Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen

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Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen
Wohnen im Kontext

In der Gemeinschaft,
im Quartier, in der Stadt

Bund Deutscher Architekten
          im Lande Hessen    1
Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen
Inhalt
    Langfristig denken                                    4
    Wohnungsbau wird immer ein Thema sein und bleiben
     Joachim Klie
      Vorsitzender des BDA Hessen

    Strukturen und Diskurse
    Modelle, Organisationsformen,
    politische Dimensionen

    Das Leben fordert neue Räume
    Gute Gründe für ein Umdenken                          8
     Birgit Kasper

    Eine Rechtsform für die Gemeinschaft
    Innenansicht: Anders Wohnen in der Genossenschaft?   14
      Birgit Diesing

    Weiter wohnen wie gewohnt?
    Partizipative Bau- und Wohnformen
      Hilde Strobl                                       20

    Das Wohnen und die ganze Stadt
    Steuern. Entschlacken. Beschleunigen.
      Stefan Rettich                                     26

    Warum Baukosten senken?
    Wohnungsbau, Architektur, Baukosten                  34
     Thomas Jocher

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Projekte und Experimente
Architektonische Konzepte

Wer teilt, bekommt mehr                            44
Die Wohngruppe ‘Gemeinsam Suffizient Leben’ in
Frankfurt am Main
  Hans Drexler

Making Neighbourhood                               48
Das „Kasseler Modell“ – ein Weg zu
kostengünstiger, flexibler und guter Architektur
  Matthias Foitzik

Einheit von Wohn- und Energiekonzept               52
Das Forschungsprojekt „Plus Energy and Modular
Future Student Living – CUBITY“
  Matthias Schönau

Chancen nutzen, weiterdenken                       56
Möglichkeiten und Perspektiven des Bauens mit
Raummodulen aus Holz
  Nicole Berganski

Treppen und Aufzüge müssen draußen bleiben         60
Ein Typus für den kostengünstigen Wohnungsbau
  Michael Schumacher

Autoren, Literaturempfehlungen                     64
Bildnachweis, Impressum                            65

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Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen
Langfristig denken
Wohnungsbau wird immer ein Thema sein und bleiben

                      Als sich im Herbst 2015 die Situation in Deutschland       werden kann. Es geht darum, jetzt Verfahren, die
                      aufgrund der hohen Zahl Geflüchteter zugespitzt            sich bewähren, zu verstetigen, damit sie zukünftig
                      hatte, wurde auch der Blick auf den Wohnungsmarkt          als verlässliche Instrumente zur Verfügung stehen.
                      geschärft. Doch die Lage auf dem Wohnungsmarkt             Und es gilt, trotz aller gebotenen Eile, nicht in der
                      war auch vorher schon aus der Balance geraten, es          Vergangenheit mühsam errungene Qualitäten über
                      wurde also nur intensiver wahrgenommen, was als            Bord zu werfen, Standards, von denen gerade die
                      Entwicklung schon lange vorher absehbar gewesen            Benachteiligten der Gesellschaft profitieren, wieder
                      war. So finden wir uns im Sommer 2017, nachdem             aufzugeben.
                      sich die Zahl der Geflüchteten, die bei uns aufge-         Vielleicht besteht jetzt auch die Chance, die unbe-
                      nommen werden, wieder stark reduziert hat, nach            quemen Fragen zu stellen, die in Zeiten der entspann-
                      wie vor auch deswegen mit einer angespannten               teren Marktlage keiner zu stellen wagt: die nach ei-
                      Lage auf dem Wohnungsmarkt konfrontiert, weil die          ner fairen Besteuerung von Bodennutzung. Die da-
                      Versäumnisse auf diesem Gebiet sich auf mehr als           nach, wie die Orientierung am Allgemeinwohl, zu
                      zwanzig Jahre erstrecken. Sie betreffen die Art und        dem das Grundgesetz Eigentümer verpflichtet, tat-
                      den Umfang der Förderung, sie betreffen die feh-           sächlich eingelöst wird.
                      lende vorausschauende Bodenbevorratung der Ge-             Und schließlich geht es darum, was uns als Gesell-
                      meinden, sie betreffen vielleicht auch die Illusion, die   schaft eine Architektur wert ist, die nachhaltig und
                      man sich gemacht haben mag, dass die Bevölkerung           dauerhaft genutzt werden kann, auch dann, wenn
                      Deutschlands abnehmen werde. Der Frage, wie ein            sich die gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbe-
                      Markt strukturiert sein müsse, der auch auf die ver-       dingungen geändert haben werden. Die Diskussion
                      änderte Zusammensetzung der Gesellschaft, auf das          um den Wohnungsmarkt ist deswegen auf der Ebe-
                      steigende Durchschnittsalter, die vielfältigen Bio-        ne des Städtebaus und der Architektur zu führen
                      grafien und Lebensformen reagieren kann, wurde             und nicht auf der des Stils. Sie umfasst die ganze
                      eventuell eine zu geringe Bedeutung zugemessen.            Bandbreite des architektonischen Schaffens, von der
                      Nun sind wir schlauer. Im Rückblick ist es immer           städtebaulichen Einbindung über die Konstruktions-
                      einfacher, die Ursachen für eine aktuelle Misere           methoden bis zur Grundrissgestaltung. Der Zugang
                      auszumachen. Das Wissen um die Fehler, die ge-             zum Wohnungsmarkt ist eine der grundlegenden
                      macht wurden, ist deswegen aber vor allem eine             Säulen eines fairen Zusammenlebens. Viele Landes-
                      Verpflichtung. Denn gerade mit diesem Wissen gilt          verfassungen haben deswegen den Anspruch auf
                      es heute darauf zu dringen, dass die Wohnungspo-           angemessenen Wohnraum als Staatsziel aufgenom-
                      litik nicht nur auf kurzfristige Effekte zielt, sondern    men.
                      auf mittel- und langfristige Wirkungen achtet. Gera-
                      de die schnell wirksamen Maßnahmen könnten die
                      Probleme von morgen erzeugen. Es geht im Gegen-
                      teil darum, wie eine stabile Struktur in Bewohner-
                      schaft und in der Mischung von Nutzungen erreicht

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Als sich der BDA Hessen Anfang 2016 entschlossen         chitekten bestehen kann. Hier haben gerade die
hatte, eine Veranstaltungsreihe mit dem Schwer-          Kolleginnen und Kollegen aus Hessen anschaulich
punkt auf den Wohnungsbau in allen fünf regio-           machen können, dass auf der Ebene der Architektur
nalen Gruppen des BDA Hessen durchzuführen,              sorgfältiges Planen und intelligentes Entwerfen ei-
sollte deswegen auch der Wohnungsbau allgemein           nen wichtigen Beitrag leisten können, ein den Men-
Thema werden.                                            schen gemäßes und würdiges Wohnraumangebot
Die Suche nach würdigen Unterkünften für Ge-             zu machen. Wir wissen sehr wohl, dass auch noch
flüchtete war einer unter vielen Teilaspekten, die       so gute Architektur alleine das Problem nicht löst.
dabei zur Sprache kommen sollten. Ziel war es, ein       Wir wissen aber auch, dass sie einen Unterschied
Bewusstsein für einen breit angelegten Ansatz zu         ausmacht, dass zu einem anderen Wohnungsmarkt
schaffen, der viele Ebenen berücksichtigt: der den       auch die gute Architektur gehört.
Bestand und Neubau einschließt, der verschiedene         Dafür zu werben, dass die Voraussetzungen geschaf-
Wohnformen und Wohnmodelle neben Standard-               fen werden, dass Architektur ihr Potenzial entfalten
lösungen etabliert, der die Möglichkeiten zur För-       kann, ist dem BDA eine dauerhafte Verpflichtung.
derung und Aktivierung des zivilgesellschaftlichen       Mit dieser Veröffentlichung der Konferenz vom No-
Potenzials nutzt, der Städte jeder Größenordnung         vember 2016 kommen wir ihr nach und hoffen, dass
ebenso wie den ländlichen Kontext berücksichtigt         diese Publikation viele interessierte Leser findet und
und der Land, Kommunen und private Investoren            inspiriert.
gleichermaßen in die Pflicht nimmt. Denn eine ein-
fache Antwort auf die Herausforderung des Woh-           Joachim Klie
nungsmarkts wird es nicht geben können.                  Vorsitzender des BDA Hessen
Eine Konferenz am 30. November 2016 im Deut-
schen Architekturmuseum schließlich bündelte die
Themen der Veranstaltungen, die in den Gruppen
des BDA Hessen landesweit 2016 in Form von Vor-
trägen, Ausstellungen, Diskussionen, Exkursio-nen
stattgefunden hatten. Sie griff exemplarisch die
Themen auf, die sich als die für den Umgang mit der
Problematik wichtigen herauskristallisiert hatten. Die
Konferenzbeiträge schlossen den Blick von außen
ein und haben die Bandbreite der Wohn- und Orga-
nisationsformen präsentiert. Die kritische Perspekti-
ve auf die Forderung nach billigerem Bauen wurde
ebenso berücksichtigt wie die nach dem großen
politischen Rahmen. Und schließlich ging es darum,
zu klären, worin denn letztlich der Beitrag der Ar-

