WITTENER TAGE FÜR NEUE - PREMIEREN KONZERTINSTALLATIONEN ÜBERTRAGUNGEN 21 - 23. APRIL 2023
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WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMER- MUSIK PREMIEREN KONZERTINSTALLATIONEN ÜBERTRAGUNGEN 21. – 23. APRIL 2023 Eine Veranstaltung mit dem
DIE WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK AUF WDR 3 FR 21. APRIL 2023 20.04 – 0.00 UHR 20.04 UHR DOPPEL.PUNKT: BUENE, ROBIN, GLOJNARIĆ, LEWIS 22.30 UHR SCHMELZ.PUNKT: ALESSANDRINI, BAUCKHOLT/HELLQVIST Darin: SCHALT.PUNKT: TSANGARIS SA 22. APRIL 2023 20.04 – 0.00 UHR 20.04 UHR FLUCHT.PUNKT: ILLÉS, DAVID, DLW 21.30 UHR SCHNITT.PUNKT: MASON 23.00 UHR TREFF.PUNKT: BAUCKHOLT Darin: SCHALT.PUNKT: TSANGARIS SO 23. APRIL 2023 20.04 – 0.00 UHR 20.04 UHR PUNKT.LANDUNG: GÍSLADÓTTIR, OSPALD, BAUCKHOLT 21.30 UHR KIPP.PUNKT: ZHAO, CHO, SCHEUER, LANG, ZUBEL Darin: SCHALT.PUNKT: TSANGARIS 23.03 UHR START.PUNKT: ZHANG, VÁZQUEZ, JEONG, HAVEN, BELKIND, CHOI WDR 3 Konzertplayer Alle Konzerte der Wittener Tage für neue Kammermusik sind nachzuhören im WDR 3 Konzertplayer und in der WDR 3 App.
INHALT 6 GRUSSWORTE 8 VORWORT FR 21. APRIL 2023, 16.00 UHR, RUHR-GYMNASIUM, AULA 12 START.PUNKT Newcomer Konzert FR 21. APRIL 2023, 17.30 – 19.30 UHR SA 22. APRIL UND SO 23. APRIL 2023, 13.00 – 15.00 UHR SAALBAU WITTEN UND CONTAINER AUF DEM VORPLATZ 14 SCHALT.PUNKT Szenisches Hörspiel von Manos Tsangaris FR 21. APRIL 2023, 20.00 UHR, SAALBAU WITTEN, THEATERSAAL 18 DOPPEL.PUNKT Eivind Buene, Yann Robin, Sara Glojnarić, George Lewis FR 21. APRIL 2023, 22.30 UHR, SAALBAU WITTEN, FESTSAAL 23 SCHMELZ.PUNKT Patricia Alessandrini, Carola Bauckholt / Karin Hellqvist ESSAY VON HANNAH SCHMIDT 28 KLINGT GUT Zur Musik von Carola Bauckholt SA 22. APRIL 2023, 11.00 UHR, SAALBAU WITTEN, FESTSAAL 32 TREFF.PUNKT Carola Bauckholt
SA 22. APRIL 2023, 16.00 UHR, BLOTE VOGEL SCHULE, AULA 36 FLUCHT.PUNKT Márton Illés, Bastien David, Dell / Lillinger / Westergaard SA 22. APRIL 2023, 19.00 UND 21.00 UHR, MÄRKISCHES MUSEUM WITTEN 40 SCHNITT.PUNKT Performance Installation von Christian Mason SA 22. APRIL 2023, 22.30 UHR, SAALBAU WITTEN, FESTSAAL 43 FIX.PUNKT Wittener Nacht ESSAY VON ANSELM CYBINSKI 45 DEN DINGEN EINE STIMME GEBEN Übertragungen zwischen Menschen, Pilzen und Radiogeräten SO 23. APRIL 2023, 11.00 UHR, BLOTE VOGEL SCHULE, AULA 50 KIPP.PUNKT Yiran Zhao, Eun-Hwa Cho, Benjamin Scheuer, Klaus Lang, Agata Zubel SO 23. APRIL 2023, 16.00 UHR, SAALBAU WITTEN, THEATERSAAL 56 PUNKT.LANDUNG Bára Gísladóttir, Klaus Ospald, Carola Bauckholt 60 BIOGRAFIEN 85 IMPRESSUM
6 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 GRUSSWORTE Gerade in Krisenzeiten kommt der Kultur eine setzung mit neuen Klängen. Außerdem trägt ganz besondere Bedeutung zu. Es ist nicht die es wesentlich und kontinuierlich dazu bei, Aufgabe von Kunst, Lösungen für die großen unsere Ohren und Köpfe für Neues zu öff- Fragen unserer Zeit anzubieten, aber sie nen. Die Musik braucht zu ihrer Weiterent- schafft Räume, aus denen heraus wir anders wicklung solche Experimentierfelder. Des- auf die Welt schauen können. Das ist gerade halb wünsche ich mir sehr, dass es gelingt, jetzt von besonderer Bedeutung. Auch des- der Musik auch in den kommenden Jahren halb freue ich mich sehr, das Wiedererwa- ein angemessenes Spielfeld zu bieten. Ich chen des Konzertlebens zu beobachten. Es freue mich auf das spannende und herausfor- zeigt deutlich, dass die Maßnahmen von dernde Programm der Wittener Tage für Kommunen, Land und Bund ihren Teil dazu neue Kammermusik 2023 und wünsche Ih- beigetragen haben, dass das kulturelle Leben nen, dem hoffentlich ebenso neugierigen wie wieder öffentlich stattfindet und wir Gele- zahlreichen Publikum, bereichernde Begeg- genheit haben, Konzerte in großer Vielfalt nungen mit der Musik unserer Zeit! und Qualität vor Ort zu erleben. In Witten spiegeln sich die globalen Entwicklungen INA BRANDES in diesem Jahr teils sehr unmittelbar in den Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Kompositionen wider. Carola Bauckholts Nordrhein-Westfalen Stück Solastalgia verweist auf das Abschmel- zen der Polkappen und damit auf die elemen- »Verehrte An- und Abwesende!« Die legen- taren Herausforderungen durch den Klima- dären Worte, die Albert Einstein 1930 in ei- wandel. Entscheidend für die Erfolgsgeschich- nen Schalltrichter spricht, erinnern bis heute te der Wittener Tage für neue Kammermusik daran, was das bald 100 Jahre junge Medium war der Einstieg des WDR im Jahr 1969. Be- Radio zu einem so faszinierenden und wich- merkenswert ist auch die große Kontinuität: tigen Begleiter im Leben vieler Menschen Mit Patrick Hahn, der ab diesem Jahr die macht: Es verbindet auf eine unmittelbare künstlerische Verantwortung trägt, wurde Weise. Albert Einstein hebt in seiner Rede der erst dritte Festivalleiter berufen. Harry »die göttliche Neugier«, den »Spieltrieb des Vogt hat diese Funktion 33 Jahre lang erfolg- Forschers« sowie die »konstruktive Phanta- reich ausgeübt, und ich möchte ihm für sein sie des Erfinders« hervor, denen das Radio großes Engagement herzlich danken. Patrick zu verdanken ist. Drei Aspekte, die auch die Hahn wünsche ich viel Erfolg als neuem Wittener Tage für neue Kammermusik in Festivalleiter – wir freuen uns auf eine auch der 55. Festivalausgabe im Zusammenspiel weiterhin fruchtbare Zusammenarbeit! Das des WDR und der Stadt Witten prägen und Festival war und ist nicht nur ein wichtiges die man noch ergänzen muss, um die kriti- Fenster in die zeitgenössische Musik, es ist sche Poesie, mit der Künstlerinnen und auch ein experimentierfreudiges Forum für Künstler ihren Blick auf die Gegenwart an- neue Formen und Formate der Auseinander- reichern. Die Kunst hatte Albert Einstein in
