familienformen zu berücksichtigen und Fachtag teil. damit auch vielfältigen Geschlechtsidentitäten Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
R eferat G esellschaft , T eilhabe und A ntidiskriminierung 15 und sexuellen Orientierungen einen – rechtlich Aufgrund der sehr guten Zusammenarbeit und abgesicherten –Rahmen zu geben. der vielen positiven Rückmeldungen zum Fach- tag plant die BMH weitere Kooperationsprojekte Die Vorträge des Fachtags „Familie von morgen. mit der Evangelischen Akademie zu Berlin. Neue Werte für die Familie(npolitik)“ werden Für die finanzielle Förderung danken wir voraussichtlich Ende 2018 in einem gleichnami- dem Bundesministerium für Familie, Senioren, gen Tagungsband publiziert. Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Diakonie Deutschland (Bundesverband). Refugees & Queers – Politische Bildungsarbeit an der Schnittstelle LSBTTIQ und Flucht / Migration / Asyl Nach dem erfolgreichen Fachtag „Refugees and sich auszutauschen und sich zu vernetzen. Die Queers“ im November 2016 wird das durch die BMH kooperierte für diese Veranstaltung mit Bundeszentrale für politische Bildung geförderte dem rubicon e.V. und der Fachstelle „Queere Projekt „Refugees & Queers. Politische Bildung Jugend NRW – Projekt Geflüchtete Queere an der Schnittstelle von LSBTTIQ und Flucht / Jugendliche“. Migration / Asyl“ dank der erneuten Förderung Das Projektseminar der Hochschule Esslin- seit April 2017 in der BMH weitergeführt. Das gen stellte einen Erklärfilm zur Situation queerer Projekt hat zum Ziel, Akteur_innen, die in diesem Geflüchteter vor. Katja Schröder (rubicon e.V.) Themenbereich arbeiten, bundesweit zu ver- und Patrick Dörr (LSVD e.V.) tauschten sich mit netzen, fachlichen Austausch zu fördern und zu den Teilnehmenden über ihre Erfahrungen zu Synergien beizutragen. Schulungen und Sensibilisierungen zum Thema LSBTTIQ-Geflüchteter in Unterkünften, Ämtern, Sprachmittlung und Willkommensinitiativen Vernetzungstreffen in Berlin und Köln aus. Ibrahim Mokdad (rubicon e.V./sofra colo- gne), Ichraf Ouhtit (Rosa Strippe e.V.), Alia Khan- Das erste “Refugees & Queers“-Vernetzungs- num (LSVD e.V.) und Ajay Sathyan diskutierten treffen, zu dem die BMH am 9. Juni 2017 ins ihre Situation und Erfahrungen als Queer Refu- „Aquarium“ in Berlin-Kreuzberg Akteur_innen gee Aktivist_innen. Zum Abschluss gaben Pouya und Aktivist_innen eingeladen hatte, stieß auf Arastoo (rubicon e.V./baraka), Fadi Saleh (Uni- breites Interesse: Über 40 Teilnehmende, darun- versität Göttingen) und Raphael Bak (SCHLAU ter Vertreter_innen von migrantischen Selbst- NRW) Einblicke in ihre Arbeit und diskutierten organisationen, von LSBTTIQ-Bildungs- und Konzepte zu geschlechtlicher Identität und se- Beratungseinrichtungen wie aus dem Gesund- xueller Orientierung jenseits westlicher Deu- heitsbereich, hatten die Möglichkeit genutzt, um tungsmacht. Nach dem Vernetzungstreffen gab neben der Vernetzung auch vertiefend Sachfra- es einen gemeinsamen Ausklang mit Essen und gen zu diskutieren. Erörtert wurden beispiels- Musik in den Räumen des rubicon e.V. mit ba- weise bildungs- und sozialpolitische Forderun- raka, der Kölner Selbstorganisationsgruppe für gen, die Notwendigkeit der Anerkennung von LSBTTIQ mit Migrations- und Fluchthintergrund. Bildungs- und beruflichen Abschlüssen von Geflüchteten sowie die Unterstützung der Selb- storganisierung queerer Geflüchteter und die Fortbildungen Stärkung bestehender Netzwerke. Mit zwei Weiterbildungsseminaren wurden 2017 Das 2. Vernetzungstreffen des Jahres fand am gezielt Angebote zur spezifischen Qualifizierung 24. November 2017 in Köln statt. Hier waren von ehren- und hauptamtlichen Akteur_innen, rund 50 Personen der Einladung in den Solution die an der Schnittstelle LSBTTIQ und Flucht ar- Space gefolgt, um gemeinsam zu diskutieren, beiten, angeboten. Tätigkeitsbericht 2017