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Strukturen und Diskurse
Modelle,
Organisationsformen,
politische Dimensionen

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Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen
Birgit Kasper

Das Leben fordert neue Räume
Gute Gründe für ein Umdenken

                      Warum gibt es die innovativen, gemeinschaftlichen         der Wohnbiografien, der Differenzierung von Milieus
                      und genossenschaftlichen Wohnformen nicht schon           und neuen Kohorteneffekten ausgehen kann, wird
                      viel häufiger? Wenn man die Gründe betrachtet,            andererseits die industrielle Herstellung von Wohn-
                      warum sich Haushalte mit Kindern, Empty Nesters           raum weiter optimiert, weil bei der gewerblichen
                      oder ältere Singles mit gemeinschaftlichen Wohn-          Wohnungswirtschaft die betrieblichen Sachzwänge
                      projekten oder Baugruppen befassen, so stellt man         und die Logik der Renditeerwartung im Vordergrund
                      fest, dass die aktuellen Produktionsbedingungen           stehen. Und die öffentliche Hand? Kommunen und
                      von Stadt nicht – oder nicht mehr – ihren Wohnbe-         Bundesländer sind ihrerseits eine Bündelung teilwei-
                      dürfnissen entsprechen. Denn während man auf der          se gegensätzlicher Interessen und Ziele. Daher ist es
                      einen Seite inzwischen gesichert von einer weiter         nicht verwunderlich, dass innovative Wohnformen
                      wachsenden Vielfalt der Lebensstile, dem Wandel           in manchen Bundesländern am Wohnungsmarkt

                                        Traditionelle Wohnbiografie            Zunahme der Variationen

                                        Kindheit im Haushalt der Eltern        Umzug wegen Scheidung oder beruflichen Veränderungen der
                                                                               Eltern, Migrationshintergrund

                                        Ausbildung/Studium am gleichen Ort     Bundesweit ist zumutbar, Auslandssemester, Praktika
                                        Familiengründung im suburbanen
                                        Einfamilienhaus mit ortsbezogenem
                                        Lebensstil
                                        Anstellung am gleichen Ort             Bundesweit ist zumutbar

                                                                               Singles, unkonventionelle Partnerschaften, kinderlose Paare
                                                                               (jede dritte Akademikerin bleibt kinderlos), Alleinerziehende
                                                                               oder Patchworkfamilien werden häufiger
                                                                               Wegfall der Subventionen für die Suburbanisierung (Eigen-
                                                                               heimzulage), steigende Mobilitätskosten

                                                                               Berufliche Veränderungen mit Ortswechseln, Trennungen,
                                                                               Scheidungen

                                                                               Zweitwohnung, Wochenendbeziehungen
                                        Eltern bleiben im Haus in der ge-      Haus wird zu groß, zu teuer und zu aufwändig, keine gewach-
                                        wohnten Nachbarschaft                  sene Bindung zur Nachbarschaft, Wahlverwandtschaft gesucht,
                      Überblick über                                           städtischer Lebensstil
                      den Wandel der    (Schwieger-)Tochter übernimmt Pflege   Nutzung von Ambulanten Diensten, Betreutes Wohnen, Wohn-
                      Wohnbiografien                                           Pflege-Gemeinschaften, Pflegeheim als letzte Perspektive

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Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen
bereits solide etabliert und als wichtige Akteure der
Quartiersentwicklung anerkannt sind, während man
anderswo noch am Anfang steht und viel Überzeu-
gungsarbeit geleistet werden muss.

Beteiligung macht den Unterschied
Gemeinschaftliche Wohnformen unterscheiden
sich vom üblichen Wohnungsbau darin, dass die
späteren Nutzer an der Planung beteiligt sind und
sich bereits vor dem Bau oder Einzug zu Gruppen
zusammenschließen. Sie denken über ihre künftige
Nachbarschaft nach, darüber, wie ihre Aktivitäten
durch Gebäude und Freiräume ermöglicht werden
können und wie der Alltag später sein soll. Sie pla-
nen die Intensität ihres nachbarschaftlichen Lebens
und finden beispielsweise bei der Umnutzung von
Bestandsimmobilien Raumprogramme, die nach be-
triebswirtschaftlichen Kriterien zunächst unplausibel
erscheinen. Kleinere, rein private Rückzugsräume
mit Balkon und Kochnische, dafür breitere Flure,
Aufenthaltsräume mit Küche im Erd- oder Dachge-
schoss, gern auch nach der Maxime: „Im schönsten        chen.1 Zudem formieren sich Allianzen zwischen          Blick in den Eingangsbe-
Raum im Haus wohnt die Gemeinschaft.“ Manche            klassischen gemeinschaftlichen Wohnprojekten und        reich des Projekts Kalkbreite
                                                                                                                in Zürich, eines der interna-
Wohnprojekte entdecken die Waschküche wieder,           neuen Wohn-Pflege-Formen. Dezentral und selbst-         tionalen Vorbildprojekte für
mitunter ersetzen ein paar Carsharing-Parkplätze        organsiert sind Demenz-WGs oder ambulant be-            gemeinschaftliches Wohnen
teure Tiefgaragen-Stellplätze. Toberäume für Kinder,    treute Wohn-Pflege-Gemeinschaften eine Alternati-
Bibliotheken, gemeinsame Gärten, Gästezimmer –          ve zum Pflegeheim oder zur Pflege von Angehörigen
je größer die Projekte, desto mehr unterschiedliche     rund um die Uhr im privaten häuslichen Bereich. Für
Gemeinschaftsräume kann man sich leisten, gern          all diese, auf mehr nachbarschaftliches Miteinander
nach der zweiten Maxime: „Der Luxus liegt im Tei-       setzenden Wohnformen sind Raumprogramme er-
len.“ Insgesamt entsteht dadurch eine feinere Ab-       forderlich, die für klassische Projektentwickler oder
stufung zwischen privater und öffentlicher Sphäre.      Vermieter derzeit noch völlig unattraktiv erscheinen
Die eindrucksvollsten Beispiele findet man derzeit      – allenfalls findet man derartige Ansätze rudimen-
                                                                                                                1.
                                                                                                                   vgl. Beitrag Hilde Strobl
dazu in Zürich bei der Genossenschaft „mehr als         tär als gewerbliche Service-Angebote in luxuriösen
                                                                                                                „Weiter wohnen wie
wohnen“, der Kraftwerk1 Bau- und Wohngenos-             Condominiums oder in den neuen Mikro-Aparte-            gewohnt“ in diesem Band,
senschaft oder der Kalkbreite eG sowie in Mün-          ment-Gebäuden.                                          S. 20 ff.