GRUSSWORTE 7 seiner kurzen Rede fest im Blick, wenn er Epizentrum – den Saalbau Witten – gewor- hervorhebt, dass das Radio »die erst wahre fen, wo die Fäden des Festivals zusammen- Demokratie möglich« macht. Sie erleichtere gehalten werden. Seit 2020 befindet sich »nicht nur des Menschen Tagewerk«, son- das Kulturforum Witten im Wandel und so dern mache »auch die Werke der feinsten präsentiert sich besonders der Saalbau Denker und Künstler […] der Gesamtheit zu- Witten als ein offenes und zukunftsweisen- gänglich«. »Übertragen« werden in diesem des Kulturhaus. Umso mehr freuen wir uns Jahr auf WDR 3 – linear, im Netz und seit auf besondere performative Highlights, Kurzem auch über die WDR 3 App – am die für die Besucherinnen und Besucher Festivalwochenende nicht nur 706 Minuten teils noch unerschlossene Räumlichkeiten Programm live und zeitversetzt aus Witten. des Saalbaus zugänglich machen. Neben Witten 2023 ist auch in anderer Hinsicht ein dem Saalbau Witten wird es auch wieder Jahr der »Übertragung«, in dem nach 33 Jah- Konzerte in der Blote Vogel Schule, dem ren die Künstlerische Leitung von WDR 3 Ruhr-Gymnasium und dem Märkischen Redakteur Harry Vogt auf seinen Nachfol- Museum Witten geben. Wer sich in den ger Patrick Hahn übergeht. Auch diese Aus- Pausen oder nach den Musikerlebnissen gabe der Wittener Tage wurde noch wei- dann noch tiefer mit der Materie beschäf- testgehend von Harry Vogt geplant, dem tigen möchte, ist herzlich eingeladen, die ich für sein jahrzehntelanges, das Musikle- Ausstellerinnen und Aussteller zum Thema ben weit über den Rundfunk hinaus prä- »neue Musik« im Foyer des Saalbaus zu be- gendes Wirken danken möchte. Patrick suchen. Hahn wünsche ich für diese und die künfti- gen Ausgaben eine glückliche Hand. Dank der großzügigen Förderung durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft MATTHIAS KREMIN des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Programmbereichsleiter WDR 3 Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der Kunststiftung NRW und der Ernst von Wir freuen uns, zum 55. Mal Spielstätte des Siemens Musikstiftung und der guten international bekannten Festivals Wittener Zusammenarbeit von WDR, Kulturforum Tage für neue Kammermusik zu sein. Das Witten und Stadt Witten können wir Ihnen Genre reduziert sich nicht allein auf die spannende Klang- und Hörerlebnisse ver- geschlossene »Kammer«. Seit 1997 werden sprechen. Ich wünsche Ihnen eine inspirie- die Konzerte um Freiluft- und Klangkunstar- rende Zeit mit anregenden musikalischen beiten erweitert. Nachdem im vergangenen Erlebnissen. Jahr der historische Schwesternpark der Dia- konissinnen von Witten akustisch erforscht, LARS KÖNIG vermessen und neu inszeniert wurde, wird Bürgermeister und Kulturdezernent der Stadt Witten in diesem Jahr ein ganz besonderer Blick ins
8 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 UNSICHTBARE FÄDEN »Alle Kulturen entwickeln sich durch die Art Natur, so im Streichquartett von Bastien des Zuhörens«, schreibt die amerikanische David oder in der Betrachtung einer Ein- Komponistin Pauline Oliveros 1999. Wie tagsfliege bei Yiran Zhao. Auf besondere würde es sich anfühlen, in einer Gesellschaft Weise gilt dies natürlich auch für Carola zu leben, in der stets und überall so aufmerk- Bauckholt, die Porträtkomponistin dieses sam zugehört wird wie bei den Wittener Witten-Jahrgangs, die in ihrem Schaffen Tagen für neue Kammermusik? »Zum Zuhö- ein ganz besonderes Verhältnis zur »Klang- ren gehört ein wechselseitiger Energiefluss, ökologie« pflegt. Sie leiht ihr Ohr den Ge- ein Energieaustausch, eine sympathische räuschen des Alltags wie auch den Klängen Schwingung«, schreibt Oliveros weiter. der Natur und gestaltet in ihrer Musik Er- »Das Einstimmen auf das Netz von sich fahrungsräume, die es den Zuhörer:innen gegenseitig unterstützenden, miteinander erlauben, sich in ein neues Verhältnis zur verbundenen Gedanken, Gefühlen, Träu- Welt zu setzen. Ihr mikroskopischer Blick men und Lebenskräften, die unser Leben auf konkrete Phänomene macht es möglich, ausmachen; Empathie; die Grundlage für das große Ganze im Detail zu erkennen. Sie Mitgefühl und Liebe.« Erst das gemeinsame thematisiert damit auch die Frage, wie sie Erleben von Musik im Konzert ermöglicht als Künstlerin auf die Welt Einfluss nehmen diese besondere Form der Resonanz. Die kann. Dass das Zuhören zurückwirkt auf die Empathie der Komponist:innen dieser Fes- Musik (und damit auf die Welt), davon ist tivalausgabe, sie gilt aber längst nicht nur Christian Mason überzeugt, der mit seiner den Beziehungen der Punkte und Linien auf Konzertinstallation Invisible Threads das dem Notenpapier. Sie richtet sich auf die Märkische Museum in Vibration versetzt. Beziehung zu den »Gänsehautmomenten« Auf der Grundlage eines Textes von Paul der Musikgeschichte bei Sara Glojnarić, Griffiths untersucht er die unsichtbaren Patricia Alessandrini wartet gleich mit einer Verbindungen, die sich zwischen Hörenden »vollständigen Musikgeschichte« auf und und Musizierenden in einer weitgehend interpretiert sie auf Grundlage ihrer Reprä- offenen Hörsituation ergeben und welche sentationen, Klaus Lang schreibt ein »mit- Wechselwirkungen sie zeitigen. Das zugrunde telalterliches Chanson« für die E-Gitarre. liegende Bild des Myzels, des Wurzelge- George Lewis befragt die Verbindung von flechts der Pilze, ist vielleicht nicht nur für Körper und Geist, Eivind Buene umkreist Masons Stück ein treffendes Bild dafür, wie die Differenz des Tons und seiner Realisie- sich Klänge miteinander verbinden, sondern rung, Benjamin Scheuer konfrontiert das auch dafür, wie die verschiedenen Auffüh- Vokalensemble mit den Resultaten seiner rungen eines Festivals ein gemeinsames, eigenen Improvisationen. Die Aufmerksam- rhizomatisches Verbindungsnetz ausprägen. keit der Komponist:innen richtet sich aber Witten 2023, das ist auch eine »Probe für auch auf das Verhältnis von Mensch und die Harmonie der Sphären«, wie man mit
