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    Risiken und Nebenwirkungen deutscher und
    europäischer Rückkehrpolitik: ein außen-,
    sicherheits- und entwicklungspolitischer
    Beipackzettel
    Biehler, Nadine; Koch, Anne; Meier, Amrei

    Veröffentlichungsversion / Published Version
    Forschungsbericht / research report

    Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:
    Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Biehler, N., Koch, A., & Meier, A. (2021). Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer
Rückkehrpolitik: ein außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Beipackzettel. (SWP-Studie, 12/2021).
Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik -SWP- Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit. https://
doi.org/10.18449/2021S12

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https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-75416-7
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SWP-Studie

  Nadine Biehler / Anne Koch / Amrei Meier

Risiken und Nebenwirkungen
deutscher und europäischer
Rückkehrpolitik
         Ein außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer
         Beipackzettel

                                                     Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                                 Deutsches Institut für
                                                  Internationale Politik und Sicherheit

                                                                        SWP-Studie 12
                                                                    August 2021, Berlin
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Kurzfassung

∎ Die Rückkehr ausreisepflichtiger Migrantinnen und Migranten hat einen
  hohen Stellenwert auf der politischen Agenda Deutschlands und der EU.
  Neben dem Ziel, die Rückkehrzahlen zu steigern, haben verstärkte rück-
  kehrpolitische Bemühungen auch eine symbolische Funktion: Sie dienen
  dazu, die Durchsetzungskraft des Rechtsstaats zu demonstrieren, und
  gelten als wichtiges Mittel, das weitere Erstarken rechtsextremer Parteien
  zu verhindern.
∎ In der Praxis erweist es sich allerdings als schwierig, die Ausreisepflicht
  durchzusetzen – im europäischen Durchschnitt gelingt dies nur in etwa
  einem Drittel der Fälle. Als einer der zentralen Gründe hierfür wird die
  mangelnde Kooperationsbereitschaft der Herkunftsländer genannt.
∎ Auf europäischer Ebene finden derzeit dynamische Entwicklungen in der
  internen und externen Dimension statt, was die Frage der Rückkehr be-
  trifft. Ziel ist es, die Zusammenarbeit mit Herkunftsländern zu verbessern
  sowie innereuropäische Abläufe effektiver zu gestalten.
∎ Die fortwährenden Bemühungen, die Rückkehrzahlen zu erhöhen, gehen
  mit entwicklungs-, außen- und sicherheitspolitischen Kosten einher, die
  oft nicht hinreichend beachtet werden. So kann der Druck zur rückkehr-
  politischen Kooperation demokratische Transitionsprozesse in Herkunfts-
  ländern gefährden oder europäische Verhandlungsmacht in anderen
  Bereichen schwächen.
∎ Die Studie plädiert dafür, diese Zielkonflikte systematischer als bisher in
  eine umfassende Kosten-Nutzen-Abwägung von Rückkehrpolitik einzu-
  beziehen. Auf Basis dieser Abwägung sollten europäische Regierungen
  pragmatisch über Alternativen zu Rückkehr nachdenken.
SWP-Studie

Nadine Biehler / Anne Koch / Amrei Meier

Risiken und Nebenwirkungen
deutscher und europäischer
Rückkehrpolitik
Ein außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Beipackzettel

                                                           Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                                       Deutsches Institut für
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                                                                          August 2021, Berlin
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ISSN (Print) 1611-6372
ISSN (Online) 2747-5115
doi: 10.18449/2021S12
Inhalt

 5   Problemstellung und Empfehlungen

 7   Die politische Bedeutung von Rückkehrmigration

 8   Rechtliche und statistische Grundlagen
 8   Völkerrechtliche Rahmenbedingungen
10   Die Datenlage: Fragmentiert und unvollständig

18   Rückkehr in der öffentlichen Debatte
18   Ordnungspolitische vs. menschenrechtliche
     Argumentation
21   Entwicklungspolitische Angebote als Brückenschlag

23   Entwicklungen auf europäischer Ebene
23   Rückkehrpolitik als Nebenschauplatz (1999–2007)
26   Stärkung der EU-internen Zusammenarbeit (2008–2014)
26   Rückkehrpolitik als Dreh- und Angelpunkt der
     EU-Migrations- und -Asylpolitik (seit 2015)

31   Risiken und Nebenwirkungen
31   Entwicklungspolitische Zielkonflikte
34   Außenpolitische Zielkonflikte
37   Sicherheitspolitische Zielkonflikte

41   Plädoyer für eine umfassende
     Kosten-Nutzen-Abwägung

43   Anhang
43   Datenbasis zu von Frontex durchgeführten
     Rückführungen
44   Abkürzungen
Nadine Biehler, Dr. Anne Koch und Dr. Amrei Meier
sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe
Globale Fragen.

Diese Studie wurde im Rahmen des vom Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
geförderten Projekts »Flucht, Migration und Entwicklung –
Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für
deutsche und europäische Politik« verfasst.

Die Autorinnen danken Nadine Knapp und Corinna Templin
für wertvolle Unterstützung bei Erarbeitung der Studie,
insbesondere bei der Aufarbeitung der Daten.
Problemstellung und Empfehlungen

         Risiken und Nebenwirkungen deutscher
         und europäischer Rückkehrpolitik.
         Ein außen-, sicherheits- und entwicklungs-
         politischer Beipackzettel

         Die Umstände, unter denen Menschen in ihre Her-
         kunftsländer zurückkehren, sind so vielfältig wie ihre
         Migrations- und Fluchtbiografien: Eine Rückkehr
         kann der letzte Schritt eines erfolgreich abgeschlosse-
         nen Arbeitsmigrationsprojekts sein, eine zeitlich
         begrenzte Episode in einem von Mobilität geprägten
         Lebenslauf, eine bewusste Entscheidung aufgrund
         fehlender beruflicher Perspektiven im Zielland oder
         eine Notwendigkeit, weil jemand dort keinen legalen
         Aufenthaltstitel bekommen hat. Im Gegensatz zu
         dieser großen Bandbreite an Szenarien verfolgt die
         deutsche und europäische Rückkehrpolitik ein weit-
         aus engeres Ziel: Primär geht es ihr darum, die Aus-
         reisepflicht abgelehnter Asylsuchender und anderer
         Migrantinnen und Migranten ohne Bleiberecht mit-
         hilfe von Abschiebungen oder staatlich unterstützten
         Rückkehrprogrammen durchzusetzen. Da es in die-
         sem Kontext zu weitreichenden Eingriffen in indivi-
         duelle Rechte und Freiheiten kommt, stellt Rückkehr
         einen besonders kontrovers diskutierten Teilaspekt
         staatlicher Migrationspolitik dar, der ein hohes Mobi-
         lisierungspotential aufweist und emotional aufge-
         ladene Debatten auslöst.
             Rückkehrpolitik besitzt große Symbolkraft: Durch
         die Ausweisung unerwünschter Nicht-Staatsbürgerin-
         nen und -bürger signalisieren Regierungen das Auf-
         rechterhalten territorialer Souveränität und staat-
         liches Durchsetzungsvermögen. Diese in erster Linie
         innenpolitische Signalwirkung erklärt den besonde-
         ren Stellenwert rückkehrpolitischer Maßnahmen seit
         der sogenannten »europäischen Flüchtlingskrise« 2015
         und 2016. In den vergangenen Jahren gab es sowohl
         im deutschen Kontext als auch auf europäischer
         Ebene kontinuierliche Bemühungen, die Rückkehr-
         zahlen zu erhöhen, und eine enge Verflechtung der
         Initiativen und Maßnahmen auf beiden Ebenen. Da
         geplante Rückführungen häufig an der mangelnden
         Kooperation der Regierungen der Herkunftsländer
         scheitern, zielen viele Bemühungen darauf ab, diese
         Zusammenarbeit zu verbessern. Dazu werden Anreize
         gesetzt, Sanktionen verhängt oder die individuellen

                                                          SWP Berlin
Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                         August 2021