                                                                                                           9
Wohnen im Kontext In der Gemeinschaft, im Quartier, in der Stadt - Bund Deutscher Architekten im Lande Hessen
oder privaten Vermietern arrangieren. Zudem gibt
                                                                                       es bundesweit die Projekte des Mietshäusersyndi-
                                                                                       kats, das Wohnen als bodenpolitische Frage thema-
                                                                                       tisiert und eine entsprechende Haltung entwickelt
                                                                                       hat. Die beste Übersicht über die Vor- und Nachteile
                                                                                       verschiedener Rechtsformen bietet die Stiftung trias
                                                                                       mit diversen Broschüren, vom eingetragenen Verein
                                                                                       bis hin zur noch recht jungen Rechtsform der GmbH
                                                                                       & Co KG.2
                                                                                       Worin sich die gemeinschaftlichen Wohnformen
                                                                                       also in ihrer Vielfalt vom üblichen, klassischen Woh-
In Frankfurt wirbt das                                                                 nungsbau unterscheiden, sind Selbstorganisation,
Netzwerk für gemeinschaft-                                                             die Entscheidung für die geeignete Rechtsform, die
liches Wohnen dafür, dass
alternative Modelle eine                                                               selbst gewählte Zusammensetzung der Bewohner-
Chance bekommen.                                                                       schaft, ein gewisses Maß an gegenseitiger Unter-
                                                                                       stützung und die Schaffung von langfristig preissta-
                                                                                       bilem Wohnraum.
                                 Bandbreite der Organisationsformen                    In fast allen größeren Städten haben sich inzwischen
                                 Ganz konkret beeindrucken die selbstorganisier-       zivilgesellschaftliche Akteure etabliert, die die Grün-
                                 ten Wohnprojekte durch eine große Bandbreite:         dung von gemeinschaftlichen und genossenschaft-
                                 Die meisten haben eigene Leitbilder oder Ziele,       lichen Wohnformen umsetzen: Stattbau Hamburg,
                                 unterschiedliche Abstufungen von Privatheit und       Stattbau Berlin mit der Netzwerkagentur Generati-
                                 Gemeinschaft, sind unterschiedlich groß und variie-   onenWohnen, Wohnprojekt-Mentoren Hannover,
                                 ren in der Haushalts- und Altersstruktur. Dement-     Wohnbundberatung NRW, Mitbauzentrale Mün-
                                 sprechend suchen sie sich den jeweils passenden       chen, Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches
                                 rechtlichen Rahmen. Baugruppen in der Form von        Wohnen. Viele dieser Institutionen können durch
                                 Eigentümergemeinschaften findet man traditionell      kommunale Zuschüsse ihr Beratungsangebot er-
                                 häufiger in Berlin und in Süddeutschland, während     möglichen. Auch manche Bundesländer haben die
                                 junge Genossenschaften sehr zahlreich in Hamburg      Bedeutung der neuen Wohnformen erkannt. So
                                 vorkommen. Gemeinschaftliche Wohnprojekte sind        bieten Landesberatungsstellen in Niedersachsen
                                 aber auch jenseits von Einzel- oder Gemeinschafts-    oder Bayern Informationen und Veranstaltungen
                                 eigentum möglich. Für Gruppen mit wenig Eigen-        an, damit am Wohnbedarf orientierte Projekte reali-
                                 kapital und weniger ausgeprägtem Gründungswil-        siert werden können. Noch weiter geht die Agentur
                                 len eignen sich Mietergemeinschaften, die sich, als   für Baugemeinschaften in Hamburg, die durch ihre
2
    vgl. www.stiftung-trias.de   Verein organisiert, mit Wohnungsbaugesellschaften     Aktivitäten systematisch und umfassend den ge-

                                 10
Konzepte statt Höchstpreis
                                                         Vom bundesweiten Erfahrungsaustausch der Fach-           Mit der Konzeptvergabe
                                                         leute profitieren junge Projektgruppen ebenso wie        können Städte gezielt ge-
                                                                                                                  meinschaftliche Wohnpro-
                                                         Städte und Gemeinden, die bessere wohnungspo-            jekte fördern.
                                                         litische Strategien suchen. Aktuelles Beispiel ist die
                                                         Diskussion zum Konzeptverfahren. In Städten wie
                                                         Hamburg, Berlin, Tübingen und München sammelt
                                                         man mit der Vergabe von Liegenschaften an gemein-
                                                         schaftliche Wohnprojekte nach Konzeptqualität seit
                                                         Jahren gute Erfahrungen. Inzwischen interessieren
                                                         sich weitere Städte für das Konzeptverfahren und
                                                         eine Broschüre des FORUMs bietet dafür einen guten
                                                         Einstieg.4 Hintergrund ist die Erkenntnis, dass man
samten Prozess der Entwicklung unterstützt. In den       mit den üblichen Bieterverfahren und der Höchst-
meisten Bundesländern findet man inzwischen auch         preisvergabe lediglich höchste Miet- und Kaufpreise
Förderprogramme, die gezielt diese innovativen           fördert. Auch die gelegentlich beobachtbaren Wind-
Wohnformen voranbringen, wie die Moderations-            hundverfahren oder Vergaben nach Gutsherrenart
förderung in Nordrhein-Westfalen, das Landesför-         sind keine besseren Alternativen. Demgegenüber ist
derprogramm zum Wohnen im Alter in Niedersach-           es viel vorausschauender, wenn sich eine Kommune
sen oder die Unterstützung der Gründung von              nicht für den höchsten Preis, sondern für das beste
jungen Genossenschaften in Rheinland-Pfalz usw.          Konzept für einen Standort entscheidet.
Wie viele gemeinschaftliche Wohnprojekte es inzwi-       In Frankfurt am Main starteten auf diese Weise
schen gibt, lässt sich kaum eindeutig erheben. Über      2015 die ersten Ausschreibungen. Das Amt für
tausend realisierte Projekte sind es gewiss, und um      Wohnungswesen leitet das Verfahren federfüh-
ein Vielfaches höher ist die Zahl der Initiativen, die   rend, in Kooperation mit dem Netzwerk Frankfurt
                                                                                                                  3
                                                                                                                    vgl. www.wohnbund.
ihre Projekte gerade planen oder deren Vorhaben im       für gemeinschaftliches Wohnen e.V. und der Kon-
                                                                                                                  de, www.fgw-ev.de, www.
Bau befindlich sind. Einen Überblick über die bun-       versionsgrundstücksentwicklungsgesellschaft (KEG).       kompetenznetzwerk-
desweiten Aktivitäten und den soliden Sachverstand       Zwei stark sanierungsbedürftige Bürogebäude im           wohnen.de
findet man im Fachleutenetzwerk des wohnbund             Bahnhofsviertel, eine bis dahin nicht marktgängige,
                                                                                                                  4
                                                                                                                    vgl. http://verein.fgw-ev.
                                                                                                                  de/files/forum_vergabe-
e.V. sowie im bundesweiten FORUM Gemeinschaft-           kleine Brachfläche an der Friedberger Landstraße         vefahren_a4_web_8_4_
liches Wohnen e.V. mit seinen Regionalstellen.3          und ein abrissreifes Gebäude im Stadtteil Höchst         mb.pdf

                                                                                                            11
Pilotprojekt in Frankfurt:
Das Projekt der Wohn-
gruppe NiKa e.V. im
Bahnhofsviertel ist eines der
ersten, auf das die Stadt die
Konzeptvergabe angewen-
det hat.

wurden seither zum Verkehrswert ausgeschrieben.        bungen sollen folgen. Künftig wird in Frankfurt
Das Konzeptverfahren ist mit seinem Zeitplan, den      das Konzeptverfahren auch in Neubaugebieten zur
inhaltlichen Kriterien und dem Ablauf auf selbstor-    Quartiersentwicklung beitragen, indem 15 Prozent
ganisierte Wohninitiativen zugeschnitten:              der städtischen Flächen für gemeinschaftliche und
                                                       genossenschaftliche Projekte vorgehalten werden.
• Langfristig angelegte gemeinschaftliche Organisa-
  tion und Schaffung von preisstabilem Wohnraum        Nicht immer billiger, aber wirtschaftlicher
• Beteiligung der künftigen Nutzer/innen an der Pla-   Will man also systematisch die selbstorganisierten,
  nung des Projekts und Kooperation mit Fachleuten     bürgerschaftlichen und bedarfsorientierten Pro-
• Flächensparsame Raumprogramme ergänzt durch          jekte fördern, ist das Konzeptverfahren der richtige
  gemeinschaftlich nutzbare Frei-/ Räume und gege-     Weg. Wohnideen, die von den künftigen Nutzern
  benenfalls öffentlichkeitswirksame Nutzungen         für den Standort passend entwickelt werden – das
                                                       ist der Grundgedanke, der am Ende für Städte und
Die Initiativen sind aufgefordert, sich und ihre Be-   Gemeinden solche Projekte auch wirtschaftlich trag-
werbung dem Beirat – bestehend aus Vertretern und      fähig macht. Das gilt insbesondere dann, wenn die
Vertreterinnen aus Politik und Verwaltung – vorzu-     Wohninitiativen als Selbstnutzer ihre Projekte ent-
stellen. Auf diese Weise wird nicht nur das beste      wickeln und sich beispielsweise durch sparsame Flä-
und innovativste Konzept ausgewählt, sondern der       chenzuschnitte und gemeinschaftliche Nutzungen
Beirat kann Bedingungen formulieren, die in der        auch Haushalte mit unterdurchschnittlichen Ein-
Anhandgabephase im Rahmen der Qualitätssiche-          kommen das Wohnen in teuren Städten noch leisten
rung umgesetzt werden. Die bisher ausgewählten         können.
Projekte befinden sich derzeit in dieser Phase und     Neben den Bewohnerinnen und Bewohnern, die von
bereiten die Umbauarbeiten vor. Weitere Ausschrei-     qualitätvollen und lebenswerten Quartieren profitie-