VORWORT 9 Agata Zubels Stück auf einen Text von Jubiläum des Festivals vorbereiten durfte, Stanisław Lem sagen könnte, in dem der konnte ich nicht ahnen, dass ich ihm Jahre Saiten-Raum – wie bei Márton Illés – zum später als Festivalleiter nachfolgen dürfte. »Welt-Raum« wird. Eine ganz besondere Für die »Übertragung« dieser Aufgabe Verbindung nimmt Manos Tsangaris in sei- danke ich den Verantwortlichen sehr herz- nem »Szenischen Hörspiel« Übertragung lich, den Kolleg:innen im Kulturforum Witten in den Blick: Die der Wittener Tage mit dem und im WDR für die Unterstützung bei der Rundfunk. Ein Projekt, das sich in der Auf- Bewältigung der Aufgaben. Den Tonmeis- führung zwangsläufig fragmentarisch prä- ter:innen, Ingenieur:innen und Modera- sentieren muss. Denn es muss offen bleiben, tor:innen danke ich dafür, dass die Wittener wann dieses Hörstück begonnen hat und Tage ein Radiohighlight werden können, den wann es aufhört. Lag der Beginn im WDR Förder:innen, dass sie die Wittener Tage in Hörspielstudio bei der real fiktiven Aufnah- dieser Form unterstützen. Zu guter Letzt me einer Aufnahme-Situation oder in der gilt mein Dank den Komponist:innen und WDR 3 Tonart beim Abspielen eines von Interpret:innen, die es auch in diesem Jahr Manos Tsangaris komponierten Jingles? Ist wieder ermöglichen, dass Witten zu einem die Aufführung das »Hörspiel« oder erst Labor für eine Kultur der Zukunft werden dessen Übertragung im Programm von kann. Denn »Zuhören prägt die Kultur«, wie WDR 3? Die Fragen zur Zukunft des Radios, Pauline Oliveros so treffend schreibt, die Tsangaris auf liebevoll nostalgische »lokal und universell«. Weise aufwirft, sind im Jahr, da das Radio seinen 100. Geburtstag feiert, aktueller PATRICK HAHN denn je. Wo zwei Linien sich schneiden, Redakteur WDR 3 ergibt sich ein Punkt. »In der fließenden Rede ist der Punkt das Symbol der Unter- brechung, und zur selben Zeit ist er eine Brücke von einem Sein zum anderen«, schreibt Wassily Kandinsky in seinem Essay Punkt und Linie zu Fläche. Die Wittener Tage 2023 markieren selbst einen solchen Punkt: Nach 33 Jahren erfolgreichen Wir- kens stammt das Vorwort zu dieser Festival- ausgabe nicht aus der Feder von Harry Vogt, der gleichwohl dieses, sein 34. Wittener Programm, noch vor seinem Ruhestand vorbereitet hat. Als ich 2008 gemeinsam mit ihm die Ausstellung zum vierzigsten
KRAFT DES KLEINEN 11
12 FR 21. APRIL 2023 / 16.00 UHR RUHR-GYMNASIUM, AULA START.PUNKT NEWCOMER KONZERT SHENGTENG ZHANG TOM BELKIND Broken Machine (2022) On the Surface of the Storm (2021) für acht Musiker für Ensemble und Zuspiel Uraufführung / 6’30’’ 8’ MANUEL CONTRERAS VÁZQUEZ YURI CHOI Maim ve daf (2009) XMSN (2022) für Violine, Viola, Violoncello und für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Kontrabass Viola, Violoncello und Playback 4’30’’ Uraufführung / 8’ JIEUN JEONG Futile (2022) IEMA-ENSEMBLE 2022/23 basierend auf einem Text von Maurice PHOEBE BOGNAR Flöte / JEANNE DEGOS Oboe / Maeterlinck DREW GILCHRIST Klarinette / TOBIAS KRIEGER für Ensemble Trompete / MICHAEL MARTINEZ Posaune / Deutsche Erstaufführung / 6’ JAROSLAV NOVOSYOLOV Klavier / YING CHEN CHUANG Schlagzeug / MIRIA SAILER Violine / JONAH NUOJA LUO HAVEN MIHO KAWAI Viola / CLARA FRANZ Violoncello / RIVERTON VILELA ALVES Kontrabass / XIZI WANG cells mold me (2022) Dirigentin / TIM ABRAMCZIK Klangregie für verstärktes Klaviertrio Deutsche Erstaufführung / 6’ In Zusammenarbeit mit der Folkwang Universität der Künste SENDUNG Essen und mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln SO 23. APRIL 2023 / 23.03 UHR Mit freundlicher Unterstützung der Kunststiftung NRW WDR 3
NEWCOMER KONZERT 13 BROKEN MACHINE (2022) CELLS MOLD ME (2022) Eine kaputte Maschine, geordnetes Chaos, Ein halbfertiges Puzzle dreht sich über dem zersplitterte Energie … Manchmal funktio- Wal auf der Bühne. Schwer und süß, die Wel- niert die Maschine für Augenblicke, dann len seiner Barten fühlen sich vertraut an. ist sie wieder kaputt. JONAH NUOJA LUO HAVEN SHENGTENG ZHANG MAIM VE DAF (2009) ON THE SURFACE OF THE STORM (2021) Ein fallender Wassertropfen, der ein struktu- Nach einer großen Explosion schweben die riertes Papier berührt. Im ersten Moment »Relikte des Materials« in der Luft. Texturen behält der Wassertropfen noch seinen volu- und Klangmassen werden erzeugt und wie- metrischen Körper, dann verbindet der Ab- der aufgelöst. Sie ersetzen sich gegenseitig, sorptionsprozess schnell beide Materialien. in der Hoffnung, am Ende ein Gleichgewicht Das Wasser verschwindet in der unebenen, zu erreichen. Das Zuspiel ist das Rückgrat zerknitterten Oberfläche des Papiers. In des Stücks, während die akustischen Instru- Maim ve daf materialisiert sich die unumkehr- mente eine Art »Haut« bilden, die sich gele- bare Verwandlung der beiden Substanzen in gentlich zu lösen droht. einem Rallentando natürlicher Obertöne. TOM BELKIND MANUEL CONTRERAS VÁZQUEZ FUTILE (2022) XMSN (2022) »Sobald wir etwas aussprechen, entwerten In meiner Komposition XMSN (ein militäri- wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der scher Begriff für »Übertragung«) werden im Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn Internet gefundene Klänge – aus dem von wir wieder an die Oberfläche kommen, Russland begonnenen Krieg gegen die Uk- gleicht der Wassertropfen an unseren raine – verfremdet wiedergegeben. Sie er- bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem klingen im LIVE-Playback und durch ein Me- Meere, dem er entstammt. Wir wähnen gaphon im Resonanzraum des Klaviers. Am eine Schatzgrube wunderbarer Schätze Ende der Komposition werden eine Anti entdeckt zu haben, und wenn wir wieder kriegsdemonstration sowie ein Gespräch ans Tageslicht kommen, haben wir nur zwischen einer Mutter und ihrem Kind zi- falsche Steine und Glasscherben mitge- tiert: »Vertrau mir. Viele Menschen wollen bracht; und trotzdem schimmert der Schatz keinen Krieg«, sagt die Mutter. Dieses Stück im Finstern unverändert.« Aus: Maurice ist meine politische Stellungnahme gegen Maeterlinck La morale mystique, Paris 1896. diesen und andere Kriege. JIEUN JEONG YURI CHOI
14 FR 21. APRIL 2023 / 17.30 – 19.30 UHR SA 22. APRIL 2023 / 13.00 – 15.00 UHR SO 23. APRIL 2023 / 13.00 – 15.00 UHR SAALBAU WITTEN UND CONTAINER AUF DEM VORPLATZ Bei Ankunft bis 60 Minuten nach Beginn ist es möglich, das gesamte Stück mit seinen 8 Stationen zu sehen. Begrenzte Publikumskapazität. Eintrittskarten erhalten Sie ab Fr 21. April kostenlos im Festivalbüro. SCHALT.PUNKT MANOS TSANGARIS Übertragung (2022 – 23) Szenisches Hörspiel in Stationen für Moderationen, Performance, Gesang, Instrumente, Rundfunktechnik, Video Kompositionsauftrag der Stadt Witten und des WDR Uraufführung / 120’ TRIMEDIA Making-of für Moderation, Technik, Darsteller, Kaffeetafel Saalbau, Digital Labor UG / ~7’ NIKLAS RUDOLPH Moderation / LIESEL GRAF Gast / ANIKO TOTHPAL Darstellerin REDAKTOR Erfindungs-Grube für Bariton- und Flöten-Darsteller Saalbau, Garderobe Kapellmeister UG / 120’ CORNELIUS UHLE Bariton / DANIEL AGI* Flöte SCHALTE (Reduktor) für Sopran, Violine, Bassklarinette und Video Saalbau, Publikumsgarderobe UG / ~7 ’ SOL-I SO SOPRAN / JAE A SHIN* Violine / HENI HYUNJUNG KIM* Klarinette
