ZACK. ABSCHIED. SO IST JANUAR - www.null41.ch Januar 2019 SFr. 9.
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«Eine Ode an die Freiheit.» L’OBS NACH TAXI TEHERAN FÄHRT JAFAR PANAHI WIEDER LOS! THREE FACES «Ein Road Feel Good Movie» ANPASSUNG Thierry Frémaux, Cannes Film Festival FÖRDERSYSTEM RKK AB JANUAR 2019 SÄMTLICHE GESUCHE WERDEN DIREKT AN DIE RKK Eingereicht! WEITERE INFORMATIONEN WWW.RKK-LUZERN.CH AB 27. DEZEMBER IM KINO DIE GÖNNER MUSIK UND KULTUR ENGELBERG LADEN EIN ZUM 41. DREIKONIGS KONZERT SAMSTAG, 5. JANUAR 2019 20.30 UHR, KLOSTERKIRCHE ENGELBERG STUDIERENDE DER HOCHSCHULE LUZERN – MUSIK FRANZ SCHUBERT Acht Variationen in As-Dur D 813 für Klavier zu vier Händen WOLFGANG AMADEUS MOZART «Gran Partita» Serenade B-Dur KV 361 für zwölf Bläser und Kontrabass Eintritt frei, Kollekte Unterstützt durch: Gestaltung und Druck:
EDITORIAL WIR GEHEN als Metapher für die oftmals herausfordern- de Zeit der Übergänge, sei es zwischen den Jahren, Menschen oder Orten. Hauptsache mit Zuversicht und Zukunftsblick. In den Fokusgeschichten der Januaraus- WEITER Liebe Leserinnen und Leser gabe nähern sich unsere Autorinnen und Au- toren dem Thema «Abschied» ganz breit an und widmen sich unter anderem dem Verein als bevorzugte, konfliktbehaftete Organisa- tionsform in Kulturbetrieben, der möglichen Verabschiedung traditioneller Museumsver- Es mag paradox klingen, das neue Jahr mittlung und dem Adieu zum gängigen Be- mit einem Heft zum Thema «Abschied» ein- rufsbild «Künstler» und «Künstlerin». zuläuten. Doch mit dem Abschied fallen Ge- An dieser Stelle möchte ich mich auch wissheiten und Gewohntes weg, plötzlich gilt ganz herzlich bei unserer redaktionellen es, sich wieder auf Neues einzulas- Mitarbeiterin, Katharina Thalmann, bedan- Sophie Grossmann sen. Während liberale Politkräfte ken. Sie hat uns auf Ende 2018 verlassen. Ihr Redaktionsleiterin gerne proklamieren, Wachstum Nachfolger, Pascal Zeder, hat seinen Start am sei der einzige Weg vorwärts, sind 1. Januar 2019. Ein Abschied und ein Anfang wir bei «041 – Das Kulturmagazin» über- – ich wünsche beiden ganz viel Erfolg und zeugt, dass es auch klein geht, indem wir in Freude für das Kommende! kurzen Schritten einen Fuss nach dem ande- ren aufsetzen und in neue Richtungen Wir stossen an: auf das Vorangehen mit schlendern, stapfen oder rennen. Das Gehen gutem Lesestoff und Neujahrsvorsätzen. Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Schonwaschgang? John Miller im Museum im Bellpark > Seite 35 Museumsrundgang? Rea Eggli mit Bronzeplastik > Seite 18 BYE BYE, Editorial > Seite 3 Guten Tag > Seite 5 Poliamourös Michael Soukup findet seinen Frieden mit und in Winterthur > Seite 6 BERUF? Eine Sängerin und ein Künstler erzählen > Seite 10 Kosmopolitour Laura Livers lernt New Yorker Slang > Seite 7 Stadt – Land Blick durch die Linse aus Luzern und Uri > Seite 8 Überdacht Wie gelingt ein Abschied? Porter zaubert, Groebner räumt auf > Seite 22 TSCHÜSS, Nachschlag Sylvan Müller über das letzte Mahl > Seite 24 Ausgefragt VEREIN? Typologie des Vorstands von Heinrich Weingartner > Seite 14 Drei Fragen an Kulturschaffende im Hintergrund: Gilda Laneve > Seite 37 Käptn Steffis Rätsel > Seite 58 Gemalt > Seite 59 KULTURKALENDER ADIEU, JANUAR 2019 MUSEUM? Rea Eggli und Heinz Stahlhut im Gespräch > Seite 18 Literatur > Seite 26 Musik > Seite 28 Film > Seite 30 Kunst > Seite 32 Kinder > Seite 35 Bühne > Seite 36 Veranstaltungen > Seite 38 Ausstellungen > Seite 51 Ausschreibungen > Seite 54 Adressen A-Z > Seite 56 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
GUTEN TAG GUTEN TAG, REGIERUNGSRÄTE Hätte was werden können: Ihr plant eine Tournee, diskutiert mit der Bevölkerung ak- tuelle politische Themen. Ende Jahr habt Ihr GUTEN TAG, GEMEINDE ROOT drei Gigs angesetzt – in Wolhusen, Sursee und Emmenbrücke (Letzteres könnte immer- Mit Ihrem Austritt aus der RKK reihen hin bald urban sein). Gesundheit, Bildung Sie sich ein in die illustre Gesellschaft der und Mobilität habt Ihr als Themen gesetzt. Ex-RKK-Gemeinden. Sie betreten ausgetrete- Wir vermissen natürlich die Kultur. Logo, ist ne Pfade: Den RKK-Exodus angerissen haben ja auch unser Thema Nummer 1. Und nach- vor Ihnen schon Udligenswil, Greppen, Adli- dem Ihr im Gegensatz zur Filmförderung des genswil und Buchrain. Sind das lauter Regio- Kantons Basel-Stadt abgelehnt habt, «Luzern nale Kultur-Kurzschlüsse? Oder erleben wir – der Film» zu fördern, hätten wir ja ganz Ak- gerade einen Übergang vom Kantönligeist tuelles zu besprechen gehabt. Aber geschenkt, zum Gmeindligeist, der in die Geschichtsbü- es hat nicht immer alles Platz. Dass Ihr als rei- cher eingehen wird? ne Männercombo aber ausschliesslich Exper- Doch zurück zu Ihnen, Gemeinde Root: ten (Frauen explizit nicht mitgemeint) auf die Sie sparen durch Ihren RKK-Exit 25 000 Fran- Bühne eingeladen habt, zeigt, wie erschre- ken. Es sei natürlich keine Sparmassnahme, ckend eng Eure Scheuklappen montiert sind. sondern eine Umverteilungsmassnahme – Sie Gerade wenn es um Themen geht wie Ge- wollen damit kulturelle Projekte in Root un- sundheit und Bildung, wo Frauen die Mehr- terstützen, weil sie bei der RKK offenbar zu heit der Arbeit leisten. kurz gekommen sind. Jeder Rappen zählt! Blöd nur, dass sich jetzt keine Kulturschaffen- Darauf ein Schulterklopfer, «041 – Das Kultur- den aus Root mehr um Förderung durch die magazin» RKK bewerben können. Das Prinzip heisst nämlich «Solidarität»: Zu glauben, dass das je- weilige Geld jeweils wieder zurück in die Mit- gliedergemeinden fliesst, beruht wohl auf ei- nem Missverständnis. Übrigens: Bei Ausgaben von 28 251 200 Franken im Jahr 2018 sind die 25 000 Fränkli RKK-Bätzeli gerade mal ein Tausendeinhun- dertdreissigstel oder 0,088 Prozent des Rooter Jahresbudgets. Kleines Trostpflaster: Sie werden erst per Ende 2020 aus der RKK austreten. Bleibt die Ausstiegs-Frequenz gleich wie bisher, wird bis dann mindestens eine weitere Gemeinde der RKK den Rücken zugedreht haben. Wird die RKK nach und nach eRKaKalten? Wir hoffen es nicht! Wohnatelier in Chicago Sanft errootet, «041 – Das Kulturmagazin» 1. Dezember 2019 - 30. November 2021 Professionelle Kulturschaffende aller Sparten aus dem Kanton Luzern können sich für einen Studienaufenthalt im Wohnatelier in Chicago bewerben. Die Stipendiendauer beträgt 4 bis 6 Monate. Bewerbungsunterlagen: www.luzern-chicago.ch Kontakt: Verein Städtepartnerschaft Luzern-Chicago claudia.willi@stadtluzern.ch oder kontakt@luzern-chicago.ch Anmeldefrist: 1. März 2019 Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
