Zehn Jahre Dublin kein Grund zum Feiern - Zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland
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Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Abkürzungen AsylVfG Asylverfahrensgesetz AsylZBV Asylzuständigkeitsbestimmungsverordnung AufenthG Aufenthaltsgesetz BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BMI Bundesministerium des Inneren BPol Bundespolizei B-UMF Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge BVerfG Bundesverfassungsgericht EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EuGH Europäischer Gerichtshof FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil- ligen Gerichtsbarkeit D-II-VO Dublin-II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003) D-II-DVO Dublin-II-Durchführungsverordnung (Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003) GG Grundgesetz GRCh Grundrechtecharta der Europäischen Union LG Landgericht MS Mitgliedsstaat (hier: der die D-II-VO anwendet, d.h. alle 27 EU-Staaten sowie die Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island) NGO Nichtregierungsorganisation OVG Oberverwaltungsgericht (auch VGH=Verwaltungsgerichtshof) UMF unbegleitete(r) minderjährige(r) Flüchtling(e) VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof (auch OVG=Oberverwaltungsgericht) Danksagung Wir danken den vielen Flüchtlingen, die ihre Erfahrungen mit der Dublin-II-Verordnung mit uns ge- teilt haben, sowie den Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Arbeit an diesem Bericht unterstützt haben: Thomas Berthold, Silke Born-Gotta, Klaudia Dolk, Peter Fahlbusch, Janina Gieseking, Judith Gleitze, Stephan Hocks, Henrike Janetzek, Stephen Marquardt, Dirk Morlok, Karl Kopp, Marei Pelzer, Uta Rieger, Uli Sextro, Klaus Walliczek und ganz besonders Rebecca Zippelt. Frankfurt am Main, im Dezember 2012 Dominik Bender und Maria Bethke, für den Hessischen Flüchtlingsrat.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern „National Report“ zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Inhalt 1. Einführung...................................................................................................................................6 1.1. Das Dublin-System auf europäischer Ebene .........................................................................6 1.2. Übersicht über die Dublin-II-Verordnung in Deutschland ....................................................7 2. Rechtliche Rahmenbedingungen und Ablauf der Verfahren ....................................................8 2.1. Rechtliche Rahmenbedingungen ..........................................................................................8 2.2. Ablauf der Dublinverfahren .............................................................................................. 9 2.2.1. Zuständige Behörden ........................................................................................... 9 2.2.2. Einleitung der Verfahren mit und ohne Asylantragstellung in Deutschland ..... 10 2.2.3. Ablauf der Verfahren ......................................................................................... 10 2.2.4. Klageverfahren................................................................................................... 11 2.2.5. Petitionsverfahren ............................................................................................. 12 3. Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland ........................................................... 13 3.1. Information der Betroffenen und Anwendung der Kriterien durch die Behörden .......... 13 3.1.1. Das Recht auf Information ................................................................................. 13 3.1.2. Probleme bei der korrekten Anwendung der Kriterien .................................... 16 3.1.3. Der Familienbegriff und das Kriterium der Familieneinheit ............................. 20 3.1.4. Regionale Unterschiede bei der Umsetzung der Dublin-II-VO ......................... 22 3.2. Die Anwendung der Ermessensklauseln ........................................................................ 23 3.2.1. Selbsteintrittsrecht und Humanitäre Klausel .................................................... 23 3.2.2. Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedsstaat ................................... 24 3.3. Fristen und Wiedereinreisesperren ............................................................................... 28 3.3.1. Fristen ................................................................................................................ 28 3.3.2. Keine „freiwillige Ausreise“ gem. D-II-DVO, Wiedereinreisesperre ................. 30 3.4. Besonders schutzbedürftige Personen im Dublinverfahren .......................................... 