EC HT JETZT?! Wie fantastische Ideen die Wirklichkeit von morgen vorbereiten - NR. 2/2019 - ETH Zürich

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EC HT JETZT?! Wie fantastische Ideen die Wirklichkeit von morgen vorbereiten - NR. 2/2019 - ETH Zürich
NR. 2/2019

                  ECHT
                 JETZT?!
                Wie fantastische Ideen die
            Wirklichkeit von morgen vorbereiten
                              SEITE 12

Das MINT-Lernzentrum   Städtebau in Äthiopien     Der ETH-Alumnus, der
feiert Geburtstag      kann herausfordernd sein   als Selbstversorger lebt
SEITE 32               SEITE 36                   SEITE 46
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                                                                                      Find out more
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EDITORIAL

                                                                                                                             GLOBE
                                                                                                                         NR. 2/2019

               In die ferne Zukunft denken
                                                                                 Science-Fiction an, durch die sich Auto-
                                                                                 rinnen und Autoren des Genres gerne
                                                                                 inspirieren lassen. Umgekehrt können auch
                                                                                 Forschende aus Science-Fiction-Werken
                                                                                 Anregungen beziehen. Was sie aber
                                                                                 produzieren und woran sie sich messen
                                                                                 lassen müssen, sind Fakten, die klar
                                                                                 definierte Prozesse durchlaufen und mit
                                                                                 wissenschaftlichen Methoden entstehen.

                                                                                 Diese Ausgabe des ETH-Magazins Globe
                                                                                 geht den Wechselwirkungen zwischen
               Joël Mesot, Präsident der ETH Zürich                              Science-Fiction und Science Facts nach.
                                                                                 Was Sie in Beiträgen über Hirnschritt­
                                                                                 macher, Leben auf fernen Planeten oder
               Johannes Kepler gehört zu den Wegberei-                           Zeitreisen lesen, tönt heute noch wie
               tern der modernen Naturwissenschaften.                            Science-Fiction, ist morgen aber vielleicht
               Berühmt ist er für seine Keplerschen                              schon Realität.
               Gesetze, in denen er unter anderem ent-
               deckte, dass sich die Planeten auf ellip-                         PS: Besuchen Sie uns am Wochenende
               tischen Bahnen um die Sonne bewegen.                              vom 30. August bis 1. September an
               Weniger bekannt ist, dass Kepler 1608                             der nächsten Scientifica von ETH und
               eine fantastische Geschichte ersann, in der                       Universität Zürich zum Thema «Science
               er träumt, dass Menschen mit Hilfe von                            Fiction – Science Facts».
               Dämonen auf den Mond transportiert
               werden. Die Geschichte gilt als einer der                         Ich wünsche Ihnen eine
               ersten Science-Fiction-Romane und hat                             anregende Lektüre!
               2019 einen besonderen Reiz, da wir das
               50-Jahr-Jubiläum der ersten Mondlandung
               begehen. In Kepler treffen sich gleichzeitig
               wissenschaftliche Strenge und Imagination.

               In die ferne Zukunft zu denken, verbindet
               Forschende mit Science-Fiction-Autoren.
               So muten gewisse Forschungsfragen wie

Globe, das Magazin der ETH Zürich und der ETH Alumni

Titel Illustration: Cornelia Gann; Collage: NASA / JPL-Caltech; Unsplash
Bilder Editorial: Markus Bertschi
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INHALT

GLOBE
NR. 2/2019

     NEW AND NOTED                                                                                                   COMMUNITY
5    News aus der ETH Zürich                                                                                    31 Verbunden mit der ETH

6    Treibstoff aus Sonne                                                                                       32	Den Aha-Effekt kultivieren
     und Luft                                                                                                       Das MINT-Lernzentrum arbeitet
                                                                                                                    seit zehn Jahren daran, die
8	Sauberer Strom direkt                                                                                          Lernwirksamkeit zu steigern.
     vom ­Nachbarn                                                Den Strommarkt der Zukunft
                                                                       erproben – Seite 8                       35 Kolumne

     FOKUS                                                                                                           REPORTAGE
14	«Kann man den Computer                                                                                      36 Architektur gegen die Landflucht
    noch abstellen?»                                                                                               Ein Augenschein in Äthiopien
    Ein KI-Forscher und                                                                                            zeigt, wie herausfordernd Städte-
    ein Computerhistoriker                                                                                         bau sein kann.
    geben Antwort.

18	Der Traum vom Leben                                                                                              CONNECTED
    in anderen Welten                                                                                           42 Begegnungen an der ETH
    Warum nicht Mond oder                                         Eines der ersten Gebäude der
    Mars besiedeln?                                             geplanten Modellstadt – Seite 36                44	Agenda

22 In den Tiefen des Gehirns
   Können wir bald Hirn-                                                                                             PROFIL
   erkran­­­­­­kungen ohne                                                                                      46	Der Selbstversorger vom
   Medikamente zu schlucken                                                                                         ­Balmeggberg
   im Schlaf heilen?                                                                                                 Anton Küchler lebt nach den
                                                                                                                     Prinzipien der Permakultur.
25 Und immer wieder spukt die Zeit
   Die Zeit ist mess-, doch
   fast nicht fassbar. Gibt es                                                                                       5 FRAGEN
   sie überhaupt?                                                                                               50 Andrea Burden
                                                                                                                   «Oberstes Ziel ist es, das Leben
28 Abtauchen, um abzuheben                                                                                         der Patienten zu verbessern.»
   Eine Drohne, die auch unter
   Wasser fliegen kann?

                               IMPRESSUM — Herausgeber: ETH Alumni / ETH Zürich, ISSN 2235-7289 Redaktion: Martina Märki (Leitung), Roland Baumann,
                               Corinne Johannssen, Nicol Klenk, Karin Köchle, Florian Meyer, Corina Oertli, Peter Rüegg, Norbert Staub Mitarbeit: Andres Eberhard,
                               Claudia Hoffmann, Samuel Schlaefli, Andrea Schmits Inserateverwaltung: ETH Alumni Communications, globe@alumni.ethz.ch,
                               +41 44 632 51 24 Inseratemanagement: Fachmedien, Zürichsee Werbe AG, Stäfa, info@fachmedien.ch, +41 44 928 56 53
                               Gestaltung: Crafft Kommunikation AG, Zürich Druck, Korrektorat: Neidhart + Schön AG, Zürich Übersetzung: Burton, Van Iersel
                               & Whitney GmbH, München; Clare Bourne, Anna Focà, ETH Zürich Auflage: 38 900 deutsch, 31 600 englisch, viermal jährlich
                               Abonnement: CHF 20.– im Jahr (vier Ausgaben); in der Vollmitgliedschaft bei ETH Alumni enthalten Bestellungen und
                               Adressänderungen: globe@hk.ethz.ch bzw. für Alumni www.alumni.ethz.ch/myalumni Kontakt: www.ethz.ch/globe, globe@hk.ethz.ch,
                               +41 44 632 42 52 Kostenlose Tablet-Version.

Bilder: Quartierstrom; Samuel Schlaefli; Giulia Marthaler
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NEW AND NOTED

Netzwerkforschung

VIREN EFFIZIENT
EINDÄMMEN
Viren, Kriminalität und andere Prob-
leme können sich über Netzwerke
ausbreiten. Forschende der ETH-­
Professur für Computational Social
Science und des Informatikdepart-
ments haben einen Ansatz entwickelt,
wie man Netze kostengünstig schüt-
zen kann. So sollen im Beispiel der
Virenverbreitung nicht die weltgröss-
ten Flughafen-Hubs mit den meisten
Flugverbindungen geschlossen wer-
den – was naheliegend schiene –, son-
dern die mittelgrossen Flughäfen.
Dies wäre genauso wirksam, aber vier-      Flughäfen bilden ein weltweites Netzwerk. ETH-Forscher haben gezeigt,
mal günstiger.                             wie man Viren kostengünstig daran hindern kann, sich darin zu verbreiten.