POLIAMOURÖS Als ich vor zwei Jahren einer Luzerner ruhen ihre Arbeiter lieber in beschei- Nationalrätin erzählte, dass ich bald dene Reihenhäuschen statt Mietska- nach Winterthur ziehen würde, sernen steckten. konnte sie es partout nicht verstehen. Ohne Repräsentationsbauten, Der Abschied fiel dafür mit umso mehr im Brutalismus- stil erstellten Waren- und Bürohäu- sern, wirkte Winterthur auf mich wie «eine deutsche Stadt, die nach den mir nicht leicht Luzern sei doch die schönste Stadt der Bomben des Zweiten Weltkriegs zu schnell wiederaufgebaut wurde», schrieb ich in einer bitterbösen Glosse im «Tages-Anzeiger». In Anspielung Schweiz – der See, die Berge, die Alt- auf die Provinzialität setzte ich den stadt und so weiter. Würde ich denn Titel: «Unterwegs in der B-Schweiz». dies alles nicht vermissen? Zu Win- Der Gipfel der Provokation war meine terthur fiel ihr nichts ein, Ankündigung, einen Match des Michael Soukup ausser dass es sich im zweitklassigen FC Winterthur zu be- ist in Luzern aufgewachsen und war bis Mitte 2018 Zentral- Osten befindet. suchen. Das war ein Fehler. Wintert- schweiz-Korrespondent des hurs Stapi soll so erzürnt über den «Tages-Anzeigers». Dank einer grosszügigen Abfindung ar- Für mich gab es aber Meinungsbeitrag gewesen sein, dass kein Zurück: Mein neun- beitet er nun Teilzeit beim Kon- er beim FC Winterthur sondieren sumentenmagazin «Saldo» jähriger Sohn war damals liess, ob man mich per Lautsprecher und studiert an der Pädagogi- schen Hochschule Zürich. eben mit seiner Mutter ausrufen und vom Publikum ausbu- von Zürich nach Winter- hen lassen könnte. Zum Glück lehnte thur gezogen. Ich konnte dies der Club ab. Illustration: Anja Wicki unmöglich zusätzlich zur täglichen Pendelei zwischen Luzern Ein Jahr später zog ich um. In und Zürich nun noch jedes Wochen- den ersten Wochen, als ich den neuen ende die je eineinhalbstündige Hin- Wohnort erwanderte, veränderte sich und Rückfahrt nach Winterthur auf meine Einstellung. Da waren keine mich nehmen. touristischen Horden, die die halbe Stadt belagerten. Da gab es aber eine Obwohl ich die meisten grossen bunte Altstadt mit Lädeli, die in Schweizer Städte recht gut kenne, war Luzern längst von den öden Uhrenge- Winterthur die grosse Unbekannte. schäften verdrängt worden waren. Als ich mir die Stadt das erste Mal ge- Der tägliche Stau war hier nicht halb nauer ansah, war ich ziemlich ver- so schlimm, dafür konnte man sich si- wundert. Mit rund 112 000 Einwoh- cheren Lebens auf dem Velo bewegen. nern ist Winterthur nicht nur die Und auch mit der Architektur habe ich sechstgrösste Stadt, sondern gleich- Frieden geschlossen: im früheren, zeitig auch die grösste Nicht-Haupt- riesigen Industrieareal der Gebrüder stadt der Schweiz. Sulzer. Hier entstand ein neues Quar- tier von grossstädtischem Charakter Dazu gesellte sich ein höchst ir- und architektonischer Qualität. ritierendes Stadtbild. Ob in Luzern, Zürich oder in irgendeiner europäi- Und die bleiernen Diskussionen schen Stadt, ziehen mich die gross- um die Höhe des Steuerfusses, Sparen städtischen Quartiere aus dem späten ohne Ende und die regierungsrätli- 19. Jahrhundert magisch an. In Win- chen Fake-News zur angeblich so er- terthur ist nur die Altstadt kompakt, folgreichen Tiefststeuerstrategie sind darüber hinaus stehen die Häuser hier im Osten weit weg. Winterthur meist wie hingewürfelt. «Garten- gilt ja als «Steuerhölle» des Kantons stadt» nennt sich das Konzept. Und es Zürich – trotzdem zahle ich ein paar waren auch die allmächtigen Fabrik- Tausend Franken weniger Steuern als herren, die aus Angst vor sozialen Un- in Luzern. 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
KOSMOPOLITOUR Laura Livers vom Duo Frida hat zum ersten Mal seit zehn Jahren Zeit. «Nooo, of course I won’t der Krise –, also schalte ich meine Synthesizer aus und verlasse mein Uptown Apartment. Auf dem Weg zur work here» Subway passiere ich das Dakota, das Appartementhaus, wo John Lennon lebte und vor dessen Eingang er starb hör ich oft und denk mir und sich bis heute immer ein paar Be- Laura Livers wollte eigentlich Pianistin werden. dann: «Ja, ist ganz geil!» atles-Fans finden lassen, und fahre 30 Da sie nicht gerne still sitzt und den Mund hält, Und ein bisschen Sehn- Minuten südostwärts. «It’s well brick hat sie ihren Konzertflügel verschenkt und ist sucht kommt dann auf. Ich outside» ist Slang für das eisige Wetter nun Mitglied in diversen Ensembles für moderne vermisse die Migros, ich draussen. Ob das stimmt, weiss ich Musik, Pop und Interdisciplinary Arts. Momentan vermisse die Galvanik, wo nicht. Aber meine Sitznachbarin im lebt und arbeitet die Zugerin in einem Atelier in ich jeden kenne, ich ver- L-Train auf dem Nachhauseweg besteht New York. misse meine Mitmusiker darauf, dass ich das ab jetzt so sage. und das Hertiquartier. «Let’s connect on Instagram.» Sie hat «Welcome to the United States of Seit September hänge ich in 9 211 Follower – in der Schweiz wäre America», murmelt der Angestellte der meiner Wohnung und schreibe wie sie damit Influencerin, hier ist das Homeland Security, während er gelang- besessen Musik. schon fast normal. Ich werde sicher nie weilt auf seinen Bildschirm blickt und Meine Band-Dropbox füllt sich mehr von ihr hören, aber das ist ok. Die etwas in meinen Pass kritzelt. Meine konstant mit Songskizzen, die unge- Vereinsamung in New York ist leicht, im Flugzeug geübte Rede wollte er nicht duldig auf Feedback warten. Das erste vielleicht ist es deswegen so einfach, hören («Nooo, of course I won’t work Mal seit meiner Matura vor zehn Jahren mit den Leuten ins Gespräch zu kom- here»), die Atelierbestätigung und der habe ich Zeit, Ideen auszuarbeiten, men? Das Konzert war auf jeden Fall Bankauszug blieben in meiner Mappe, welche auch auf den dritten Blick nicht seine 10 Dollar Eintritt wert, und da mein Laptop-Inhalt war nicht von In- viel hergeben, Zeit, sämtliche Reverb- mir bei einer kurzen Ausreise ein ande- teresse, die verräterischen XLR-Kabel Plugins in Ableton Live auszuprobieren, rer gelangweilter Mitarbeiter der und Mikrofone unausgepackt in mei- Zeit, stundenlang Drum-Loop-Tutori- Homeland Security mein Visum – nem Rucksack. «Besser nichts sagen», als zu hören, die ich nicht ganz verstehe. schon wieder – ungefragt um weitere dachte ich mir und stürzte mich in das In dieser lauten Stadt, die niemals sechs Monate verlängert hat, werde ich Getümmel namens New York City. schläft, zehnmal grösser als Zürich, das Sirenengeheul nicht missen, und «Aah, we’re fucked», erzählen die 200 000 Einwohner mehr als die einfach noch ein hier bisschen bleiben. Einheimischen. Politik ist ein beliebtes Schweiz, habe ich meine Ruhe gefun- Gesprächsthema – Gesundheitsvor- den. sorge, Mindestlöhne, die korrupten Und dann informiert mich You- Wahlen, Immigration, die kaputte tube, dass die Band, die ich gerade höre, Laura Livers Subway und immer und immer wieder heute Abend in Brooklyn spielt. Das *1988, lebt in Zug. Trump. «It must be so nice to be Swiss», passt – Song Nummer 32 steckt grad in www.lauralivers.com Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