12
In Zürich findet man reich-
ren, schaffen diese Projekte auch für Städte und Ge-             lich Anschauungsmaterial
                                                                 für das, was gemeinschaftli-
meinden einen Mehrwert. Am Beispiel von gemein-
                                                                 ches Wohnen bieten kann:
schaftlichen Wohnprojekten für ältere Menschen                   oben und unten Bilder der
hat das „Netzwerk: Soziales neu gestalten (SONG)“                Bauten Kraftwerk 1, in
diesen Mehrwert wissenschaftlich nachgewiesen.                   der Mitte ein Blick in den
                                                                 Innenhof der Gebäude, die
Mit einer sozioökonomischen Mehrwertanalyse ge-
                                                                 von der Genossenschaft
meinschaftlicher Wohnprojekte wurde die soziale                  Dreieck verwaltet werden.
Wirkung nach dem Social Return on Investment
Konzept (SROI) evaluiert. Monetär bewertende und
qualitative Analysen zeigten beispielsweise, dass
die Bewohnerinnen und Bewohner ebenso wie das
Quartier von diesen Projekten profitieren, weil sie
aufgrund von nachbarschaftlicher Selbsthilfe und
geringerem Unterstützungsbedarf sparen und damit
über anderweitig verwendbares Einkommen verfü-
gen.5
Das Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches
Wohnen e.V. wird auch deshalb in Frankfurt am
Main sein Engagement zur Entwicklung weiterer ge-
meinschaftlicher Wohnformen fortsetzen. Die wach-
sende Zahl der Initiativen bestätigt die Einschätzung,
dass in immer teurer werdenden städtischen Räu-
men neue Formen des Miteinanders gebraucht wer-
den, um zunehmende Vertreibung zu verhindern.
Das Konzeptverfahren ist derzeit noch neuartig und
ungewohnt. Und mit Blick auf die Folgekosten sind
Konzeptverfahren, kleinteiligere Parzellierung und
neue Raumprogramme zunächst nicht grundsätzlich
billiger, aber allemal wirtschaftlicher. Viele realisier-
                                                                 5
                                                                   vgl. Netzwerk: Soziales
te gemeinschaftliche Wohnprojekte zeigen, welche
                                                                 neu gestalten (Hg.) 2010:
räumliche Vielfalt möglich ist, welche Vorteile diese            Zukunft Quartier – Lebens-
Wohnformen haben und welche Qualitäten die Be-                   räume zum Älterwerden.
wohnerinnen und Bewohner für die Städte schaffen                 Band 3: Soziale Wirkung
                                                                 und „Social Return“, Verlag
können. Es sind am Ende Qualitäten, die man nicht                Bertelsmann Stiftung.
kaufen kann.

                                                            13
Birgit Diesing

Eine Rechtsform für die Gemeinschaft
Innenansicht: Anders Wohnen in der Genossenschaft?

                       Die Rechtsform der Genossenschaft ist besonders in-    unter einen Hut bringen wollen. Zudem ist sie eine
                       teressant für Menschen, die gemeinschaftlich woh-      urdemokratische Rechts- und Unternehmensform:
                       nen wollen, also in guter Nachbarschaft selbstbe-      Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der
                       stimmt und selbstverwaltet leben möchten. Warum        Höhe der Kapitalbeteiligung.
                       dies so ist, wird im Folgenden ausgeführt und am       Eine Genossenschaft besteht aus mindestens drei
                       Beispiel der Genossenschaft WohnSinn eG (Darm-         Mitgliedern. Ihre Gremien sind Vorstand, Aufsichts-
                       stadt) erläutert.                                      rat und Generalversammlung, wobei der Aufsichts-
                                                                              rat erst bei einer Größe ab 20 Mitgliedern erforder-
                       Was ist eine Genossenschaft?                           lich ist. Ansonsten wird die Kontrolle des Vorstands
                       Eine Genossenschaft dient der Förderung der ge-        durch die Generalversammlung übernommen.
                       meinsamen wirtschaftlichen, aber auch der sozialen     In der Satzung der Genossenschaft wird der Zweck
                       und kulturellen Belange ihrer Mitglieder. Damit kann   des Unternehmens geregelt. Neben dem Mindest-
                       sie eine Doppelfunktion als Wirtschaftsunternehmen     inhalt wie Ein- und Austrittsmodalitäten, Entschei-
                       und als Selbsthilfeorganisation übernehmen und ist     dungsstrukturen, Höhe des Genossenschaftsanteils,
                       in besonderem Maß geeignet für Projekte, die Ge-       können auch die sozialen und kulturellen Ziele der
                       schäftsbetrieb und bürgerschaftliches Engagement       Genossenschaft verbindlich festgelegt werden.
                                                                              Um Genossenschaft zu werden, muss die Gruppe
                                                                              einem Prüfungsverband beitreten. Dieser erstellt auf
                                                                              Basis der Satzung und prüffähiger Unterlagen zu
                                                                              den wirtschaftlichen Absichten der Genossenschaft
                                                                              ein Gründungsgutachten. Wenn diese Prüfung er-
                                                                              folgreich verläuft, erfolgt der Eintrag in ein Genos-
                                                                              senschaftsregister. In der Folge muss die Genos-
                                                                              senschaft sich alle ein bis zwei Jahre einer solchen
                                                                              (kostenpflichtigen) Prüfung unterwerfen, so dass
                                                                              auf diese Weise die sorgfältige Geschäftsführung
                                                                              durch Vorstand und ggf. Aufsichtsrat gesichert ist.

                                                                              Genossenschaft als Rechtsform für ge-
                                                                              meinschaftliche Wohnprojekte
                                                                              Eine Reihe von Gründen sprechen dafür, für ge-
                                                                              meinschaftliche Wohnprojekte die Genossenschaft
                                                                              als Rechtsform zu wählen.
                                                                              1. Der Hauptzweck einer Genossenschaft ist nicht
                                                                              die Gewinnmaximierung, sondern die gegenseitige
                                                                              Unterstützung und Förderung der Mitglieder.

                       14
Die Genossenschaft kann nicht-spekulativ und soli-
darisch handeln. Die Mitglieder sind sowohl Eigen-
tümer als auch Kunden der Genossenschaft (Iden-
titätsprinzip). Damit ist sichergestellt, dass sich die
kostengünstige Erstellung von Wohnraum und der
ggf. durch Selbsthilfe kostensparende Betrieb un-
mittelbar zugunsten der Wohnkosten für die Mit-
glieder auswirken, ohne dass eine zusätzliche Rendi-
te für eine externe Eigentümerschaft erwirtschaftet
werden muss. Die Genossenschaft ermöglicht mit
dem gemeinschaftlichen Eigentum lebenslang ge-
sichertes (und bezahlbares) Wohnen und verbindet
die Flexibilität der Miete mit der Sicherheit des Ei-
gentums.
2. Die Genossenschaft ist als Bauträgerin in der Lage,
unterschiedliche ökonomische Vorraussetzungen ih-
rer Mitglieder zu vereinen. Es können unterschied-        4. Die demokratische Mitgestaltung und Mitsprache       Links: Die Gemeinschaft zu
liche Finanzierungsarten innerhalb einer Hausge-          ist in der Satzung an prominenter Stelle abgesichert.   Beginn des Bauprojekts.
                                                                                                                  Oben: Die Wohnanlage
meinschaft realisiert werden, beispielsweise mit          Auch bei möglichen Unterschieden in der kapital-        Wohnsinn 1.
geförderten und nicht-geförderten Mietwohnungen           bezogenen Beteiligung ihrer Mitglieder ist sie strikt   Die Flügel der u-förmigen
ebenso wie mit eigentumsähnlichen Dauerwohn-              basisdemokratisch strukturiert, es gilt: eine Stimme    Anlage wurden später
rechten. Dabei bleibt durch das Genossenschafts-          pro Person, unabhängig vom jeweiligen finanziellen      Richtung Osten verlängert
                                                                                                                  und gehören zur Hausge-
prinzip die Gleichberechtigung zwischen Mietern           Engagement.                                             meinschaft Wohnsinn 2
und „Eigentümern“ gewahrt: Auch bei den eigen-            5. Die Genossenschaft kann durch ihre Satzung dau-      (unteres Bild).
tumsähnlichen Dauerwohnrechten bleibt die Ge-             erhaft Vermögen und Mitglieder an soziale, kultu-
nossenschaft juristisch Eigentümerin der gesamten         relle und gemeinschaftliche Ziele binden.
Liegenschaft. Eine weitgehende soziale Mischung
wird damit ermöglicht.                                    Das Beispiel WohnSinn eG
3. Die Genossenschaft ist aufgrund der Prüfungs-          Die Bau- und Wohngenossenschaft WohnSinn eG
pflicht (bei entsprechendem Eigenkapital) gegenüber       ist eine kleine Genossenschaft in Darmstadt mit
Banken kreditwürdig, bietet aber auch gegenüber           derzeit 175 Mitgliedern. Sie hat bislang zwei Häu-
ihren Mitgliedern ein hohes Maß an wirtschaftlicher       ser mit insgesamt 73 Wohnungen errichtet. Neben
Sicherheit. Die Genossenschaft ist die mit Abstand        unten ausgeführten Satzungszielen ermöglicht die
insolvenzsicherste Rechtsform in Deutschland. Zu-         Genossenschaft für ihre Mitglieder kostengünstiges
dem kann die persönliche Haftung der Mitglieder           und umweltverträgliches Wohnen in weitgehend
auf den Geschäftsanteil begrenzt werden.                  unabhängigen Hausgemeinschaften. Für die ersten