                                                                   5
Problemstellung und Empfehlungen

            Härten abgefedert, die üblicherweise mit erzwunge-           Zielsetzungen führt. Fragen der Verhältnismäßigkeit
            ner Rückkehr einhergehen.                                    drohen hierbei aus dem Blickfeld zu geraten.
               Im Fokus der Aufmerksamkeit steht dabei das                  Die unzureichende Diskussion von Alternativen zu
            »Wie« von Rückkehr – der hohe politische Stellen-            Rückkehr ist kontraproduktiv und geht an den gesell-
            wert, der dem Thema beigemessen wird, wird kaum              schaftlichen Realitäten vorbei. Neben der Anerken-
            hinterfragt. Dies lässt außer Acht, dass die Priorisie-      nung, dass rückkehrpolitische Aktivitäten selbstver-
            rung rückkehrpolitischer Ziele durch Deutschland             ständlicher Teil einer umfassenden Migrationspolitik
            und die Europäische Union (EU) Auswirkungen hat,             sind, braucht es eine offene Debatte über den in
            die über das Politikfeld Rückkehr hinausweisen. Hier         Deutschland umstrittenen »Spurwechsel« während
            setzt die vorliegende Studie an. Sie nimmt die außen-,       des Asylverfahrens sowie über Möglichkeiten, Migran-
            entwicklungs- und sicherheitspolitischen Implika-            tinnen und Migranten zu regularisieren, die seit länge-
            tionen von Rückkehrpolitik in den Blick und plädiert         rem ohne regulären Aufenthaltstitel in Deutschland
            dafür, diese in den entsprechenden Entscheidungs-            oder anderen EU-Mitgliedstaaten leben.
            prozessen angemessen zu berücksichtigen.
               Zu Beginn diskutiert die Studie die lückenhafte
            Datenlage zu Rückkehr sowie jüngere Entwicklungen
            der EU-Rückkehrpolitik. Darauf aufbauend setzt sie
            sich mit der empirischen Evidenz zu den konkreten
            Auswirkungen dieser Politik in den Herkunftsländern
            auseinander und analysiert, was dies für die Bezie-
            hungen zwischen Deutschland bzw. der EU und den
            Regierungen dieser Länder bedeutet. Sie identifiziert
            eine Reihe typischer Zielkonflikte. So kann die Auf-
            nahme rückkehrpolitischer Verhandlungen mit auto-
            ritären Regimen deren internationale Legitimität
            stärken. Der Einsatz entwicklungspolitischer Gelder
            als Hebel, um kooperationsunwillige Partnerländer
            zu einem Einlenken zu bewegen, kann entwicklungs-
            politische Prinzipien untergraben oder dazu führen,
            dass Schwerpunkte gesetzt werden, die kaum schlüssig
            zu begründen sind. Beides ist mit dem Risiko verbun-
            den, die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zu dis-
            kreditieren. Überdies kann die Priorisierung rückkehr-
            politischer Ziele deutsche und europäische Verhand-
            lungspositionen in anderen Politikfeldern schwächen.
            Und schließlich birgt die Rückführung von Straftätern
            und Gefährdern Sicherheitsrisiken für das jeweilige
            Herkunftsland bzw. in der Folge auch über dessen
            Grenzen hinaus.
               Die Analyse dieser Zielkonflikte ergänzt die bisher
            überwiegend innenpolitisch ausgerichtete Debatte
            über Rückkehrpolitik. Hierdurch entsteht ein voll-
            ständigeres Bild der Abwägungen, die es zu treffen
            gilt, um zu entscheiden, ob oder in welcher Hinsicht
            die derzeitige Priorisierung von Rückkehr im deut-
            schen bzw. europäischen Interesse liegt. Eine zentrale
            Erkenntnis ist, dass der durch quantitative Ziele selbst
            geschaffene Handlungsdruck im Bereich Rückkehr-
            förderung eine Eigendynamik entwickelt hat, die zu
            einer Unterordnung anderer migrationspolitischer

            SWP Berlin
            Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
            August 2021

            6
Die politische Bedeutung von Rückkehrmigration

Die politische Bedeutung
von Rückkehrmigration

Das zentrale Problem bei der Bewältigung der »euro-       Rückkehr – Bundeskanzlerin Angela Merkel rief
päischen Flüchtlingskrise« von 2015 und 2016 be-          nach 2015 wiederholt zu einer »nationalen Kraft-
stand darin, dass die EU-Mitgliedstaaten daran geschei-   anstrengung« bei Rückführungen auf und die Europä-
tert sind, sich auf eine faire Verteilung der Schutz-     ische Kommission begann, den Erfolg europäischer
suchenden zu einigen. Auch fünf Jahre später dauert       Migrationspolitik an der Entwicklung der Rückkehr-
die Blockade in dieser Frage an. In einem anderen Teil-   rate zu messen – war daher mit verstärkten Bemü-
bereich der Migrationspolitik herrscht dagegen weit-      hungen verbunden, die Herkunftsländer ausreise-
gehende Einigkeit: Rückkehrpolitische Reformen, die       pflichtiger Migrantinnen und Migranten zur Koope-
auf eine konsequentere und effizientere Durchsetzung      ration zu bewegen.
der Ausreisepflicht abzielen, sind EU-weit konsens-          Dies gestaltet sich als schwierig. Da die Ergebnisse
fähig und Schauplatz dynamischer Politikentwick-          bis heute weit hinter den Erwartungen zurückliegen,
lungen auf nationaler wie supranationaler Ebene.          dauern die Bemühungen um eine Erhöhung der Rück-
   Ein wichtiger Grund hierfür ist die Tatsache, dass     kehrzahlen an oder werden intensiviert. Zugleich
rückkehrpolitische Initiativen häufig den kleinsten       wird immer häufiger darüber berichtet, welche nega-
gemeinsamen Nenner in den ansonsten schwierigen           tiven Folgewirkungen die Priorisierung von Rückkehr
Verhandlungen um die Reform des Gemeinsamen               in der Zusammenarbeit mit einzelnen Herkunfts-
Europäischen Asylsystems darstellen. Die außerge-         ländern haben kann. Anhand der rückkehrpolitischen
wöhnlich hohe Priorität, die europäische Regierungen      Entwicklungen auf europäischer Ebene nimmt die
der Rückkehrpolitik beimessen, lässt sich jedoch nur      vorliegende Studie das Politikfeld in seiner Gesamt-
verstehen, wenn man auch die symbolische Dimension        heit in den Blick und arbeitet die in diesem Kontext
dieses Politikfelds berücksichtigt. Der plötzliche und    entstehenden entwicklungs-, außen- und sicherheits-
scheinbar unkontrollierte Anstieg von Zuwanderung         politischen Risiken und Kosten heraus. Mit dieser
in den Jahren 2015 und 2016 verunsicherte große           Ausrichtung füllt sie eine inhaltliche Lücke in der
Teile der Bevölkerung und wurde für ein Erstarken         wachsenden Zahl wissenschaftlich fundierter Bera-
rechtsextremer Parteien in vielen EU-Staaten verant-      tungspapiere zum Thema Rückkehrpolitik. Diese stre-
wortlich gemacht. Vor diesem Hintergrund nutzten          ben primär eine effektivere und humanere Gestal-
die Regierungen Abschiebungen und den Ausbau              tung rückkehrpolitischer Maßnahmen an, hinterfragen
sogenannter freiwilliger Rückkehrprogramme dazu,          aber nicht grundsätzlich die Verhältnismäßigkeit ent-
Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und auf diese         sprechender Bemühungen gegenüber anderen politi-
Weise dem Eindruck des Kontrollverlustes etwas            schen Zielen. 1
entgegenzusetzen.
   Am Beispiel Deutschlands wird deutlich, dass die         1 Vgl. u. a. Victoria Rietig/Mona L. Günnewig, Deutsche Rück-
öffentliche Debatte um Rückkehr in der Regel von            kehrpolitik und Abschiebungen. Zehn Wege aus der Dauerkrise,
innenpolitischen Gesichtspunkten dominiert wird.            Berlin: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP),
Gleichzeitig gilt: Rückkehrpolitik ist inhärent trans-      Mai 2020 (DGAP Analyse Nr. 3); Kathleen Newland/Brian Salant,
                                                            Balancing Acts. Policy Frameworks for Migrant Return and Reinte-
national. Im Gegensatz zu Entscheidungen über den
                                                            gration, Washington, D. C.: Migration Policy Institute (MPI),
Zugang zum eigenen Territorium können europäi-
                                                            Oktober 2018; Anna Knoll u. a., A Sustainable Development Ap-
sche Regierungen rückkehrpolitische Entscheidungen
                                                            proach to Return and Reintegration: Dilemmas, Choices and Possibili-
nicht umsetzen, ohne dass die jeweiligen Herkunfts-         ties, Maastricht: The European Centre for Development Policy
länder zustimmen. Die politische Fokussierung auf           Management (ECDPM), Januar 2021 (Discussion Paper Nr. 291).