                                                                                                                                  5
Materialwissenschaften                    Das Spezielle an der neuen Oberfläche:       Lebensmittelwissenschaften
                                          Normalerweise sind es dunkle Flächen,
FORSCHEN FÜR                              die Licht absorbieren und in Wärme           WASSER, DAS
MEHR DURCHSICHT                           umwandeln. Die Forschenden haben
                                          nun aber eine durchsichtige Fläche ge-       NICHT GEFRIERT
                                          schaffen, die dies ebenfalls kann. Der
Kommt man aus der Kälte an einen          Vorteil gegenüber handelsüblichen An-        Forschenden der ETH und der Uni-
Ort, an dem es wärmer und feuchter        tifog-Sprays für Brillen ist ausserdem,      versität Zürich ist es gelungen, zu ver-
ist, kann die Brille, das Foto-Objektiv   dass die Beschichtung die Scheibe vier-      hindern, dass Wasser selbst bei minus
oder die Windschutzscheibe beschla-       mal schneller vom Beschlag befreit als       263 Grad Celsius gefriert. Dies ge-
gen. Materialwissenschaftler der ETH      der Spray.                                   lingt, wenn das Wasser in wenigen,
Zürich haben nun eine neue, durch-             Die Wissenschaftler aus der Grup-       Nanometer dünnen Kanälen aus Lipi-
sichtige Beschichtung entwickelt, die     pe von ETH-Professor Dimos Poulika-          den, sogenannten Lipid-Mesophasen,
das Beschlagen stark reduziert. Es        kos möchten nun die neue Methode             gefangen ist. Dort gibt es schlicht kei-
handelt sich um eine nur wenige Nano-     zusammen mit einem Industriepart-            nen Platz für die Eiskristallbildung.
meter dünne, dauerhafte Beschich-         ner zur Marktreife bringen. Die Band-
tung aus Goldnanopartikeln, die in        breite an möglichen Anwendungen ist
Titanoxid eingebettet sind.               denn auch gross: Neben Autoscheiben
     Die Beschichtung absorbiert Son-     und Rückspiegeln eignet sich die Be-
nenlicht und wandelt es in Wärme um.      schichtung dank der Unabhängigkeit
Dadurch heizt sich die Oberfläche um      von Strom auch für Korrektur-, Ski-
bis zu vier Grad Celsius auf. Dieser      und Taucherbrillen.
Temperaturunterschied vermindert
das Beschlagen.                                                                        Modell der neuartigen Lipid-Mesophase

Bilder: Colourbox; Peter Rüegg                       ETH GLOBE 2/2019
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NEW AND NOTED
6

    ETH GLOBE 2/2019
EC HT JETZT?! Wie fantastische Ideen die Wirklichkeit von morgen vorbereiten - NR. 2/2019 - ETH Zürich
NEW AND NOTED

                                                  Erneuerbare Energieträger

                                                  TREIBSTOFF AUS
                                                  SONNE UND LUFT
                                                  Zum ersten Mal weltweit kann flüssi-
                                                  ger Treibstoff in einem thermochemi-
                                                  schen Prozess ausschliesslich aus
                                                  konzentriertem Sonnenlicht und Um-
                                                  gebungsluft produziert werden. Aldo
                                                  Steinfeld, Professor für Erneuerbare
                                                  Energieträger, und seine Forschungs-
                                                  gruppe haben die Technologien ent-
                                                  wickelt und demonstrieren die ge-
                                                  samte Prozesskette jetzt unter realen
                                                  Bedingungen – eine komplette Mini-
                                                  Raffinerie für solare Treibstoffe auf
                                                  dem Dach des ETH-Maschinenlabo-
                                                  ratoriums.
                                                      Aus der Umgebungsluft werden
                                                  CO2 und Wasser gefiltert, woraus zwei
                                                  Hochtemperatur-Solarreaktoren ein
                                                  Synthesegas erzeugen. Die für die Re-

                                                                                          7
                                                  aktion benötigte Energie liefert ein
                                                  Parabolspiegel, der das Sonnenlicht
                                                  3000-mal konzentriert. Das Synthe-
                                                  segas wird anschliessend zu flüssigen
                                                  Treibstoffen wie Methanol oder Kero-
                                                  sin verarbeitet, die bei der Verbren-
                                                  nung nur so viel CO2 freigeben, wie
                                                  der Luft entnommen wurde.
                                                      Die am 19. Juni 2019 eingeweihte
                                                  Anlage markiert einen Meilenstein in
                                                  der Herstellung CO2-neutraler syn-
                                                  thetischer Treibstoffe, die bedeutend
                                                  sind für eine nachhaltige Luft- und
                                                  Schifffahrt. Die beiden ETH-Spin-offs
                                                  Climeworks und Synhelion entwickeln
                                                  die Technologien weiter und machen
                                                  sie marktfähig.

                                                  → www.prec.ethz.ch

Bild: Alessandro Della Bella   ETH GLOBE 2/2019
EC HT JETZT?! Wie fantastische Ideen die Wirklichkeit von morgen vorbereiten - NR. 2/2019 - ETH Zürich
NEW AND NOTED

    Projekt Quartierstrom

    Sauberer Strom direkt
    vom Nachbarn
    Lässt sich der Absatz von lokal produziertem Solarstrom
    steigern, wenn Haushalte ihn untereinander handeln dürfen?
    Das Forschungsprojekt «Quartierstrom» erprobt in
    Walenstadt ein Jahr lang den Strommarkt der Zukunft.
                                                                                                                          er
                                                                                                                    uarti
                                                                                                          d e l im Q em
                                                                                                      han zt zu ein ad.
                                                                                                 trom         t          gr
                                                                                           Der S bereits je orgungs
                                                                                               h r t        e r s
                                                                                            fü        igenv
                                                                                                ren E
                                                                                           höhe

    Im Dezember 2018 fiel der Startschuss
    zu einem schweizweit einzigartigen
    Experiment: Im Quartier Schwemmi-
    weg in Walenstadt haben sich 37 Haus-
    halte zu einem lokalen Strommarkt
    zusammengeschlossen. Besitzerinnen
8

    und Besitzer von Photovoltaikanlagen
    können ihren selbst erzeugten Strom
    an die eigenen Nachbarn verkaufen,
    ohne Umweg über den Energieversor-
    ger. Haushalte ohne Solaranlage kön-
    nen sauberen Strom aus nächster Nähe
    beziehen. Den Preis bestimmen die
    Teilnehmenden selbst, über Angebot
    und Nachfrage.
         Wenn Strom innerhalb des Quar-
    tiers erzeugt und verteilt wird, muss
    weniger von aussen bezogen werden.        «Quartierstrom» im Rahmen eines        ger verkaufen, der Strom fliesst ins öf-
    Und der Stromhandel zwischen Haus-        Pilot-, Demonstrations- und Leucht-    fentliche Netz. Das Paradoxe: Physi-
    halten bietet weitere Vorteile: «Zum      turmprogramms.                         kalisch gesehen landet dieser Strom
    Beispiel können Produzenten Preise                                               bereits heute beim Nachbarn, da die
    erzielen, die klar über dem Netzein-      Anreiz für private Erzeuger            Elektronen sich immer den kürzesten
    speisetarif liegen, und so ihre Anlagen   Im Projekt wird erprobt, wie der       Weg suchen. «Der Markt bildet das
    schneller amortisieren», sagt Sandro      Strommarkt der Zukunft aussehen        aber nicht ab», sagt Schopfer. Eine Be-
    Schopfer vom Bits to Energy Lab der       könnte. Denn die Energiewende bringt   teiligung privater Produzenten am
    ETH. Er leitet das Projekt «Quartier-     eine zunehmende Dezentralisierung      Handel könnte finanzielle Anreize set-
    strom», an dem neben der Universität      der Stromproduktion mit sich – weg     zen und den Absatz von lokal erzeug-
    St. Gallen und weiteren Partnern auch     von zentralen Grosskraftwerken, hin    ter, sauberer Energie fördern.
    der lokale Energieversorger, das Was-     zu vielen kleinen, oftmals privaten         Ob das tatsächlich der Fall ist, soll
    ser- und Elektrizitätswerk Walenstadt     Erzeugern. «Diese haben heute kaum     das Quartierstrom-Projekt zeigen. Von
    beteiligt ist, das sein Verteilnetz für   Möglichkeiten, ihren Strom frei zu     den Teilnehmenden haben 28 eine ei-
    den lokalen Handel während des Pilot-     vermarkten», sagt Schopfer. Über-      gene Solarstromanlage, neun sind rei-
    versuchs zur Verfügung stellt. Das        schüsse müssen sie in der Regel zum    ne Konsumenten, darunter ein Alters-
    Bundesamt für Energie unterstützt         Einspeisetarif an den Energieversor-   heim. Die Anlagen liefern jährlich rund

                                                       ETH GLOBE 2/2019                                            Bild: Quartierstrom
EC HT JETZT?! Wie fantastische Ideen die Wirklichkeit von morgen vorbereiten - NR. 2/2019 - ETH Zürich
NEW AND NOTED

                                                                                                   l im
                                                                                             Aktuel odcast
                                                                                              ETH-P