STADT 22. NOVEMBER, KONZERTHAUS SCHÜÜR-FOYER, LUZERN «Zeitreise in die Welt des Glam Rock: Plattentaufe der Biscuits From Mars, mit Ibby Pop am Bass und Leadsänger Toni Bowie an der Gitarre.» Bild & Wort: Heinz Pal 8 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
LAND 28. NOVEMBER, OBERAXEN, URI «Nach dem Klauseinzug besuchen die Kläuse die abgelegeneren Haushalte.» Bild & Wort: Valentin Luthiger
FOKUS: ABSCHIED Wusstest du schon bei Studienantritt, dass du deine Produktio- nen zum künstlerischen Mittelpunkt machen wirst? Viviane Hasler: Ja. Das Studium habe ich immer als Ort gesehen, an dem ich mein Interviews: Katharina Thalmann technisches Rüstzeug hole: Bilder: Christof Schürpf Gesangstechnik, Musiktheo- rie und Gleichgesinnte tref- fen. Ich bin aber auch vielen Leuten mit Scheuklappen be- gegnet, die sich in ihr Übezimmerchen verkrochen haben. Wurdest du während des Studiums in deinem Vorhaben unter- stützt und gefördert? Konzert wünsche ich mir, dass jemand schreien würde, V. H.: Das Studium ist ein Elfenbeinturm. Meine Dozen- damit die süsse Idylle gebrochen wird. Ich kann ja auch tin hat mich immer unterstützt, gerade am Anfang des nicht den ganzen Tag Glace essen. Studiums musste sie mich aber auch bremsen – ich solle mich auf die stimmliche Entwicklung konzentrieren, das Wie ist es, mit klassisch ausgebildeten Musikerinnen und Musi- war sicher richtig. Gegen Ende des Studiums habe ich kern performative und spartenübergreifende Programme einzu- immer mehr zeitgenössische Musik gesungen. Meine studieren? projektorientierte Arbeitsrealität wurde nicht unterrich- V. H.: Klassische Musikerinnen üben 90 Prozent zu tet. Das ist Learning by Doing. Hause, und die letzten zehn Prozent passieren in den Proben. Für Schauspielerinnen und Tänzerinnen ist es Unterrichtest du auch? umgekehrt: 80 Prozent der Arbeit geschieht auf der V. H.: Noch einen Nachmittag pro Woche. So habe ich Szene. Für mich ist das normal, weil ich viel szenisch ar- den Luxus, Engagements absagen zu können oder coole beite. Beim Projekt mit dem Neon-Ensemble mussten Sachen zu machen – die aber vielleicht finanziell nicht ge- sich die Musikerinnen und Musiker daran gewöhnen, sichert sind. Zudem halte ich das Unterrichten für eine erst mal nicht zu wissen, wann welche Aktion passiert, künstlerische Bereicherung: Ich lasse Improvisation ein- und zusammen zu experimentieren. fliessen, zeige auch mal extra «falsche» Techniken, wie man sie eher in der zeitgenössischen Musik findet, um so Deine «Folk Songs» waren ein Konzerterlebnis aus Musik, Tanz zur gesunden Gesangstechnik zu gelangen. und Performance. Warum? V. H.: Durch die visuellen Aspekte kommt eine neue Was ist das Schwierigste, was das Schönste an deinem Alltag? Ebene hinzu, und wir vermitteln die Musik. Die Insze- V. H.: Das schwankende Einkommen und die versteck- nierungen nehmen Hemmschwellen weg. Es ist aber ein ten Administrationsaufwände sind schwierig. Am schmaler Grat: Ich will damit nicht die Musik aufhüb- schönsten sind die künstlerische Eigenständigkeit und schen oder kaschieren. die kreative Arbeit. Mozart ist auch schön, aber von meiner Person steckt da viel weniger drin. Ich will for- Nach dem Pädagogik-Master wird oft noch weiterstudiert. Wieso schen, ausprobieren, mich mit gesellschaftlichen hast du keinen Performance-Master gemacht? Themen befassen. Das versuche ich besonders mit V. H.: Ich hatte und habe das Bedürfnis, mich musika- meinem Ensemble Neon: In unserem ersten Programm lisch und stimmlich weiter zu entwickeln, wollte aber «Folk Songs» ging es um Populismus und Nationalis- nicht mehr in eine Institution eingebunden sein. Ich hole mus. Kunst ist nicht separiert vom Leben. mir, was ich brauche. Wenn ich beispielsweise Chine- sisch singen muss, lerne ich die Aussprache mit Kindervi- Mozart-Lovers würden wohl sagen, dass auch Mozart mit dem deos auf Youtube. Ausserdem habe ich parallel zum Mu- Leben zu tun hat. sikstudium auch Jus studiert. Vor einem Jahr habe ich die V. H.: Ja, und ich liebe es auch, Mozart zu singen! Aber Anwaltsprüfung bestanden. zeitgenössische Musik nimmt Bezug aufs Heute und traut sich auch, weg vom Schönen zu gehen, komposito- Das ist eine starke Leistung, gratuliere. risch und stimmlich. Nach einer Stunde Monteverdi im V. H.: Ich arbeite jetzt freischaffend rund 30 Prozent als Anwältin im Strafrecht. Allzu gern rede ich nicht darü- ber, weil es dann schnell heisst: «Sie subventioniert ihr Musikerin-Sein mit Anwältin-Sein.» Aber in Wirklich- keit ist es genau umgekehrt: Ich habe das Anwältin-Wer- den die letzten Jahre mit dem Musikerin-Sein finanziert. 10 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
LEARNING BY DOING SOMETHING DIFFERENT Wer Gesang studiert, wird Opernsängerin. Wer Kunst studiert, wird Künstler. Oder? Nicht ganz. Vorgespurte kreative Wege sind längst passé. Die Sängerin Viviane Hasler und der Künstler Exist 84 (Marc-André Wermelinger) gehen mit gutem Beispiel voran. Die Sopranistin Viviane Hasler wusste schon bevor sie ihr Gesangs- studium begann, dass sie lieber ihre eigenen Produktionen entwi- ckelt, statt als Operndi- va zu aspirieren. Seit sie ihr Studium 2012 abge- schlossen hat, realisiert sie jährlich eigene Pro- jekte, gründete ihr Neon-Ensemble – und wurde Anwältin. Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 11
FOKUS: ABSCHIED Deine Arbeiten, ob Videoclips, Albumcovers, Tafelbilder, Installa- «ICH HABE VIELE tionen oder Fasnachtsmasken, durchzieht eine ganz eigene Ästhe- tik. INTERESSEN, UND M. W.: Sie bewegen sich zwischen Schreckensbildern und Spielzeugwelten – oft auch in Kombination. Ich inte- ressiere mich für die Oberflächlichkeit von etwas: DESWEGEN HABE Schreckliche Bilder können schön sein und Spielzeugwel- ten können Schreckliches verharmlosen. Mein Brand, die ICH VIELE JOBS.» Rakete, kommt aus meinem Bezug zur Urban Art. Das Bild ist einfach, zeitlos, und steht dafür, seine Träume zu verfolgen. Wie teilst du deine Arbeitswoche auf? Marc-André Wermelinger: Ich arbeite 20 Prozent als Wie bist du auf die Idee gekommen, Kunst und Rap zu verbinden? Lehrer für bildnerisches Gestalten und Informatik. 