31 3.4.1. Besonders Schutzbedürftige / Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse .... 31 3.4.2. Unbegleitete Minderjährige ............................................................................. 34 3.5. Effektiver Rechtsschutz und Rechtsberatung ................................................................ 37 3.5.1. Effektiver Rechtsschutz ..................................................................................... 37 3.5.2. Zugang zu Rechtsberatung für Asylsuchende in Deutschland .......................... 38 3.6. Haft im Dublinverfahren ................................................................................................ 41 3.7. Personen, die in einem anderen Dublinstaat den Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz erhalten haben ................................................................................................... 43 3.8. Die Situation der nach Deutschland abgeschobenen Personen .................................... 46 3.9. Beispiele für „Good Practice“ ........................................................................................ 47 4. Empfehlungen ...................................................................................................................... 48
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Anhang A. Literaturverzeichnis ...................................................................................................................... 51 B. Statistische Daten ......................................................................................................................... 52 Abbildung 1: Dublin-Abschiebungen aus Deutschland / nach Deutschland 2003-2011 Tabelle 1: Überprüfung der Zuständigkeit eines anderen MS - Jahr 2011 Tabelle 2: Übernahmeersuchen und Abschiebungen von Deutschland an andere MS 1. Halbjahr 2012 Tabelle 3: Übernahmeersuchen, Zustimmungen, Abschiebungen von Deutschland an andere MS – Jahr 2011 Tabelle 4: Übernahmeersuchen, Zustimmungen, Abschiebungen von anderen MS an Deutschland – Jahr 2011 Tabelle 5: Übernahmeersuchen Deutschlands an andere MS mit Aufschlüsselung der EURODAC-Treffer – Jahr 2011 Tabelle 6: Abschiebungen von Deutschland an andere MS – Staatsangehörigkeit der Asylsuchenden – Jahr 2011 und 1. Halbjahr 2012 Tabelle 7: Abschiebungen an Deutschland aus anderen MS – Staatsangehörigkeit der Asylsuchenden – Jahr 2011 Tabelle 8a: Anzahl der Zustimmungen Deutschlands zu Übernahmeersuchen anderer MS auf der Basis von Art. 15 – 2009-2012 Tabelle 8b: Anzahl der Zustimmungen anderer MS zu Übernahmeersuchen Deutschlands auf der Basis von Art. 15 – 2009-2012 Tabelle 9: Abschiebungen von minderjährigen Personen - Jahr 2011 und 1. Halbjahr 2012 Tabelle 10: Abschiebungen von minderjährigen Personen nach den wichtigsten Herkunftsländern – Jahr 2011 und 1. Halbjahr 2012 C. Zitierte Rechtsprechung zur Dublin-II-Verordnung in Deutschland............................................. 61
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern 1. Einführung 1.1. Das Dublin-System auf europäischer Ebene Die Dublin-II-Verordnung1 (D-II-VO) aus dem sche Umsetzung der Verordnung verletzt die Jahr 2003 verfolgt, wie schon das Dubliner Grundrechte von Asylsuchenden, etwa ihr Übereinkommen von 1997, folgendes Ziel: Jeder Recht, angehört zu werden, das Recht auf effek- Asylantrag eines Schutzsuchenden in Europa tiven Rechtsschutz und das Grundrecht auf Asyl muss geprüft werden, aber nur von einem (ein- selbst, da der Zugang zum Asylverfahren nicht zigen) Staat, so dass sekundäre Wanderungs- immer garantiert ist. In einer Reihe von Mit- bewegungen und die Stellung mehrerer Asylan- gliedsstaaten sind die Aufnahmebedingungen träge in Folge verhindert werden. Welcher Staat für „Dubliner“ deutlich schlechter als für andere für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist, Asylsuchende. Bilaterale Vereinbarungen gem. soll durch einheitliche Kriterien festgelegt wer- Art. 23 D-II-VO werden verstärkt angewandt den, die in allen EU-Staaten sowie Island, Nor- und Streitigkeiten über die Zuständigkeit für wegen, der Schweiz und Liechtenstein gelten. Asylverfahren werden zunehmend auf informel- lem Wege gelöst. Einige Mitgliedsstaaten bür- Zehn Jahre nach der Verabschiedung der Dub- den den Asylsuchenden die Beweislast in un- lin-II-Verordnung haben NGOs in elf europäi- verhältnismäßiger Weise auf, wenn diese einen schen Ländern im Rahmen eines transnationa- anderen als den von den Behörden für zustän- len Projektes sowohl nationale Berichte zur dig erklärten Staat für ihr Asylverfahren verant- Umsetzung der Dublin-II-Verordnung veröffent- wortlich halten, etwa weil sie dort Verwandte licht als auch eine vergleichende Studie. Der haben oder weil früher bestehende Zuständig- vorliegende Bericht wurde vom Hessischen keiten durch