300 000 kWh Strom, der tatsächliche        2019 über 80 Prozent des produzier-         Mission für den Mars
Bedarf der Gemeinschaft liegt bei etwa     ten Solarstroms im Quartier selbst          Die ETH-Forscherin Grace Crain denkt
250 000 kWh. Mehrere Batteriespei-         verbraucht. Zum Vergleich: Ohne Zu-         in galaktischen Dimensionen. Sie
cher dienen als Puffer. Speziell verbau-   sammenschluss kann ein einzelner            möchte ein Ökosystem entwickeln,
te Smartmeter – eine Variante des          Haushalt nur etwa 30 Prozent seines         das Astronauten in einer Raumstation
Low-Budget-Computers Rasp­berry Pi         erzeugten Stroms selbst nutzen.             oder Bewohner einer Mond- oder
– messen kontinuierlich Produktion                                                     Mars-Basis mit Essen, Trinkwasser
und Verbrauch der einzelnen Haushal-       Energieversorger als Versicherer            und sauberer Luft versorgen kann.
te. Eine eigens entwickelte Software,      Doch trotz höherem Eigenversor-             Weshalb sie ihre Pflanzen ausgerech-
die auf den Geräten installiert ist,       gungsgrad ist das Quartier nach wie         net mit menschlichem Urin und Kot
wickelt den Handel direkt vor Ort ab.      vor auf den Energieversorger vor Ort        düngt, erklärt sie im ETH-Podcast.
Dieser basiert auf der Blockchain-         angewiesen. Dieser nimmt nicht nur
Technologie, die für fälschungssichere     überschüssigen Strom ab, er liefert
Transaktionen innerhalb von Netz-          auch welchen, wenn die Sonne nicht
werken genutzt wird.                       scheint und der Bedarf hoch ist. «In
                                           diesem Szenario wird der Energiever-
Lukrativ für beide Seiten                  sorger zukünftig die Rolle eines Versi-
In einer App legen die Teilnehmenden       cherers übernehmen», sagt Ableitner.
Preislimits fest: Produzenten ihren An-    Sie ist davon überzeugt, dass der Wan-
gebotspreis, Konsumenten ihren Kauf-       del im Strommarkt nicht aufzuhalten
preis. Ein Algorithmus ermittelt alle      ist. Ebenso sehen es die Verantwort­        Faire Algorithmen

                                                                                                                                 9
15 Minuten, wer von wem kaufen darf.       lichen des Wasser- und Elektrizitäts-       Die ETH-Forscherin Hoda Heidari
Dabei paart er jeweils den günstigsten     werks Walenstadt, die für das Projekt       und der ETH-Assistenzprofessor
Anbieter mit dem meistbietenden Käu-       gewonnen werden konnten. Sie hoffen,        Elliott Ash erzählen im Podcast von
fer. Wer keinen Handelspartner findet,     Einblicke in neue Geschäftsmodelle zu       den gigantischen Mengen an digitalen
kauft Strom vom Energieversorger           erhalten und von Anfang an bei deren        Spuren, die wir täglich hinterlassen.
zum ortsüblichen Tarif.                    Entwicklung mit dabei zu sein.              Ausserdem sprechen sie darüber, wie
     Die Preise des Quartierstrom-              In einem nächsten Schritt werden       Big Data die Welt und Wahrnehmung
Markts fluktuieren mit Angebot und         die Forschenden untersuchen, wie Bat-       verändert, weshalb die Politik diesem
Nachfrage. Die bisherigen Erfahrun-        teriespeicher und flexibel einsetzbare      Wandel noch hinterherhinkt und
gen zeigen, dass sie sich zwischen dem     Lasten wie Wärmepumpen oder Elek-           wie Algorithmen lernen können und
Einspeisetarif von 4 Rappen und dem        troautos dazu genutzt werden können,        dadurch fairer werden.
Strompreis des Energieversorgers von       Produktionsschwankungen auszuglei-
20,75 Rappen pro kWh einpendeln.           chen. «Das ist innerhalb einer Gemein-      Kleine Schritte zum Frieden
«Das ist lukrativ, sowohl für Produ-       schaft viel besser möglich als im einzel-   Die Kenianerin Dekha Ibrahim Abdi
zenten als auch Konsumenten», sagt         nen Haushalt», sagt Schopfer. Indem         (†2011) bemühte sich mit Ausdauer
ETH-Doktorandin Liliane Ableitner,         man überschüssigen Strom vor Ort            und Herzblut um mehr Frieden in
die im Projekt Nutzerverhalten und         speichert und später wieder nutzt, lässt    Kriegsregionen. Ihr Prinzip: Kleine
Akzeptanz untersucht. Sie ist mit der      sich zudem der Eigenversorgungsgrad         Schritte auf lokaler Ebene, um Kon-
Beteiligung der Nutzer am Handel           weiter steigern. «Unser Ziel ist, dass so   flikte zu beseitigen. Im Podcast erzäh-
sehr zufrieden. «Viele loggen sich öfter   wenig Strom wie möglich aus dem             len der ETH-Friedensforscher Simon
als erwartet in die App ein.»              Quartier fliesst.» — Claudia Hoffmann       Mason und die Tochter von Dekha
     Auch wenn detaillierte Ergebnisse                                                 Ibrahim Abdi von ihren Erfahrungen
erst nach Abschluss des Projekts im        Zum Projekt:                                und weshalb sie sich für den Frieden
Januar 2020 vorliegen werden, zeigt        → quartier-strom.ch                         einsetzen.
sich bereits: Durch den Handel steigt
der Eigenverbrauch innerhalb der Ge-
meinschaft. So wurden beispielsweise                                                   Mehr Informationen:
in den ersten beiden Februarwochen                                                     → www.ethz.ch/podcast

Bild: Jennifer Khakshouri                            ETH GLOBE 2/2019
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     Synthetische Biologie

     AM COMPUTER
     ERZEUGTES GENOM
     Beat Christen, ETH-Professor für
     experimentelle Systembiologie, und
     Matthias Christen, Chemiker an der
     ETH, entwickelten eine neue Metho-
     de, welche die Herstellung von gros-
     sen DNA-Molekülen mit vielen hun-
     dert Genen enorm vereinfacht. Sie
     erstellten damit weltweit das erste
     komplett am Computer erzeugte Ge-
     nom eines Lebewesens: Caulobacter
     ethensis-2.0. Allerdings existiert bis-
     her nur das Genom, einen dazugehö-        C. ethensis-2.0 fusst auf dem Genom von Caulobacter crescentus, einem Bakterium,
     rigen Organismus gibt es noch nicht.      das weltweit in Gewässern vorkommt, unter anderem im Zürichsee.
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Klimaforschung                                             es nun gelungen, die Senkenleistung
                                                           des Ozeans in einem Zeitraum von
CO2-SPEICHER                                               13 Jahren zu bestimmen. So nahmen

IM OZEAN                                                   die Weltmeere zwischen 1994 und
                                                           2007 insgesamt rund 34 Milliarden
                                                           Tonnen Kohlenstoff aus der Atmo-
Nicht alles Kohlendioxid (CO2), das                        sphäre auf. Dies entspricht rund einem
beim Verbrennen von fossilen Energie-                      Drittel der gesamten menschgemach-
trägern in die Luft gelangt, verbleibt in                  ten CO2-Emissionen in diesem Zeit-         In Mikro-Gelkügelchen werden Stoffe
der Atmosphäre und trägt zur Erd­                          raum.                                      auf ihre antibiotische Wirkung getestet.
erwärmung bei. Die Weltmeere neh-                               Die Forschungsarbeit beinhaltete
men beachtliche Mengen der mensch-                         aufwändige Messungen der CO2-Kon-
gemachten CO2-Emissionen aus der                           zentration und anderer chemischer          Mikrobiologie
Atmosphäre auf. Die Fragestellung,                         und physikalischer Grössen in den ver-
welche Menge an CO2 der Ozean genau                        schiedenen Meeren von der Oberflä-         NEUE KANDIDATEN
                                                                                                      FÜR ANTIBIOTIKA
aufnimmt, ist für die Klimaforschung                       che bis zum Meeresboden in teils bis zu
zentral. Denn ohne diese marine Koh-                       sechs Kilometern Tiefe. Diese tiefen
lenstoffsenke wäre die CO2-Konzent-                        Messungen waren nötig, weil das CO2,
ration in der Atmosphäre deutlich                          nachdem es sich im Oberflächenwasser       Forschende aus der Gruppe von
höher und der mensch­gemachte Klima-                       löst, mit marinen Umwälzpumpen ver-        ETH-Professor Sven Panke am De-
wandel entsprechend stärker.                               teilt wird: Meeresströmungen und Mi-       partement für Biosysteme der ETH

                                                                                                                                                 11
     Einem internationalen Team von                        schungsprozesse verfrachten das ge-        Zürich in Basel haben eine Methode
Wissenschaftlern aus sieben Nationen                       löste CO2 von der Oberfläche bis tief in   entwickelt, mit der sie schnell eine
unter der Leitung des ETH-Professors                       die Ozeanbecken, wo es sich über die       grosse Anzahl an Molekülen auf ihre
für Umweltphysik Nicolas Gruber ist                        Zeit anreichert.                           antibiotische Wirkung testen kön-
                                                                                                      nen. Während es heute bis zu einem
                                                                                                      Jahr dauert, um 10 000 Wirkstoffpro-
                                                                                                      duzenten zu testen, können mit der
                                                                                                      neuen Methode innerhalb von weni-
                                                                                                      gen Tagen Millionen von Varianten
                                                                                                      untersucht werden.
                                                                                                          Die potenziell antibiotisch wir-
                                                                                                      kenden Stoffe werden dazu zusam-
                                                                                                      men mit Sensorbakterien in Mikro-
                                                                                                      Gelkügelchen eingebettet und so auf
                                                                                                      ihre Wirkung getestet. Mit dieser
                                                                                                      neuen Technologie ist es den ETH-
                                                                                                      Wissenschaftlern gemeinsam mit nie-
                                                                                                      derländischen und deutschen Kolle-
                                                                                                      gen gelungen, eine Reihe neuer Anti-
                                                                                                      biotika-Kandidaten zu identifizieren.