15 BAR für Bar und Video-Projektion Saalbau, Foyer EG / 120’ SENDUNG für Moderation und Interview-Partner:innen Saalbau, Vorplatz, Container links / 120’ MICHAEL STRUCK-SCHLOEN Moderation / WECHSELNDE STUDIOGÄSTE PRIVATE LISTENER für Sopran, Darsteller und Radio Saalbau, Vorplatz, Container rechts / 120’ ELISABETH HOLMER Sopran / BORIS KREINBERG Darsteller AUFNAHME für Sopran, Violoncello, Klavier, Schlagzeug, Rundfunktechnik, Zuspielungen und Licht Saalbau, Festsaal C / ~7’ LIDIA LUCIANO Sopran / NIKLAS SEIDL* Violoncello / THIBAUT SURUGUE* Klavier / MORITZ KOCH* Schlagzeug RADIOTOP für Moderation, Bariton, Darsteller und Rundfunktechnik Saalbau, Restaurantbereich OG / ~7’ MARTINA SEEBER Moderation / FREDERIK SCHAUHOFF Bariton / SASKIA BRONS, KARIN JURASCHKA, JONAS NOËL HOLMER, SIMON MARIUS HOLMER Darsteller:innen *Mitglied des Ensembles hand werk SENDUNG FR 21. APRIL 2023 SA 22. APRIL 2023 SO 23. APRIL 2023 Besonderer Dank an Dr. Gisela Rascher und Nicolas Berge WDR 3 für die dramaturgische Beratung
16 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 MANOS TSANGARIS ÜBERTRAGUNG (2022 – 23) Ob in winzig, in Labor oder in Beiläufige »Die Zuschauer:innen sind eingeladen in Stücke – wann immer Manos Tsangaris in ein permanentes, komponiertes Making-of. den vergangenen Jahrzehnten im Rahmen Es geht mir um eine möglichst dichte Ver- der Wittener Tage für neue Kammermusik flechtung des ›realen‹ und ›fiktiven‹ Rund- ein neues Stück beigetragen hat, hat er stets funk-Betriebs innerhalb des Festivals.« das große Ganze im Blick gehabt. Und das, Schon Wochen vor dem Festival hat WDR 3 obwohl »seine« Form die »kleine« ist, die seine Hörer:innen eingeladen, Radiogeräte Miniatur. Zunächst war es »Musiktheater einzusenden, die im »Radiotop« des Hör- für ein Haus«, dann war es die Konzertform, spiels eine Rolle finden, im Hörspielstudio die er mit Guerilla-Interventionen punktiert des WDR hat Tsangaris Zuspielungen und hat. Die »beiläufigen Stücke« bespielten musikalische Module vorproduziert, die im schließlich die ganze Stadt bis in die sie um- Rahmen der Live-Aufführungen und der Ra- gebende Naturlandschaft. Gemeinsam ist dio-Übertragungen des Festivals eine Rolle diesen Arbeiten allen, dass sie sich präsen- spielen. Das Libretto basiert in Teilen auf tieren in einer Folge von Stationen, Ab- Straßeninterviews, die Tsangaris als »rasen- schnitten oder Fragmenten, die sich erst im der Reporter« in Fußgängerzonen geführt Nachhinein, im Kopf des Zuhörers zu ei- hat und in denen er Passanten nach ihrer nem Gesamtbild fügen. Mit einem »szeni- Beziehung zum Radio befragt hat. »Der Be- schen Hörspiel« fügt Tsangaris seinen Wit- griff ›Übertragung‹ beinhaltet eine Vielfalt ten-Stücken nun eine weitere »Gattung« möglicher Bedeutungen«, betont Tsangaris, hinzu. Es nimmt eine Facette in den Blick, »von der technischen bis zur psychoanalyti- die seit 1969 zu den Wittener Tagen gehört, schen, der endemischen bis zur linguisti- die jedoch meist unsichtbar bleibt: Witten schen, von der Tätigkeit des Übersetzens als ein »Radiofestival«, das maßgeblich vom bis hin zur Gedanken-Übertragung. Das Rundfunk getragen, gestaltet und verbreitet griechische ›metà phérein‹ bedeutet wird. »Es handelt sich eigentlich auch um ›hinüber tragen‹. Die wechselseitige Über- eine Liebeserklärung an den Rundfunk, tragung wird zur Metapher der Beziehung das Radiomachen, die Live-Produktion«, von Rundfunk und Live-Ereignis.« Im »Ge- bekennt Manos Tsangaris. Eine Hommage, samtkunstwerk« von Manos Tsangaris ver- die man sich erneut an verschiedenen wischen die Grenzen von Kunst und ihrer Spielstätten, vom improvisierten Radio- medialen (Re-)Produktion. Stay tuned. forum auf dem Vorplatz über die Bar bis hin zum Multimediastudio in den Katakomben PATRICK HAHN des Wittener Saalbaus, erlaufen kann.
SCHALT.PUNKT 17
18 FR 21. APRIL 2023 / 20.00 UHR SAALBAU WITTEN, THEATERSAAL DOPPEL.PUNKT EIVIND BUENE FLORIAN MÜLLER Klavier Doubles (2023) für Ensemble KLANGFORUM WIEN Kompositionsauftrag des WDR mit MATTEO CESARI Flöten Unterstützung des Det Norske MARKUS DEUTER Oboe Komponistfond HUGO QUEIRÓS Klarinetten Uraufführung / 14’ GERALD PREINFALK Saxofon LORELEI DOWLING Fagott, Kontraforte CHRISTOPH WALDER Horn YANN ROBIN ANDERS NYQVIST Trompete Toccata I & II (2023) MIKAEL RUDOLFSSON Posaune für Klavier und Ensemble JANNE MATIAS JAKOBSSON Tuba Kompositionsauftrag des WDR FLORIAN MÜLLER Klavier Uraufführung / 18’ ANNA D´ERRICO Klavier BJÖRN WILKER Schlagwerk ALEX LIPOWSKI Schlagwerk – PAUSE – CHRISTOPHE SAUNIÈRE Harfe GUNDE JÄCH-MICKO Violine SARA GLOJNARIĆ SOPHIE SCHAFLEITNER Violine Pure Bliss (2022) PAUL BECKETT Viola für Ensemble, Gastdirigent und ANDREAS LINDENBAUM Violoncello Surround-Tape JOHN ECKHARDT Kontrabass Erste Bank Kompositionspreis 2022 PETER BÖHM Klangregie Deutsche Erstaufführung / 13’ VIMBAYI KAZIBONI Leitung GEORGE LEWIS Disputatio (2022 – 23) für Ensemble Kompositionsauftrag des WDR Uraufführung / 17’ SENDUNG WDR 3 LIVE
DOPPEL.PUNKT 19 EIVIND BUENE DOUBLES (2023) In Shakespeares Der Sturm flüstert der Luft- nisch gesprochen, eine Tonhöhenabwei- geist Ariel Ferdinand, dem Prinzen von Nea- chung von 14 Cent ergibt.) Wir hören eine pel, ein Gleichnis ins Ohr: Auf den Knochen Terz, aber auch eine Vibration, die durch die seines verstorbenen Vaters wird unter der Kollision zwischen den Terzen entsteht. Ein Wasseroberfläche etwas Neues entstehen – weiteres Beispiel ist die Verwendung von etwas »Reiches und Fremdes«. Beim Hören Mehrklängen im Cello und Kontrabass, wo von Musik erlebe ich auch grundlegende wir die Töne zwar als Tonhöhe hören, aber Veränderungen, je nachdem, ob ich mich auch die Reibung zwischen den widerstrei- beim Erklingen eines Instrumentes auf den tenden Obertönen. Ein drittes Beispiel ist Ton konzentriere – oder auf den Klang des eine Passage, in der Saxophon und Fagott Instrumentes an sich, auf den Knochen, eine einfache Melodie unisono spielen. Auf- oder die Koralle. Jede gespielte Note vermit- grund der tiefen Stimmung des Saxophons telt neben der Tonhöhe auch eine ganze ähnelt das Ergebnis eher einem analogen