eine Ausreise aus dem Dublinge- Flüchtlingsrat erstellt, die weiteren Berichte und biet erloschen sind. Eine Reihe von Mitglieds- die vergleichende Studie sind im Internet unter staaten erklärt Asylsuchende vorschnell und www.dublin-project.eu abrufbar. ungerechtfertigt für „untergetaucht“, was zu einer Verlängerung der Überstellungsfristen und Die Untersuchungen zeigen, dass sich die Um- Verzögerungen bei der Bearbeitung der Asylan- setzung der D-II-VO zum Nachteil der Flüchtlin- träge führt. ge auswirkt; Familien werden auseinander ge- rissen und Asylsuchende werden immer häufi- Die Probleme innerhalb des Dublinsystems wer- ger inhaftiert. Die D-II-VO verzögert die Bearbei- den verschärft durch die unterschiedliche Praxis tung der Asylanträge erheblich und zwingt so der Staaten bei der Gewährung von Schutz, der die Betroffenen zu einem „Leben in der Warte- Wahrung der Rechte der Flüchtlinge, den Auf- schleife“. nahmebedingungen und den Asylverfahren. Schutzsuchende sehen sich also nicht etwa ei- Die Rangfolge der Kriterien, nach der der zu- nem einheitlichen System, sondern vielmehr ständige Mitgliedsstaat bestimmt wird, wird einer „Asyl-Lotterie“ gegenüber. nicht immer eingehalten. Zu oft wird fälschli- cherweise Art. 10 D-II-VO angewandt und der Die Länderberichte wie der hier vorliegende Betroffene in den Einreisestaat abgeschoben, bieten einen Einblick in die praktische Umset- wo ihm zum ersten Mal in Europa Fingerabdrü- zung der D-II-VO in den einzelnen Staaten, wäh- cke abgenommen und diese in das Eurodac- rend die vergleichende Studie die Entwicklun- System eingespeist wurden, obwohl auf ihn ein gen auf europäischer Ebene analysiert. Die Un- vorrangiges Kriterium, etwa der Einheit der Fa- tersuchungen wurden durchgeführt, nachdem milie, anzuwenden gewesen wäre. Die prakti- sowohl der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte in Straßburg als auch der Europäi- 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar sche Gerichtshof in Luxemburg die Vereinbar- 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Be- keit des Dublinsystems mit den Grundrechten stimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines der Asylsuchenden in Frage gestellt haben. von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, abrufbar unter Kürzlich haben sich die Gremien der EU auf eine http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= Neufassung der D-II-VO geeinigt. Die sogenann- CELEX:32003R0343:DE:HTML.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern te Dublin-III-Verordnung führt bedeutende sie in allen Mitgliedsstaaten korrekt angewen- Neuerungen ein wie etwa das Recht auf eine det wird. persönliche Anhörung und einen Frühwarnme- chanismus bei Überlastung eines Mitgliedsstaa- Letzten Endes muss aber das grundlegende tes oder Mängeln im Asylsystem. Prinzip der Dublin-II-Verordnung revidiert wer- den, um ein humaneres und gerechteres System Aber das grundlegende Prinzip des Dublinsys- zu schaffen, das die persönliche Situation der tems bleibt unangetastet und dessen Mängel Asylsuchenden und ihre Anknüpfungspunkte an werden nicht behoben. Die Europäische Kom- bestimmte Mitgliedsstaaten berücksichtigt und mission sollte die Umsetzung der Verordnung ihre Chancen verbessert, sich in Europa zu in- genau kontrollieren, um sicher zu stellen, dass tegrieren. 1.2. Übersicht über die Dublin-II-Verordnung in Deutschland Im Jahr 2003, als die Dublin-II-Verordnung in auf dem Weg zum Flughafen oder gar erst dort, Kraft trat, wurden 1562 Asylsuchende von ist es den Betroffenen nicht möglich, noch einen Deutschland in andere Dublin-Mitgliedsstaaten Rechtsanwalt zu kontaktieren. Doch selbst abgeschoben.2 Im gleichen Zeitraum musste wenn dies einem Betroffenen gelingt, schließt Deutschland fast doppelt so viele Personen aus § 34a Abs. 2 AsylVfG aus, dass ein Verwaltungs- anderen Mitgliedsstaaten aufnehmen. Dieses gericht die Abschiebung im Eilverfahren unter- Verhältnis kehrte sich im Jahr 2008 um, seitdem sagt. finden deutlich mehr Dublin-Abschiebungen aus Deutschland als nach Deutschland statt. Im Jahr Seit 2008 gewährt zwar eine wachsende Zahl 2011 standen 2902 Abschiebungen aus von Verwaltungsgerichten dennoch Eilrechts- Deutschland nur 1303 Abschiebungen nach schutz, dennoch scheitern noch immer Asylsu- Deutschland gegenüber. chende vor Gericht an der strikten Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG. Auch haben zwar bislang Die deutschen Behörden haben großes Interes- vier Landesregierungen aus der Rechtsprechung se am Funktionieren des Dublin-Systems. Das des EuGH und des EGMR zu Dublin den (richti- schließt ein, dass Abschiebungen möglichst gen) Schluss gezogen, dass die Praxis, die Dub- „reibungslos“ vonstattengehen sollen. Deshalb linbescheide erst von der Polizei übergeben zu