                                                                                                          SWP Berlin
                                                Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                                                                         August 2021

                                                                                                                               7
Rechtliche und statistische Grundlagen

             Rechtliche und statistische
             Grundlagen

             Üblicherweise wird zwischen drei großen Kategorien                          Freiwilligkeit als zentrale Voraussetzung für die Nach-
             der Rückkehr von Flüchtlingen ebenso wie von Mig-                           haltigkeit von Rückkehr gilt. 4
             rantinnen und Migranten unterschieden: (1) »spon-                              Um diese terminologische Unklarheit zu umgehen,
             tane« Rückkehr, die ohne staatliche oder institutio-                        muss zwischen unterschiedlichen Formen von Rück-
             nelle Unterstützung stattfindet, (2) Rückkehr im Rah-                       kehr differenziert werden. Hierfür bietet sich eine
             men sogenannter freiwilliger Rückkehrprogramme,                             Unterscheidung entlang zweier Dimensionen an –
             die häufig von der Internationalen Organisation für                         zum einen Freiwilligkeit, zum anderen das Vorhan-
             Migration (IOM) umgesetzt werden, und (3) erzwun-                           densein oder die Abwesenheit staatlicher Einfluss-
             gene Rückkehr in Form von Abschiebungen. Die                                nahme bzw. Unterstützung (vgl. Tabelle, Seite 9).
             Bezeichnung der zweiten Kategorie als »freiwillig« ist                      Typ 1 und 2 bilden unterschiedliche Arten »spontaner«
             allerdings oft irreführend: Wenn die einzige Alter-                         Rückkehr ohne staatliche Unterstützung ab; zum
             native zu einem staatlich unterstützten Rückkehr-                           Beispiel wenn Arbeitsmigrantinnen und -migranten
             programm eine Abschiebung ist, lässt sich die Teil-                         beschließen, in ihr Herkunftsland zurückzukehren,
             nahme an Ersterem kaum als auf einer freiwilligen                           oder Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten nach
             Entscheidung basierend beschreiben. 2 Diese unscharfe                       Ablauf ihres Visums die EU fristgerecht verlassen.
             Terminologie führt zu zweierlei Problemen. So wird                          Typ 3 entspricht primär entwicklungspolitisch aus-
             die rhetorische Unterstellung von »Freiwilligkeit«                          gerichteten Programmen, die die Rückkehr von ausge-
             von zivilgesellschaftlicher Seite als realitätsfern und                     bildeten Fachkräften fördern; beispielsweise wenn
             zynisch wahrgenommen und schürt dadurch ein pau-                            Expertinnen und Experten mit Migrationshintergrund
             schales Misstrauen gegenüber rückkehrpolitischen                            zeitweise als Fachkräfte in ihrem Herkunftsland (oder
             Ansätzen. 3 Gleichzeitig weckt der Begriff der Freiwillig-                  dem ihrer Eltern) vor allem in Entwicklungsprojekten
             keit überhöhte Erwartungen an den Erfolg staatlich                          tätig werden. Typ 4 umfasst alle staatlichen Bemühun-
             unterstützter Rückkehrprogramme, weil genuine                               gen, ausländische Staatsangehörige ohne regulären
                                                                                         Aufenthaltstitel zur Rückkehr zu bewegen. Der Fokus
                                                                                         deutscher und europäischer Rückkehrpolitik liegt auf
                                                                                         Typ 4; darunter fallen Abschiebungen ebenso wie
                 2 Vgl. u. a. Arjen Leerkes u. a., »What Drives ›Soft Deporta-
                                                                                         Rückkehrprogramme, die ohne physischen Zwang
                 tion‹? Understanding the Rise in Assisted Voluntary Return
                                                                                         auskommen.
                 among Rejected Asylum Seekers in the Netherlands«, in:
                 Population Space and Place, 23 (2017) 8; Marieke van Houte/
                 Tine Davids, »Moving Back or Moving Forward? Return
                 Migration, Development and Peace-Building«, in: New                     Völkerrechtliche Rahmenbedingungen
                 Diversities, 16 (2014) 2, S. 71–87.
                 3 Valentin Feneberg, »›Ich zwinge niemanden, freiwillig                 Unter Rückkehrpolitik versteht man staatliche Bemü-
                 zurück zu gehen.‹ Die institutionelle Umsetzung der Politik             hungen, Einfluss auf individuelle Rückkehrentschei-
                 der geförderten Rückkehr durch staatliche und nicht-staat-              dungen zu nehmen und Rückkehr aktiv zu unter-
                 liche Akteure«, in: Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung,   stützen bzw. zu erzwingen. Das souveräne Recht von
                 3 (2019) 1, S. 8–43 (14f); Stephan Dünnwald, Freiwillige                Staaten, den Zugang zum eigenen Territorium zu
                 Rückführungen. Rückkehrpolitik und Rückkehrunterstützung von
                 MigrantInnen ohne Aufenthaltsrechte, 2011, S. 1f; Pro Asyl,
                 »Auf die harte Tour: ›Freiwillig‹ ist nicht gleich ›Freiwillig‹«,         4 Knoll u. a., A Sustainable Development Approach to Return and
                 Frankfurt a. M., 20.11.2019.                                              Reintegration [wie Fn. 1], S. 7.

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             Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
             August 2021

             8
Völkerrechtliche Rahmenbedingungen

Tabelle

Formen von Rückkehr

                                             Freiwillig                                   Unfreiwillig
Ohne staatliche Unterstützung                Typ 1: Freie Rückkehrentscheidung, Typ 2: Selbstorganisierte Rückkehr
                                             selbstorganisiert umgesetzt        in Ermangelung gangbarer
                                                                                Alternativen
Mit staatlicher Unterstützung                Typ 3: Freie Rückkehrentscheidung, Typ 4: Rückkehr in Ermangelung
bzw. Zwang                                   deren Umsetzung staatlich unter-   gangbarer Alternativen, die staat-
                                             stützt wird                        lich unterstützt oder erzwungen
                                                                                wird