Die CO2-Konzentration im Ozean wird anhand von Probenflaschen                                         Mehr Informationen zu diesen und
in einer Messrosette bestimmt.                                                                        weiteren Forschungsnachrichten
                                                                                                      aus der ETH Zürich finden Sie unter:
                                                                                                      → www.ethz.ch/news

Bilder: Nicolas Gruber; Steven Schmitt und Helena Shomar             ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

                SCIENCE
                FIC TION
                    –
                SCIENCE
                 FA C T S
     Die Lust, Neues zu denken, eint Forschende und Science-
12

          Fiction-Autoren. Doch während Science-Fiction-
      Autoren Fantasiewelten bauen, prüfen Forschende ihre
          Ideen streng an den Gesetzen der Wissenschaft.

      Die Fokusartikel geben Einblick in Forschungsgebiete,
        die wie Science-Fiction klingen, aber auf dem Weg
     zur Realität sind. In der Bildserie verraten Forscherinnen
        und Forscher, welche Science-Fiction-Geschichten
       sie faszinieren und woran sie selbst gerade arbeiten.
              Dabei verschmelzen beide Welten in den
                  Illustrationen von Cornelia Gann.

                           ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

                                                                                 Laura Corman – Physikerin an der
                                                                                 Professur für Quantenoptik

                                                                                 Mein Untersuchungsobjekt ist eine
                                                                                 winzige Atomwolke. Sie ist einen Drittel
                                                                                 Millimeter lang und nahe am absoluten
                                                                                 Temperaturnullpunkt. Ich spalte sie
                                                                                 in zwei Teile auf, die durch eine winzige
                                                                                 Verbindung, durch die die Atome fließen
                                                                                 können, in Kontakt bleiben. Indem wir
                                                                                 mit wechselnden Interaktionen, Ver-
                                                                                 bindungsformen usw. untersuchen, wie
                                                                                 sich dieser Fluss verändert, verbessern
                                                                                 wir unser Verständnis von Vielteilchen-
                                                                                 problemen.

                                                                                                                             13
                                                                            ARRIVAL
                                                                        Als Experimentatorin stelle
                                                                       ich mir oft vor, was passieren
                                                                   könnte, wenn ich einige Parameter in
                                                                meinem Setup änderte. In seinen Science-
                                                                Fiction-Erzählungen «Stories of Your Life
                                                                   and Others» geht Ted Chiang erzäh-
                                                                       lerisch ähnlich vor. Die Titel­
                                                                         geschichte wurde Grund-
                                                                             lage für den Film
                                                                                  Arrival.

Collage: Quantum Optics Group; Annick Ramp   ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

     «DIE FRAGE IST KANN
     MAN DEN COMPUTER
     NOCH ABSTELLEN?»
     Computer werden immer intelligenter und lernen immer öfter
     von echten Menschen im Internet statt mit aufbereiteten Datensätzen.
     Können Computer den Menschen bald übertrumpfen oder ist
     das Science-Fiction? Ein KI-Forscher und ein Computerhistoriker
     geben Antwort.
     INTERVIEW Roland Baumann und Florian Meyer
14

     L      esen Sie Science-Fiction?
            DAVID GUGERLI – Science-Fic­
            tion-Bücher im herkömmlichen
     Sinn lese ich fast nie. Allerdings hat das
     Meiste, was ich als Technikhistoriker
                                                  Selbstfahrende Autos sah man in Fil-
                                                  men schon lange bevor man die Tech-
                                                  nologie hatte, um solche Autos wirk-
                                                  lich zu bauen. Auch automatische
                                                  Spracherkennung und -übersetzung
                                                                                            nen, also komplexe Zusammenhänge
                                                                                            automatisch aus Daten zu erkennen.
                                                                                            GUGERLI – In der Computergeschich-
                                                                                            te wurde schon früh und viel von
                                                                                            künstlicher Intelligenz gesprochen,
     in Archiven lese, durchaus Science-Fic-      kommen in Science-Fiction-Filmen          nicht selten mit grosser Aufregung.
     tion-Qualität. Denn was Ingenieure           schon lange vor. Heute sind sie dank      Das Scheitern der künstlichen Intelli-
     und Computerwissenschaftler über die         KI-Technologien eine Realität.            genz liegt sicher auch daran, dass sich
     Zukunft schreiben, hat dort, wo es                                                     die Vorstellungen davon, was genuin
     nicht trivial ist, ziemlich fiktiven Cha-    Was verstehen Sie unter                   menschliche Intelligenz ist, verän-
     rakter.                                      künstlicher Intelligenz?                  dern. Seit Computer besser Schach
                                                  KRAUSE – KI umfasst verschiedene          spielen können als Menschen, ist
     Weshalb?                                     Ansätze zur Lösung komplexer Auf­         Schachspiel nicht mehr fraglos eine
     GUGERLI – Weil sich Randbedingun-            gaben, die man typischerweise mit         Frage der Intelligenz. Genauso wenig
     gen der Gedankenexperimente zur Zu-          menschlicher Intelligenz verbindet,       wie schnelles Rechnen. Wer Quadrat-
     kunft verändern. Auch solche, die für        wie etwa Sprache verstehen oder           wurzeln grosser Zahlen im Kopf be-
     extrem stabil gehalten werden.               Schach spielen. Es geht darum, dass       rechnen kann, steht nicht unter Intelli-
                                                  Computer schwierige – meist mit Un-       genzverdacht, sondern tritt in TV-
     Der Autor Isaac Asimov schrieb bereits       sicherheit behaftete – Aufgaben lösen     Shows als kuriose Erscheinung auf.
     in den 1940er Jahren über Maschinen          können. Seit dem Computerpionier
     mit künstlichen Gehirnen, also Roboter.      Alan Turing, der künstliche Intelligenz   Und an welchem Punkt der
     Heute dringt «Künstliche Intelligenz»        1950 als Erster in seinem Artikel         Entwicklung steht die KI heute?
     (KI) mehr und mehr in die Realität vor.      «Computing Machinery and Intelli-         KRAUSE – Mit der Digitalisierung un-
     Ist Science-Fiction eine Inspiration für     gence» beschrieb, hat es verschiedene     serer Gesellschaft werden die virtuelle
     die KI?                                      Interpretationen des Begriffs gegeben.    und auch die physische Welt immer
     ANDREAS KRAUSE – Die Inspiration             Heute verbindet man damit ganz zent-      besser beobachtbar. Rechenkapazität
     kann aus der Science-Fiction kommen.         ral die Fähigkeit von Maschinen zu ler-   und Datenmengen sind exponentiell

                                                            ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

                                 führender Forscher für maschinelles Lernen und adaptive Systeme.
                                 und Co-Direktor des Swiss Data Science Center. Er ist ein weltweit
                                 Andreas Krause – ist Professor für Informatik an der ETH Zürich
gewachsen. Diese Entwick-                                                                                                                       gen des Systems. Das ist eine wechsel-
lung hat das Potenzial der                                                                                                                      seitige Anpassung.
datengetriebenen Lernver-
fahren enorm vergrössert                                                                                                                        Herr Krause, Sie untersuchen auch,
und zu grossen Fortschritten                                                                                                                    wie Maschinen und Menschen zusam-
geführt. «Digitale Transfor-                                                                                                                    men an Aufgaben arbeiten, die beide
mation» oder «Industrie                                                                                                                         allein nicht lösen könnten. Wie funktio-
4.0» – es gibt kaum eine                                                                                                                        niert das Zusammenspiel von Mensch
Branche, die davon nicht be-                                                                                                                    und Maschine, wenn beide intelligent
troffen ist, und in vielen Be-                                                                        Technologien nur implementieren las-      und lernfähig sind?
reichen werden KI-Techno-                                                                             sen, wenn sie anschlussfähig sind. Wo     KRAUSE – Eine Kernfrage der KI ist es,
logien heute schon indust­                                                                            sie keinen Anschluss finden an wissen-    wie Maschinen den Menschen optimal
riell eingesetzt.                                                                                     schaftliche Forschung, an industrielle    unterstützen können. Da stellen sich
                                                                                                      Verfahren, an Unterhaltungssysteme        sehr spannende Fragen zum Beispiel
Wo ist die Technologie beson-                                                                         oder an administrative Bedürfnisse,       darüber, was die beste Kombination
ders verbreitet?                                                                                      sind sie wirkungslos. Dass es in der      menschlicher und maschineller Intelli-
KRAUSE – KI-Technologien werden im                                                                    Computergeschichte grosse qualitati-      genz ist. Maschinen können vom Men-
Online-Marketing, im Internethandel                                                                   ve Veränderungen gibt, will ich damit     schen lernen, komplexe Muster zu er-
und für Empfehlungssysteme, wie zum                                                                   nicht bestreiten.                         kennen. Sie können aber auch die
Beispiel von Büchern und Filmen, ein-                                                                                                           Menschen beim Lernen und Entde-
gesetzt. Alltagsprodukte wie Smart-                                                                   An welche Veränderungen denken Sie?       cken unterstützen. Was können, um