                                                                                                            15
Lage sind, Menschen unterschiedlichster Gruppie-
                                                                                   rungen aufzunehmen und auch mögliche persön-
                                                                                   liche Differenzen durch ein gewisses Maß an Ano-
                                                                                   nymität zu überstehen: Man kennt sich, aber man
                                                                                   muss (und kann) nicht mit allen befreundet sein.
Gemeinsame Arbeit:                                                                 Die Mischung wurde durch ein Angebot von ver-
Pflastern der Hofanlage.                                                           schiedenen Wohnungsgrößen und Finanzierungs-
                                                                                   arten gesichert. Weiterhin gibt es bestimmte Quoten
                           beiden Projekte wurden Grundstücke in Darmstadt-        zum Zusammenleben von Alt und Jung, Behinderten
                           Kranichstein gewählt, die über den ÖPNV, ein gutes      und Nichtbehinderten, Familien und Alleinstehen-
                           Rad- und Fußwegenetz sowie die vorhandene Infra-        den, Menschen mit und ohne Migrationshinter-
                           struktur gut in die städtische Struktur eingebunden     grund, Menschen mit und (fast) ohne Geld.
                           sind.                                                   Um unterschiedlichen wirtschaftlichen Vorausset-
                           Das Quartier „K6“, in dem WohnSinn 1 und 2 lie-         zungen gerecht werden zu können, wurden die
                           gen, wurde in den 1990er Jahren geplant und ab          Wohnungen als geförderte oder frei finanzierte
                           2003 errichtet. Ziel der Stadt war es, u.a. nach dem    Mietwohnungen erstellt oder als eigentumsähn-
                           Vorbild der Stadtquartiere in der Tübinger Südstadt     liches Dauerwohnrecht nach WEG verkauft.
                           oder Freiburg-Vauban möglichst viele Baugemein-         Eine wissenschaftliche Untersuchung von WohnSinn
                           schaften und -genossenschaften zum Zuge kommen          1 und 2 durch das Institut für Wohnen und Umwelt,
                           zu lassen und damit von Anfang an für gute und          Darmstadt, ergab im Jahr 2008, dass die beabsichti-
                           stabile Nachbarschaften zu sorgen. Weiterhin war es     gte Mischung von Menschen mit unterschiedlichen
                           hier für die Bauenden möglich auf Stellplätze zu ver-   ökonomischen Voraussetzungen in weiten Teilen er-
                           zichten, wenn diese wegen der intensiven Mobilität      reicht wurde: der Erwerbsstatus (arbeitslos/erwerbs-
                           der Bewohnerschaft im Umweltverbund nicht erfor-        tätig/in Rente) entspricht dem Landesdurchschnitt.
                           derlich waren. Dies beförderte eine kostengünstige      Untere und mittlere Einkommen überwiegen, dem-
                           Bauweise mit geringerem Flächenverbrauch.               gegenüber besteht im Hessenvergleich ein Überge-
                                                                                   wicht an hohen Bildungsabschlüssen.
                           Satzungsziel: Soziale Mischung
                           Das Konzept von WohnSinn verfolgt das Prinzip           Satzungsziel: Partizipation und Selbstverwaltung
                           der sozialen Mischung. Es soll ein größtmögliches       Die Rechtsform der Genossenschaft wurde gewählt
                           Spektrum der Bevölkerung angesprochen werden.           um sicherzustellen, dass alle Bewohnerinnen und
                           Die Bewohner und Bewohnerinnen sollen von ihrer         Bewohner, soweit sie Genossenschaftsmitglied sind,
                           Unterschiedlichkeit profitieren und sich mit ihren      bei grundlegenden Entscheidungen gleichberechtigt
                           Fähigkeiten ergänzen können. Dafür sollen robuste       mitwirken können. Per Satzung wurde bestimmt,
                           Hausgemeinschaften von mindestens 50 Personen           dass in jeder Wohnung mindestens ein Genossen-
                           gebildet werden, die aufgrund ihrer Größe in der        schaftsmitglied leben muss.

                           16
Die durch die Rechtsform der Genossenschaft an-
gelegte Struktur der Eigenverantwortung (Identität
von Nutzern und Eigentümern) wird durch konse-
quente Selbstverwaltung umgesetzt: Es finden re-
gelmäßige Treffen der Bewohnerschaft im Plenum
der jeweiligen Hausgemeinschaft statt, in dem die
Themen des Zusammenlebens besprochen und die
wichtigsten Entscheidungen getroffen werden. Um
anfallende Arbeiten, Organisation, gemeinschaft-
liche Veranstaltungen und Konfliktvermittlung küm-     Satzungsziel und Selbstläufer: Nachbarschaftshilfe    Blick auf WohnSinn 1. Im
mern sich Arbeitsgruppen: Hausverwaltung, Haus-        Nachbarschaftshilfe findet auf drei Ebenen statt,     Hintergrund die Wohnsied-
                                                                                                             lung Kranichstein aus den
erhaltung, Außenanlagen, Gemeinschaftsräume,           zwei davon sind in der Satzung verankert. Zunächst    1960er Jahren. Die Aktivi-
Carsharing, Gemeinsinn ...                             hat sich jedes Genossenschaftsmitglied über die       täten der Genossenschaft
Die Bewohnerinnen und Bewohner haben mit der           Satzung zur Nachbarschaftshilfe im Rahmen der         kommen dem Stadtteil
Selbstverwaltung die Wirtschaftlichkeit ihres Ge-      persönlichen Möglichkeiten verpflichtet. Weiterhin    zugute.
                                                                                                             Unten: Blick in den Innen-
bäudes selbst in der Hand: Je nachdem, wieviel Ei-     verpflichtet sich die Genossenschaft als Ganzes ge-   hof.
genleistung für den Hausbetrieb aufgebracht wird,      genüber ihren Mitgliedern zur organisatorischen
hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe
der Betriebskosten. Eine Gegenüberstellung der
Betriebskosten gemäß Betriebskostenspiegel 2013
ergab, dass infolge des Passivhausbetriebs und der
Selbstverwaltung die Betriebskosten bei WohnSinn
1 lediglich 42 Prozent des hessischen Durchschnitts
betragen, pro Quadratmeter Wohnfläche und Mo-
nat werden damit 1,87 Euro eingespart.
Selbstverwaltung hat aber nicht nur ökonomische
Vorteile, sondern bringt einen erheblichen sozialen
Mehrwert. Gruppenidentität und Kommunikation
im Haus wird durch das gemeinsame Bewältigen der
Arbeiten gefördert: Man begegnet sich nicht nur zu-
fällig oder bei geselligen Ereignissen, sondern auch
in Arbeitszusammenhängen.
Dabei zeigt sich: Je mehr und je unterschiedlicher
die Kontaktmöglichkeiten innerhalb der Hausge-
meinschaft sind, um so dichter und tragfähiger wird
das soziale Netz.