kontrollieren, schließt auch das Recht ein, Menschen                 die Zurückweisung oder Abschiebung von Menschen,
ohne legalen Aufenthaltstitel des Landes zu verweisen,               die hierdurch der Gefahr von Folter oder unmensch-
etwa wenn Urlaubsvisa oder Arbeitsverträge enden                     licher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung
oder Asylsuchende keinen Schutzstatus erhalten.                      ausgesetzt sein könnten. 8 Ein zweites Schutzelement,
Gleichzeitig formuliert die Allgemeine Erklärung der                 das Verbot der Kollektivausweisung, wurde im 1963
Menschenrechte ein individuelles Recht auf Rück-                     verabschiedeten vierten Protokoll zur Europäischen
kehr: »Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich               Menschenrechtskonvention erstmals kodifiziert und
seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurück-                hat sich heute als allgemeiner Grundsatz des Völker-
zukehren.« 5 Hieraus wiederum leitet sich die Ver-                   rechts durchgesetzt. 9
pflichtung jedes Staates ab, rückkehrende Staatsbürge-                  Die beiden im Dezember 2018 vereinbarten Globa-
rinnen und -bürger wiederaufzunehmen. 6                              len Pakte zu Flucht und Migration sind die jüngsten
   Auf der anderen Seite existieren einige völkerrecht-              internationalen Vereinbarungen, die das Thema Rück-
liche Bestimmungen, die das Recht von Staaten be-                    kehr berühren – wenn auch ohne völkerrechtliche
schränken, Nicht-Staatsbürgerinnen und -bürger aus-                  Bindewirkung. Im Kontext der im Flüchtlingspakt
zuweisen. So enthält die Genfer Flüchtlingskonvention                angestrebten verbesserten internationalen Lasten- und
von 1951 mit dem Non-Refoulement-Gebot, dem                          Verantwortungsteilung erklärt sich die internationale
Prinzip der Nichtzurückweisung, eine Schutzklausel                   Gemeinschaft unter anderem dazu bereit, förderliche
für all diejenigen, deren Leben oder deren Freiheit                  Rahmenbedingungen für eine freiwillige Rückkehr zu
nach einer Rückkehr aufgrund ihrer »Rasse, Religion,                 schaffen. 10 Noch ausführlicher geht der Migrations-
Staatsangehörigkeit, […] Zugehörigkeit zu einer be-                  pakt auf Rückkehr ein; eines der darin formulierten
stimmten sozialen Gruppe oder wegen [ihrer] politi-                  23 Ziele ist der »Zusammenarbeit bei der Ermöglichung
schen Überzeugung« bedroht wäre. 7 Auch die Euro-                    einer sicheren und würdevollen Rückkehr und Wieder-
päische Menschenrechtskonvention und die Anti-                       aufnahme sowie einer nachhaltigen Reintegration«
Folter-Konvention der Vereinten Nationen verbieten
                                                                        8 Europarat, Europäische Konvention zum Schutz der Menschen-
   5 Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.        rechte und Grundfreiheiten, 4.11.1950; Vereinte Nationen,
   Resolution der Generalversammlung 217 A (III), 10.12.1948,           Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche
   Artikel 13 (2). Auch der Internationale Pakt über bürgerliche        oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Anti-Folter-Konvention,
   und politische Rechte und das vierte Protokoll der Europäi-          10.12.1984.
   schen Menschenrechtskonvention enthalten das Recht auf               9 Europarat, Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der
   Rückkehr ins eigene Land.                                            Menschenrechte und Grundfreiheiten, 16.9.1963, Artikel 4. Seit
   6 Nils Coleman, European Readmission Policy. Third Country           der Verabschiedung der Allgemeinen Bemerkung (General
   Interests and Refugee Rights, Leiden/Boston: Martinus Nijhoff        Comment) Nr. 15 zum Internationalen Pakt über bürgerliche
   Publishers, 2009, S. 28.                                             und politische Rechte ist die überwiegende Mehrheit der
   7 United Nations High Commissioner for Refugees                      Staaten an das Verbot der Kollektivausweisung gebunden.
   (UNHCR), Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,           10 Vereinte Nationen, Globaler Pakt für Flüchtlinge, A/73/12
   28.7.1951, Artikel 33 (1).                                           (Part II), New York 2018, Ziffer 87–89.

                                                                                                                      SWP Berlin
                                                            Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                                                                                     August 2021

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Rechtliche und statistische Grundlagen

       Grafik 1

       Quelle: UNHCR, »Refugee Data Finder«

             gewidmet. 11 Zentrale Aspekte sind Rechtssicherheit                       Standards, was einen direkten Vergleich und klare Aus-
             und Reintegrationsunterstützung, nicht Freiwilligkeit.                    sagen häufig erschwert. Dennoch lassen sich aus den
                 Dieser kurze Überblick über internationale Verein-                    Zahlen einige generelle Trends sowohl auf globaler als
             barungen und Rahmenwerke verdeutlicht die unter-                          auch auf europäischer und nationaler Ebene ablesen.
             schiedlichen Dimensionen von Rückkehr: Zum einen
             ist sie eine Facette staatlicher Migrationspolitik, zum                   Rückkehrzahlen auf globaler Ebene
             anderen ein individuelles Recht; und schließlich stellt
             die erzwungene Rückkehr gerade für Menschen, die                          Ein Großteil der weltweiten Migrationsbewegungen
             aus ihrem Herkunftsland vertrieben wurden, ein                            ist zeitlich begrenzt oder zyklisch und enthält eine
             mögliches Risiko dar, vor dem sie beschützt werden                        Rückkehrkomponente. 12 Da Migrantinnen und Mig-
             müssen – zum Beispiel wenn Fluchtgründe weiter-                           ranten für die Rückkehr in ihr Herkunftsland keiner
             bestehen.                                                                 rechtlichen Genehmigung bedürfen, gibt es hierzu
                                                                                       keine verlässlichen Statistiken. Verfügbar sind daher
                                                                                       nur Zahlen zu den Teilbereichen von Rückkehr, in
             Die Datenlage:                                                            denen internationale Organisationen oder Staaten
             Fragmentiert und unvollständig                                            aktiv sind. Im globalen Kontext kommen hierbei dem
                                                                                       Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen
             Die Datenlage zu Rückkehrmigration ist in vielen                          (United Nations High Commissioner for Refugees,
             Fällen lückenhaft. Unterschiedliche Akteure erheben                       UNHCR) und der IOM Schlüsselrollen zu: UNHCR
             Zahlen auf Basis unterschiedlicher Definitionen und

                                                                                         12 Vgl. International Organization for Migration (IOM),
                  11 Vereinte Nationen, Globaler Pakt für eine sichere, geordnete        Managing Return Migration. Challenges and Opportunities, Genf
                  und reguläre Migration, A/CONF.231/3, 10.12.2018, Ziffer 37 a)–i).     2016 (International Dialogue on Migration).

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             10
Die Datenlage: Fragmentiert und unvollständig

Grafik 2

Quelle: IOM, 2019. Return and Reintegration [wie Fn. 16], S. 2; E-Mail der IOM an die Autorinnen, 1.7.2021

unterstützt die Rückkehr von Flüchtlingen als eine                   vertreterkonflikte zurückführen, die große Rückkehr-
von drei »dauerhaften Lösungen« neben lokaler                        bewegungen unwahrscheinlich machten. Die eben-
Integration und Neuansiedlung in einem Drittstaat;                   falls geringen Zahlen seit 2006 begründet UNHCR mit
die IOM bietet sogenannte freiwillige Rückkehr-                      der zunehmenden Anzahl lang andauernder Konflikte
programme (Assisted Voluntary Return, AVR, bzw.                      (protracted conflicts), die eine sichere Rückkehr über
Assisted Voluntary Return and Reintegration, AVRR)                   Jahre verhinderten. 14 Darüber hinaus zeigen die star-
an, im Rahmen derer vor allem Menschen ohne lega-                    ken Ausschläge nach oben und unten, dass die Rück-
len Aufenthaltstitel bei einer Rückkehr finanziell                   kehr von Flüchtlingen in Schüben stattfindet. Punk-
und / oder organisatorisch unterstützt werden. Die von               tuell hohe Zahlen lassen sich mit Fortschritten in
diesen beiden Akteuren erhobenen Zahlen liefern                      spezifischen Länderkontexten erklären – 1994 etwa
erste Anhaltspunkte für rückkehrpolitische Trends.                   kehrten viele Menschen nach Ruanda und Mosambik
   Grafik 1 (s. Seite 10) zeigt die weltweiten Rückkehr-             zurück, 2002 nach Afghanistan. 15 In Jahren mit nied-
zahlen von Flüchtlingen seit 1980. 13 Die im Vergleich               rigen Zahlen war hingegen in keinem ehemaligen
zum Zeitraum 1991 bis 2005 niedrigen Rückkehr-                       Konfliktgebiet weltweit eine so signifikante Verände-
zahlen in den 1980er Jahren lassen sich auf die ver-                 rung zu verzeichnen, dass eine umfangreiche Rück-
härteten Fronten des Kalten Krieges und seiner Stell-                kehrbewegung in Gang gekommen wäre. Zusammen-

   13 UNHCR veröffentlicht diese kumulativen Zahlen unter               14 UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in 2019, Genf
   Vorbehalt, da die ihnen zugrunde liegenden Länderstatistiken         2020, S. 11. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Flüchtlinge
   in vielen Fällen nicht verifiziert werden konnten. Zudem             nur in stabile und endgültig befriedete Länderkontexte
   unterscheidet UNHCR nicht zwischen selbstorganisierter und           zurückkehren – in dem Zehnjahreszeitraum 2010–2019
   unterstützter bzw. zwischen freiwilliger und unfreiwilliger          war Syrien nach Afghanistan das Land mit den zweithöchs-
   Rückkehr. Vgl. UNHCR, Global Trends. Forced Displacement in          ten Rückkehrzahlen (ebd., S. 51).
   2018, Genf 2019.                                                     15 UNHCR, »Refugee Data Finder«.