                                                                                                                                                                                           15
phones oder Kameras verwenden die-                                                                    GUGERLI – Die Komplexität von Soft-       das Beispiel des Brettspiels Go zu er-
se Techniken. Aber auch in anderen                                                                    ware-Umgebungen hat sich mit der          wähnen, Menschen lernen, wenn eine
Schlüsselindustrien der Schweiz wie                                                                   Zeit so stark erhöht, dass nur Maschi-
zum Beispiel dem Maschinenbau,                                                                        nen in der Lage sind, die systemweiten
Pharma und Chemie, Medizintechnik                                                                     Auswirkungen eines Updates oder ei-         «In vielen Bereichen
oder dem Finanzwesen haben die                                                                        nes neu installierten Moduls abzu-          wird KI schon heute
KI-Techniken ein riesiges Potenzial.                                                                  schätzen und adäquate Veränderungen
Etwa um neuartige Arzneien zu entwi-                                                                  an anderen Programmteilen vorzu-            industriell eingesetzt.»
ckeln oder um industrielle Abläufe und                                                                nehmen. Dass Maschinen den Nutzer
                                                                                                                                                  Andreas Krause
Prozesse zu verbessern.                                                                               als Komponente des Systems behan-
                                                                                                      deln oder dass Maschinen von Men-
Herr Gugerli, wie sehen Sie als                                                                       schen unterstützt werden – und nicht      künstliche Intelligenz neue Spielzüge
Technik- und Computerhistoriker                                                                       umgekehrt –, sind weitere Beispiele       entwickelt, die zuvor kein Mensch je
diese Entwicklung? Erleben wir eine                                                                   für qualitative Veränderungen aus der     gespielt hat? Wie kann eine Maschine
disruptive Entwicklung?                                                                               Computergeschichte, die bis in die Ge-    erklären, wie sie zu einer bestimmten
GUGERLI – Disruptiv ist ein ziemlich                                                                  genwart hineinwirken.                     Entscheidung gekommen ist? Das sind
neuer Begriff und heisst vermutlich                                                                                                             interessante Grundlagenfragen.
einfach «innovativer als innovativ»,                                                                  Zum Beispiel die Spracherkennung
präzedenzlos, noch nie dagewesen.                                                                     der Smartphones?                          Sie sprechen das Computerprogramm
Schon Joseph Schumpeter, der Inno-                                                                    GUGERLI – Genau. Jeder spricht die        AlphaGo Zero an, das Furore machte,
vationstheoretiker der ersten Stunde,                                                                 Wörter etwas anders aus, und die          als es im Go professionelle Spitzen-
hat von der «kreativen Zerstörung»                                                                    Sprach­erkennung kapiert das. Natür-      spieler schlug.
der Innovation gesprochen. Das ist                                                                    lich kann man da sagen, dass der          KRAUSE – Ja. Das Spiel gilt als beson-
nicht unproblematisch. Bei Schumpe-                                                                   Mensch das System trainiere, bis es die   ders komplex, da es – etwa im Gegen-
ter braucht es dafür einen Unterneh-                                                                  individuellen Eigenheiten der Aus-        satz zu Schach – viel mehr verschiede-
mer, der aufgrund seiner Grösse und                                                                   sprache des Nutzers aushalte. Aber        ne Spielstellungen gibt und es schwie-
Macht alles verändern kann. Leicht                                                                    man kann auch sagen, die User werden      rig ist, Stellungen zu bewerten. Man
geht dabei vergessen, dass sich neue                                                                  tolerant gegenüber den Anforderun-        hat AlphaGo Zero trainiert, indem

Bild: Giulia Marthaler                                                                                          ETH GLOBE 2/2019
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                                                                  Barbara Solenthaler – Senior Researcher
                                                                  am Computer Graphics Lab
                                                                  Heute leite ich am Computer Graphics Lab
                                                                  der ETH Zürich die Forschung im Bereich
                                                                  Simulation und Animation. Wir arbeiten
                                                                  an neuen, robusten Simulationsmethoden
                                                                  (zum Beispiel dieses Schiff im Wasser, in
                                                                  Zusammenarbeit mit der Universität Frei-
                                                                  burg) und verbinden Physikmodelle mit
                                                                  Methoden der künstlichen Intelligenz.

                  THE
                 MATRIX
             Der Film «The Matrix» er-
        schien, als ich gerade mit meinem
     Informatikstudium an der ETH begonnen
16

          hatte. Die visuellen Effekte waren
            zu jener Zeit revolutionär und
               weckten mein Interesse
                  an der Computer-
                         grafik.

                                               ETH GLOBE 2/2019
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                                                                                           ETH Zürich. 2018 erschien von ihm die Monografie «Wie die Welt
                                                                                           in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit».
                                                                                           David Gugerli – ist Professor für Technikgeschichte an der
man das Programm gegen sich selbst                         Computer im Vo­raus ein be-
spielen liess. Es hat im Voraus keinerlei                  stimmtes Ziel setzt. Ein Bei-
Kenntnis von menschlichen Spielzü-                         spiel wäre die automatisierte
gen erhalten, sondern nur die Spielre-                     Suche nach unterschiedli-
geln. Das System testet, wie ein simu-                     chen, noch nicht bekannten
lierter Gegner auf die eigenen Züge                        Subtypen von Krankheiten,
reagiert, und kann so lernen, welches                      die mög­licherweise eine per-
Spielverhalten gut ist und welches                         sonalisierte Behandlung er-
nicht.                                                     lauben. Beide Lernarten sind
GUGERLI – Die Entwicklungen rund                           in gewissem Sinn «passiv»,                                                                       Die Besatzung der Raumfähre Gemini
um AlphaGo Zero sind computerhisto-                        da menschliche Experten die                                                                      IV hatte damit grosse Schwierigkeiten.
risch aufregend, weil hier eine Maschi-                    Daten vorgeben, aus denen                                                                        Und erfahrenen Windows-Usern war
ne aus ihrem eigenen Verhalten, ihren                      die Maschine lernt.                                                                              zwar immer klar, wo der Startknopf
eigenen Prozessen lernen kann. Wenn                                                                                                                         war, weil der in älteren Windows-Ver-
die Maschine damit dem Menschen als                        Gibt es auch aktive Lern­                                                                        sionen deutlich angeschrieben war.
Go-Spielerin überlegen wird, ist das                       verfahren?                                                                                       Beim Ausschalten des Laptops half
kaum ein Problem. Schliesslich fährt                       KRAUSE – AlphaGo Zero ist ein Bei-                                                               dagegen oft nur das Entfernen der Bat-
jedes Auto schneller, als ich gehen                        spiel für das «Reinforcement Lear-                                                               terie.
kann. Der Mensch-Maschine-Vergleich                        ning», eine Art «aktives» Lernen, bei
als Teil der anthropologischen und ge-                     dem das Lernverfahren aus den Konse-                                                             Gibt es auch übertriebene Erwartungen
sellschaftlichen Selbstvergewisserung                      quenzen selbst getroffener Entschei-                                                             an die künstliche Intelligenz?

                                                                                                                                                                                                       17
ist nur so lange interessant, bis die                      dungen lernt. Bekannte Beispiele für                                                             KRAUSE – KI-Technologien werden im-
Maschine gewinnt. Dann werden die                          solche aktiven Lernverfahren sind                                                                mer besser darin, komplexe, aber spe-
Spielregeln anders formuliert.                             auch die Empfehlungssysteme für Bü-                                                              zialisierte Aufgaben zu lösen. Vo­
                                                           cher und andere Produkte, die heute                                                              raussetzung ist, dass hinreichend viele
                                                           ein Rückgrat vieler Internetanwen-                                                               Daten von guter Qualität zur Verfü-
    «Die Maschine, die                                     dungen bilden. Diese Verfahren lernen                                                            gung stehen. Die Reinforcement-Lear-
    Menschen beim Go                                       daraus, wie die Benutzer auf die Emp-
                                                           fehlungen reagieren, ob sie zum Bei-
                                                                                                                                                            ning-Technologien funktionieren bis-
                                                                                                                                                            her vor allem da gut, wo man ein ge-
    überlegen sein wird,                                   spiel den Link anklicken und das Pro-                                                            naues Modell der Wirklichkeit hat.
    ist kaum ein Problem.»                                 dukt kaufen: also nicht anhand von im
                                                           Vorhinein ausgewählten Trainings­
                                                                                                                                                            Beim Go-Spiel etwa weiss man, wie das
                                                                                                                                                            Spielbrett aussieht. Die Welt ist aber
    David Gugerli                                          daten, sondern durch Interaktion mit                                                             viel komplexer und lässt sich nur in be-
                                                           ihren Nutzern.                                                                                   grenztem Umfang simulieren. Hier
                                                                                                                                                            bestehen grosse Herausforderungen
Wie unterscheidet sich das Lernen eines                    Können Computer auch lernen, wie sie                                                             darin, mit Unsicherheit umzugehen
Computers von dem des Menschen?                            Menschen überlisten oder anlügen, wie                                                            und zuverlässige Entscheidungen zu
KRAUSE – Maschinelles Lernen hat                           Supercomputer HAL im Science-Fic­tion-                                                           treffen – Fragen, mit denen wir uns in
verschiedene Varianten. Am weitesten                       Film «2001 – A Space Odyssey»?                                                                   unserer Forschungsgruppe auseinan-
verbreitet ist das überwachte Lernen,                      KRAUSE – Natürlich kann man im Sinn                                                              dersetzen. Absolut unklar ist auch, wie
das man als eine Imitation der mensch-                     der Science-Fiction über derlei Szena-                                                           wir Allgemeinwissen automatisieren
lichen Fähigkeit, Muster zu erkennen,                      rien nachdenken. Wenn man die ak­                                                                und im Computer nachbilden können.
verstehen kann. Anhand eines Daten-                        tuellen Möglichkeiten der KI jedoch                                                              Bisher gibt es keine KI-Verfahren, die
satzes und klarer Ziele wird ein künst-                    realistisch betrachtet, sind wir in den                                                          im Stande sind, eine breite Palette von
liches neuronales Netz darin trainiert,                    nächsten Jahren weit davon entfernt,                                                             verschiedensten Aufgaben zu lösen, so
Tumore in Pathologie-Scans zu erken-                       dass diese Gefahr konkret besteht.                                                               wie wir Menschen das eben sehr gut
nen. Auch das unüberwachte Lernen                          GUGERLI – Vielleicht ist die entschei-                                                           können.
sucht nach Regelmässigkeiten in den                        dende Frage, ob man einen Computer,
Daten, jedoch ohne dass man dem                            wenn er emotional wird, abstellen kann.