16 R eferat G esellschaft , T eilhabe und A ntidiskriminierung finden oder nur sehr einseitig dargestellt werden Fortbildung 1: „Wie konzipiere ich und ihnen aber die Fähigkeiten fehlen, hierzu eine Behördenfortbildung?“ eine gute und zielgerichtete Pressearbeit zu machen. Den Teilnehmenden wurden daher bei Das erste Fortbildungsseminar richtete sich an dieser Fortbildung praktisches Handwerkszeug Trainer_innen und Multiplikator_innen, die mit und Strategien nahegebracht, welche es ihnen Behördenmitarbeiter_innen arbeiten oder dies ermöglichen sollen, sich in der deutschen Me- anstreben. Das Seminar fand vom 13. bis 15. dien- und Presselandschaft mit ihren Themen Oktober 2017 in Hütten (Thüringen) in Koope- besser zu platzieren. Dadurch sollen langfristig ration mit Kadir Özdemir, Landeskoordinator neue und diversere Sichtbarkeiten von queerer der Niedersächsischen Vernetzungsstelle für die Fluchtmigration hergestellt und die Möglichkeit Belange von LSBTI-Flüchtlingen (NVBF), statt. zur Selbstrepräsentation gestärkt werden. Ziel des Seminars war, Multiplikator_innen dazu zu befähigen, Behörden-Mitarbeiter_innen für die Belange von (queeren) Geflüchteten zu Kooperation mit der Hochschule sensibilisieren und eigenständig dazu Fortbil- Esslingen dung durchzuführen. Längerfristig soll dadurch erreicht werden, dass sexuelle Orientierung Um insbesondere Fachkräfte, Ehrenamtliche und geschlechtliche Identität als Fluchtgründe und Mitarbeiter_innen der Security in Geflüch- stärker bekannt gemacht und in behördlichen tetenunterkünften für die Situation von queeren Abläufen besser verankert werden. Geflüchteten zu sensibilisieren, kooperiert „Re- fugees & Queers“ mit Prof. Dr. Gabriele Fischer und einem Projektseminar der Hochschule Ess- Fortbildung 2: “Leaving the lingen. Im Rahmen dieser Kooperation wurde ein queer bubble” – PR und Medien Erklärfilm produziert sowie eine Bildungsmappe training entwickelt, die in der Bildungsarbeit in Geflüch- tetenunterkünften eingesetzt werden können. Die 2. Fortbildung fand vom 27.-29. Okto- ber in Bad Sachsa (Niedersachsen) statt. Damit Der Erklärfilm wie auch die Bildungsmappe wurde das Anliegen vieler Akteur_innen auf- stehen kostenfrei zum Download zur Verfügung: gegriffen, die bemängelten, dass die Themen https://queerrefugees.wordpress.com/ LSBTTIQ und Flucht/Migration/Asyl in der brei- ten Öffentlichkeit bislang zu wenig Beachtung Hirschfeld-Akademie Die in Reinhausen bei Göttingen ansässige Stif- Räume“ zu schaffen. Räume, die der Konstitu- tung Akademie Waldschlösschen und die Bun- ierung und internen Selbstdefinition der Gruppe desstiftung Magnus Hirschfeld (BMH) kooperie- wie auch als Symbol ihrer Außendarstellung ren bei der Entwicklung und Durchführung von dienen. In den verschiedenen Phasen der Bewe- Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie gungen haben diese Räume eine entscheidende der LSBTTIQ-Bildungsvernetzung. Rolle gespielt: sei es das Institut für Sexualwis- senschaft von Magnus Hirschfeld, die Bar- und Im Rahmen dieser Zusammenarbeit fand vom Clubkultur als Ort der Selbsterprobung und 1. bis 3. Dezember 2017 die Tagung „Orte der -behauptung für Trans*-Personen oder örtliche Begegnung – Orte des Widerstands“ zur Ge- Zentren der Selbstorganisation, des politischen schichte homosexueller, trans*geschlechtlicher Widerstands und der Selbsthilfe. und queerer Räume statt. Unter anderem referierte Prof_in. Dr_in. Emanzipationsbestrebungen von Lesben, Yvonne P. Doderer zur historischen und aktuel- Schwulen und Trans*menschen können auch len Bedeutung der Raumfrage für homosexuelle, als Prozesse beschrieben werden, sich „eigene transgeschlechtliche und queere Bewegungen. Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