                                                                                                                    SWP Berlin
                                                          Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                                                                                   August 2021

                                                                                                                                     11
Rechtliche und statistische Grundlagen

       Grafik 3

       Quellen: Eurostat, »Nach Ausweisung zurückgekehrte Drittstaatenangehörige – Jährliche Daten (gerundet)«, 20.5.2021;
       Eurostat, »Zur Ausreise aufgeforderte Drittstaatenangehörige – Jährliche Daten (gerundet)«, 20.5.2021.

             genommen unterstreicht dies: Die Bedingungen in                     direkt auf die »europäische Flüchtlingskrise« von 2015
             den Herkunftsländern sind ausschlaggebend dafür,                    und 2016 zurückzuführen, in deren Folge europäi-
             dass eine große Zahl von Menschen zurückkehrt.                      sche Regierungen erhebliche Anstrengungen unter-
                Die IOM bietet seit 1979 Programme zur Unterstüt-                nahmen, den hohen Zuwanderungszahlen ein Gegen-
             zung von Rückkehr an (s. Grafik 2, Seite 11). 16 Wäh-               gewicht im Bereich Rückkehr gegenüberzustellen.
             rend diese bis Anfang der 2000er Jahre überwiegend                  Das tat auch die deutsche Regierung: Mit 54.006 Rück-
             im Kontext von Nord-Süd-Rückkehr verfügbar waren,                   kehrerinnen und Rückkehrern gingen 54 Prozent aller
             werden sie mittlerweile von Regierungen weltweit                    von der IOM organisierten Rückwanderungen 2016
             genutzt. Anders als bei den von UNHCR veröffentlich-                von Deutschland aus; aus Europa waren es insgesamt
             ten Zahlen zur Rückkehr von Flüchtlingen lässt sich                 83 Prozent. 17 Der Rückgang um fast die Hälfte von
             hier ein längerfristiger Aufwärtstrend ausmachen.                   2019 auf 2020 lässt sich durch die pandemiebeding-
             Der auffällige Ausschlag nach oben im Jahr 2016 ist                 ten Reisebeschränkungen erklären.

                  16 IOM, 2019. Return and Reintegration. Key Highlights, Genf     17 IOM, Assisted Voluntary Return and Reintegration. 2016 Key
                  2020, S. 81.                                                     Highlights, Genf 2017, S. 3.

             SWP Berlin
             Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
             August 2021

             12
Die Datenlage: Fragmentiert und unvollständig

Duldung

Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich eine     aber keinen regulären Aufenthaltstitel haben. Dies ist mit gro-
Bescheinigung darüber, dass eine Abschiebung vorübergehend         ßer Planungsunsicherheit und psychischen Belastungen für die
ausgesetzt wird (§ 60a Aufenthaltsgesetz). Eine Duldung kann       Betroffenen verbunden.
aus rechtlichen Gründen erteilt werden, beispielsweise wenn           Neue Regelungen aus dem Jahr 2020 erlauben Duldungen
aufgrund der Sicherheitslage im Herkunftsland ein offizieller      für längere Zeit, nämlich für die Zeit der Ausbildung (maximal
Abschiebestopp besteht, oder aus tatsächlichen Gründen, etwa       drei Jahre) plus zwei Jahre »Anschlussbeschäftigung« (soge-
wenn die ausreisepflichtige Person schwer krank und nicht          nannte 3+2-Regelung, § 60a Absatz 2 Satz 4 Aufenthaltsgesetz).
reisefähig ist oder Pass- oder Reisedokumente fehlen. Schließ-     Ende 2019 waren vier von fünf Ausreisepflichtigen im Besitz
                                                                                   a
lich kann auch eine »Ermessensduldung« aus humanitären oder        einer Duldung. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren relativ
                                                                                        b
persönlichen Gründen gewährt werden, zum Beispiel damit ein        konstant geblieben.
laufendes Schuljahr beendet oder eine Ausbildung aufgenom-
                                                                   a Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung, Drucksache
men werden kann.
                                                                   19/18201. Abschiebungen und Ausreisen 2019, Berlin, 19.3.2020, S. 46.
   In der Regel werden Duldungen nur für einige Tage bis
                                                                   b Vgl. für die Jahre 2012–2016 Paula Hoffmeyer-Zlotnik,
Monate ausgestellt. Danach muss die zuständige Ausländer-
                                                                   Rückkehrpolitik in Deutschland im Kontext europarechtlicher Vor-
behörde sie erneut prüfen und ggf. verlängern, was zu soge-
                                                                   schriften, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
nannten »Kettenduldungen« führen kann. Gleichzeitig kann
                                                                   (BAMF), 2017 (Working Paper 77), S. 18; für 2017 Deutscher
eine Duldung jederzeit fristlos widerrufen und die vormals
                                                                   Bundestag, Antwort der Bundesregierung, Drucksache 19/633, Berlin,
geduldete Person abgeschoben werden. Damit leben Geduldete
                                                                   5.2.2018, S. 78; für 2018 ders., Antwort der Bundesregierung, Druck-
in einem Schwebezustand, in dem ihnen der rechtssichere
                                                                   sache 19/8021. Abschiebungen und Ausreisen im Jahr 2018, Berlin,
Verbleib in Deutschland zwar kurzfristig ermöglicht wird, sie
                                                                   26.2.2019, S. 33; für 2019 ders., Drucksache 19/18201 [wie a], S. 46.