Bild: zVg
Collage: iStock; Computer Graphics Lab; Giulia Marthaler             ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

     DER TRAUM                                                                         ran ein Seismometer, das die Bewe-
                                                                                       gungen der Erdoberfläche aufzeichnet.
                                                                                       Die ETH Zürich hat die Elektronik für
                                                                                       das Gerät entwickelt und wertet nun

     VOM LEBEN                                                                         im Auftrag der Nasa die Daten aus.
                                                                                            Die Aktivitäten der ETH mit «In-
                                                                                       Sight Mars» leitet Domenico Giardini,
                                                                                       Professor für Seismologie und Geody-

     IN ANDEREN                                                                        namik an der ETH Zürich. «Es ist das
                                                                                       erste Mal, dass wir eine hochpräzise
                                                                                       Wetterstation für eine so lange Zeit auf

     WELTEN
                                                                                       dem Mars haben», freut er sich. Nach
                                                                                       einem halben Jahr zieht er eine positive
                                                                                       Zwischenbilanz. «Das Seismometer
                                                                                       funktioniert einwandfrei, wir lernen
                                                                                       viel.» Bis dato habe das Gerät vier Er-
     Fremde Planeten beflügeln unsere                                                  eignisse aufgezeichnet, die man noch
                                                                                       nicht verstehe. Ein registriertes Signal
     Vorstellungskraft: Warum nicht Mond                                               sei in einer Entfernung von wenigen
     oder Mars besiedeln? Wo Fakten fehlen,                                            hundert Kilometern zu lokalisieren,
                                                                                       die anderen kämen von weiter weg.
     blüht die Fiktion. Nicht selten wird aus                                               Weswegen das Seismometer aus-
     Science-Fiction aber irgendwann Realität.                                         geschlagen hat – etwa wegen eines Erd-
                                                                                       bebens, eines Meteoriteneinschlags,
     TEXT Andres Eberhard                                                              eines Vulkanausbruchs oder aufgrund
                                                                                       starker Windstösse –, wissen die
                                                                                       ETH-Forscher noch nicht sicher. «Wir
18

                                                                                       forschen auf völlig neuem Terrain»,
                                                                                       sagt Giardini. Er vergleicht die Situati-
                                                                                       on mit jener von Wissenschaftlern

     I
                                                                                       Mitte des 19. Jahrhunderts, als man
         m Jahr 1608 schrieb der Astronom      ten die ersten Menschen tatsächlich     begann, die Vibrationen der Erdober-
         und Mathematiker Johannes Kep-        zum Mond – wenn auch in gasdichten      fläche aufzuzeichnen. «Ereignete sich
     ler einen Roman. Das Buch mit dem         Schutzanzügen und ohne die Hilfe von    in Japan ein Erdbeben, registrierten
     Titel «Somnium» handelt von einem         Dämonen. Was früher der Mond war        europäische Forscher zwar die Vibrati-
     Traum einer Reise zum Mond. Darin         – eine neue, völlig unbekannte Welt     onen, hatten aber keine Ahnung, wo-
     schildern Dämonen detailgenau, wie        und damit hervorragend geeignet für     her sie kamen.»
     sie Menschen innerhalb von vier Stun-     Zukunftsträume aller Art –, ist heute        Genauso schwierig ist es für die
     den zum Mond bringen können. Die          der Mars. Noch wird es einige Jahr-     Wissenschaftler heute, herauszufin-
     fiktive, fast märchenhafte Geschichte,    zehnte dauern, bis die ersten Men-      den, was die Signale auf dem Mars aus-
     in der auch Hexen und Mondmen-            schen den Mars betreten. Seit einiger   gelöst hat. Denn seismische Wellen
     schen vorkommen, gilt als einer der       Zeit schon werten Forscher aber Daten   breiten sich auf dem Roten Planeten
     ersten Zukunftsromane überhaupt.          von Raumsonden aus, um den Roten        anders aus als auf der Erde. Erst muss
     Kepler ist demnach nicht nur einer der    Planeten besser zu verstehen.           also geklärt sein, wie stark sich die
     Begründer der modernen Naturwis-                                                  Wellen auf dem Weg von der Quelle
     senschaften, sondern eben auch des        Messungen auf dem Mars                  zum Messgerät verändern, bevor Be-
     Genres der Science-Fiction.               Am 26. November des letzten Jahres      ben als solche erkannt werden können.
          Zufall ist das nicht. Auch heute     landete die Sonde von «InSight Mars»,   Derzeit gehen die ETH-Forscher da-
     noch denken Wissenschaftlerinnen          der Mission der amerikanischen Welt-    von aus, dass es sich bei einem der vier
     und Wissenschaftler über das, was         raumagentur Nasa, erfolgreich auf       registrierten Ereignisse um ein Mars­
     möglich ist, hinaus. Wahrscheinlich       dem Mars. Ziel ist es, mehr über die    beben gehandelt hat. «Überraschend
     wird vieles von dem, was heute nach       innere Struktur des Planeten und da-    ist, dass das Signal eher einem Mond-
     Science-Fiction klingt, in einigen Jah-   mit über dessen Entstehung herauszu-    als einem Erdbeben ähnelte», sagt
     ren ganz normal sein. Dreieinhalb         finden. Deshalb hat die Sonde mehrere   Giardini. Dies könnte ein Indiz für eine
     Jahrhunderte nach Keplers Traum reis-     technische Geräte an Bord – allen vo­   Ähnlichkeit von Mars- und Mond-

                                                                                         Collage: Moviestore collection Ltd / Alamy Stock Photo;
                                                        ETH GLOBE 2/2019                 Alexander Wollert, Daniela Domeisen; Giulia Marthaler
Daniela Domeisen –
                                                            Assistenzprofessorin
                                                            am Institut für Atmosphäre
                                                            und Klima

                                                            Abrupte Klimaereignisse
                                                            können durchaus unser Wetter
                                                            bestimmen. Der im Bild der
                                                            Erdkugeln dargestellte Zusam-
                                                            menbruch des Polarwirbels in
                                                            der Stratosphäre kann unser
                                                            Winterwetter innerhalb weniger
                                                            Tage und für mehrere Wochen
                                                            lang unter den Gefrierpunkt
                                                            schicken, wie im Februar / März
                                                            2018. Wir erforschen gerade,
                                                            wie und ob sich die Häufigkeit
                                                            solcher Ereignisse mit dem
                                                            Klimawandel ändern könnte.

           THE
        DAY AFTER
        TOMORROW

                                                                                              19
 Der Film hat mitgeholfen, den Klima­
wandel zu einem öffentlichen Thema zu
machen, trotz einiger wissenschaftlich
  fragwürdiger Elemente. Dass der
     Klimawandel nicht nur weit
      weg und in ferner Zukunft
            statt­findet, ist
            eine wichtige
              Aussage.