R eferat G esellschaft , T eilhabe und A ntidiskriminierung 17 Karl-Heinz Steinle stellte einige Treffpunkte und andere Freiräume für LSBTTIQ in der frühen Bundesrepublik vor. Dr. Michael Bochow disku- tierte die Frage, ob Klappen eher kommerzfreie Szenenparadiese oder Zuflucht des verklemm- ten gewöhnlichen Homosexuellen darstellen und Marion Thuswald präsentierte verschiedene Konzeptionen queerer feministischer Schutz- räume und fragte danach, ob solche Räume eher als safere oder als brave spaces zu verstehen sind. Die Vorträge der Dezembertagung 2016 mit dem Titel „Communities, Camp und Camouf- lage. Bewegung in Kunst und Kultur“ sind im Oktober 2017 als Band 6 der Reihe „Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945“ im Verlag Männerschwarm erschienen. Heraus- gegeben wurde der Tagungsband von Carolin Küppers (BMH) und Rainer Marbach (Akademie Waldschlösschen). Tätigkeitsbericht 2017
18 Fußball für Vielfalt – Fußball gegen Homophobie und gegen Sexismus D as 2013 gestartete Projekt „Fußball für Amateur- und Profi-Vereinen sowie in den Ver- Vielfalt - Fußball gegen Homophobie und bänden an. Die Bildungsmaßnahmen sollen die gegen Sexismus“ ist eines der „Leucht- Akteur_innen für die Thematik sensibilisieren, turm-Projekte“ der Bundesstiftung Magnus ein kritisches Problembewusstsein stärken Hirschfeld (BMH). Zentrale Ziele sind, zum Abbau und zielführende Handlungsstrategien für den von Homo- und Transfeindlichkeit und Sexismus Umgang mit Diskriminierungen vermitteln. im Sport beizutragen und zugleich die Akzeptanz Dies kann angesichts der hohen Vor- gegenüber sexueller und geschlechtlicher Viel- bildfunktion des Fußballsports zugleich der falt zu fördern. Ausgangspunkt für einen gesellschaftlichen In Kooperation mit der sportpsychologi- Wandel sein: Wer akzeptiert, dass sportliche schen Beratungsstelle „Challenges“ unter der Höchstleistungen nichts mit sexueller oder wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Mar- geschlechtlicher Identität zu tun haben, der tin Schweer an der Universität Vechta setzt die wird auch außerhalb des Stadions Respekt und BMH in diesem Themenfeld darauf, über die Toleranz zeigen. Botschafter der Bildungs- und Forcierung von Bildung und empirischer For- Forschungsinitiative ist der ehemalige Fußball- schung einen fundierten Einblick vor allem in Nationalspieler Thomas Hitzlsperger. den organisierten Sport zu gewinnen und diese Das Projekt „Fußball für Vielfalt“ kooperiert Erkenntnisse für anwendungsbezogene Maß- mit dem Deutschen Fußball-Bund und der nahmen unmittelbar nutzen zu können. DFL-Stiftung/Bundesliga sowie den Organisati- Bildungsmodule (Workshops) und Beratung onen „Queer Football Fanclubs“ (QFF), „Fußball- sprechen als Zielgruppen etwa Sportler_innen, fans gegen Homophobie“ (FfgH) und „Fußball- Trainer_innen, Schiedsrichter_innen, Fanbe- Fans gegen rechts“ (FFGR). auftragte und andere Funktionär_innen in den Prof. Dr. Martin Schweer ist Leiter des Arbeitsbereichs Pädagogische Psychologie an der Universität Vechta. Er führt dort die sportpsychologische Arbeitsstelle „Challenges“ und ist wissenschaftlicher Leiter unserer gemeinsamen Bildungs- und Forschungsinitiative „Fußball für Vielfalt“. Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