60 M. W.: Die Musik habe ich im Master mit ins Boot geholt. Prozent bin ich Jugendarbeiter, und 20 Prozent freischaf- Das lief vorher nebeneinander, und das hat mich gestört: fender Künstler. Ich bin im bildenden und musikalischen Meine Kunst war sehr kühl, der Rap sehr persönlich. Mit Bereich tätig, sehe mich aber nicht als Musiker. Durch Musik zu arbeiten, machte mich in diesem Studiengang meine Erfahrungen als Jugendarbeiter begann ich mich zum Exoten. Viele meiner deutschen Dozenten waren ir- auch für die Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit und ritiert – sie haben die Texte nicht verstanden. Es ging aber Kunst zu interessieren. Eines dieser Projekte war ein Auf- ohnehin immer ums Konzept, ich wurde nicht musika- trag vom Schloss Meggenhorn, wo ich mit Asylsuchen- lisch bewertet. den eine künstlerische Form gefunden habe: Flaschen- post am Strand. Hast du trotzdem etwas gelernt an der Kunsti? M. W.: Natürlich. Vor allem habe ich gelernt, konzeptuell Wie hast du dir beim Antritt des Studiums dein Leben nach der zu arbeiten, Themen zu finden und diese zu verfolgen. HSLU – Design & Kunst vorgestellt? Ich habe einen Drang, alles zusammenzubringen – das M. W.: Meine naive, einfache Vorstellung war: Ich arbei- musste ich mir selber erarbeiten. Inzwischen sehe ich es te dann in der Migros, um als Künstler zu leben. Interes- entspannter: Ich ziehe meine Themen automatisch mit santerweise habe ich mir aber immer berufsnahe Felder und durch. Eine Stärke von mir ist es, passende Meta- als Nebenjobs gesucht: So habe ich das ganze Studium phern zu finden für etwas Ganzes. Und ich meine, sie zu über plakatiert. Und war die ganze Zeit mit Grafik und finden, nicht zu suchen oder zu konstruieren. Gestaltung im öffentlichen Raum konfrontiert. Ausser- dem habe ich im Stapferhaus Lenzburg in der Vermitt- Deine Albumtaufe findet in der Jazzkantine statt. Wieso? lung gearbeitet. Alles war irgendwie vernetzt. M. W.: Zum einen ist diese Location «unbesetzt», eine freie Fläche für Rap. Und es ist ein Statement gegenüber Du hast einen Art-Teaching-Master, aber Unterrichten ist der der Szene. Denn, seien wir ehrlich: Wir sind doch inzwi- kleinste Teil deiner Arbeit. Warum? schen erwachsen und das Treibhaus haben wir gesehen. M. W.: Das hat einen praktischen Grund: Als ich fertig war, fand ich keine Stelle. Deshalb musste ich mich für andere Felder öffnen. Jetzt unterrichte ich einen Tag pro Woche. Das ist inspirierend – und ein toller Ausgleich. In- zwischen weiss ich: Ich habe viele Interessen, und deswe- gen habe ich viele Jobs. Du veröffentlichst dein Debüt-Album «Eines Tages». Wirst Du jetzt professioneller Rapper? M. W.: Nach der Plattentaufe werde ich noch ein paar Konzerte spielen; das Kunstprojekt «Album» ist vorerst abgeschlossen. Dann will ich herausfinden, wie und mit wem ich in Zukunft musikalisch weiterarbeiten will. Meine Arbeit als Rapper muss aber wohl immer durch die anderen Jobs quersubventioniert werden. Obwohl die Resonanz aussergewöhnlich hoch ist. Das hat sicher mit Exist & Samplix: Eines Tages (U-Hill Records, 2018) der Raketenschneekugel zu tun, aber auch mit dem auf- Plattentaufe SA 12. Januar, ab 20 Uhr wendigen Videoclip zum Song «Reis zom Mond». Jazzkantine 12 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
Marc-André Wermelinger a.k.a Exist 84 veröffentlicht sein Solodebüt «Ei- nes Tages», produziert von Samplix. Darauf rappt er eine persönliche Coming-of-Age-Story, vom Leben als «Konschtstudänt» und darü- ber, 30 zu werden. Das Album erschien in limitierter Auflage als Raketen-Schneekugel. Wer- melinger ist studierter Künstler und hat ein Teaching-Diplom, arbeitet als Jugendarbeiter, ist Mitglied der Atelierge- meinschaft Fusilli und wirkt in der Maskengruppe vom Labor Luzern. Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
FOKUS: ABSCHIED DER SINN DES (VEREINS-)LEBENS Zuerst bei der IG Kultur Luzern, dann im Neubad, letzten kollieren! Jetzt sind Sie und Ihr Komplize eine juristische Person Juni im Südpol: Die Vorstände von Zentralschweizer Verei- in Form eines Vereins. Handlungs- nen treten gerne vorzeitig und geschlossen zurück. Zeit- fähig sind Sie aber erst, wenn ein geist? Zank? Zahlen? Ist der Verein überhaupt noch zeitge- Vorstand gewählt ist. Kleiner Tipp: mäss? Oder müssen wir uns von ihm verabschieden? Der kann auch aus Ihnen beiden bestehen, fürs Erste. Wenn Sie pikante Details zu den Vereinsquerelen der Sie haben jetzt unzählige Vorteile: Es besteht eine obigen Institutionen erfahren möchten, dann müssen Haftungsreduktion, das heisst, wenn der Verein in finan- wir Sie leider enttäuschen. Dieser Artikel ist vollkommen zielle Probleme gerät, haftet ausschliesslich das Ver- abstrakt und unkonkret. Falls Sie einsvermögen. Sie können Gelder beantragen bei Förder- Text: Heinrich Weingartner denken, wir hätten eine neue, stellen, die keine Anträge von Privatpersonen zulassen. Illustration: Lina Müller & bessere Rechtsform als den Gleichgesinnte können sich Ihnen anschliessen, zahlen Luca Schenardi Verein gefunden, dann müssen einen Mitgliedsbeitrag (falls das in den Statuten steht) wir Sie ebenfalls enttäuschen. und können mitbestimmen. Falls Sie gemeinnützig tätig Der Verein erweist sich trotz haarsträubender Konflikte sind und altruistische oder öffentliche Zwecke verfolgen, als eine sinnvolle Rechtsform für kulturelle Institutio- können Sie auf Gesuch hin sogar von einer teilweisen nen. Weshalb das so ist und weshalb es manchmal so oder kompletten Steuerbefreiung profitieren. Sie dürfen scheint, als ob das nicht so sei, erfahren Sie in den folgen- sogar wirtschaften, Leute einstellen und diese bezahlen, den Zeilen. Falls Sie also an Vereinen nichts auszusetzen solange ersichtlich ist, dass das erwirtschaftete Geld für haben, bereits ein grosses Vereinswissen haben und auch den gemeinnützigen Zweck draufgeht. Klingt toll, oder? nicht sehr bald geschlossen zurücktreten möchten, Natürlich besteht diesbezüglich Interpretationsspiel- dürfen Sie diesen Artikel getrost überspringen. raum – die FIFA profitiert ebenfalls von Steuerbefreiun- Der Verein ist eine einfache und niederschwellige gen, weil dank gewitzten Anwälten deren Korruption Rechtsform. Gleich nach der sogenannten Einfachen Ge- und Geldwäsche im weiten Sinne ebenfalls dem Ver- sellschaft. Eine Einfache Gesellschaft ist noch etwas ein- einszweck zugute kommt: Fussball als grösstmöglichs- facher und niederschwelliger. Sie sind wahrscheinlich in tes Spektakel zu inszenieren. mehreren Einfachen Gesellschaften gewesen, ohne es zu Ein Verein heisst: Zugehörigkeit anbieten. Bei etli- wissen. Gehen wir davon aus, dass Sie zusammen mit chen Kulturinstitutionen, die als Vereine aufgebaut sind, einem Komplizen eine Bank überfallen möchten. Gratu- ist diese Zugehörigkeit jedoch in den Hintergrund ge- liere, Sie sind eine Einfache Gesellschaft. Es handelt sich rückt. Vereine sind zu beliebten Gefässen für jegliche um mindestens zwei Personen, die mit vereinten Kräften Kulturinstitutionen geworden. Insbesondere aufgrund und Mitteln ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. der obigen Vorteile. Allerdings auch aus einem zweiten Sobald dieses Ziel erreicht ist, löst sich die Einfache Ge- Grund: Bis auf einige kleinere Bestimmungen schreibt sellschaft wieder auf. Falls Sie mit Ihrem Tun der Gesell- ein Verein nichts vor. Solange sie geltendes Recht nicht schaft einen Schaden zufügen – was beim Banküberfall brechen, können Sie in die Statuen schreiben, was Sie höchstwahrscheinlich ist – haften Sie persönlich und un- wollen. Ein Verein schränkt genau so viel ein wie nötig beschränkt. und