                                         ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

                                                                                             SEIS (Seismic Experiment for Interior Structure) ist vorne links unter dem Schutzschild
                                                                                             Künstlerische Darstellung des InSight-Landers – Die Sensorik des Seismometers

                                                                                             abgebildet, die ETH-Elektronik liegt gut geschützt im Inneren des Landers.
     kruste sein. Jedoch sind die Forschen-      ihren Unterarm tätowiert hat. Der An-
     den auf stärkere Beben angewiesen,          satz des Films sei also sehr realistisch.
     um diese These zu erhärten.                 «Schliesslich wäre es sehr ineffizient,
                                                 ständig Essen und Trinken auf den
     Pflanzen für ferne Planeten                 Mars zu transportieren.» Trotzdem
     Spricht man mit Giardini, wird eines        seien Matt Damons Hollywood-Kar-
     besonders deutlich: wie wenig gesi-         toffeln leider ungeniessbar. «Mars-
     chertes Wissen es über den Mars heute       sand ist für Menschen giftig.»
     gibt und wie enorm Aufwand und Kos-              Noch ist die perfekte Formel nicht
     ten sind, um mehr über die Beschaffen-      gefunden, wie Urin und Kot für den
     heit des Planeten zu erfahren. Dassel-      Anbau von Pflanzen verwendet wer-
     be gilt für die Gretchenfrage, ob es auf    den können, die Nahrungsmittel pro-
     dem Mars wirklich Spuren von Leben          duzieren. Doch Crain und eine Reihe
     gibt. Giardini geht davon aus, dass die-    anderer Forscher sind der Lösung auf
     se in spätestens zwei bis drei Jahrzehn-    der Spur. «Wir müssen allerdings noch
     ten geklärt sein wird.                      eine mentale Blockade überwinden,
          Wo Fakten fehlen, blüht die Fik­       denn im Mittelalter starben viele Men-
     tion. Längst spekulieren wir über die       schen durch menschliche Fäkalien im
     Reise zum Mars und darüber, wie wir         Trinkwasser.» Durch die heutigen
     den Planeten besiedeln könnten. Dazu        technologischen Möglichkeiten müsse
     trägt auch die Unterhaltungsindustrie       sich jedoch niemand mehr um dieses
20

     bei. Ein aktuelles Beispiel ist der Kino-   Horrorszenario Sorgen machen.
     film «Der Marsianer» (2015). Der Film            In einem Gewächshaus am For-
     handelt von einem auf dem Mars zu-          schungszentrum Strickhof in Lindau
     rückgebliebenen Astronauten, der sich       prüft die Amerikanerin Tag für Tag,
     dort durchschlagen muss, bis Hilfe          welche Urin-Zusammensetzung die
     kommt. Seine knappen Essensvorräte          Pflanzen am besten gedeihen lässt. Der      Ziel des interdisziplinären Studieren-
     stockt der von Matt Damon gespielte         Urin stammt von den Toiletten des           denprojekts «Igluna» des Swiss Space
     Astronaut auf, indem er Menschenkot         ETH-Wasserforschungsinstituts Ea-           Centers. Konkret soll ein Mondhabitat
     mit Marserde mischt und so Kartoffeln       wag. Das Eawag-Spinoff Vuna verar-          simuliert werden. Studierende aus
     anpflanzt. Wie realistisch ist dieses       beitet ihn daraufhin zum Flüssigdün-        ganz Europa erforschen, wie eine dau-
     Hollywood-Szenario wirklich?                ger Aurin.                                  erhafte Unterkunft auf dem Mond aus-
          Grace Crain ist ETH-Doktorandin             Eine der grössten Schwierigkeiten      sehen könnte und welche Technolo­
     im Rahmen des Projekts «Melissa» der        sei, dass Urin viel Salz enthalte, was      gien das Leben auf dem Mond ermög-
     Europäischen Weltraumorganisation           viele Pflanzen nicht mögen, erklärt         lichen würden. Nun werden erste
     ESA, das zum Ziel hat, Mond oder            Crain. Der verwendeten Pflanze darf         Komponenten, die Teil eines solchen
     Mars – zumindest für Astronauten ei-        nicht nur Salz nichts ausmachen, sie        Habitats sein könnten, präsentiert. In
     ner stationären Basis – bewohnbar zu        muss auch effizient sein und das von        einer Gletscherhöhle auf dem Klein
     machen. Crains Kerngebiet ist «Space        den Astronauten ausgeatmete CO2 in          Matterhorn sowie im Dorfzentrum
     Farming», also die Pflanzenzucht im         Sauerstoff umwandeln können. Denn           von Zermatt werden Projekte von ins-
     Weltall. Sie untersucht, wie menschli-      das Leben auf dem Mars kommt auf-           gesamt 20 Teams aus neun europäi-
     che Exkremente für unsere Ernährung         grund der extremen Bedingungen nur          schen Ländern zusammengeführt.
     wiederverwertet werden können.              in geschlossenen Räumen infrage.                Die Einzelprojekte decken viele
     «Länger auf einem fremden Planeten          Derzeit experimentiert Crain mit der        Bereiche ab, die es für das Leben auf
     zu leben, wird uns nur durch Recycling      Sojabohne.                                  dem Mond braucht: so etwa die Gewin-
     gelingen», sagt die Amerikanerin, die                                                   nung von sauberer Luft, Trinkwasser,
     Tochter eines Astrophysikers ist, frü-      Mondhabitat am Matterhorn                   Nahrung und Energie. Auch Technolo-
     her selber gerne Science-Fiction-Bü-        Eine stationäre Basis auf einem frem-       gien, welche die Navigation erleichtern
     cher las und sich das Sonnensystem auf      den Planeten zu errichten, ist auch das     oder das menschliche Wohlbefinden

                                                           ETH GLOBE 2/2019
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                                                                                      Weitere Informationen
                                                                                      Marsmission InSight:
                                                                                      → www.insight.ethz.ch

                                                                                      Zur Forschung von Grace Crain:
                                                                                      → www.plantnutrition.ethz.ch/
                                                                                      research/nutrients-processes

                                                                                      Erste Komponenten des Mond­
                                                                                      habitats Igluna können derzeit in
                                                                                      Zermatt besichtigt werden. Inte­
                                                                                      ressierte können das Habitat vom
                                                                                      17. Juni bis zum 3. Juli besuchen.
                                                                                      → www.spacecenter.ch/igluna

                                                                                                                           Foto vom ETH-Seismometer – Das Gerät

                                                                                                                                                                  21
                                                                                                                           registriert Signale auf dem Mars.
stärken, sind dabei. «Das Weltall ist für   den Welten also vor allem
die Studierenden eine grosse Motivati-      dabei, um auf unserem eige-
on und Inspira­   tion», sagt Tatiana       nen Planeten zu überleben.
Benavides, Hub Managerin des Swiss          Doch wer weiss schon, ob
Space Centers an der ETH, die das           nicht doch irgendwann Men-
Projekt koordiniert.                        schen den Mars besiedeln –
     Wann die ersten Menschen dauer-        für kurze oder längere Zeit.
haft auf einer Station auf Mond oder             Denn manchmal geht es schnell,
Mars leben werden, steht definitiv          bis aus Science-Fiction Realität wird
noch in den Sternen. Doch dürften vie-      und sie festgefahrene Denkmuster um-
le Technologien, die mit dem Ziel der       stösst. Als Johannes Kepler Anfang des
Entdeckung fremder Planeten er-             17. Jahrhunderts im Buch «Somnium»
forscht werden, auch auf der Erde           eine Reise zum Mond erträumte, ging
nützlich sein. So könnte beispielsweise     es ihm vor allem darum, seine Leser
ein Dünger aus Urin, den ETH-Dokto-         davon zu überzeugen, dass die Erde
randin Grace Crain für einen Einsatz        nicht das Zentrum alles Menschlichen
im Weltall prüft, auch auf der Erde ver-    und Göttlichen sei. Nur ein Jahr später
wendet werden. Wenn damit dereinst          veröffentlichte er das Werk «Astrono-
chemische Dünger ersetzt werden             mia Nova», das heute als einer der ers-
können, käme dies einer landwirt-           ten wissenschaftlichen Beweise dafür
schaftlichen Revolution gleich.             gilt, dass sich die Erde um die Sonne
     Vielleicht hilft uns die romanti-      dreht und nicht umgekehrt.
sche Vorstellung vom Leben in frem-

Bilder: Nasa / JPL-Caltech (2)                        ETH GLOBE 2/2019
FOKUS

                                                Noch Zukunftsvision – Mikrochips auf der Grosshirnrinde messen
                                                Hirnaktivitäten und aktivieren gezielt notwendige Medikamente.
     A      uf dem Netz finden sich Videos,
            deren Inhalte sich im Gedächtnis
     festsetzen. Ein Mann sitzt mit einer
     Fernsteuerung in der Hand auf dem
     Sofa. Offensichtlich ist er an Parkinson
     erkrankt: Seine Hände und Arme zit-
     tern und beben. Dann hebt er die Fern-
     steuerung an seine Brust, drückt einen
     grauen Knopf – und das Zittern lässt
     fast augenblicklich nach.
          Was man auf dem Video nicht
     sieht: Im Hirn des Betroffenen stecken
     zwei Elektroden, die mit einem auf

                                                                                                                 IN DEN TIEFEN
     Brusthöhe implantierten Schrittma-
     cher verbunden sind. Auf Knopfdruck
     sendet der Schrittmacher elektrische
     Impulse in die Basalganglien, eine

                                                                                                                 DES GEHIRNS
     Gruppe von Zellkernen, welche die Be-
     wegungsplanung steuern. Die Stimu-
     lation dieses bei Parkinson stark ge-
     störten Hirnareals stoppt die starken
22

     motorischen Störungen fast schlagar-
     tig. Es ist geradezu gespenstisch.                                                                          ETH-Forscher nutzen Stimulationen des
          «Tiefe Hirnstimulation bei Par-
     kinson ist wohl einer der grössten Er-                                                                      Hirns, um die Folgen von Stress zu erforschen,
     folge der Neurowissenschaften», sagt                                                                        aber auch, um neue Therapien dagegen zu
     Johannes Bohacek, Assistenzprofessor
     am Institut für Neurowissenschaften                                                                         entwickeln. Vielleicht wird es dereinst sogar
     der ETH Zürich. Auch bei Depressio-                                                                         möglich, Hirnerkrankungen ohne Pillen
     nen setzen Wissenschaftler Hirnsti-
     mulation experimentell ein, doch ein                                                                        buchstäblich im Schlaf zu heilen.
     Grossteil dieser Forschung steckt noch
                                                                                                                 TEXT Peter Rüegg
     in den Kinderschuhen. Einiges mutet
     mitunter wie Science-Fiction an.