Welt anderer Informationen. Wenn ich Synthesizer, bei dem die Oszillatoren leicht akustischen Instrumenten zuhöre, bin ich verstimmt sind. Die Instrumente spielen oft immer von dieser doppelten Identität faszi- einzelne, anhaltende Klänge. Klänge, die ich niert. als Klangskulpturen in einem mehrdimensio- In Doubles arbeite ich mit sich langsam ent- nalen Klangraum höre. Diese Klangstämme wickelnden Tonhöhenstrukturen, die den treffen sich in größeren Klangkonstellatio- Zuhörenden Hinweise auf all diese anderen nen, die manchmal an eine erkennbare Har- musikalischen Eigenschaften geben können. monie grenzen, und sich langsam durch den Etwas lapidarer ausgedrückt: Ich versuche, Zeit-Raum der Aufführung bewegen. Die den instrumentalen Klang sanft zu »ha- wiederkehrende harmonische Abfolge – fast cken«, um eine Art instrumentales Unbe- wie bei einer Chaconne – bestimmt die for- wusstes zu enthüllen. Ich möchte ein Bild male Entwicklung des Stücks. Der größte schaffen, in dem wir die Musik sowohl als ei- Teil der Musik entwickelt sich langsam, or- ne Struktur von Tonhöhen (in traditionellen ganisch, mit wiederkehrenden Versuchen, Begriffen) als auch als Klang an sich (in phä- eine melodische Linie zu etablieren – eine nomenologischen Begriffen) hören. Melodie, die, wenn sie schließlich die klang- Zu Doubles werden sie, wenn ich beispiels- liche Oberfläche durchbricht, ebenso insta- weise die temperierte Tonhöhe mit dem bil ist wie das harmonische System, aus dem nichttemperierten Klang konfrontiere. Ein sie hervorgeht. Beispiel dafür ist die Verwendung fein abge- stimmter Mikrotonalität, zum Beispiel wenn EIVIND BUENE eine Terz gleichzeitig als temperiertes und als reines Intervall gespielt wird. (Was, tech-
20 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 YANN ROBIN TOCCATA I & II (2023) Die Toccatas I & II sind der Ausgangspunkt gibt, bei der im Idealfall alles »unter die eines neuen Zyklus für Klavier und Ensemb- Finger fällt«. Jede Toccata basiert auf le, der eng mit meinen Klavierstudien ver- einem spezifischen pianistischen und bunden ist. Für diese ersten beiden Tocca- technischen Aspekt. Die Toccata I ist von tas habe ich mir die Vorgabe gemacht, nur mechanischer, rhythmischer und wütender die weißen und schwarzen Tasten des Inst- Natur. Sie basiert auf von mir so genannten ruments zu verwenden. Ich wollte um jeden »Aggregaten«. Dabei handelt es sich um Preis vermeiden, nach so etwas wie neuen einfache kleine Sekunden, die gleichzeitig Klangfarben oder gar neuen Klängen zu su- gespielt werden und zwischen den beiden chen, indem ich das Instrument mit Fremd- Händen in sehr hohem Tempo ineinander- körpern präpariere oder mit Objekten im In- greifen. Als hätte jede unserer Hände nur nenraum spiele. (Das kommt vielleicht spä- drei Finger sind Zeige- und Mittelfinger ter, wenn sich die Notwendigkeit aufdrängt.) sowie Ringfinger und kleiner Finger für Wie findet man als Komponist »seinen« die Dauer des Stücks miteinander »ver- Klang, wenn man die so oft benutzte, »ein- schweißt«. Die Toccata II, die einen geheim- fache« Tastatur mit achtundachtzig Tönen nisvollen, kriechenden und höhlenartigen zur Verfügung hat? Auf diese Frage gab es Charakter annimmt, ist für eine einzige für mich nur eine Antwort: eine Geste zu Hand komponiert: die linke. Das Ensemble finden, eine gut erkennbare physische Hand- ist wie ein Schatten des Klavierparts, er- lung, die eine technische Schwierigkeit mit weitert die Geste des Solisten, steigert die sich bringt, und dafür zu sorgen, dass sich Farben und die energetische Dimension diese Geste im Raum der Tastatur und im des Stücks. Laufe der Zeit entfaltet. Dabei wollte ich die ergonomischste Schreibweise finden, die es YANN ROBIN 36 TOCCATA N°1 28 >3 3 > >3 3 >3 3m3 m3 3 n3 b3 3 3 3 3 3 3 3 n3 b3 3 3 m3 3 3 n3 b3 3 98 b3 3 b3 3 m3 n3 33 3 b3 m3 3 33 3 3 m3 n3 100 & 3 3 b3 3b 3 3 3 333 R ≈ ‰ Fl. æ æ æ æ ææ 3 3 3 æ æ æ æ æ æææ æ æ æ ææ æ ææ SfffZ F SfffZ F 5 SfffZ F 5 SfffZ ä MM äM . MM .. MM äM MM MM .. MM .. MM ã MM M MM .. M. MM M MM M M. MM M ≈ ‰ & Ob. M M M. M SfffZ SfffZ SfffZ j j j j r t 666 666 ... 666 666 666 ... 666 ≈ ‰ b œ¿ œ¿ . b œ¿ Cl. œ œ. œ â â â SfffZ SfffZ SfffZ Bsn t j j j j r ≈ ‰ bœ œ. œ bœ œ. œ â â â SfffZ SfffZ SfffZ >1 >1 >1 ä ä æ ? R ≈ ‰ R ≈ æ æ æ R ≈ ‰ F.Hrn. œ æ æ æ æ æ æ æ æ œ æ æ ææ æ æ & æ Îf Îf æ æ æ ææ æ ææ æ æ æ SfffZ F Îf SfffZ F > > 1 1
DOPPEL.PUNKT 21 SARA GLOJNARIĆ PURE BLISS (2022) Am Anfang von Pure Bliss stand die Suche ihrer eigenen Erinnerung hinzufügen und nach musikalischen Gänsehaut-Momenten. gestalten damit jeweils ihre persönliche Fas- Wie bei einem »Crowd-Sourcing«-Projekt sung. Untersucht wird dabei auch die Suche habe ich nicht nur in meiner Erinnerung ge- nach einem nicht enden wollenden klangli- wühlt, sondern auch die Mitglieder des chen Vergnügen, nach anhaltender Begeis- Klangforum Wien nach ihren Lieblingsmo- terung und Momenten reiner Glückseligkeit. menten gefragt. Pure Bliss ist wie eine Folge Die Spielhaltung der Interpreten würde ich musikalischer Polaroids, die Schnappschüs- mir erträumen, wie Pauline Oliveros sie in se von Monteverdi, Victoria und Rameau bis ihren Sonic Meditations beschreibt. »1. Tat- hin zu Nick Drake und Sufjan Stevens ver- sächlich Klänge erzeugen. 2. Sich aktiv Klän- eint. Das Instrumentalensemble zoomt ge- ge vorstellen. 3. Vorhandene Klänge hören. wissermaßen hinein in diese Momente, ver- 4. Sich an Klänge erinnern.« Und das alles größert sie. Und ich bin schon gespannt, gleichzeitig. welchen herzzerreißenden Moment Vimbayi Kaziboni auswählt – die musikalischen Lei- SARA GLOJNARIĆ ter der Aufführung dürfen jeweils etwas aus