                                                                                                       17
WohnSinn 1 und 2

                   Unterstützung bei persönlichen Krisensituationen.       kompliziert Gruppentreffen und kleinere öffentliche
                   Unabhängig von diesen satzungsgemäßen Ver-              Veranstaltungen stattfinden. Durch die Öffnung ins
                   pflichtungen entwickelt sich – wie oben beschrieben     Quartier können die Räume zudem auch von exter-
                   – durch das gemeinschaftliche Leben im Haus und         nen Engagierten genutzt werden. Auf diese Weise
                   eigenes Engagement automatisch ein mehr oder            hat sich WohnSinn zu einem sozialen und kultu-
                   minder enges persönliches Hilfenetz.                    rellem Ankerpunkt im Quartier entwickelt, der mit
                                                                           seinen Initiativen bis in den Stadtteil Kranichstein
                   Selbstläufer: Bürgerschaftliches Engagement             ausstrahlt und (in gewissem Umfang) auch Bedeu-
                   Nutzen für Quartier und Stadt                           tung für die Gesamtstadt hat.
                   Gemeinschaftliche und besonders genossenschaft-
                   liche Wohnformen neigen dazu, ein Sammelbecken          Die Akteure
                   für Menschen mit Gemeinsinn und bürgerschaft-           Das Wohnen in einem selbstverwalteten Haus wie in
                   lichem Engagement zu sein. Ohne dass dies expli-        diesem Fall setzt voraus, dass man in einem gewis-
                   zit in der Satzung verankert ist, bilden die großen     sen Umfang kompromissfähig ist, Verbindlichkeiten
                   Hausgemeinschaften eine gute kritische Masse für        eingehen kann, Spaß an Organisation und Beteili-
                   die unterschiedlichsten Initiativen, die ins Quartier   gung hat, Konflikte aushalten und eine Balance zwi-
                   und die Gesamtstadt ausstrahlen.                        schen Nähe und Distanz finden kann.
                   Neben dem bürgerschaftlichen Engagement der Be-         Verabschieden sollte man sich von der Vorstellung,
                   wohnerinnen und Bewohner spielt aber auch die           eine solche Genossenschaft sei die Insel der Glück-
                   bereits vorhandene Infrastruktur eine Rolle: In den     seligen. Die Konflikte, die hier auftauchen, sind die
                   Gemeinschaftsräumen von WohnSinn können un-             gleichen wie in anderen Häusern: die Kinder zu laut,

                   18
die Treppe zu dreckig, die Nachbarn zu spießig.
Auch klingelt nicht jeden Tag jemand an der Tür und
lädt zum Kaffeetrinken ein.
Dennoch überwiegen die Vorteile: Man lebt in ei-
ner lebendigen und durchaus unterschiedlichen und
anregenden Nachbarschaft, kommt mit anderen Le-
benslagen und Ansichten in Berührung. Man kann
sich durch die vielfältigen Aufgaben, die es im Rah-
men der Selbstverwaltung zu erfüllen gibt, persön-
lich weiterentwickeln. Auch die Verbindlichkeiten
(und erforderlichen Abgrenzungen) einer größeren
sozialen Gemeinschaft sind für manchen eine neue
Erfahrung. Dank der vielfältigen Begegnungsmög-
lichkeiten lassen sich nachbarschaftstypische Kon-
flikte leichter lösen.
                                                       WohnSinn 1 (2003)
Nicht scheuen darf man sich vor dem bürokratischen
                                                       Kompaktes u-förmiges Passivhaus mit 3 bis 3,5 Geschossen, 3.700 qm Nutzfläche,
Aufwand, den eine Genossenschaft erfordert. Allein     verteilt auf 39 Wohnungen und ca. 300 qm Gemeinschaftsfläche.
die Gründung der Genossenschaft ist aufgrund der       Wohnungsgrößen zwischen 45 und 160 qm, individuell geplant. 13 Wohnungen im geför-
vielen rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte, die   dertem Mietwohnungsbau, 3 frei finanzierte Mietwohnungen, 23 Wohnungen im eigentum-
                                                       sähnlichen Dauerwohnrecht nach WEG verkauft.
es zu beachten gilt, ein „dickes Brett“, das gebohrt   Alle Wohnungen und Gemeinschaftsräume sind mit dem Rollstuhl erreichbar
werden muss und auch Geld kostet. Eine Woh-            (Laubengänge, Aufzug).
nungsbaugenossenschaft ist ein regelrechtes Woh-       Gemeinschaftsräume und -angebote: großer Gruppenraum (teilbar) mit Wintergarten,
nungsbauunternehmen, mit einem entsprechenden          Küche, Toiletten und Terrasse, Gemeinschaftsdachterrasse, Fahrradwerkstatt, Jugendraum,
                                                       Holzwerkstatt, Gästezimmer, Gästeapartment, Genossenschaftsbüro, Besprechungsraum,
Bedarf an juristischem und kaufmännischem Know-        Sauna / Pflegebad, Wasch- und Trockenräume mit Waschmaschinen-Sharing, Erdkeller,
How. Auch der weitere Betrieb der Genossenschaft       Carsharing.
bleibt komplex und kostenintensiv. Für ein Hauspro-
jekt in Gründung sei deshalb empfohlen, sich zu-       WohnSinn 2 (gebaut: 2008)
                                                       Verlängerung der beiden U-Schenkel von WohnSinn 1 mit 34 individuell geplanten
nächst einmal bei schon bestehenden Genossen-          Wohnungen im Passivhaus-Standard.
schaften umzuschauen, ob eine davon unter ihrem        Wohnungsgrößen zwischen 40 und 150 qm, 11 Wohnungen im geförderten Mietwoh-
Dach eine (weitere) Hausgemeinschaft realisieren       nungsbau, 10 frei finanzierte Mietwohnungen und 13 Wohnungen im eigentumsähnlichen
möchte, so dass von der Erfahrung und der Sicher-      Dauerwohnrecht belegt.
                                                       Barrierearme Erschließung wie WohnSinn 1.
heit vorhandener Strukturen profitiert werden kann.    Gemeinschaftsräume: großer Gruppenraum (teilbar) mit Küche, Toiletten, Terrassen, zwei
Dafür muss allerdings unter Umständen ein Teil der     Gästezimmer, Gästeapartment, großer begrünter Innenhof, Werkstatt, zwei Wasch-
Gruppen-Autonomie aufgegeben werden.                   maschinenräume und – zusätzlich zu den Privatkellern – ein Gemeinschaftskeller.

                                                                                                             19
Hilde Strobl

Weiter wohnen wie gewohnt?
Partizipative Bau- und Wohnformen

                               Wohnen als soziologische Fragestellung                leinstehende und Familien mit Kindern sowie den
                               Die Städte wachsen, mehr als die Hälfte der Weltbe-   generellen Wunsch mit ein, das Leben nicht isoliert
                               völkerung lebt in Städten, die Stadtränder werden     von einer Gemeinschaft zu verbringen.3
                               urbanisiert und das Wohnungsbaugeschäft boomt.        Darüber hinaus trägt zur Förderung der Wohnpro-
                               Doch wie reagieren die Städte, die Stadtplaner, die   jekte und für deren politische Akzeptanz die Sorge
                               Politik und die Investoren auf die großen Heraus-     der Kommunen darüber bei, wie Kinderversorgung
                               forderungen? Worin liegt die Rolle und Verantwor-     und Altenpflege, die Schaffung von Sozialwoh-
                               tung der Privatanleger und Bürger, da generell das    nungen und die Integration einer zunehmend sich
                               Interesse an Wohneigentum wächst, zugleich aber       internationalisierenden Gesellschaft bewältigt wer-
                               auch die Differenzierung von Wohnbedürfnissen         den können. Denn es ist absehbar, dass dies alles
                               aufgrund der demografischen Entwicklungen zu-         ohne bürgerliche und private Initiativen nicht gehen
                               nimmt? Als Reaktion und Alternative auf die gestei-   wird.4 Begreift man umgekehrt – nach Walter Siebel
                               gerten Bedürfnisse, sich nicht mehr mit Standard-     – Wohnen als soziologische Fragestellung und die
                               wohnungen und Standardgrundrissen zufrieden zu        Entstehung von Wohnformen und -typen als Ergeb-
                               geben, die der hauptsächlich von wirtschaftlichen     nis eines historischen Prozesses,5 sind die gemein-
                               Faktoren bestimmte Wohnungsmarkt hervorbringt,1       schaftlich orientierten Bauinitiativen der aktuellste
                               entstehen in den letzten zwanzig Jahren vermehrt      Ausweis einer sich verändernden Gesellschaft und
                               neue Bauinitiativen: Wohnprojekte als gemein-         eine Reaktion auf deren Bedürfnisse. Wenn Marga-
                               schaftliche Wohnformen sind „salonfähig“ gewor-       rete Rudorff in den 1950er Jahren die „Schrump-
                               den.2 Mehrgenerationenwohnen, einer der Haupt-        fung des Begriffes Wohnung“ beklagt, da Arbeit,
                               aspekte der meisten solcher Wohnprojekte, wird        Erholung, Spiel der Kinder, Pflege, Geburt und Tod
                               aber nicht nur durch eine alternde Gesellschaft als   aus der Wohnung verschwunden sind,6 erscheint die
                               Notwendigkeit erkannt, sondern schließt auch Al-      programmatische Ausrichtung der Raumkonzepte
                                                                                     der gegenwärtigen Wohnprojekte genau diesem
Das Projekt wagnisArt ent-
                                                                                     Verlust entgegenzuwirken: zwar nicht innerhalb
stand in einem vielschich-
tigen Beteiligungsprozess.                                                           der Wohnungen, sondern durch ein projektinter-
Das Ergebnis ist nicht nur                                                           nes zusätzliches Angebot sozialer Infrastrukturen
architektonisch eine Berei-                                                          mit gemeinschaftlichen Nutzflächen für Werkstät-
cherung. Auch in der Bele-
bung des Diskurses trägt es
                                                                                     ten, Veranstaltungen, Bibliotheken, Kindergrippen,
zu einer gesellschaftlichen                                                          Pflegeeinrichtungen, Coworking-Spaces, Fitness-
Entwicklung bei.                                                                     räumen, Gemeinschaftsküchen und -waschräumen,
Gleiches gilt für das genos-                                                         Gemeinschaftsgärten und privat sowie öffentliche
senschaftliche Wohnprojekt
Kalkbreite aus Zürich. (Bild
                                                                                     Freiflächen. Es zeichnet sich ab, dass hinsichtlich der
auf der rechten Seite,                                                               jungen Wohnprojekte, sobald sie durch die genos-
Müller Sigrist Architekten,                                                          senschaftliche Rechtsform dem Kapitalmarkt ent-
Zürich)                                                                              zogen sind, nicht der Kapitalertrag im Vordergrund