wurden die Regelungen, die im Jahr 1993 im lassen, rechtswidrig ist und weisen seit diesem Rahmen des sog. Asylkompromisses für Ab- Jahr ihre Ausländerbehörden an, die Betroffe- schiebungen auf der Basis der sog. Drittstaaten- nen vorab zu informieren. Doch in den übrigen regelung geschaffen wurden, auch auf solche im Bundesländern kommt es noch täglich zu unan- Rahmen der Dublin-II-Verordnung übertragen. gekündigten Abschiebungen. Für die Betroffenen bedeutet das, dass Eil- rechtsschutz gegen eine solche Abschiebung In diesem Bericht werden die rechtlichen gesetzlich und faktisch ausgeschlossen ist: Das Grundlagen, der Ablauf der Dublinverfahren Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sieht vor, dass und die zentralen Probleme bei der Umsetzung der Dublinbescheid, mit dem ein Asylantrag als der Dublin-II-Verordnung in Deutschland be- unzulässig abgelehnt und die Abschiebung in schrieben. Die Schwierigkeiten, die sich für eine einen anderen europäischen Staat angeordnet korrekte Anwendung der Verordnung ergeben, wird, dem Betroffenen erst unmittelbar vor der wenn die Betroffenen nur unzureichend oder Abschiebung durch die Polizei übergeben wird. gar nicht über das Verfahren informiert werden, Da dies meist frühmorgens stattfindet, oft erst die Berücksichtigung familiärer Bindung, die Selbsteintrittspraxis des Bundesamtes, insbe- 2 sondere im Hinblick auf besonders schutzbe- Der gelegentlich in verharmlosender Weise verwendete Ausdruck „Überstellung“ für den Vorgang einer – auslän- dürftige Asylsuchende und unbegleitete Min- derrechtlich in aller Regel als Abschiebung durchgeführten derjährige, der Zugang zu effektivem Rechts- – Verbringung einer Person in einen anderen Dublinstaat schutz sowie der Umgang mit Fristen und wird in diesem Bericht bewusst vermieden und stattdessen der Begriff „Abschiebung“ gebraucht.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Fragen der Inhaftierung im Dublinverfahren ihnen von Rechtsanwälten sowie der NGO Pro werden ausführlich behandelt. Asyl zur Verfügung gestellt. Die Fälle werden anonymisiert wiedergegeben, die Namen und Der Bericht schließt mit Empfehlungen an den die jeweiligen Aktenzeichen beim BAMF sind Gesetzgeber und Behörden, um die Rechte der den Autoren bekannt. von Dublinverfahren betroffenen Asylsuchen- den besser zu wahren. Im Anhang werden die Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der verwendete Literatur, statistische Daten sowie Verwaltungspraxis. Auf der Internetseite des sämtliche im Bericht zitierten Gerichtsentschei- transnationalen Dublinprojektes (www.dublin- dungen aufgeführt. project.eu) sind neben Gerichtsentscheidungen aus den europäischen Partnerländern mittler- Die Position des Bundesamtes für Migration und weile über 50 Entscheidungen deutscher Ge- Flüchtlinge (BAMF) sowie der Bundesregierung richte zur Dublin-II-Verordnung abrufbar. Sie wurde sowohl öffentlich zugänglichen Publikati- sind in englischer Sprache zusammengefasst, onen (siehe Literaturliste im Anhang) als auch aber jeweils versehen mit einem Verweis auf die Äußerungen von Vertretern des Bundesamtes deutsche Fassung in der Datenbank des Infor- auf öffentlichen Veranstaltungen entnommen. mationsverbundes Asyl und Migration Die dargestellten Einzelfälle stammen überwie- (www.asyl.net). gend aus der Praxis der Autoren, einige wurden 2. Rechtliche Rahmenbedingungen und Ablauf der Verfahren 2.1. Rechtliche Rahmenbedingungen Die D-II-VO wurde nicht in das nationale Recht BAMF so ausgelegt, dass der Asylsuchende nur übernommen, es wurde lediglich mit § 27a über die Existenz und die wichtigsten Prinzipien AsylVfG die Möglichkeit geschaffen, einen Asyl- der D-II-VO aufgeklärt werden muss, nicht aber antrag als “unzulässig” abzulehnen, “wenn ein über die Einleitung und das Ergebnis des Ver- anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften fahrens, das ihn persönlich betrifft. der Europäischen Gemeinschaft oder eines völ- kerrechtlichen Vertrages für die Durchführung Die Entscheidung, dass sein Asylantrag unzuläs- des Asylverfahrens zuständig ist“. Im AsylVfG sig ist bzw. dass die Abschiebung in den zustän- finden sich Regelungen zur Bescheidzustellung digen MS angeordnet wird, erhält er zwar in der und zum Rechtsschutz. Es sind die gleichen, die Regel schriftlich, allerdings nicht so rechtzeitig, seit 1993 für Asylantragsteller gelten, die aus dass er noch ein effektives Rechtsmittel einle- “sicheren Drittstaaten” nach Deutschland kom- gen kann.5 men. Sie wurden lediglich so ergänzt, dass sie Die Paragraphen 31 Abs. 1 S. 4-6 und 34a auch für nach der D-II-VO abgelehnte Asylsu- AsylVfG regeln, dass die Entscheidung, dass ein chende gelten. Die Ausgestaltung des Dublinver- Asylantrag unzulässig ist, dem Asylsuchenden fahrens ist durch verwaltungsinterne Dienstan- selbst zuzustellen ist. Eine Frist zur freiwilligen weisungen geregelt.3 Ausreise muss ihm nicht gesetzt werden.6 Bezüglich der Informationspflichten der Behör- den gegenüber den Asylsuchenden fällt Folgen- dieser Verordnung, ihre Fristen und ihre Wirkung unter- des auf: Art. 3 Abs. 4 D-II-VO4 wird seitens des richtet.