     Mit Viren ins Hirn
     Johannes Bohacek selbst nutzt Hirn-        Bohacek vereinfacht daher, indem er                                                            den, zu klein und zu schwer erreich-
     stimulationen zur Erforschung von          sich auf Einzelteile konzentriert; zur-                                                        bar», sagt Bohacek. Ein überaktiver
     Stress und dessen Folgen für den Orga-     zeit auf das noradrenerge System, das                                                          Locus caeruleus liegt gewissen Angst-
     nismus. «Akuter und chronischer            bei Stress eine zentrale Rolle spielt. In                                                      und Panikstörungen zugrunde. Darum
     Stress sind Risikofaktoren für psychi-     akuten Stresssituationen, zum Beispiel                                                         sind viele Forscher und die Pharma­
     sche Erkrankungen», sagt der Neuro-        dann, wenn plötzlich ein Feueralarm                                                            branche stark daran interessiert, seine
     wissenschftler. Doch Stressreaktionen      losgeht, wird das Gehirn mit Norad-                                                            Funktionen besser zu verstehen.
     zu ergründen, sei sehr kompliziert,        renalin überflutet. Dafür zuständig ist                                                            Um gezielt untersuchen zu kön-
     weil sich Stress auf den gesamten Kör-     ein einziges, winziges Hirnareal, der                                                          nen, was sich in diesem Hirnareal bei
     per auswirke und viele Organe und Bo-      Locus caeruleus. Er liegt wie eine Nadel                                                       Stress abspielt, verändert der ETH-
     tenstoffe involviere. «Das erschwert       im Heuhaufen tief im Hirnstamm ver-                                                            Professor mit Hilfe von Viren gezielt
     es, das Phänomen Stress gezielt zu un-     borgen. «Er ist für Sonden, wie sie zur                                                        Nervenzellen des Locus caeruleus.
     tersuchen.»                                tiefen Hirnstimulation genutzt wer-                                                            Dazu arbeitet er mit einer speziellen

                                                                                                                   ETH GLOBE 2/2019   Illustration: Jemère Ruby nach dem Konzept von Mehmet Fatih Yanik
FOKUS

Maus­linie, die das Virus in den Locus     Das ist allerdings wenig spezifisch,      Dort ballen sich die Partikel für einen
caeruleus zwingt. Das Virus sorgt da-      denn die Zielmoleküle kommen oft im       kurzen Moment zusammen und setzen
für, dass sich auf der Oberfläche der      gesamten Gehirn oder sogar im übri-       die Wirkstoffe frei. Auf diese Weise re-
Nervenzellen ein künstlicher Rezeptor      gen Körper vor, nicht nur in den Hirn­    gulieren sie hochkonzentriert und äus-
(Empfängermolekül) ausbildet.              arealen, die man mit dem Medikament       serst gezielt die aus dem Lot geratenen
     Die Forscher verabreichen dann        beeinflussen möchte.                      Hirnschaltkreise.
den Mäusen eine Substanz, die sich mit          Yanik hat deshalb eine andere Vor-        Von der Realisation eines solchen
diesen Rezeptoren verbindet, damit         stellung davon, wie die Therapie von      Systems ist er zwar noch Jahrzehnte
die betreffenden Neuronen erregt wer-      Hirnerkrankungen in Zukunft ausse-        entfernt, doch einzelne Puzzleteile
den und die Ausschüttung von Nordad-       hen könnte. «Das ist im Moment eine       werden derzeit intensiv erforscht und
renalin bewirkt wird, ohne dass vor-       reine Vision», schmunzelt er. Aber ei-    an Tieren erprobt. Beispielsweise die
gängig das gesamte Stresssystem akti-                                                mit fokussiertem Ultraschall freige-
viert werden musste. So können                                                       setzten Wirkstoffe. Yanik und seine
Bo­ha­cek und sein Team klären, was          «Tiefe Hirnstimulation                  Mitarbeitenden haben es vor Kurzem
daraufhin im gesamten Gehirn abläuft.
     Von solchen Versuchen erhofft
                                             bei Parkinson ist                       geschafft, mit schwachen Ultraschall-
                                                                                     wellen Mikropartikel in definierten
sich der Neurowissenschaftler, die Ur-       wohl einer der grössten                 Hirnarealen der Ratte zu konzentrie-
sachen von Stresserkrankungen besser
zu verstehen. «Um griffigere Thera­
                                             Erfolge der Neuro­                      ren, zu öffnen und deren Ladung – be-
                                                                                     reits für klinische Anwendungen zuge-
pien entwickeln zu können, müssen            wissenschaften.»                        lassene Wirkstoffe – freizusetzen. Ya-
wir erst die molekularen Stressmecha-                                                niks Team hat zudem einen neuartigen

                                                                                                                                 23
nismen besser kennenlernen. Ein              Johannes Bohacek                        Algorithmus entwickelt, um im Tier-
spannender Ansatz wäre es, die Erreg-                                                modell krankhafte Hirnaktivitätsmus-
barkeit des Locus caeruleus mit ähnli-                                               ter zu identifizieren und die entspre-
chen Methoden wie der Hirnstimula­         gentlich ist es ihm ernst damit. Jüngst   chende Erkrankung zu behandeln.
tion zu drosseln», erklärt Bohacek.        bewarb er sich mit diesem Projekt er-          Bleibt die Frage: Braucht die
«Ob und wann diese Techniken Einzug        folgreich für Forschungsgelder von        Menschheit wirklich ein derartiges
in die klinische Realität finden werden,   der EU.                                   Science-Fiction-Szenario zur Heilung
muss sich weisen.»                             Seine Idee: Eine Person liegt im      von Gehirnerkrankungen? Yanik ist
                                           Bett, den Kopf auf das Kissen gelegt,     davon überzeugt: «Existierende The-
Hirn-Maschinen-Schnittstelle               das drahtlos mit Mikrochips kommu-        rapien genügen nicht. Vierzig der
Neue Therapien für Hirnerkrankun-          niziert, die auf der Grosshirnrinde       schwersten Hirnerkrankungen sind
gen stehen auch bei Mehmet Fatih Ya-       platziert sind. Während der Mensch        nach wie vor nicht therapierbar. Heute
nik zuoberst auf der Traktandenliste.      schläft, übermitteln tausende von win-    schlucken wir Pillen gegen psychische
«Wir arbeiten an neuen Technologien,       zigen Elektroden hochaufgelöste In-       Erkrankungen oder es kommen bes-
um Netzwerk-Fehlfunktionen bei Hirn-       formationen über die Aktivität einzel-    tenfalls elektromagnetische Strahlung
erkrankungen zu korrigieren. Solche        ner Nervenzellen an die Chips. Diese      oder Ultraschall zum Einsatz. Das ist
Fehlfunktionen liegen Erkrankungen         berechnen, ob die Hirnschaltkreise        ungefähr so wirksam, wie wenn man
wie Depression, Schizophrenie oder         normal funktionieren oder ob sie pa-      einen Supercomputer mit einem Ham-
Autismus zugrunde», sagt der Profes-       thologische Muster aufweisen und eine     mer reparieren wollte.»
sor für Neurotechnologie am Institut       therapeutische Intervention notwen-
für Neuroinformatik der ETH und der        dig wird.
Universität Zürich.                            Ein an den Blutkreislauf ange-        Zur Stressforschung von Johannes Bohacek:
     Gehirnerkrankungen werden nach        schlossenes Implantat gibt dann mit       → www.bohaceklab.ethz.ch
wie vor meistens mit Pillen behandelt.     Wirkstoffen beladene Mikropartikel
Dabei bindet sich ein Wirkstoff an das     ab. Die Mikrochips aktivieren darauf-     Zur Forschung von Mehmet Fatih Yanik:
passende Zielmolekül in der Nerven-        hin weitere Module, die Ultraschall-      → www.neurotechnology.ethz.ch
zelle und löst dadurch eine biochemi-      wellen erzeugen und sich auf eine be-
sche Signalkaskade in der Zelle aus.       stimmte Stelle des Gehirns richten.

                                                     ETH GLOBE 2/2019
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