sinnvoll, schreibt aber sonst nichts vor. Genau des- Gehen wir nun davon aus, dass das keine Einzeltat halb ist die Schweiz wohl das «Land der Vereine». Vom war. Sie wollen die Welt und alle Banken dazu. Dann Chöngeliverein bis zur FIFA. Diese Freiheit und Nieder- gründen Sie am besten einen Verein. Dafür müssen Sie – schwelligkeit hat aber auch Nachteile. Statt vollständig wie in der Kulturszene üblich – lediglich die Statuten von eingeschränkt zu sein, muss man sich in Vereinen mit einem anderen Verein copypasten, an ihre Bedürfnisse dem wahren Horror herumschlagen: der Unberechenbar- anpassen und eine Gründungsversammlung veranstal- keit anderer Menschen. Michel Foucault hätte seine reine ten. Dort brauchen Sie: Zwei Vereinsmitglieder (Sie und Freude an Vorständen und Kulturvereinen gehabt, denn Ihr Komplize) sowie die Statuten, die den Zweck, die es geht wie so oft um eines: Macht. Dies kann am besten Mittel und die Organisation des Vereins beschreiben. an den fünf Archetypen von Vorstandsmitgliedern ver- Nicht vergessen, die Gründungsversammlung zu proto- anschaulicht werden. 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
FOKUS: ABSCHIED 1. Die Gründerin/Der Gründer 2. Die Schlaftablette Bei frisch gegründeten Vereinen möchten die Schlaftabletten gehen meist halbfreiwillig in einen Gründerinnen und Gründer so viel Mitspracherecht wie Vorstand oder müssen dazu genötigt werden. Sie haben möglich haben und stellen sich selber als Vorstandsmit- keine wirklichen Kompetenzen und keine Ahnung. Müssen glieder zur Verfügung. Sie identifizieren sich zu 100 Pro- sie auch nicht: Schlaftabletten eignen sich vor allem für Ver- zent mit dem Zweck des Vereins und engagieren sich eine, die nur pro forma einen Vorstand benötigen. Kultu- gerade deshalb mit Herzblut und Engagement. Der rinstitutionen, die schon länger bestehen, keine finanziellen Verein ist ihr Baby. Bei diesem Typus gilt: Verein = Vor- Probleme haben und eine breite Abstützung in der Öffent- stand. Eine Geschäftsführung mit Betrieb gibt es nicht, lichkeit geniessen. Der Betrieb (ist bei einem Schlaftablet- diese übernimmt ebenfalls der Vorstand – natürlich eh- tenvorstand meist vorhanden) hat viel Macht und ist sowohl renamtlich. Weil Mitgliederversammlung und Vorstand strategisch (Zukunft) wie auch operativ (Tagesgeschäft) identisch sind, gibt es keine Meinungsverschiedenhei- tätig, obwohl die strategische Ebene eigentlich Aufgabe des ten. Wenn der Verein wachsen möchte und immer noch Vorstands wäre. Achtung: Wenn der Betrieb immer mächti- dieselben Vorstandsmitglieder dabei sind, können Kon- ger wird, kann sich die Schlaftablette vernachlässigt fühlen flikte entstehen: Der Grad an «Ich bin schon lange dabei, und den Betrieb mit unnötigen To-dos nerven. Wenn es habe das alles ehrenamtlich gemacht und weiss alles dem Verein extrem schlecht geht oder im Betrieb Konflikte besser» ist hoch und Innovationen können verhindert entstehen, ist die Schlaftablette das denkbar ungeeignetste werden. Gründerinnen und Gründer haben viel infor- Vorstandsmitglied: Sie ist mit der Situation überfordert und melle Macht und werden irgendwann zu Nervensägen. tritt zurück oder unternimmt nichts und wird zurückgetre- Da der Grad an Professionalisierung und die Komplexität ten. Die Schlaftablette hat wahrscheinlich diesen Artikel der Vereinsstruktur meistens sehr niedrig sind, müssen nur bis zum vierten Abschnitt gelesen, wo steht, dass aus- die Vorstandsmitglieder persönlich miteinander aus- schliesslich das Vereinsvermögen haftet. Aufgepasst: Wenn kommen, sonst kommt es rasch zu Konflikten. Gründe- Vorstandsmitglieder grobfahrlässig handeln oder unterlas- rinnen und Gründer sind nützlich, sie sind aber auch sen (Schlaftablette), können diese direkt belangt werden. Hitzköpfe und Besserwisser. Geeignet für: Institutionen, die auch ohne Vorstand tipp- topp auskommen Geeignet für: IG Chüngelizüchter, die Quartiersfas- nachtsgruppe, ehrgeizige Kleinstkulturinstitutionen Ungeeignet für: Konfliktträchtige Vereine, die volatil und / oder Vereine, in denen es viel Herzblut braucht oder schnelllebig sind Ungeeignet für: Vereine, die sich weiterentwickeln Daran erkennt man sie: Sie lassen den Betrieb die Mitglie- wollen derversammlung organisieren Daran erkennt man sie: Sie erteilen sich an der Mitglie- Zitat: «Wir müssen die Flughöhe tief halten.» derversammlung selber Décharge Zitat: «Das ist mein Verein!» Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 15
FOKUS: ABSCHIED 3. Die Rampensau Kaum überraschend: Rampensäue stehen gerne im Rampenlicht. Für einen Verein kann das Fluch und Segen zugleich sein. Eine Rampensau im Vorstand kann eine Schlaftablette im Betrieb aufwiegeln – oder umgekehrt. Rampensäue wählen sich meist selber in einen Vorstand oder drängen sich auf. Kann vorkommen: Statt sich mit dem Vereinszweck zu identifizieren, identifizieren Ram- pensäue den Vereinszweck mit sich selber. Rampensäue sind das Gegenteil von Schlaftabletten: Wenn der Be- trieb gut läuft und strategische Aufgaben übernimmt, dann müssen Rampensäue irgendetwas machen, um sich wieder ins Rampenlicht zu rücken. Irgendjemanden 4. Der/Die Ewigabwesende feuern, wieder mal ein Interview geben oder mit grossem Ewigabwesende haben ausgezeichnete fachliche Trara zurücktreten. Oder, ganz ähnlich wie die Schlaftab- Fähigkeiten, ein breites Netzwerk, sind aber nie da. Des- lette, den Betrieb mit unnötigen To-dos quälen. Wenn halb sind sie äusserst unnütz für einen Vorstand. Wenn der Betrieb kränkelt, machen sie dasselbe. Hauptsache sie trotzdem einmal anwesend sind, haben sie keine Aufmerksamkeit. Ein gesundes Mass an Rampensauig- Ahnung von irgendetwas und sind wie ein kleines Kind, keit ist für einen Verein, der öffentlichkeitswirksam sein das sich in der Mitte eines Films dazusetzt und fragt, um möchte, nicht schlecht. Ein Zuviel an Rampensauigkeit was es geht. Ewigabwesende sind nicht gänzlich unge- führt dazu, dass man weder Vorstand noch Verein ernst eignet für einen Vorstand, weil sie ihr fachliches Wissen nehmen kann. ab und zu einbringen können. Der Ewigabwesende kann ein Fremdgeher (siehe Punkt 5) sein, muss aber nicht. Geeignet für: Konfliktträchtige Vereine, die volatil und / oder schnelllebig sind; das Ressort des Vorstandspräsi- diums Geeignet für: Vereine, die sonst keine Ewigabwesende im Vorstand haben Ungeeignet für: Institutionen, die auch ohne Vorstand tipptopp auskommen Ungeeignet für: Wichtige Ressorts Daran erkennt man sie: Sie treten in kritischen Situatio- Daran erkennt man sie: Man erkennt sie nicht, weil sie nen zurück oder in einen Vorstand ein, weil dann die nie da sind mediale Berichterstattung grösser ist E-Mail: «Liebe alle, ich muss mich leider kurzfristig von Zitat: «Ich bin der Verein!» der heutigen Sitzung abmelden.» 16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