“ 5 Hat der Betroffene einen Asylantrag in Deutschland ge- 3 Diese Dienstanweisungen werden üblicherweise nicht stellt, erhält er einen Bescheid vom Bundesamt für Migra- veröffentlicht. Die NGO Pro Asyl hat 2008 die Herausgabe tion und Flüchtlinge mit folgendem Tenor: „1. Der Asylan- eines Teils der damals aktuellen Dienstanweisungen ge- trag ist unzulässig. 2. Die Abschiebung nach … wird ange- richtlich erstritten, eine Version aus dem Jahr 2010 ist ordnet.“ Hat er keinen Asylantrag in Deutschland gestellt, abrufbar unter http://www.proasyl.de/fileadmin/fm- erhält er nur eine Mitteilung, dass er auf der Basis der dam/i_Asylrecht/Dienstanweisungen-Asyl_BAMF2010.pdf. Dublin-II-VO in den zuständigen Staat abgeschoben wird. 4 6 Er lautet: „Der Asylbewerber wird schriftlich und in einer § 31 Abs. 1 S. 4-6 lauten: „Wird der Asylantrag nur nach § ihm hinreichend bekannten Sprache über die Anwendung 26a oder § 27a abgelehnt, ist die Entscheidung zusammen mit der Abschiebungsanordnung nach § 34a dem Auslän-
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern In der Praxis sieht dies in aller Regel so aus, dass digten Abschiebung von der Polizei übergeben der Bescheid erst am Morgen der unangekün- wird und der Rechtsanwalt – falls vorhanden – erst am nächsten Tag eine Kopie des Bescheides der selbst zuzustellen. Sie kann ihm auch von der für die per Post erhält, also wenn sein Mandant bereits Abschiebung oder für die Durchführung der Abschiebung abgeschoben ist. zuständigen Behörde zugestellt werden. Wird der Auslän- der durch einen Bevollmächtigten vertreten oder hat er einen Empfangsberechtigten benannt, soll diesem ein Schafft es der Betroffene dennoch, in den weni- Abdruck der Entscheidung zugeleitet werden.“ § 34a Abs. 1 gen Stunden bis zu seiner Abschiebung Klage zu AsylVfG lautet: „Soll der Ausländer in einen sicheren Dritt- erheben, hat diese keine aufschiebende Wir- staat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asyl- kung. § 34a Abs. 2 AsylVfG regelt, dass eine verfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden, Abschiebung gem. der D-II-VO nicht im Wege ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. (…) des Eilrechtsschutzes ausgesetzt werden darf. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht.“ 2.2. Ablauf der Dublinverfahren 2.2.1. Zuständige Behörden Auch die Bundespolizei, die im „grenznahen Bereich“ und an Flughäfen, Bahnhöfen und in Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Zügen Personenkontrollen durchführt, kann (BAMF) ist eine Bundesbehörde im Geschäftsbe- Dublinverfahren durchführen. Voraussetzung ist reich des Bundesinnenministeriums. Es ist so- gem. § 3 der deutschen Asylzuständigkeitsbe- wohl für die Durchführung der Asylverfahren als stimmungsverordnung (AsylZBV), dass die be- auch der Dublinverfahren zuständig. troffene Person im grenznahen Bereich aufge- griffen wurde und ein an Deutschland angren- Die Zentrale des Bundesamtes befindet sich in zender MS für zuständig gehalten wird. Nürnberg, darüber hinaus gibt es 22 Außenstel- len, mindestens eine in jedem der 16 Bundes- Das Bundesamt setzt z.Zt. auch eigene Mitarbei- länder.7 In den Außenstellen werden die Asyl- ter - sog. Liaisonbeamte - in den Niederlanden, verfahren durchgeführt, also die Antragsteller Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Ita- zu ihren Asylgründen befragt und die materiel- lien, Polen und Ungarn ein. In der Zentrale des len Entscheidungen über die Asylanträge getrof- Bundesamtes arbeitet zur Zeit Liaisonpersonal fen. Die Dublinverfahren werden dagegen zent- aus den Niederlanden, Belgien und Großbritan- ral in zwei gesonderten Referaten durchgeführt, nien. Das Liaisonpersonal des Bundesamtes in eines befindet sich in Nürnberg in der Zentrale, anderen MS hat die Aufgabe, in Dublinverfahren das andere in Dortmund. beratend und vermittelnd tätig zu sein, über wichtige Entwicklungen bzgl. Asyl, Migration Das größere der beiden, das Referat 431 in und Integration zu informieren sowie Herkunfts- Dortmund, ist für Dublinverfahren der Asylsu- länderinformationen und Rechtsprechung aus- chenden zuständig, die in Deutschland bereits zutauschen.8 einen Asylantrag gestellt haben. Das Referat 430 in Nürnberg ist für sog. Aufgriffsfälle zu- Die deutschen Dublinreferate sind personell gut ständig, d.h. für Personen, die in Deutschland ausgestattet, es sind etwa 40 Personen dort (noch) keinen Asylantrag gestellt haben. Wei- beschäftigt. Angaben über Personal- und sonsti- terhin werden Dublinverfahren von „besonderer ge Kosten teilte die Bundesregierung auch auf Bedeutung“ im Referat 430 durchgeführt. Anfrage nicht mit.9 8 7 Siehe www.bamf.de/DE/DasBAMF/Aufgaben/Europa Das Organigramm des BAMF ist abrufbar unter Zusammenarbeit/Liasonpersonal/liasonpersonal- http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads node.html. /Infothek/Sonstige/organigramm.pdf?__blob=publicationF 9 Die Kosten des Dublin-Systems würden nicht analysiert, ile. hieß es in der Mitteilung der Bundesregierung. Bundes- tags-Drucksache 17/2655 vom 26. 07.2010, dort S. 6,