22 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 27 GEORGE LEWIS b œ. Ÿ~~~~~~~~~~~~~~ Ÿ~~~~~~~~~~~~~~ œ. œ œ. b œ. n œ. b œ. äœincreasingly strangled voice grunt and play b œ. ≈ b œ. ‰ ≈ œ œ ≈ œ. . œ. > ‰ ≈ bœ ‰ œ. œ ≈ #œ œ ‰ ‰ ≈ ‰ ≈ ‰ ≈ œ œ ≈ ‰ 89 & DISPUTATIO (2023) œ æ æ > æ æ æ Fl. p cresc. F f Ÿ~~~~~~~~~~~~~~~ Ÿ~~~~~~~~~~~~~ b œ. œ. b œ. n œ. œ. # œ. œ voice grunt and play äœ > ≈ b œ. ‰ increasingly strangled & b œ. ≈ # œ. ‰ ≈ b œæ œæ ≈ n œ. ‰ œ bœ. œ œ. ≈ ‰ ‰ ≈ ‰ ≈ ‰ ≈ bœ œ ≈ ‰ Ob. bœ œ æ æ æ p > Disputatio setzt meine Faszination für die nach Afrika zurückkehrte. F Für mein Werk f klassisch-amerikanische Darstellungsweise Ÿ~~~~~~~~~~~~~~~ Ÿ~~~~~~~~~~~~~~ Amo (2021) für fünf Sänger œ. und Live-Elekt- # œ. >œ œ voice grunt and play b œ. ≈ œ. ‰ ≈ increasingly strangled ≈ ‰ ≈ æ æ≈ ‰ ≈ ‰ œ ≈ ‰ œæ ‰ œ ≈ œ ‰ ≈ ‰ fort,& die B b Cl. œ. sich œ. inœ Amy œ œ. Beachs œ. »Gaelic« . œ. œ Sym- œ. ronik â verfasste . ich einen mehrsprachigen æ æ p œ œ œ > F f phony, Charles Ives’ The Housatonic at Stock Text aus Amos voice grunt and playDisputatio philosophica conti- cresc. Ÿ~~~~~~~~~~~~~ b œ. œ. œ. œ. œ. b œ. Ÿ~~~~~~~~~~~~~~~ äœ œ >œ œ b œ. ≈ b œ. ‰ ≈ æ æ ≈ œ. ‰ b œ increasingly strangled & (und œ. ‰ ≈ Werken), bœ. œ den œ. ≈ œ nens œ ‰ ideam ‰distinctam ≈ ‰ ≈ eorum ‰ quae ≈ ≈ ‰ bridge in vielen bœ œ anderen > æ æ æ competunt A. Sx. p F Kompositionen von Thomas »Blind Tom« cresc. vel menti vel corpori nostro vivo et organico.f In Wiggins, ? Elliott ∑Carters frühen b ww sing Streichquar- seiner ww philosophischen Disputation geht es # ˙˙ .. œœ Bsn. tetten, und Duke Ellingtons π»Tonparallelen« play F die Frage, was zump Geist oder zu unse- um Í slow findet. In leichter ∑ Abwandlung eines sugge- rem lebendigen und organischen Körper +o+o ? ww ww sing & Hn. b ˙˙ .. œœ stiven Konzepts von Kodwoπ Eshun ist play gehört. F Dieser Text wurde p für die Verteidi- Í Disputatio eine Art akustisch-spekulative gung eines Wittenberger Philosophiestu- & ∑ ∑ ∑ ∑ Fiktion, die eine öffentliche philosophische denten geschrieben, die Amo selbst leitete. C Tpt. Disputation bdes -. Philosophen Anton Wil- InŸ~~~~~~~~ Disputatio stelle ich mir vor, wie diese Ÿ~~~~~~~~ œ >œ . >œ œ . b >œ ˘œ . bisb with trigger œ œ bœ œ bisb with trigger ? Amo take plunger helm Tbn. œ ≈ ‰ (1703–1759) schildert. Aus einer J Verteidigung ‰ geklungen haben könnte ∑ – in f P π Region im heutigen Ghana subito nach Deutsch- meiner musikalischen Nacherzählung recht landã gebracht, Perc. 1 wæ ermöglichte ihmwæ die adlige lebendig, wæ umstritten und wæ vielleicht sogar Familie, der Amo diente, eine Í Ausbildung zu Í kontrovers. Í erhalten. Er schloss 1729 sein Jurastudium Lg. Sizzle Cymb. bowed ∑ ∑ Ó X X L.V. Ó ã Perc. 2 an der Universität Halle ab, studierte Philo- p GEORGE LEWIS F (√) sophie ˙˙ .. an der Universität Wittenberg∑ und & ˙˙ .. b # œœœœ ∑ ∑ lehrte schließlich Philosophie an den Uni- ggg # www Pno. ? w versitäten Halle und Jena, bevor ggg b www er 1747 ∑ ∑ ww w P ° * Vln. I & ≈ ≈ ≈ ≈ f Vln. II & f Vla. B ‰ ‰ ‰ ‰ f ? æ j œ ˙æ. wæ wæ œæ œæ. ˙æ Vc. Í Í Í f ? wæ œ œ ˙æ. wæ ˙æ b˙ æ æ æ D.B. Í Í Í f
23 FR 21. APRIL 2023 / 22.30 UHR SAALBAU WITTEN, FESTSAAL SCHMELZ.PUNKT PATRICIA ALESSANDRINI A Complete History of Music (2020 – 21) für Streichquartett und Elektronik Kompositionsauftrag des WDR Uraufführung / 20’ CAROLA BAUCKHOLT / KARIN HELLQVIST Solastalgia (2020 – 23) für Violine, Zuspiel und Video von Eric Lanz Kompositionsauftrag des Swedish Arts Grants Committee Uraufführung / 19 ’ KARIN HELLQVIST Violine QUATUOR DIOTIMA YUN-PENG ZHAO Violine LÉO MARILLIER Violine FRANCK CHEVALIER Viola PIERRE MORLET Violoncello Live-Elektronische Realisation: SWR EXPERIMENTALSTUDIO MICHAEL ACKER Klangregie DANIEL MISKA Klangregie SENDUNG WDR 3 LIVE
24 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 PATRICIA ALESSANDRINI A COMPLETE HISTORY OF MUSIC (2020 – 21) Dieser ironische Titel spielt auf meine Pra- in früheren Kompositionen interpretiert xis an, bereits existierende Musik komposi- habe, oder interpretiere Werke, die ich zu- torisch zu »interpretieren« oder »zu reprä- vor interpretiert habe, indem ich meine sentieren«. Ich beginne mit einem bereits Kompositionen, die sie repräsentieren, neu existierenden, meist bekannten Werk, das repräsentiere. In anderen Sätzen versuche reicht von Purcell und Mozart, Schubert und ich, Analyse-, Verkleinerungs- und Darstel- Händel bis zu Schönberg. Tim Rutherford- lungstechniken aus dem Film und der bil- Johnson beschreibt diesen Prozess wie folgt: denden Kunst zu verwenden. Indem ich die »Sie sammelt Aufnahmen der Stücke und Elemente des ursprünglichen Werks neu legt sie übereinander. Digital werden sie so anordne, versuche ich, etwas zu destillieren, angepasst, dass sie trotz unterschiedlicher das nur durch diesen Perspektivenwechsel Geschwindigkeiten übereinander passen. sichtbar wird. Durch die Distanz, die diese Dieses vorläufige Modell wird dann wieder- Formen der Repräsentation schaffen, steht um – in einem selektiven und kreativen Akt – der Akt der Interpretation selbst im Vorder- transkribiert, um die Partitur zu erstellen.« grund und macht ihn genauso wichtig wie In diesem (sechsten) Quartett verschiebe (oder wichtiger als) das Werk, das repräsen- ich den Fokus auf die Analyse und Reprä- tiert wird. sentation an sich. In einigen der kurzen Sät- zen präsentiere ich Werke, die ich bereits PATRICIA ALESSANDRINI 1 Adagio a complete history of music: mvmtiii Un poco più lento Patricia Alessandrini iii - 1-4 = 42-44 poco rit = 40-42 H EST H 8va 1/2 c l MSP MST1/2 SP 2º N 5º M 7º gett vln 1 6 9 3 8 16 4 3 sub N M 4º N H 2º N 3 3º M 5º 3º poco vib vln 2 6 9 3 8 16 4 5 I haut H sub III Re bas H MST ORD H N MST PSP 5º IV mi bas 3º 3º poco vib non vib ( ) vla 6 ( ) ( ) 9 3 8 ( ) 16 4 ( ) 3 6 N qn MST 7 PSP M 5º N PST 4º ORD MSP 11º ESP MST M PSP 4º 7º º2º H 1/2 c l ( ) con crini iº 7º vlc 6 9 3 8 16 4 IV sib bas sub = 42-44 A Un poco più lento = 40-42 (1/2 c l) SP EST con crini gett gettato EST PST (gettato 5 4º 5º 4º sempre 4º ( ) sempre) + vln 1 3 4 SENDUNG 5 5 5 qn 3 ( ) WDR 3 LIVE ºgett 2 3º 5º gettato sempre 8va MST 5º vln 2 3 I haut 4 III Re bas 3 ( ) IV mi bas gettato gett ( ) sempre ( ) 4º vla 3 4