FOKUS: ABSCHIED Décharge (Entlastung) Dieser Artikel ist gegenüber Vorstandsmitgliedern etwas unfair. Ein Vorstand kann äusserst nützlich sein, einen Verein in der Öffentlichkeit oder der Politik lob- byistisch positionieren, wertvolles Feedback bieten und die langfristige Entwicklung des Vereins im Auge behal- ten. Als Vorstandsmitglied hat man viel Verantwortung. Und es ist natürlich auch die ideale Situation denkbar: Die Vorstandsmitglieder sind auf ihre Ressorts (Finan- zen, Präsidium etc.) perfekt zugeschnitten und die strate- gische (Vorstand) sowie die operative Ebene (Betrieb) sind so getrennt, wie es der Zweck des Vereins erfordert – vielleicht erfordert er gar keine Trennung. Dann zählen auch persönliche Befindlichkeiten nichts, weil alle strik- te dem übergeordneten Zweck des Vereins nachgehen. Die hauptsächliche Problematik liegt weder in der Rechtsform des Vereins noch bei den Vorstandsmitglie- dern. Sondern bei den komplett offenen und biegsamen Strukturen dieser Rechtsform. Solange der Zweck des Vereins und die Ressorts des Vorstands genau geklärt sind, entstehen keine Probleme. So wie bei einem kleine- ren Verein. Aber sobald ein Verein wächst, müssen seine Strukturen angepasst werden. Wenn diese Strukturen nicht angepasst werden und die vorhandenen Menschen nicht mehr in diese Strukturen passen, entstehen Kon- 5. Der Fremdgeher/Die Fremdgeherin flikte. Der Fremdgeher ist im Vorstand vom Verein X, Diese abstrakte Behauptung kann mit etwas noch vom Verein Y und vom Verein Z. Er hat das Gefühl, das Abstrakterem veranschaulicht werden: der Trennung könne er vorzüglich handlen. Das sind diejenigen Vor- zwischen operativer und strategischer Ebene. Die opera- standsmitglieder, die am besten zum Zeitgeist passen. tive Ebene ist das Tagesgeschäft, der Betrieb des Vereins. Sie sammeln Vorstandsmandate wie Medaillen und sind Für die strategische Ebene ist der Vorstand zuständig. Bei sich dabei nicht bewusst, wie trottelig und unverbindlich komplexen Vereinen ist aus Gründen der Effizienz und sie daherkommen. Fremdgeher sind meistens auch Ewig- der Arbeitsteilung eine klare Trennung nötig. Es ist aber abwesende (siehe Punkt 4), ausser sie haben kein sonsti- ebenso der stetige Wissenstransfer von der operativen ges Berufsleben und rennen von Vorstandssitzung zu zur strategischen Ebene und umgekehrt vonnöten. Ins- Vorstandssitzung. Vorstandsmitglieder verpflichten sich besondere bei Vereinen, die sich in einem schnelllebigen eigentlich dazu, ihre Aufgaben nach bestem Gewissen zu und volatilen Umfeld bewegen, muss das regelmässig ge- übernehmen. Fremdgeher können dem nicht nachkom- schehen. Sonst knallt es irgendwann. Aber auch ein Knall men, weil sie sich an x verschiedenen Orten dazu ver- kann eine Chance sein für Reflexion und neue Vor- pflichtet haben. Nervt besonders: Sie ziehen dauernd un- standsmitglieder. Die werden dann irgendwann zu nör- zutreffende Vergleiche zu ihren anderen Vereinen, wo gelnden Gründern, nervigen dies und das ach so viel besser gelöst wird. Schlaftabletten, egozentrischen Dieser Artikel basiert unter anderem auf Gesprächen mit Rampensäuen, unzuverlässigen Edina Kurjakovic, Valentina Geeignet für: gar nichts Ewigabwesenden oder verhass- Baviera, Markus Güdel, Dominic Chenaux und Rosie Bitterli. ten Fremdgehern. Plot Twist: Ungeeignet für: Alles Diese Archetypen gibt es nicht Daran erkennt man sie: Auch beim zwanzigsten Mal nur in Vorständen, sondern über- fragen sie nach deinem Namen all im Kulturbetrieb. Aber das ist Zitat: «Welche Sitzung?» eine ganz andere Geschichte. Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
FOKUS: ABSCHIED «Wir zelebrieren das Storytelling und weniger die Wissensvermittlung.» – Rea Eggli «Das Museum ist und bleibt ein Ort der Begegnung mit dem Original.» – Heinz Stahlhut 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
FOKUS: ABSCHIED DRINNEN ODER DRAUSSEN? Gipfeltreffen im Kunstmuseum: Rea Eggli, Mitinhaberin digitalisiert werden. Damit man sich auch von ausserhalb des Kultur-Start-ups #letsmuseeum, und Heinz Stahlhut, informieren kann. Ich möchte zukünftiger Leiter des Hans-Erni-Museums, treffen sich eine neue Benutzerschicht an- im Café. Sie diskutieren über den Zustand und die Zukunft sprechen, die sich heute haupt- der Museumsvermittlung. sächlich digital informiert. Dazu gibt es bereits viele un- Rea Eggli: Herr Dr. Stahlhut, Sie sagten kürzlich, dass Sie für das terschiedliche Möglichkeiten für ein Museum, sich zu Hans-Erni-Museum Visionen bezüglich Vermittlungsprogram- präsentieren. Zum Beispiel Videoclips oder interaktive men und Digitalisierung haben. Was genau planen Sie? Formate. Heinz Stahlhut: Meine Idee ist es, Interview: Rea Eggli das Werk von Hans Erni in einen Kon- R. E.: Sie sind seit über 20 Jahren in der Museumslandschaft als Bilder: Silas Kreienbühl text zu stellen. Das heisst, seine Vor- Kurator und Sammlungskonservator unterwegs. In dieser Zeit läufer und seine Zeitgenossen zu prä- hat sich die Gesellschaft stark verändert. Heute sind viele Anwen- sentieren, aber auch aufzuzeigen, worauf er sich bezogen dungen digital, und wir denken auch vermehrt digital. Die Auf- hat und was ihn inspirierte. Er war Mitte des zwanzigs- merksamkeitsspanne ist enorm kurz geworden und wir können ten Jahrhunderts ein sehr wichtiger Künstler und nicht uns jederzeit über alles in Sekundenschnelle informieren. Wo nur in der Zentralschweiz sehr bekannt. Wenn ich von liegen die Chancen und Herausforderungen für die Museen? Kontext rede, dann geht es mir auch darum, zeitgenössi- H. S.: Ich denke, wir haben über die digitalen Möglichkei- sche Künstler einzuladen, die sich sinnvoll mit dem ten sehr gute Chancen, zukünftige Besucher dort abzu- Werk, Schaffen und Denken von Hans Erni verbinden holen, wo sie gerade stehen. Das Museum ist und bleibt lassen. aber ein Ort der Begegnung mit dem Original, und das lässt sich durch nichts ersetzen. Das ist ein Erlebnis, das R. E.: Als ich die Website des Hans-Erni-Museum aufrief, war ich man digital nicht erfahren kann. etwas erstaunt: Sie sagt mir nicht mehr als das, was ich auf Wiki- pedia nachlesen kann. Sie ist quasi ein kleiner integraler Bestand- R. E.: Ich hatte in den letzten zwei Jahren viele Gespräche mit un- teil der Website vom Verkehrshaus Luzern. Wie eng ist die Zu- terschiedlichen Museen, grossen wie kleinen, naturhistorischen sammenarbeit mit dem Verkehrshaus Luzern? und kunst- oder themenspezifischen Häusern. Ich merke, dass H. S.: Hans Erni wollte ja, dass sein Museum ans Ver- sich viele Häuser gerne öffnen würden, dass aber eine Angst vor kehrshaus angedockt ist. Das hat natürlich auch mit einem Kontrollverlust vorhanden ist. Mich interessiert einerseits, seiner Vorstellung des Zusammenhangs von moderner einem neuen Publikum den Gang ins Museum leichter zu machen. Kunst, Technik und Wissenschaft zu tun. Für das Ver- Anderseits aber auch, die Museen gegenüber Drittveranstaltern, kehrshaus ist das Museum eine Abteilung von vielen. wie wir sie sind, zu öffnen. Mich würde Ihre Meinung zu neuen Das ist auch der Grund, warum wir nächstes Jahr Res- Vermittlungsformaten interessieren, die extern gedacht werden, sourcen in den Webauftritt investieren werden, um aber im Museum stattfinden. diesen zu optimieren und zu schärfen. H. S.: Ich weiss natürlich nicht, was Sie schon gemacht haben, aber Sie rennen bei mir offene Türen ein. Wir R. E.: Was können wir vom Hans-Erni-Museum neben der Web- haben dieses Jahr zur Sammlungspräsentation im Kunst- site, die ja heute Standard für jedes Museum ist, im digitalen Be- museum Luzern «Karneval der Tiere» bewusst Vertrete- reich in Bälde erwarten? rinnen und Vertreter anderer Disziplinen eingeladen, um H. S.: Die Hauptwerke der Hans-Erni-Sammlung sollen eine neue Perspektive auf die Kunstwerke zu generieren Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 19