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern 2.2.2. Einleitung der Verfahren mit und ohne und zum Fluchtweg statt. Einige Asylsuchende Asylantragstellung in Deutschland werden bis zu ihrer Dublinabschiebung kein einziges Mal vom Bundesamt angehört – Perso- Wird eine Person, die kein Asylersuchen äußert, nen, die keinen Asylantrag stellen und dennoch an einer deutschen Grenze oder im Bundesge- im Dublinverfahren sind, werden ohnehin allen- biet von der Polizei aufgegriffenen oder meldet falls von der Polizei zu ihrem Fluchtweg befragt. sie sich bei der Polizei bzw. Ausländerbehörde und verfügt nicht über den erforderlichen Auf- Dublinverfahren werden sehr häufig allein auf- enthaltstitel, wird sie erkennungsdienstlich be- grund von Eurodac-Treffern oder Erkenntnissen handelt. Es wird sofort ein Eurodac-Abgleich zum Reiseweg eingeleitet. Informationen, die vorgenommen, und in der Regel wird die Person für die Prüfung der vorrangig anzuwendenden auch zu ihrem Reiseweg befragt. Kriterien relevant sind, liegen den Sachbearbei- tern im Dublinreferat häufig (noch) nicht vor, Wenn die Person von der Bundespolizei im wenn sie das Verfahren einleiten, siehe dazu “grenznahen Raum” aufgegriffen wurde, also Abschnitt 3.1.2. gerade eine europäische Binnengrenze über- schritten hat, versucht die Bundespolizei, sie 2.2.3. Ablauf der Verfahren direkt in den europäischen Staat, aus dem sie eingereist ist, zurückzuschieben.10 Ist dies nicht Fall 1 – Dublinverfahren nach Asylantragstel- möglich, wird bei einem Eurodac-Treffer der lung in Deutschland Kategorie 1, also wenn in einem anderen MS bereits ein Asylantrag gestellt wurde, ein Dub- Hat eine Person einen Asylantrag gestellt und linverfahren begonnen. Die betroffene Person den Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutsch- wird darüber in der Regel nicht informiert, siehe land beantragt, prüft der zuständige Sachbear- Abschnitt 3.1.1. beiter im Dublinreferat den Fall und fertigt ein Votum für oder gegen den Selbsteintritt. Dieses Auch bei einer Asylantragstellung in Deutsch- Votum muss der Referatsleitung vorgelegt wer- land werden die Fingerabdruck-Daten sofort an den. Nur wenn die Leitung zustimmt, wird der Eurodac weitergeleitet. Ergeben sich aus diesem Selbsteintritt ausgeübt. Wird kein Selbsteintritt Treffer – gleich welcher Kategorie – oder aus ausgeübt, fordert der Sachbearbeiter die örtlich anderen Umständen Anhaltspunkte für die Zu- zuständige Ausländerbehörde auf, die Abschie- ständigkeit eines anderen MS, wird ebenfalls ein bung vorzubereiten und zu vollziehen. Die Aus- Dublinverfahren eingeleitet. länderbehörde bucht also den Flug, lässt den Betroffenen festnehmen und sorgt für den Das Dublinverfahren ist für den Betroffenen Transport zum Flughafen. Sie zieht dafür wiede- zeitlich nicht klar vom Asylverfahren getrennt. rum Bundes- oder Landespolizei hinzu. Die meisten Asylsuchenden werden nicht dar- über informiert, dass die Zuständigkeit Deutsch- Ausländerbehörden unterstehen den Innenmi- lands für ihren Asylantrag geprüft wird. Ergibt nisterien der Bundesländer, sie sind bei den sich eine Zuständigkeit eines anderen MS, wer- Stadt-, Landkreis- oder Bezirksverwaltungen den sie auch darüber nicht informiert, sondern angesiedelt. An Dublinabschiebungen sind also in aller Regel unangekündigt abgeschoben. eine Bundesbehörde und zwei Landesbehörden beteiligt. Da die Landesregierungen ihren Aus- In einigen Außenstellen des Bundesamtes wird länderbehörden auch zum Vorgehen bei Dublin- die Anhörung zur Person, dem Fluchtweg und abschiebungen Vorschriften machen können – den Fluchtgründen vor oder während eines z.B. dass diese im Voraus angekündigt werden Dublinverfahrens durchgeführt, in anderen Au- müssen oder dass inlandsbezogene Abschie- ßenstellen findet sie erst statt, wenn die Zu- bungsverbote auch von der Ausländerbehörde ständigkeit Deutschlands geklärt ist, und es fin- geprüft werden müssen -, kann es zu Abwei- det zuvor allenfalls eine Anhörung zur Person chungen im Verfahrensablauf je nach Bundes- land kommen, vgl. dazu Abschnitt 3.1.4. abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/ 026/ 1702655.pdf. 10 Zu den Schwierigkeiten, in dieser Situation Asyl zu bean- tragen, siehe Abschnitt 3.6.