Rückkehrzahlen im europäischen Kontext                            einem Jahrzehnt um einen Mittelwert von etwas unter
                                                                  einer halben Million Personen. Wie ist diese konstante
Im europäischen Kontext ist die Datenlage ebenfalls               Größe der Gruppe der Ausreisepflichtigen zu erklären,
unvollständig und fragmentiert. Selbstorganisierte                obwohl die Rückkehrrate auf den ersten Blick so nied-
Ausreisen, die zu einer Rückkehr ins Herkunftsland                rig ist? Eine abschließende Erklärung gibt es nicht,
führen, werden in den meisten Ländern nicht zentral               eine Kombination aus mehreren Faktoren ist indes
erfasst; EU-weit verfügbar sind nur Daten zu dem                  plausibel: Erstens verlassen viele Ausreisepflichtige die
kleinen Teilbereich staatlich unterstützter oder er-              EU, ohne staatliche Unterstützung in Anspruch zu
zwungener Rückkehr. Um die Effektivität staatlicher               nehmen; zweitens ergibt sich für manche die Möglich-
Rückkehrpolitik zu bewerten, errechnet die EU-                    keit eines legalen Aufenthalts, etwa wenn abgelehnte
Kommission aus dem Verhältnis der Zahl staatlich                  Asylgesuche in zweiter Instanz positiv beschieden
herbeigeführter Ausreisen zur Zahl der ausreise-                  werden. Drittens bleiben Ausreisepflichtige in Deutsch-
pflichtigen Personen die sogenannte Rückkehrrate.                 land, die im Besitz einer Duldung sind, in den Statis-
Aufgrund etlicher statistischer Schwächen ist diese               tiken der EU unberücksichtigt.
Rate aber wenig belastbar und aussagekräftig (vgl.
Kasten »Vollzugsdefizit und Rückkehrrate«, Seite 16).              Rückkehrzahlen im deutschen Kontext
   Grafik 3 (s. Seite 12) zeigt, dass die Rückkehrrate
in den vergangenen zehn Jahren um einen Mittelwert                Auch im deutschen Kontext wird die Zahl vollziehbar
von circa 38 Prozent kreist. 18 Hieraus lässt sich aller-         Ausreisepflichtiger häufig ins Verhältnis gesetzt zur
dings nicht schlussfolgern, dass über 60 Prozent der              Zahl der durch staatliche Interventionen herbeigeführ-
Ausreisepflichtigen in der EU verbleiben – ange-                  ten Ausreisen (vgl. Grafik 4, Seite 14). Eine Besonder-
sichts des weiteren Zuzugs würde ihre Zahl sonst von              heit des deutschen Ausländerrechts verkompliziert
Jahr zu Jahr steigen. Stattdessen bewegt sie sich mit             den Vergleich dieser beiden Größen jedoch: die Dul-
kleineren Ausschlägen nach oben und unten seit                    dung. Hierbei handelt es sich um einen Bescheid, der
                                                                  die Ausreisepflicht zwar nicht aufhebt, ihre Durch-
                                                                  setzung aber für einen gewissen Zeitraum aussetzt
   18 Das Jahr 2020 stellt eine Ausnahme dar, weil die all-
                                                                  (vgl. Kasten »Duldung«, Seite 13).
   gemeinen Mobilitätsbeschränkungen aufgrund der Covid-19-
   Pandemie auch den Bereich Rückkehr betrafen.

                                                                                                                   SWP Berlin
                                                         Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                                                                                  August 2021

                                                                                                                                      13
Rechtliche und statistische Grundlagen

       Grafik 4

       Quellen: Deutscher Bundestag, Antworten der Bundesregierung zu Abschiebungen (und Ausreisen) in den Jahren 2010 bis 2020: Drucksache
       17/5460, 12.4.2011, S. 1, 9; Drucksache 17/7734, 2.3.2012, S. 1, 8; Drucksache 17/12442, 22.2.2013, S. 1, 8; Drucksache 18/782, 12.3.2014, S. 1, 7;
       Drucksache 18/4025, 16.2.2015, S. 1, 9; Drucksache 18/7588, 18.2.2016, S. 2, 8; Drucksache 18/11112, 9.2.2017, S. 2, 9; Drucksache 19/800,
       20.2.2018, S. 2, 10, 14, 32, 33, 59; Drucksache 19/8021, 26.2.2019, S. 2, 10, 14, 15, 23, 33, 39, 67; Drucksache 19/18201, 19.3.2020, S. 2, 12, 15,
       43, 46; Drucksache 19/27007, 25.2.2021, S. 2, 10, 40, 47, 50; Janne Grote, Irreguläre Migration und freiwillige Rückkehr – Ansätze und Herausforde-
       rungen der Informationsvermittlung, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), 2015 (Working Paper 65), S. 18; Paula Hoff-
       meyer-Zlotnik, Rückkehrpolitik in Deutschland im Kontext europarechtlicher Vorschriften, Nürnberg: BAMF, 2017 (Working Paper 77), S. 18;
       E-Mail der IOM an die Autorinnen, 1.7.2021.

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             Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
             August 2021

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Die Datenlage: Fragmentiert und unvollständig

   Aus Grafik 4 kann man ablesen, dass sich die jähr-                   reisepflichtige; die praktische Bedeutung der Ausreise-
liche Zahl der Abschiebungen zwischen 2014 und 2016                     pflicht nimmt aber ab, da Duldungsgründe oft über
mehr als verdoppelte; Ausreisen im Rahmen von AVR-                      längere Zeiträume fortbestehen und der Status im
Programmen vervierfachten sich im gleichen Zeitraum                     Falle der Ausbildungsduldung auch einen Weg hin zu
fast. Während die Steigerung der AVR-Zahlen ein                         einem regulären Aufenthaltstitel bieten kann. 21
vorübergehendes Phänomen war, das schon 2017 wie-                          Die Diskrepanz zwischen der Gesamtzahl aller
der abnahm, verharrte die Zahl der Abschiebungen                        Ausreisepflichtigen (inklusive der Geduldeten) und
in den Jahren 2016 bis 2019 auf hohem Niveau (die                       der Zahl staatlich herbeigeführter Ausreisen wird
niedrigen Zahlen 2020 sind auf die pandemiebeding-                      häufig als Beleg für die mangelnde Durchsetzung der
ten Reisebeschränkungen zurückzuführen und daher                        Ausreisepflicht herangezogen (vgl. Kasten »Vollzugs-
wenig aussagekräftig). Der signifikante Anstieg von                     defizit und Rückkehrrate«, Seite 16). Berücksichtigt
Abschiebungen und AVR-Ausreisen ab 2015 bildet                          man dagegen nur die Zahl der Ausreisepflichtigen
die verstärkten staatlichen Anstrengungen ab, den                       ohne Duldung, ist die Diskrepanz weitaus kleiner und
hohen Zuwanderungszahlen durch die »Flüchtlings-                        verkehrt sich in manchen Jahren ins Gegenteil (2015
krise« von 2015 und 2016 etwas entgegenzusetzen.                        und 2016 überstieg die Zahl der staatlich verursach-
   Die Tatsache, dass die Zahl der Abschiebungen in                     ten Rückreisen diejenige der Ausreisepflichtigen ohne
den Folgejahren stagnierte, weist gleichzeitig darauf                   Duldung). Das heißt: Die Bewertung, wie effektiv die
hin, dass sich Rückkehrzahlen trotz beträchtlichen                      Umsetzung der Ausreisepflicht in Deutschland ist,
politischen Willens nicht beliebig erhöhen lassen,                      hängt davon ab, ob Geduldete – deren Ausreise-
auch nicht unter Einsatz von Zwang. Dies hat eine                       pflicht temporär ausgesetzt ist – in die Statistik ein-
Reihe von Gründen: Abschiebungen sind zum einen                         fließen oder nicht.
sehr ressourcenintensiv; die administrativen und
logistischen Kapazitäten sind begrenzt und können                        Die Kosten von Rückkehr
nur langsam ausgeweitet werden. Zum anderen sind
die Regierungen der Herkunftsländer oft nicht bereit                    Zu den finanziellen Belastungen, die Zielländern wie
zu kooperieren, wenn ihre eigenen Staatsangehörigen                     Deutschland durch staatlich geförderte oder erzwun-
unter Zwang rückgeführt werden sollen, weil diese                       gene Rückkehr entstehen, gibt es kaum belastbare
Politik im Widerspruch zu eigenen politischen Priori-                   Zahlen. Konsens herrscht darüber, dass eine Rückkehr
täten steht. 19                                                         im Rahmen von AVR(R)-Programmen deutlich günsti-
   Der Verlauf der AVR-Ausreisen lässt sich dadurch                     ger ist als eine Abschiebung. 22 Offizielle Statistiken
erklären, dass es 2015 und 2016 eine große Zahl aus-                    mit einer Gesamtübersicht aller Kosten für eine Ab-
reisepflichtiger Menschen aus den Balkanstaaten gab,                    schiebung bzw. eine geförderte Rückkehr existieren
die durch die Programme relativ leicht zu erreichen                     jedoch weder auf deutscher noch auf EU-Ebene. Ledig-
waren. Als dieser »Pool« ausgeschöpft war, erforderte                   lich eine Reihe von Einzelposten lässt sich beziffern.
es größere Anstrengungen, Einzelne zur Ausreise                         Dazu gehört im Falle einer staatlich geförderten Rück-
zu bewegen. 20                                                          kehr beispielsweise das Budget für Förderprogramme,
   Die Gruppe der Ausreisepflichtigen in Deutschland                    im Falle einer Abschiebung die Ausgaben für Flug-
teilt sich auf in diejenigen ohne und diejenigen mit                    gerät, Beförderung und Sicherheitsbegleitung. Oft
Duldung. Die Zahl der Ausreisepflichtigen ohne Dul-                     bilden diese Angaben aber nur einen Teil der tatsäch-
dung wuchs zwischen 2014 und 2017 deutlich an;                          lichen Kosten ab. Insbesondere Abschiebungen ver-
seitdem ist ein Abwärtstrend zu erkennen. Gleich-                       ursachen häufig weitere Kosten, etwa durch Abschiebe-
zeitig ist die Zahl der Ausreisepflichtigen mit Duldung                 haft oder weil medizinisches Personal Sammel-
kontinuierlich gestiegen und hat sich seit 2014 mehr                    abschiebungen begleitet. 23
als verdoppelt. So gibt es einerseits immer mehr Aus-
                                                                           21 Kirsten Eichler, Ausbildung und Arbeit als Wege zu einem
                                                                           sicheren Aufenthalt? Die Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung,
  19 Mercator Dialogue on Asylum and Migration (MEDAM),                    Berlin 2020, S. 55.
  European and African Perspectives on Asylum and Migration Policy:        22 Katie Kuschminder, Return and Reintegration Policy between
  Seeking Common Ground. 2020 MEDAM Assessment Report on                   Europe and Africa. Expertise im Auftrag des Sachverständigenrats
  Asylum and Migration Policies in Europe, Kiel 2020, S. 43.               deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Berlin 2020, S. 9f.
  20 Rietig/Günnewig, Deutsche Rückkehrpolitik und Abschiebun-             23 Anna-Lucia Graff/Jan Schneider, Rückkehrpolitik in
  gen [wie Fn. 1], S. 18f.                                                 Deutschland. Wege zur Stärkung der geförderten Ausreise, Berlin:

                                                                                                                         SWP Berlin
                                                               Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                                                                                        August 2021

                                                                                                                                              15
Rechtliche und statistische Grundlagen

             Vollzugsdefizit und Rückkehrrate – eine fehlerhafte Rechnung

             So eindrücklich die in Grafik 4 (s. Seite 14) dargelegte Dis-          Unabhängig von der Datenqualität ist die Annahme, aus
             krepanz zwischen der Zahl der Ausreisepflichtigen (inklusive        dem Verhältnis der Zahl der Ausreisepflichtigen zur Zahl der
             der Geduldeten) und derjenigen der staatlich herbeigeführten        mit staatlicher Unterstützung oder unter Zwang zurückgekehr-
             Ausreisen sein mag, so unzulänglich ist die Datengrundlage für      ten Menschen ließe sich die Effektivität von Rückkehrpolitik
             eine genaue Berechnung des »Vollzugsdefizits« in diesem             messen, konzeptionell irreführend und politisch unklug: Zähler
             Bereich. Die Zahlen in Grafik 4 suggerieren eine trügerische        und Nenner der Gleichung beziehen sich nämlich wegen der
             Vollständigkeit; dabei sind sie defizitär und nur begrenzt          zeitlichen Verzögerung zwischen der Feststellung der Ausreise-
             aussagekräftig.                                                     pflicht und ihrer möglichen Durchsetzung nicht auf die gleiche
                  Bei den Statistiken des Ausländerzentralregisters (AZR) zu     Gruppe von Menschen. Deshalb führt beispielsweise eine
             ausreisepflichtigen Personen stellen sich folgende zwei Prob-       schnellere Bearbeitung von Asylanträgen bei gleichbleibenden
             leme: Erstens werden nur Personen erfasst, die sich offiziell um    Rückkehrzahlen dazu, dass die Rückkehrrate sinkt bzw. das
             einen legalen Aufenthaltstitel bemüht haben und in diesem           Vollzugsdefizit bei Abschiebungen steigt. Liegt der Fokus der
             Bemühen entweder erfolglos waren (wie im Fall abgelehnter           öffentlichen Aufmerksamkeit auf Rückkehr, besteht die Gefahr,
             Asylsuchender) oder deren legaler Aufenthalt ausgelaufen ist        dass Fortschritte im Asylsystem primär als ein Scheitern der
             (visa overstayers). Irregulär eingereiste Personen, die keinen      Rückkehrpolitik wahrgenommen werden.
             Asylantrag gestellt haben, tauchen in den Statistiken in der           Ungeachtet dieser statistischen und konzeptionellen Schwä-
             Regel nicht auf. Dies hat ein systematisches undercounting zur      chen haben beide Größen – das deutsche Vollzugsdefizit bei
             Folge. Zweitens steht das AZR schon lange dafür in der Kritik,      Abschiebungen und die europäische Rückkehrrate – immense
             Personen als ausreisepflichtig zu verzeichnen, die ihrer Aus-       politische Wirkmacht: Sie bilden den Ausgangspunkt für die
             reisepflicht eigenständig nachgekommen sind, die sich noch im       politische Fokussierung auf Rückkehrbemühungen. Darüber
             Asylverfahren befinden und daher nicht ausreisepflichtig sind       hinaus werden sie herangezogen, um weitreichende migrations-
                                                                                                                               c
             oder die über einen neuen Aufenthaltstitel verfügen – was           politische Entscheidungen zu begründen.
                                                                         a
             wiederum auf ein systematisches overcounting hinweist. Die
                                                                                 a Statistisches Bundesamt, »Datenqualität des Ausländer-
             Größenordnung beider Effekte ist unklar.
                                                                                 zentralregisters und Erfassung von Schutzsuchenden«, 2019;
                  Während die Zahlen zu Ausreisen, die mit staatlicher Unter-
                                                                                 Diakonie Deutschland, »Ausreisepflicht, Duldung, Bleiberecht«,
             stützung bzw. mit staatlichem Zwang herbeigeführt wurden,
                                                                                 14.5.2021 (Wissen Kompakt).
             vermutlich weitgehend verlässlich sind, lassen sie sich nicht
                                                                                 b Hinzu kommen weitere statistische Schwächen auf euro-
             sinnvoll ins Verhältnis zur Zahl ausreisepflichtiger Personen
                                                                                 päischer Ebene, vgl. Jonathan Slagter, »An ›Informal‹ Turn in
             setzen: AVR-Programme stehen auch Menschen offen, die nicht
                                                                                 the European Union’s Migrant Returns Policy towards Sub-
             ausreisepflichtig sind. Aus den verfügbaren Zahlen ist nicht
                                                                                 Saharan Africa«, Washington, D. C.: MPI, 10.1.2019; Martina
             ersichtlich, in wie vielen Fällen dies in Anspruch genommen
                                                                                 Belmonte u. a., How to Measure the Effectiveness of Return? Problem
             wurde und eine AVR-Ausreise damit den Bestand an ausreise-
                                                                                 Definition and Alternative Definitions of the Return and Readmission
             pflichtigen Personen nicht verändert hat.
                                                                                 Rates, Luxemburg: Joint Research Centre, 2021, S. 14f.
                  In anderen europäischen Ländern findet man ähnliche
                                                                                 c Stephan Scheel, »The Politics of (Non)Knowledge in the
             Datendefizite. Entsprechend wenig belastbar ist die auf euro-
                                                                                 (Un)Making of Migration«, in: Journal of Migration Studies,
             päischer Ebene erhobene Rückkehrrate, die auf Basis von Daten
                                                                     b           1 (2021) 2, S. 39–71 (58).
             errechnet wird, die die nationalen Behörden liefern.