FOKUS: ABSCHIED «Das Museum hat eine Berechtigung, sich aktiv an übergreifenden Themen und Problematiken der Welt zu beteiligen.» – Rea Eggli «Ein Museum ist vordringlich auf die Pflege und Präsentation der Sammlung gerichtet.» – Heinz Stahlhut 20 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
FOKUS: ABSCHIED und ein anderes Publikum anzusprechen. Zum Beispiel R. E.: Schön, wenn dies hinter den Mauern des Museums stattfin- hat Professor Martin Hartmann, der sich sehr vertieft det. Aber was ist mit draussen? Wie können sich diese Themen, die mit der Tierethik beschäftigt, ein Referat gehalten, oder von Museen gesetzt werden, auch draussen manifestieren und gerade vor zwei Wochen war Marianne Sommer, eben- zum Denken anstossen? falls Professorin, mit Studierenden aus dem Studiengang H. S.: Das passiert noch zu wenig. Ein Museum ist vor- «Human Animal Studies» hier und hat einen Workshop dringlich auf die Pflege und Präsentation der Sammlung durchgeführt. gerichtet. Die Werke kann man nicht einfach nach draussen tragen. Die Möglichkeiten sind beschränkt und R. E.: Also eine partizipative Aktion? man kann nur begrenzt handeln, aber diese Frage be- H. S.: Genau, das finde ich interessant, Partner einzula- schäftigt uns auch. den, die einen ganz neuen Blick und ein neues Publikum ins Museum bringen. R. S.: Hätte ich einen Museumsänderungswunsch frei, ich würde mir längere Öffnungszeiten am Abend wünschen. Und dies nicht R. E.: Wie stehen Sie denn zum Thema Unterhaltung im nur an einer Museumsnacht, sondern regelmässig oder noch Museum? Sie reden zwar von einem neuen Publikum, aber Ihre besser: immer. Hätten Sie einen Wunsch frei, was wäre es? Protagonisten sind ebenfalls Akademiker. Wir machen das kom- H. S.: Stärkere Kooperation zwischen Museen – lokal plette Gegenteil. Unsere Guides sind keine Experten, sie sind und national! Fans von einem Museum oder einem Thema und erarbeiten je- weils eine persönliche Tour, die in erster Linie unterhalten soll, bei der man inspiriert wird und natürlich auch das eine oder andere dazulernt. Wir zelebrieren das Storytelling und weniger die Wis- sensvermittlung. Mit diesem Ansatz können sich sehr viele Leute Zu dieser Geschichte: Wir haben Rea Eggli gebeten, die Rolle der Intervie- identifizieren. Niemand hat das Gefühl, zu wenig zu wissen oder werin einzunehmen und sich mit dass andere mehr wüssten. Heinz Stahlhut zu unterhalten. Eggli ist Mitinhaberin der Kommunikati- H. S.: Wenn ich eine solche Intervention im Museum zu- onsagentur eggliwintsch, der Crowd- lassen würde, müsste vorab sicherlich ein Ziel definiert funding-Plattform wemakeit.com werden. Und ich würde ein Gespräch führen wollen be- und des Kultur- Start-ups #lets- museeum. Stahlhut ist promovierter züglich der Inhalte, die erzählt werden, um sicherzuge- Kunstgeschichtler, Historiker und hen, dass es mit der Ausstellung zu tun hat und korrekte Ärchäologe. Er wird per April 2019 die Leitung des Hans-Erni-Museums Fakten wiedergibt. Aber ich bin grundsätzlich offen für übernehmen; seit 2013 ist er Sam- neue Angebote. mlungskonservator beim Kunstmu- seum Luzern. www.letsmuseeum.com R. E.: Was mich auch beschäftigt, ist die Frage, welche Rolle ein Museum bei gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen The- matiken einnehmen soll. Ich bin der Meinung, dass das Museum eine Berechtigung hat, sich aktiv an übergreifenden Themen und Zu diesen Bildern: Silas Kreienbühls Problematiken der Welt zu beteiligen. Und das nicht nur inner- künstlerische Arbeit dreht sich auch um die Frage nach dem Museum der halb einer Ausstellung. Das Museum ist ein Ort des Wissens, der Zukunft. Als Direktor vom KKLB Reflexion, unserer Geschichte. Es kann also auch aktiver Impuls- (Kunst und Kultur im Landessender Beromünster) forscht er daran weiter. geber sein. Genauso wie er dafür alleine spazie- H.S.: Ein Museum kann nicht unmittelbar und rasch auf rend unterwegs ist, spaziert er auch in neue Gegebenheiten reagieren. Aber gerade im Hans-Er- Gruppen oder zu zweit. Die Bilder zu den Zitaten sind auf einem Spazie- ni-Museum werden wir sicherlich gesellschaftliche und rgang in Berlin am 10. Dezember 2018 politische Themen aufgreifen. Erni war sehr engagiert entstanden. Kreienbühl lebt und arbeitet zwischen Berlin, Luzern und beim Thema Umweltzerstörung oder Wasserknappheit. Beromünster. Hier werden wir Ausstellungseinladungen und Veran- www.silaskreienbuehl.ch staltungen zum Thema programmieren. Er hat lange mit dem «linken» Kunsthistoriker Konrad Farner zusam- Silas Kreienbühl: Spazieren zu zweit mengearbeitet. Ich könnte mir also gut vorstellen, dass DO 17. Januar bis MI 20 März wir hierzu ein Podium veranstalten könnten, bei dem Neubad Galerie, Luzern über «linke» Kunstgeschichte diskutiert wird. Im Ausstellungseröffnung zusammen mit dem Museum machen wir keine politische Propaganda, aber Kabarettisten und Schriftsteller Christoph Simon MI 16. Januar, 20 Uhr wir wollen sensibilisieren. Aktuell in der Ausstellung Neubad Galerie, Luzern stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie gehen wir mit Private Spaziergänge durch und rund um die Ausstellung Tieren um? nach Vereinbarung. Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 21