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Fall 2 – Dublinverfahren ohne Asylantragstel- wenn es im späteren Verfahrensverlauf zur Be- lung in Deutschland scheidbekanntgabe kommt - in eine Anfech- tungs- bzw. Verpflichtungsklage umgestellt Für den Fall, dass eine Person vor ihrer Abschie- werden. bung noch keinen Asylantrag in Deutschland gestellt hat, ist die Behördenzuständigkeit an- Einige Gerichte halten die Zustellung der Ab- ders geregelt. Auch dann wird nach der Mel- schiebungsanordnung erst am Morgen der Ab- dung eines Eurodac-Treffers ein Dublinverfah- schiebung auch für rechtswidrig und verpflich- ren durch das Bundesamt durchgeführt. Aber in ten das Bundesamt auf Antrag im Eilverfahren diesen Fällen trifft nicht das Bundesamt, son- dazu, den Dublinbescheid dem Betroffenen dern die örtlich zuständige Ausländerbehörde einige Tage oder ein bis zwei Wochen vor der die Entscheidung über die Ab- bzw. Zurück- geplanten Abschiebung zuzustellen. schiebung und vollstreckt sie auch. Das Bundes- amt ist in diesem Fällen also nur logistisch un- Nach der Ablehnung eines Eilantrages durch das terstützend tätig. Bei Personen, die in der Nähe Verwaltungsgericht kann eine Beschwerde beim – d.h. maximal 30 km entfernt – von der deut- Bundesverfassungsgericht erhoben werden.11 schen Grenze oder an einem Flughafen ange- Auch das Bundesverfassungsgericht kann eine troffen werden und die keinen Asylantrag stel- Abschiebung im Eilverfahren durch eine einst- len, kann die Bundespolizei (früher: Bundes- weilige Anordnung stoppen. Bisher ist dies nur grenzschutz) die Aufgaben der Ausländerbehör- in Verfahren bzgl. Griechenlands geschehen, de wahrnehmen. Verfassungsbeschwerden und Anträge auf eine einstweilige Anordnung wurden bzgl. Abschie- 2.2.4. Klageverfahren bungen in andere Dublinstaaten bislang abge- lehnt. Gegen einen Dublinbescheid kann – wie gegen jeden anderen negativen Bescheid im Asylver- Auch in der Hauptsache treffen die Gerichte fahren - Klage beim lokalen Verwaltungsgericht sehr unterschiedliche Entscheidungen. In eini- erhoben werden. Die Klage hat allerdings keine gen Fällen wird lediglich der Dublinbescheid aufschiebende Wirkung und Eilanträge auf auf- aufgehoben und das Bundesamt verpflichtet, schiebende Wirkung werden vom Gesetz gem. § die Zuständigkeit erneut zu prüfen. In anderen 34a Abs. 2 AsylVfG für unzulässig erklärt. In der Fällen wird das Bundesamt vom Gericht ver- Praxis gewähren viele Verwaltungsgerichte in- pflichtet, den Selbsteintritt vorzunehmen und zwischen allerdings wegen verfassungs- und das Asylverfahren durchzuführen.12 europarechtlicher Bedenken auch in Dublinver- fahren Eilrechtsschutz, vgl. Abschnitt 3.5.1. Einige Gerichte entscheiden auch gleich über den Asylantrag des Klägers. Da Dublinbescheide in aller Regel erst am Tag der Abschiebung zugestellt werden, müssen 11 Das BVerfG hat diese Kompetenz, weil es „Hüter der Rechtsanwälte häufig - trotz des gesetzlichen deutschen Verfassung“ und damit der Grundrechte ist und Eilrechtsschutzausschlusses in § 34a Abs. 2 deswegen bei jedem Behördenhandeln, das Grundrechte AsylVfG - entweder bereits vor der Bescheidbe- betrifft, intervenieren darf. 12 kanntgabe einstweiligen Rechtsschutz beantra- Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main verhandelte gen oder aber sofort nach dessen Bekanntgabe im Juli 2009 über die Klage des Iraners P. gegen seine Abschiebung nach Griechenland. Den Antrag auf aufschie- gegen den Bescheid Klage erheben und gleich- bende Wirkung der Klage hatte es zuvor abgelehnt und P. zeitig die aufschiebende Wirkung der Klage be- war im Januar 2008 nach Griechenland abgeschoben wor- antragen. Erfährt ein Betroffener oder Rechts- den. Die Anwältin und die NGO Pro Asyl hielten Kontakt zu anwalt bereits vor dem Tag der Abschiebung ihm und dokumentierten seine Situation in Griechenland. Für die mündliche Verhandlung durfte P. nach Deutschland von den Abschiebeplanungen und will er nicht zurückkehren. Das Gericht stellte fest, dass sich mittlerwei- nur einen Eilantrag stellen, sondern auch schon le die Sachlage geändert habe und eine Abschiebung den eine Klage erheben, steht er vor dem Problem, Kläger in seinen Rechten verletzen würde. Es verpflichtete dass es noch gar keine Behördenentscheidung in seinem Urteil das BAMF zum Selbsteintritt. Das Urteil gibt, die bekanntgegeben wäre und gegen die (Az. 7 K 4376/07.F.A ) ist abrufbar unter http://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/dokumente/ man klagen könnte. Oftmals erheben Anwälte 15906.pdf. daher sogenannte Unterlassungsklagen, die -