                               20
steht, sondern die Vorstellung von „mehr als woh-
nen“ – und darin liegt ihre Aktualität.

Methode und Aufgabe der Partizipation
Die gemeinsame Methode im Planungs- und Wohn-
prozess der gemeinschaftlichen Wohnprojekte ist
Partizipation. Die Entstehungsprozesse werden
durch zahlreiche Workshops und Arbeitskreise be-
gleitet, in denen die Teilnehmer gemeinsam ihre
Vorstellungen des Wohnens und Zusammenlebens
konkretisierten und die inhaltliche Konzeption fest-
legen. Die Entscheidung für partizipative Methoden
bedeutet, so Michael Andritzky, „für die meisten
Menschen nicht nur, sich in eine ganz neue Mate-
rie einzuarbeiten, sondern sich auch auf schwierige
sozialkommunikative Prozesse mit ungewissem Aus-
gang einzulassen. Mit anderen Worten: Partizipati-
                                                          1
                                                            Michael Andritzky, Balance zwischen Heim und Welt.
                                                          Wohnweisen und Lebensstile von 1945 bis heute, in: Inge-
on heißt Arbeit.“7 Dabei stehen eben gerade nicht         borg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5, Stuttgart
individuelle Einzelinteressen im Vordergrund, son-        1999, S. 615–686, S. 670f.
dern die Interessen der Gruppe sowie die Gestaltung       2
                                                            Angelika Simbriger, Von der Nische zur Serie. Zur Bedeu-
von Lebensräumen.8 Um an partizipativen Prozessen         tung von gemeinschaftlichen Wohnprojekten in Bestands-
                                                          entwicklungen, in: Gisela Schmitt, Klaus Selle (Hg.): Be-
teilzunehmen, muss man die Vorstellung abstreifen,        stand? Perspektiven für das Wohnen in der Stadt, Dortmund
dass Teilhabe an Prozessen bei allen Vorteilen des        2008, S. 351–380, S. 351.
eigenen Mitbestimmens auch eine Behinderung der           3
                                                            Zum Thema Wohnen und alternde Gesellschaft siehe
                                                          Christiane Feuerstein, Franziska Leeb, GenerationenWoh-
Privatheit oder Ausgangspunkt für lange und nicht
                                                          nen. Neue Konzepte für Architektur und soziale Interaktion,
zielführende Diskussionen sei. Der Begriff „Partizipa-    München 2015, S. 8–22.
tion“ steht allgemein für Beteiligung, Teilhabe, Mit-     4
                                                            Simbriger, S. 352.
wirkung, Mitbestimmung und Mitsprache – jedoch            5
                                                            Hartmut Häußermann und Walter Siebel, Soziologie des
                                                          Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzie-
nicht in willkürlicher Form. Er bezeichnet die Teilhabe
                                                          rung des Wohnens, Weinheim und München 1996.
einer Person oder Gruppe an Entscheidungsprozes-          6
                                                            Margarete Rudorff, Die Schrumpfung des Begriffes „Woh-
sen oder an Handlungsabläufen, die in übergeord-          nung“ und ihre Folgerungen, in: Soziale Welt 6/1955, S.
neten Strukturen oder Organisationen stattfinden.         45-51, S. 7. Siehe auch Häußermann/Siebel, S. 332
                                                          7
                                                            Andritzky, S. 671.
Die Regelprozesse bauen auf Erfahrungswerten auf          8
                                                            Interview mit Elisabeth Hollerbach, wagnis München, im
und sind von spezifischen Begrifflichkeiten geprägt,      Februar 2016 für die Ausstellung „Keine Angst vor Parti-
die die Planungsprozesse von Wohnprojekten be-            zipation! Wohnen heute“ am Architekturmuseum der TU
gleiten und ihre innere Struktur abbilden – sie sind      München.

                                                                                                                  21
Lösungen würden lediglich für Einzelne entwickelt
                                                                                         und auf partikuläre Denk- und Handlungsansätze
                                                                                         fokussiert.9 Die Vorwürfe verweisen zurück auf die
                                                                                         1970er und 1980er Jahre, als Akteure wie der Öko-
                                                                                         nom Klaus Novy in der Reform der Genossenschaf-
                                                                                         ten eine alternative Bewegung mit gesellschafts-
                                                                                         politischer Motivation vertraten. Novy forderte mit
                                                                                         der Aktualisierung des herkömmlichen Genossen-
                                                                                         schaftsgedankens eine wohnungspolitische Offensi-
                                                                                         ve, eine Wohnreform, die nicht dem Ruf nach einem
In einem intensiven Prozess     fast wie ein Subtext der Prozesse zu lesen und finden    größeren Markt, sondern einem größeren, einem
entstand das Genossen-          sich in verschiedener Form in allen Planungsabläufen     stadtkonzeptionellen Maßstab folgt.10 Die ambitio-
schaftsprojekt Spreefeld in
                                von Wohnprojekten wieder. Die Entwicklung eines          niert angelegten Wohnprojekte konzentrieren sich
Berlin. Fertigstellung: 2014.
(Programm/Prozess/Projekt:      Wohnprojektes lässt sich in Phasen von der Idee          auf die Realisierung ihrer Konzept- und Bauvorha-
Die Zusammenarbeiter            bis zum Wohnen in der Gemeinschaft gliedern, die         ben, die wiederum regional mit völlig unterschied-
Gesellschaft von Architek-      sich darin unterscheiden, welche Entscheidungen          lichen Bedingungen seitens der Bevölkerungsstruk-
ten mbH.
                                getroffen und wann welche Beteiligten hinzugezo-         tur, der Grundstückssituation und der Fördermittel
Architektur: carpaneto
architekten, fatkoehl archi-    gen werden. Faktoren wie Leitziele, die vereinbarte      konfrontiert sind, so dass auch diesbezüglich von
tekten, BARarchitekten)         verbindliche Rechtsform und Organisationsstruktur,       einem generellen Lösungsansatz der Wohnungsfra-
                                die partizipativen Mittel, die Finanzierungs- und För-   ge schwer auszugehen ist. Die Wohnprojekte stel-
                                dermittel, die Grundstücksfindung, die Festlegung        len, so Joachim Brech, „keine soziale Utopie dar. Sie
                                eines Raumprogramms, die Zusammenarbeit in Ar-           betreiben nicht die Veränderung der gesellschaft-
                                beitskreisen mit den Architekten bis zur architekto-     lichen Verhältnisse, nicht zuletzt, weil diese ihr Fun-
                                nischen Umsetzung bilden dabei eine wichtige Rolle,      dament darstellen.“11 Erfolgreiche Einzellösungen
                                damit aus der Idee Realität wird.                        zu schaffen, die als Vorbilder für Wohnungsbau,
                                                                                         Quartiersentwicklung und für die Entwicklung in-
9
  Andritzky S. 671.             Wohnprojekte: Partizipation am Protest                   tegrativer, sozialer Lebensräume dienen, lassen
10
   Klaus Novy, Genossen-        Die Teilhabe der späteren Bewohner an der Konzept-       sich auch als „Partizipation am Protest“ verstehen,
schafts-Bewegung. Zur           entwicklung, am baulichen Entwurf sowie an den           als Insellösung mit Vorbildcharakter für den einzel-
Geschichte und Zukunft
                                Entscheidungen für die Bau- und Wohnqualität führt       nen Bürger. Vittorio Magnagno Lampugnani geht
der Wohnreform.:TRANSIT,
Berlin 1984, S. 7f.             zu einer starken Identifikation mit dem Objekt, zielt    von einer Förderung des Architekturdiskurses aus:
11
   Joachim Brech, Ein Wan-      damit auf langfristige Perspektiven für die Bewohner     „Speziell in der Architektur dient Partizipation nicht
del im Wohnen in der Zeit       und ist zugleich Ausgangspunkt für die Vielfalt der      nur der politischen Entwicklung der Betroffenen,
des Umbruchs, in: Hartmut
Häußermann (Hg.), Neue
                                Modelle. Die Kritik an genossenschaftlichen Wohn-        sondern fördert auch ihr Umweltbewusstsein, ihre
Wohnformen, Stuttgart           projekten richtet sich immer wieder auf die feh-         Verantwortlichkeit, ihre Kompetenz und ihr Wissen
1999, S. 81–160, S. 135         lende gesellschaftliche Gesamtlösung. Nachhaltige        in architektonischen und städtebaulichen Fragen:

                                22
Blick auf den gemeinschaft-
                                                                                                               lichen Dachgarten der
                                                                                                               Sargfabrik in Wien (1996,
                                                                                                               (Architekten: BKK-2, Wien);
                                                                                                               sie wurde 2000 durch das
                                                                                                               Projekt „Miss Sargfabrik“
                                                                                                               ergänzt. (Architekten: BKK-
                                                                                                               3, Wien)

Indem sie sich mit der Problematik konkret befas-       toren, Architekten und Bauträger und greifen bereits
sen, gewinnen die Benutzer mehr und bessere In-         umgesetzte Konzepte auf: sogenannte Flex- oder
formation über sie. Spiegelbildlich dazu kommt der      Optionsräume, die nutzungungebunden angelegt
Dialog mit den Betroffenen prinzipiell auch den Ar-     werden, oder sogenannte Clusterwohnungen mit
chitekten zugute, die ebenfalls neue Aspekte über       einem Gemeinschaftsraum als Erschließungsbereich
das eigene Sachgebiet erfahren.“12 Der Architekt        für mehrere Wohnungen werden geschaffen – auch
Franz Sumnitsch berichtet über seine Erfahrung          in München wurden im Projekt wagnisArt erstmals
beim Bau der Sargfabrik Wien: „Ein einzelner Bau-       Clusterwohnungen geschaffen in Anlehnung an
herr verwirft die vorgeschlagene Lösung aus dem         Vorbilder wie Kalkbreite Zürich oder Spreefeld Ber-
einfachen Grund, dass sie ihm nicht gefällt, die Dis-   lin. Auch städtebauliche Lösungskonzepte sind auf      12
                                                                                                                  Vittorio Magnagno
kussion ist in wenigen Minuten beendet, und die         den allgemeinen Wohnungsbau übertragbar. Von           Lampugnani, Partizipation
Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung fehlt.        Futurafrosch, einem der Architekturbüros, die am       am Protest. Architektur
In einer Gruppe geht es nun richtig los, 30 Prozent     Wohnprojekt MehralsWohnen in Zürich beteiligt          zwischen Konsumgut und
sind dafür, 30 dagegen und 40 unentschieden; die        waren, wurde „Kodex. Ein Handbuch zur Quali-           Kulturgut in: Architektur
                                                                                                               Avantgarde oder Massen-
daraus entstehende Diskussion beleuchtet das Pro-       tätssicherung im zukünftigen Wohnungsbau“ he-          geschmack, Berlin 1982, S.
jekt von allen Seiten.“13                               rausgegeben. In der Einführung wird auf die direkte    52–71, S. 57.
Darüber hinaus teilen die Akteure der Wohnprojekte      Beziehung von gutem Wohnungsbau und gutem              13
                                                                                                                  Franz Sumnitsch, Parti-
                                                                                                               zipation als Chance für die
vielfach ihre Erfahrungen, reichen ihre Maßnahmen-      Städtebau hingewiesen: „Zur Vertiefung der Quali-
                                                                                                               Architektur, in: Housing is
kataloge, Finanzierungskonzepte und Satzungen           tätsfrage lohnt es sich, über beides nachzudenken.     back, 01/2006, S. 44–49,
weiter, um voneinander zu lernen. So lernen Initia-     Nachdenken über Wohnqualität in der Stadt bedeu-       S. 46.

                                                                                                         23
Die gemeinschaftliche
Wohnanlage wagnisArt
im DomagkPark München
erhielt 2016 den Deutschen
Städtebaupreis.
Rechte Seite: Luftbild.

Planer: Arge bogevischs
buero architekten & stadt-
planer GmbH und SHAG
Schindler Hable Architekten
GbR, in Zusammenar-
beit mit Arge bauchplan
auböck/kárász

                              tet Nachdenken über Lebensräume.“ Dazu zählen           her durch Maßnahmen der Stadtpolitik unterstützt.
                              die Herausgeber neben den Wohnräumen auch Bal-          Diese Entwicklung baut auf verschiedenen Erkennt-
                              kone und halböffentliche Orte wie Hinterhöfe, Stra-     nissen auf. Zu diesen zählt neben dem allgemei-
                              ßen und Plätze. Wie sehr Wohnprojekte durch die         nen Wohnungsdruck und Grundstückspreisen auf
                              stadträumlichen Anlagen, aber auch durch die Er-        Rekordkurs der aus der gesellschaftlichen Entwick-
                              weiterung des infrastrukturellen Angebots ins Quar-     lung der Stadt resultierende Faktor des steigenden
                              tier ausstrahlen oder diese erst als solche attraktiv   Bedarfs an Einzelpersonenhaushalten (heute 55
                              werden lassen, zeigen Beispiele wie die Sargfabrik      Prozent des Wohnungsbedarfs, Prognosen bis 2030
                              Wien, die Kalkbreite Zürich oder wagnisArt in Mün-      verzeichnen einen Zuwachs auf 75 Prozent), auf die
                              chen. Durch die Schwerpunktsetzung auf soziale          die Bauwirtschaft unzureichend reagiert.
                              Durchmischungen und Integrationsmodelle wirken          Während dem stetigen Bevölkerungswachstum
                              die Partizipationsprojekte sozialer Segregation oder    Münchens geringe Flächenressourcen gegenüber-
                              Bildung von Exklusionsgesellschaften in Wohnvier-       stehen, geht man von einem jährlichen Zuwachs von
                              teln entgegen. Sie unterstützen damit die gesell-       22.000 Einwohnern aus – und weiter steigenden
                              schaftliche Entwicklung einer Stadt.                    Preisen für Eigentums- und Mietwohnungen. Vor
                                                                                      allem die städtischen Siedlungsflächen beschränken
                              Der Fall München                                        sich im Wesentlichen auf Stadtentwicklungsgebiete,
                              Situation und städtische Förderung des                  auf Konversionsflächen wie die Anlage der ehema-
                              Genossenschaftsbaus                                     liger Bayern-Kaserne in Freimann, der Kronprinz-
                              Die Situation für gemeinschaftliche Wohnprojekte        Rupprecht-Kaserne in Freiham, der Prinz-Eugen-Pio-
                              in München wird unterschiedlich bewertet. Den-          nierkaserne in Bogenhausen und das Kreativquartier,
                              noch werden sie in den letzten Jahren zunehmend         ehemals Luitpoldkaserne in Schwabing-West – Flä-
                              als Alternative zur Situation auf dem drastisch an-     chenpotenziale für rund 46.000 Wohnungen.
                              gespannten Wohnungsmarkt verstanden und da-             Anfang der 1990er Jahre formierten sich in Mün-

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