                Einer Schätzung aus dem Jahr 2018 zufolge kostet                 für eine Rückkehr im Rahmen des Rückkehrförderungs-
             eine Rückkehr im Rahmen eines AVR(R)-Programms                      programms Reintegration and Emigration Programme
             im europäischen Durchschnitt 560 Euro, eine Abschie-                for Asylum-Seekers in Germany / Government Assisted
             bung 3.414 Euro. 24 Für Deutschland gibt die Beratungs-             Repatriation Programme (REAG/GARP) mit durch-
             firma McKinsey die direkten Kosten einer einzelnen                  schnittlich 700 Euro. Die Kosten für Unterbringung
             Abschiebung mit durchschnittlich 1.500 Euro an, die                 und Versorgung eines Ausreisepflichtigen belaufen
                                                                                 sich im Durchschnitt auf 670 Euro pro Monat. Auf
                                                                                 Basis einer Gegenüberstellung dieser beiden zuletzt
                  Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher           genannten Zahlen folgert McKinsey, dass sich die »In-
                  Stiftungen für Integration und Migration (SVR), 2017 (Studie   vestition in freiwillige Rückkehr und Rückführung
                  des SVR-Forschungsbereichs 2017-1), S. 28.
                  24 Wouter van Ballegooij/Cecilia Navarra, The Cost of Non-
                  Europe in Asylum Policy, Brüssel: European Parliamentary
                  Research Service, 2018, S. 163.

             SWP Berlin
             Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
             August 2021

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Die Datenlage: Fragmentiert und unvollständig

[…] finanziell bereits ab einer Verkürzung des Aufent-
halts um ein bis zwei Monate [lohnt]«. 25
    Dieser Versuch, einzelne Posten im Rückkehrpro-
zess gegeneinander aufzurechnen, ist Ausdruck einer
verkürzten Sichtweise auf die tatsächlichen Aufwen-
dungen und Investitionen, die – jenseits der eigent-
lich ausschlaggebenden rechtlichen Gesichtspunkte –
im Kontext einer Rückkehr von staatlicher Seite abzu-
wägen wären. Einerseits wird eine Vielzahl direkt mit
der Rückkehr verbundener Kosten nicht mitgezählt
(bei einer geförderten Rückkehr zum Beispiel der
Personal- und Zeitaufwand für die Beratung, bei einer
Abschiebung die Kosten einer möglicherweise vorge-
schalteten Abschiebehaft). Andererseits werden Inves-
titionen in Integration und Ausbildung nur unzu-
reichend berücksichtigt – ungeachtet der Tatsache,
dass sich diese laut jüngeren Untersuchungen in der
Regel nach einigen Jahren amortisieren. 26
    Die insgesamt schlechte Datenqualität zum Thema
Rückkehr erschwert es, evidenzbasierte politische Ent-
scheidungen zu treffen. Die verfügbaren Daten bieten
Raum für weit auseinanderklaffende Interpretatio-
nen, was wiederum zu einer Polarisierung der öffent-
lichen Debatte beiträgt.

  25 McKinsey & Company, Rückkehr – Prozesse und Optimierungs-
  potenziale. Abschlussbericht, Düsseldorf, 9.12.2016, S. 37f.
  26 Uri Dadush, The Economic Effects of Refugee Return and Policy
  Implications, Washington, D. C.: World Bank Group, Juni 2018
  (Policy Research Working Paper 8497), S. 3f.

                                                                                                                       SWP Berlin
                                                             Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
                                                                                                                      August 2021

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Rückkehr in der öffentlichen Debatte

             Rückkehr in der
             öffentlichen Debatte

             Lange war Abschiebung ein Instrument, das aufgrund                     deutschen Medien oft als »Abschiebedefizit« bezeich-
             seiner repressiven Natur nur in Ausnahmefällen an-                     net. 28 Hieran anknüpfend gibt es eine Reihe ordnungs-
             gewandt wurde. Seit den 2000er Jahren wurde diese                      politischer Argumente, auf die zur Begründung einer
             zuvor exzeptionelle Praxis in Deutschland und Nord-                    restriktiveren Rückkehrpolitik verwiesen wird.
             amerika häufiger, eine Normalisierung setzte ein. In
             der Literatur wird dies als »deportation turn« beschrie-               Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats
             ben. 27 Die zunehmende politische Bedeutung, die
             dem Thema Rückkehr und Rückkehrförderung zu-                           Vor allem konservative Politikerinnen und Politiker
             kommt, spiegelt sich wider in einer polarisierten und                  argumentieren, das »Abschiebedefizit« (oder Vollzugs-
             aufgeheizten öffentlichen Debatte, die im Folgenden                    defizit) untergrabe die Glaubwürdigkeit des Rechts-
             am Beispiel Deutschlands nachgezeichnet wird. Befür-                   staats; mehr Rückführungen seien notwendig, um
             worterinnen und Befürworter eines verstärkten rück-                    diese wiederherzustellen. 29 Sie fürchten einen Vertrau-
             kehrpolitischen Engagements argumentieren meist                        ensverlust auf Seiten der Wählerinnen und Wähler
             ordnungspolitisch, während Gegnerinnen und Gegner                      und infolgedessen ein weiteres Erstarken rechtsextre-
             auf die mit erzwungener Rückkehr verbundenen men-                      mer Parteien 30, die in der Migrationspolitik restriktive
             schenrechtlichen Risiken verweisen. Vor dem Hinter-                    Lösungen wie massenhafte Ausweisungen und Ver-
             grund dieser Auseinandersetzung stellen entwicklungs-                  hinderung von Einwanderung vorschlagen. In diesem
             politisch eingebettete Reintegrationsangebote den Ver-                 Sinne erfüllen Abschiebungen und andere rückkehr-
             such eines Brückenschlags dar: Sie zielen nicht nur                    politische Instrumente immer auch eine symbolische
             darauf ab, Rückkehr nachhaltiger zu gestalten, sondern                 Funktion, indem sie – gerade in Krisenzeiten –
             dienen auch dazu, die individuellen Härten unfrei-                     staatliche Durchsetzungskraft signalisieren. 31
             williger Rückkehr abzufedern und so deren gesell-                         Als wie bedeutsam eine restriktive Rückkehrpolitik
             schaftliche Akzeptanz zu erhöhen.                                      für die gesellschaftliche Akzeptanz einer liberalen Ein-
                                                                                    wanderungspolitik angesehen wird, lässt sich an der
                                                                                    erzwungenen Kopplung zweier Gesetzesvorhaben im
             Ordnungspolitische vs. menschen-                                       Jahr 2019 ablesen: Obwohl insbesondere viele Wirt-
             rechtliche Argumentation
                                                                                      28 Vgl. beispielsweise Reiner Burger, »Abschieben auf die
             Die im vorherigen Kapitel aufgezeigte Diskrepanz                         sanfte Tour. Streit um Rückführungen«, in: Frankfurter All-
             zwischen der Zahl ausreisepflichtiger Personen und                       gemeine Zeitung (FAZ) (online), 26.11.2015; Ulrich Exner, »CSU-
             der Zahl derer, die Deutschland im Rahmen von AVR-                       Vorschlag verschärft das Problem eher«, in: Welt (online),
             Programmen oder Abschiebungen verlassen, wird in                         16.6.2018.
                                                                                      29 Vgl. CDU/CSU-Bundestagsfraktion, »Systematische Ver-
                                                                                      hinderung von Abschiebungen muss strafbar werden. Forde-
                  27 Bridget Anderson u. a., »Citizenship, Deportation and the        rung des BAMF-Präsidenten verdient Unterstützung«, Presse-
                  Boundaries of Belonging«, in: Citizenship Studies, 15 (2011) 5,     mitteilung, 26.3.2019; Marcel Leubecher, »Von Merkels Ab-
                  S. 547–563; Matthew J. Gibney, »Asylum and the Expansion            schiebungsoffensive fehlt jede Spur«, in: Welt (online), 8.6.2017.
                  of Deportation in the United Kingdom«, in: Government and           30 Martin Sökefeld, »Nations Rebound: German Politics of
                  Opposition, 43 (2008) 2, S. 146–167; Emanuela Paoletti,             Deporting Afghans«, in: International Quarterly for Asian Studies,
                  Deportation, Non-Deportability and Ideas of Membership, Oxford      50 (2019) 1–2, S. 91–118 (91).
                  2010 (Working Paper Series Nr. 65).                                 31 Ebd., S. 110.

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             Risiken und Nebenwirkungen deutscher und europäischer Rückkehrpolitik
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