SCHMELZ.PUNKT 25 CAROLA BAUCKHOLT / KARIN HELLQVIST SOLASTALGIA (2020 – 23) Der eskalierende Klimawandel und seine Schon im Jahr 2020 begann unsere gemein- Auswirkungen auf unsere Umwelt und unser same Arbeit an diesem Stück – online. Aus- Leben sind der Hintergrund zu Solastalgia. gangspunkt waren Tonaufnahmen von arkti- Solastalgie ist definiert als die emotionale schem Eis, die wir im Internet fanden. Wir oder existenzielle Not, die wir erleben, versuchten diese Klangereignisse mit der wenn sich negativ wahrgenommene Um- Geige akustisch nachzubilden. Dabei mach- weltveränderungen vor unseren Augen ent- ten wir die Erfahrung, dass eine einzelne falten. Der Begriff wurde bereits 2005 von Geigenstimme nicht dem ganzen Klang- Glenn Albrecht geprägt, Professor für Nach- reichtum des Eises entsprechen kann. So haltigkeit an der Murdoch University in begann Karin Hellqvist, Tonaufnahmen zu Westaustralien. Solastalgie kann sowohl mit machen und diese in Schichten zu überla- der Trauer um das, was bereits verloren ist, gern. Wir konnten uns eine visuelle Ebene als auch mit der Angst vor dem, was die Zu- zu diesem Thema gut vorstellen und fanden kunft bringen könnte, in Verbindung ge- in Eric Lanz einen ausgezeichneten Partner. bracht werden. Sowohl aus ästhetischen als Er entschied sich für den Prozess der Bil- auch aus aktivistischen Gründen galt unser dung von Salzkristallen als Metapher für das Interesse besonders den vielfältigen und be- schmelzende Eis. Solastalgia entstand in Zu- törenden Klängen des Eises. Eis ist keines- sammenarbeit mit dem Studio für Elektroa- wegs stumm. Eine Fülle von Klängen ertönt kustische Musik der Akademie der Künste in in seiner Umgebung für diejenigen, die zu- Berlin (2021 – 22) und dem Experimentalstu- hören. Doch die Botschaft des Eises wird dio des SWR in Freiburg. von politischer Bürokratie und wirtschaftli- chen Interessen gedämpft, während die Uh- CAROLA BAUCKHOLT / ren ticken und geologische Prozesse sich be- KARIN HELLQVIST schleunigen und nicht umkehrbar sind.
26 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 Bilder von Dingen, die verschwinden, neigen Beobachtungsobjekt zu arbeiten, während dazu, deren Verlust zu negieren; das Zeigen man Eis »vor Ohren« hat, ist auch darauf des Teils von ihnen, der noch da ist, trägt zurückzuführen, dass die Kristallisation von die Illusion in sich, sie in der Welt zu halten. Salz ohne jegliche Beeinflussung erfolgt. Es Stellt das Eis der Pole eine Art imaginären braucht nur Zeit, um das Wasser verdunsten Ursprung und Reservoir des Lebens in Form zu lassen, und somit Geduld, um zu sehen, von festem Wasser dar, so kann das Ver- wie es sein Aussehen verändert, während schwinden des Wassers an Orten wie die Bildung von Eis besondere Bedingungen schrumpfenden Meeren oder Salzwüsten im und viel Energie erfordert. Es kommt hier anderen Extrem für das Ende des Lebens in nicht auf die physikalisch korrekte Darstel- jeder Form stehen. Vor diesem Hintergrund lung von Eis zwischen seinem flüssigen und erscheinen Salzkristalle und komprimierter festen Zustand an. Wichtig ist, dass die Bil- Schnee als zwei völlig gegensätzliche Dinge der es dem Betrachter ermöglichen, sich im mit erstaunlichen Parallelen in ihrer Erschei- Detail auf die intimen Prozesse zu konzent- nungsform. Leben und Tod liegen sehr nahe rieren, die das Material durchläuft. Die Se- beieinander, wenn es um Bilder geht, die quenzen folgen den Wellen, in denen es sich den Schmelz- oder Kristallisationsprozess immer wieder aufbaut und schließlich wie- eines von beiden zeigen. Dieser Gegensatz der auflöst. Im musikalischen Teil des Wer- und die damit verbundene mögliche Verwir- kes werden die Klänge in einem ähnlichen, rung wird durch die Tatsache verdoppelt, iterativen Prozess bearbeitet. dass die betrachteten Sequenzen einmal vorwärts und einmal rückwärts gezeigt ERIC LANZ werden. Die Entscheidung, mit Salz als
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28 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 KLINGT GUT. ZUR MUSIK VON CAROLA BAUCKHOLT VON HANNAH SCHMIDT Am Anfang steht das Geräusch: eine sum- »Dagegen erlebe ich immer wieder, dass mir mende Zahnbürste, ein Räuspern, das Kla- durch musikalische Äußerungen die innere cken von Holzstäben auf einer Glasflasche. Struktur des Individuums unmittelbar klar Etwas, was die Komponistin Carola Bauckholt wird. Und sogar sehr differenziert erlebe ich fasziniert – etwas, was in ihr weiterschwingt. sozusagen die Temperatur, die Logik, die »Im Grunde bin ich ein Resonanzkörper«, Verästelungen des Fühlens und Denkens, sagt sie. »Es ist das Neue, was mich anzieht die persönliche Art, Kraft zu gewinnen oder – oder besser: etwas Naives, ein neugieriger zu verlieren, kurz: das individuell Wesentli- Spieltrieb.« Als ich wenige Wochen vor dem che.« Das individuell Wesentliche: Es entfal- Festival mit der Komponistin telefoniere, tet sich im Schaffen von Carola Bauckholt scheint sie über jede meiner Fragen, selbst auf paradoxem Wege. Die möglichst »wahr- wenn sie viele von ihnen sicherlich schon heitsgetreue« Abbildung eines klanglichen tausendmal gehört hat, neu nachzudenken. Eindrucks eröffnet in der Wiedergabe den Keine ihrer Antworten wirkt vorgefertigt, Blick auf die Substanz. Dieses Ziel erreicht kein Gedanke so, als sei er schon durch Carola Bauckholt nicht über eine rezeptions- vielfaches Präsentieren glattgeschliffen. theoretische Orientierung an der potentiel- Sie forscht beim Sprechen nach Wahrheit, len Aufnahme ihrer Musik durch Zuhörende. wie sie in ihrer Musik versucht, dem näher »Wenn ich mich ganz dem widme, was ich zu kommen, was sie nicht loslässt: der Her- spannend finde, dann ist es für die anderen ausforderung des Hörens, Empfindens und auch interessant, denn sonst kann man nur Verstehens. Vielleicht liegt die genaue und pauschal bleiben. Meine Art zu arbeiten, ist bedächtige Sprechweise bei unserem Tele- eine Konfrontation mit mir selbst«, sagt die fonat aber auch an einem grundsätzlichen Komponistin – und meint damit zugleich die Misstrauen dem Wort gegenüber, das sie Konfrontation mit einer Welt, die sie prägt. »überhaupt zur Musik geführt« hat: »Es scheint mir so, als ob sich der Mensch durch Rohes Material die erlernte Sprache ein eigenes Verständ- Carola Bauckholt wurde 1959 in Krefeld ge- nis der Welt erschafft, das voll von unge- boren und ging fürs Kompositionsstudium prüften Übernahmen, Wünschen und Er- 1978 nach Köln zu Mauricio Kagel, in dessen wartungen ist«, schreibt sie 2014. Acustica für experimentelle Klangerzeuger