��������������������� � ��������������������������������������� � ����� 19 und Vereinen differiert. So scheint Homophobie Aktivitäten im Bereich im Männerfußball stärker wahrgenommen zu der Bildung werden, während gleichzeitig der Frauenfußball (immer noch) in hohem Maße als „Lesbensport“ betrachtet wird. Im Bereich der Bildung wurde die Reihe der Workshops, die in Kooperation mit der Bundes- Hinsichtlich der Workshop-Evaluation zeich- liga-Stiftung veranstaltet werden, in vier Verei- net sich ein recht klares Bild. Die Beteiligten nen fortgesetzt: sind fast einhellig der Ansicht, dass das Thema in den Verbänden und Vereinen in der Zukunft • FC Nürnberg (27. Januar 2017) intensiver angesprochen werden muss. Zugleich • VfL Wolfsburg (22. Februar 2017) wird offensichtlich, dass die Vereine im Einzel- • DFL Frankfurt (20. Juni 2017) nen aktuell noch sehr unterschiedlich für Fragen • DFL Köln (6. Juli 2017) des Sexismus und der Homophobie sensibilisiert sind. Die mittlerweile stabilen Kooperationen, In den Workshops waren relevante Bereiche die seit Projektbeginn mit dem organisierten der Vereine vertreten, dazu gehören insbeson- Fußball aufgebaut wurden, stellen vor diesen dere der Bereich Corporate Social Responsibility, Hintergrund jedoch ein solides Fundament für die Nachwuchsförderung und die Fanbetreu- weitere kontinuierlich nachhaltige, zielgruppen- ung, aber auch der Verwaltungsbereich mit dem spezifische Maßnahmen sowohl im Amateur- Personalwesen. wie Profibereich dar. Die Erfahrungen aus den Workshops lassen insgesamt erkennen, dass die sexuelle Orientie- „Das Projekt kann aber nur gelingen, wenn die rung als Facette der Diskriminierung (wie auch Akteur_innen des Fußballsports tatsächlich Gender) gegenüber der kulturellen Herkunft erreicht werden. Dafür ist die Stiftung auf die vergleichsweise deutlich geringer thematisiert Zusammenarbeit mit den großen Fußballver- wird, teils auch für den eigenen Verein als nicht bänden angewiesen“, betonte Bundesminister existent betrachtet wird. So werden in der Regel und BMH-Kuratoriumsvorsitzender Heiko Maas keine konkreten Erfahrungen mit homosexuellen bei einem Gespräch mit DFB-Präsident Reinhard Spieler_innen oder etwa Ausgrenzungserlebnisse Grindel am 30. August 2017. Die Akzeptanz se- angesprochen. Ein wesentlicher Aspekt der ge- xueller Vielfalt müsse daher in der Vereins- und meinsamen Reflexion ist insofern die Frage nach Verbandsarbeit des Fußballs fest verankert wer- einer offenen Vereinskultur, die es grundsätzlich den, so Heiko Maas bei diesem Informationsaus- ermöglicht, diesbezügliche Anliegen einbringen tausch über das Projekt „Fußball für Vielfalt“: zu können. In diesem Zusammenhang ist jedoch „Klar ist: Es geht uns alle an, dafür zu sorgen, augenfällig, dass vielmals keine explizit ausge- dass Homophobie abgebaut wird, im Sport wie wiesenen Anlaufstellen zur Verfügung stehen. im sonstigen Alltag.“ Neben BMH-Vorstand Als eine zentrale Herausforderung wird ferner Jörg Litwinschuh nahm auch Bundesministe- angesprochen, wie man in unterschiedlichen rin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Situationen des (Arbeits-)Alltags angemessen(er) als Förderkreisvorsitzende der Stiftung an dem mit sexistischen bzw. homophoben Äußerun- Gespräch in den Räumen der Bundesstiftung gen umgehen kann und sollte. Als besonders Magnus Hirschfeld teil. In seiner Kurzpräsen- sensible Handlungsfelder stellen sich dabei der tation und einem Zwischenfazit des Projektes Nachwuchsbereich mitsamt der Elternarbeit skizzierte Prof. Dr. Martin Schweer die aktuellen sowie der Fanbereich (insbesondere auf den Tri- Herausforderungen und daraus resultierenden bünen) heraus. Für beide Bereiche werden mehr- künftigen Arbeitsschwerpunkte. So sollen Nach- fach die fehlenden Vorbilder genannt, hilfreich wuchssportler_innen als besonders relevante wären also etwa aktive Spieler_innen, die sich Zielgruppe in den Fokus rücken und verstärkt für (vereins-)öffentlich gegen Sexismus und Homo- den Zusammenhang von Sexismus und Homo- phobie engagieren. Deutlich wurde allerdings phobie im Männer- und Frauenfußball sensibili- auch, dass die Notwendigkeit der Veränderung siert werden. je nach Problembewusstsein bei Verbänden Tätigkeitsbericht 2017
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