ÜBERDACHT Wie gelingt ein Abschied? zerte gebaut. Zudem hätte das Kamel ein Stück weit von einer Illusion. Auch in den Garderoben, die ich auf meiner einer Illusion über sich selbst. Und oft Tournee antreffe, kaum Platz. Und das führt ja gerade dieses Nichtgelingen zu arme Tier müsste ziemlich viel Zeit in einer reiferen Idee. den Garderoben verbringen, mehr noch als ich, da sein Auftritt auf die letzten Ich erzähle im Theater immer fünf Minuten des Abends beschränkt wieder von Erlebnissen, bei denen ich ist. in irgendeiner Form gescheitert bin. Aus diesem Grund siegt am Das scheint wohltuend zu sein in un- Schluss meiner Theaterstücke der Er- serer perfektionierten Gesellschaft und zähler. Der Zauberer und die Tricks verbindet das Publikum geradezu dienen als Lockvogel, um innere Bilder magisch. Denn es sind doch gerade im Zuschauer anzustossen. diese in die Binsen gegangenen Erleb- Abschied einer Illusion Aber am Ende bin ich darauf angewiesen, dass sich das Publikum auf meine Ge- nisse, die unser inneres Geschichten- buch unheimlich bereichern. Die Blätter sind gefallen. Ich stehe da, schichten einlässt. Vermutlich verhält Zurzeit ist meine liebste Zugabe mit dem Rechen in der Hand. Das Jahr es sich im realen Leben ähnlich. Wir ein kurzer Trick, der immer scheitert. ist bald um. Ist es ein Jahr, von dem ich sind Zaubermeister in der Ablenkung Nachdem ich einen Abend lang so tat, mich gerne verabschiede? Ich habe die und bauen im Verlaufe unseres Lebens als würde ich zaubern können, bitte ich Blätterhaufen bereit für den eine Unmenge an Kulissen und Tricks, einen Zuschauer, sich eine Zahl zwi- Alex Porter Kompost und für die Igel in um uns zu unterhalten. Fällt dieses schen eins und hundert zu merken. Es Theatermacher, Zauberer, unserem Garten. Kartenhaus auseinander, bleibt uns wird dann ganz still im Saal und ich Erzähler, Lehrer am MAZ für Auftrittskompetenz, einzig unsere innere Geschichte zur antworte nach einer etwas zu langen lebt in Udligenswil, ist Ich bin angefragt wor- Unterhaltung. Kunstpause: «Siebenunddreissig!» verheiratet und hat zwei den, über den Abschied am «Nein!» Kinder. Am DO 14., FR 15. und SA 16. Februar spielt Ende eines Theaterabends zu Ich schichte mit den Händen das Ich sage: «Schade!» und gehe ab. Alex Porter sein neustes schreiben. Wie beende ich ei- Laub noch etwas auf und zügle wieder Theaterstück «Vielfalter» im Kleintheater Luzern. nen solchen Abend? Am Laub vom Kompost ab, um dem Igel liebsten würde ich den Auftritt ein taugliches Winterquartier zu mit einem fulminanten Höhe- schaffen. Es ist eine Illusion. Noch nie punkt, einem Hollywood-mässigen hat ein Igel in einem meiner Blätterhau- Countdown beenden. Zum Beispiel, fen überwintert. Trotzdem arbeite ich indem ich auf einem aus dem Nichts weiter, als würde morgen schon eine erschienenen Kamel über die Bühne ganze Igelfamilie hier einziehen und fliege, eine Runde über den Köpfen der ich merke, es fällt mir nicht leicht, diese Zuschauer drehe, dem Publikum dabei Illusion zu begraben. zuwinke und dann mitsamt dem Kamel in einer Weinflasche verschwinde. In meinem Beruf bin ich das Be- graben von Illusionen schon gewohn- Leider kann ich so etwas nicht, ter. Mit jeder Trickidee, die nicht und die Bühnen, die ich bespiele, sind funktioniert, jedem Scheitern auf der eher für Vorträge und klassische Kon- Theaterbühne, verabschiedet man sich 22 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz Januar 2019
ÜBERDACHT Nur die Geschenke, die sind im- mer noch da. «Aber das von Tante Bettina, das kann ich doch nicht weg- werfen!» Tun wir dann doch, nur eben so heimlich, dass wir es selber nicht merken. Wir nennen es verräumen. Nie sind die Estriche und Kellerabteile so voll wie Mitte Januar. Die Weihnachts- feiertage sind die hohe Zeit des Histo- rischen, der Beschwörung alles mögli- chen traditionellen Dingsbums. (Das Fest in seiner heutigen Form ist unge- fähr so alt wie die Dampfmaschine, deswegen.) Januar dagegen ist der Anbruch der Moderne. Neustart. Ab- schied. Fühlt sich gut an. Ein Freund von mir verschenkt zu Weihnachten bevorzugt Selbsthil- febücher, die einem beim Wegwerfen helfen. «Einfach leben» (41 Franken 90), «Das kann doch weg! Das befreiende Gefühl, mit weniger zu leben. 55 Tipps Neustart nach dem Fressen für einen minimalistischen Lebensstil» (21 Franken 50). Mit zahlreichen farbi- gen Abbildungen, versteht sich. «Da- Waren wir nicht gerade noch so selig jedem Wintertag, der ins Land geht, von», sagt er, «haben die Leute wenigs- infantilisiert? Weihnachten ist die sehen sie ein bisschen weniger über- tens etwas.» Erlaubnis, an mehr oder weniger alles zeugend aus. Meine Nachbarn, erwach- gleichzeitig zu glauben. Weih- sene und durchaus vernünftige Leute, Denn irgendwo muss er ja her- Valentin Groebner nachtsmann, Christkind und hatten Ende November ein Schild ins kommen, der Platz für die vielen hat in Wien, Marburg und Rudolph, das Rentier verwan- Treppenhaus gehängt: «Santa please Weihnachtsgeschenke vom nächsten Hamburg studiert. Seit März 2004 lehrt er als Pro- deln sich wie bunte Hindugöt- stop here», daneben Tannenzweige mit Jahr. Meine Tochter sieht all die Erfin- fessor für Geschichte des ter ineinander, ein glitzernder rot-goldenen Glaskugeln. Für wen tun dungen der Erwachsenen jetzt, vier Mittelalters und der polytheistischer Konsumhim- die das eigentlich – für uns andere im Jahre später, übrigens wieder ganz Renaissance an der Univer- sität Luzern. mel voller Zimtsterne und Haus, oder für sich selbst? Gemessen anders. Sie liest Harry Potter, und da- Weihnachtswichtel. Jetzt ist an der leicht irren Intensität, mit der rin kann sich ohnehin alles in alles das vorbei und wir sind alle jedes Jahr Advent in den Fussgänger- verwandeln. Zwischendurch knallt es Illustration: Till Lauer wieder gross. «Weisst du, zonen gefeiert wird – endlich Glühwein, auch sehr schön beim Zaubern, und es Papa», hat mir meine Tochter Kerzen auf Kunstschnee und Engeli gibt «portkeys», magische Gegenstän- in ernstem Ton anvertraut, als sie fünf flächendeckend, so süüüsss! – ist die de, die ihre Benutzer und Benutzerin- war: «Das Christkind, der liebe Gott, Schnelligkeit verdächtig, mit der die nen direkt in magische Welten trans- der Osterhase, Micky Maus und Dekoration am 28. Dezember wegge- portieren. Fast wie Weihnachtsge- Schneewittchen, das sind alles Erfin- räumt wird. (Tag der Unschuldigen schenke. Oder elegante Bildbände von dungen.» Auch wenn mehrere Buben Kinder, sagt mein katholischer Heili- leergeräumten Wohnungen. Oder im Kindergarten sagten, sie hätten das genkalender, von Herodes massakrier- Reisecars voller Touris mit grossen Christkind gesehen. «Das gibt es aber te Minderjährige in Palästina.) Weih- staunenden Kinderaugen, im Niesel- gar nicht.» nachten ist ein grosses Bussritual. Man regen auf dem Schwanenplatz. hat sich sentimentalen Rauschzustän- Zack. Und jetzt? Abschied. So ist den von verschneiten ländlichen «Überdacht», das sind zwei Januar. Eben noch haben wir so viele Idyllen und urchigen Volksbräuchen Antworten auf eine Frage: Profis aus Theorie und Praxis schöne Dinge verschenkt und ge- hingegeben, mit üppigem Essen und äussern sich monatlich und schenkt bekommen. Die stehen jetzt viel zu viel Zuckerzeug im Namen der aktuell zu Kultur und ihren in unseren Wohnungen herum, und an Tradition: Jetzt bitte Ausnüchterung. Wirkungsbereichen. Januar 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 23
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