ESSAY 29 und Lautsprecher sie bereits als 18-Jährige che mit dem Archaischen, vollzieht sich die- mitwirkte. Eigentlich, das betont sie, sei ihr ser Einbruch in ihrem Stück Emil will nicht Werdegang aber ein unakademischer: erst schlafen … (2010) für Stimme und Orchester: die mehrjährige Mitarbeit am experimentel- Für den Solopart hat Bauckholt die Laute len Krefelder Theater am Marienplatz, dann eines weinenden Babys transkribiert, das Kagels offene Klasse, für die es damals keine Orchester übernimmt stellenweise die Aufnahmeprüfung brauchte. »Da gab es Funktion der tröstenden Mutter. »Bei der Freiräume, die man sich heute ganz mühsam Aufführung ist dann durch die Verbindung erkämpfen muss«, sagt sie. Nicht überra- dieses Konzepts mit der Konzertsituation schend war Carola Bauckholt ursprünglich etwas Merkwürdiges passiert«, berichtet inspiriert von der bildenden Kunst: Vor Bauckholt in einem Gespräch mit Barbara allem experimentelle Strömungen wie der Eckle. »Da steht der Dirigent und gibt der Dadaismus, mit dem sie als Jugendliche Solistin den Einsatz, und aus ihrem Mund in Kontakt kam, sprachen sie mehr an als kommen Babylaute. Das stellt die ganze das Klavier, das zu Hause im Wohnzimmer Situation in Frage: Dirigent und Solistin im stand. »In der Schule wurde mal ein Stück schönen Kleid – und plötzlich sieht man von John Cage gespielt, und zwar auf Fla- dieses Bild im Zerrspiegel. Beim Schreiben schen«, erzählt sie. »Das hat mich interes- hatte ich mich nur auf den Klang konzentriert siert«. Anlässlich seines Todes schreibt sie und an diese Situation überhaupt nicht eines ihrer radikalsten Stücke: Geräusche gedacht.« Ein ähnlicher Effekt stellt sich in (1992), in dem sie rohe Geräusche zu Akkor- ihrer Komposition Instinkt (2007) ein, für den zusammenfügt. das sie Tierstimmen, zum Beispiel singende Schlittenhunde, für Sänger:innen bearbeitet Das Gewohnte und das Fremde hat. »Es gab einen Moment, da dachte ich, Diesen experimentellen Umgang mit dem es könnte vielleicht peinlich werden, wenn Naheliegenden, »das bei genauer Betrach- Menschen Tiere imitieren, das ist ja eine tung merkwürdig erscheint, wie das Haar ganz empfindliche Grenze. Aber dadurch, unterm Mikroskop«, hat sie selbst in den dass ich es so fotografisch genau übertragen vergangenen Jahrzehnten zu ihrem Thema habe und die Sänger:innen auch von Auf- gemacht: vom Klang des Streichholzes beim nahmen lernen konnten, ist die Wirkung Entzünden oder dem Geräusch eines Schei- einfach nur verrückt, wenn schließlich in der benwischers in ihrem Musiktheater hellhörig Konzertsituation diese zwei Welten, Mensch (2004 – 07) bis zur Komposition mit Regen- und Tier, aufeinanderprallen.« Die vor- jacken in ihrem Stück Hirn & Ei (2010/2011). sprachlichen Artikulationen des Kindes und Der Auftritt von vier Schlagzeugern in Gore- die animalischen Gesänge sind zwei ver- Tex verbildlicht beispielhaft was sich in schiedene Aspekte einer Beschäftigung mit Bauckholts Musik häufig auf rein akusti- existierenden Materialien, die einerseits ex- scher Ebene vollzieht: Der Einbruch des pressiv aufgeladen und zugleich roh sind. Alltäglichen in den Konzertsaal. Auf andere »Geräusche hören und imitieren ist ja die Weise, und hier vermählt sich das Alltägli- Grundlage meines Schreibens«, so Bauckholt.
30 WITTENER TAGE FÜR NEUE KAMMERMUSIK 2023 »Ob ich das jetzt mit dem Zug mache, mit Skateboard, einen gelben Gummistiefel, ein Maschinen, mit Tieren oder mit dem Hei- gelbes Telefon. Der dritte Teil integriert ein zungskeller, ist eigentlich egal. Anders ist Video und macht Bauckholts Verfahren, ihre hier nur, dass ich mit konkreten Aufnahmen kompositorischen Mittel auf unterschiedli- arbeite und sie transkribiere. Sie gehen nicht che Medien gleich anzuwenden, noch deut- durch meine Imagination, sondern ich nehme licher. Dabei korrespondieren das Bild des real existierendes Material. Die Aufgabe Glühfadens eines Toasters mit »heißen« liegt dann mehr in der Frage: Wie schaffe Klängen, das Bild einer Kühlschranktür mit ich es jetzt, das Material zu verbinden, es »kalten« Klängen. Reizvoll ist für Carola zusammenzusetzen?« Bauckholt vor allem »Fremdes, Fernes oder verschiedene Ebenen zusammenzubringen. In gewohnter Umgebung Und wenn ich etwas sehr Rohes habe, dann Carola Bauckholts Vorgehensweise unter- muss ich damit arbeiten. Das aktiviert mich scheidet sich von jener der Musique concrète, und macht mich stark.« Aus der Begegnung die ihre Geräuschkompositionen mit Hilfe mit der Konkreten Poesie, der Wiener Grup- von Aufzeichnungsmedien gestaltet. Ihre pe und Dichtern wie Gerhard Rühm, über- Musik ist für Interpret:innen geschrieben. nimmt sie die Erfahrung, dass Kunst umso (Und häufig auch in vielen spieltechnischen abstrakter wird, je konkreter sie ist. »In mei- Facetten gemeinsam mit diesen entwickelt.) nen Stücken finde ich die Momente gelun- Auch von der Musique concrète instrumen- gen, wenn das ›Abstrakte‹ und das ›Konkre- tale eines Helmut Lachenmann ist Carola te‹ in perfekte Balance geraten. Wenn Bauckholts Musik weit entfernt. Lachen- es mir gelingt, gleichzeitig auf zwei Ebenen manns Musik knarzt und knurrt, faucht und wahrzunehmen.« In solchen Momenten schmaucht ebenfalls, doch während es ihm wird es möglich, dass scheinbar unzusam- darum geht, die Energien erfahrbar werden menhängende Dinge etwas Neues ergeben – zu lassen, die bei der Hervorbringung von- wie sonst nur im Traum. nöten sind und zugleich das musikalische Material auf seinen musikgeschichtlichen Sträubende Welt Ballast hin zu befragen und zu durchleuch- Dass Kunst etwas Konkretes mitteilt, diesem ten, ist die Fantasie von Carola Bauckholt Anspruch hat sich Carola Bauckholt bislang viel stärker darauf gerichtet, das Theater verwehrt. »Politiker wollen mir etwas mit- der Klänge zu inszenieren, die Assoziationen teilen, auch Werbung will mir etwas mittei- der Zuhörenden freizusetzen. Dabei über- len, aber die Kunst öffnet sich nur, damit ich schreitet sie permanent auch die Grenzen etwas erfahren kann. […] Ich muss die Mög- des klanglichen Mediums. In gewohnter lichkeit haben, dass in meinem Hirn etwas Umgebung (1991 – 94) ist der Titel eines drei- durch meine Sinne in Bewegung gerät. Da- teiligen Zyklus, der Schlüsselwerke aus ihrem für muss ich ein Erfahrungsfeld schaffen«, Schaffen umfasst. So komponiert sie im ersten sagte sie 2015 im Interview mit Barbara Teil einen »gelben Akkord«, in den sie auch Eckle. Dennoch scheint sich in ihren jüngs- sichtbare Objekte integriert: ein gelbes ten Werken noch einmal ein anderer Aspekt
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