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Im Vergleich mit anderen Mitgliedsstaaten fällt 2.2.5. Petitionsverfahren auf, dass es nur sehr wenige Hauptsacheent- scheidungen in Dublinverfahren gibt, die Ver- Ist eine Person mit der - u.U. zwischenzeitlich fahren dauern viele Monate bis mehrere Jahre. sogar gerichtlich bestätigten - Entscheidung des In diesem langen Zeitraum ergeben sich häufig Bundesamtes oder der Ausländerbehörde nicht Umstände, auf Grund derer sich das Klagebe- einverstanden, kann sie sich mit einer Petition gehren dann erledigt. an den Deutschen Bundestag oder an den Land- tag des entsprechenden Bundeslandes wenden. Entscheidet das erstinstanzliche Gericht in der Hauptsache negativ, kann der Betroffene beim Der sog. Petitionsausschuss, bestehend aus Oberverwaltungsgericht einen Antrag auf Zulas- Abgeordneten des Parlaments, kann der Regie- sung der Berufung stellen. Ebenso kann das rung empfehlen, eine andere Entscheidung zu Bundesamt im Fall einer positiven Hauptsache- treffen, also das Bundesamt zu verpflichten, den entscheidung – wenn also das Bundesamt zum Selbsteintritt auszuüben bzw. die Ausländerbe- Selbsteintritt (oder zur Neubescheidung) ver- hörde zu verpflichten, von einer Abschiebung pflichtet wurde oder das Gericht sogar über den abzusehen. So hat zum Beispiel der Deutsche Asylantrag entschieden hat – diesen Weg wäh- Bundestag im Jahr 2011 dem Bundesinnenmi- len. Das war bei jedem der (wenigen) positiven nisterium einstimmig (!) empfohlen, im Verfah- Urteile zu Abschiebungen nach Griechenland ren einer tschetschenischen Familie von der der Fall, so dass kein einziges Urteil, das das Abschiebung nach Polen abzusehen und den Bundesamt zum Selbsteintritt in einem Grie- Selbsteintritt auszuüben.13 chenlandverfahren verpflichtete, rechtskräftig Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass Peti- wurde. tionen zwar recht häufig eingelegt werden, aber da das Bundesamt ungeachtet des laufenden Hat eine Person in Deutschland keinen Asylan- Petitionsverfahrens nach wenigen Wochen das trag gestellt und möchte sie sich gegen die Ent- Verfahren weiterführt, es kaum eine Petition bis scheidung der Ausländerbehörde, sie in einen zur Beratung und Beschlussfassung im Petiti- anderen Mitgliedsstaat abzuschieben, wehren, onsausschuss bzw. im Bundestag schafft. ist ebenfalls eine Klage beim Verwaltungsgericht möglich. In der Praxis sind diese Verfahren al- 13 lerdings selten. Einzelheiten zu diesem Verfahren können auf der Seite www.hasbulat-will-leben.de nachgelesen werden.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern 3. Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland 3.1 Information der Betroffenen und Anwendung der Kriterien durch die Behörden 3.1.1 Das Recht auf Information c) Art. 3 Abs. 4 Dublin-II-Verordnung sieht vor, Schließlich müsste der Betroffene darüber in- dass der Asylsuchende schriftlich und in einer formiert werden, welches Land sich für zustän- ihm hinreichend bekannten Sprache über die dig erklärt hat bzw. dass und wann er dorthin Anwendung dieser Verordnung, ihre Fristen und abgeschoben werden soll. ihre Wirkung unterrichtet wird.14 Dies ist denk- bar vage gehalten und die Praxis in den Mit- gliedsstaaten zeigt, dass diese Vorschrift sehr In der Praxis stellt die Behörde den Betroffenen unterschiedlich ausgelegt wird. nur einen kleinen Teil dieser Informationen Damit ein Asylsuchender nicht nur Objekt des bereit und erhebt auch nur einen Teil der rele- Behördenverfahrens ist, müsste er nach Ansicht vanten Informationen. der Autoren folgende Informationen erhalten: a) zu a) Dass es ein durch die Dublin-II-Verordnung ge- Asylantragsteller erhalten ein allgemein gehal- regeltes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren tenes Informationsblatt zur D-II-VO. Es wird gibt und sein Asylverfahren möglicherweise nach Erfahrung der Autoren nicht mündlich nicht in dem Land durchgeführt wird, in dem er übersetzt oder gar erläutert, und beispielsweise sich befindet – respektive dass er aus diesem in der Außenstelle des BAMF in Gießen erhalten Land, in dem er gar keinen Asylantrag gestellt die Asylsuchenden es häufig nicht in ihrer Mut- hat, in ein Land abgeschoben wird, in dem er tersprache, sondern auf Deutsch. Es erläutert zuvor Asyl beantragt hat; auch nicht die Zuständigkeitskriterien, sondern b) informiert nur darüber, dass es möglich ist, dass Deutschland in bestimmten Fällen unzuständig Welche Informationen über seine Person vorlie- ist. Anschließend erfolgen Hinweise (aber keine gen und auf Grundlage welcher Angaben wel- Erklärungen) zu Art. 7-10 und 13. Art. 15 wird ches Land angefragt werden soll bzw. angefragt weder implizit noch explizit erwähnt. Personen, wurde. Das schließt ein, dass er die Möglichkeit die keinen Asylantrag gestellt haben und bei hat, der Behörde die für die Zuständigkeitsbe- denen dennoch ein Dublinverfahren eingeleitet stimmung relevanten Angaben zu machen. Dazu wurde, werden kaum oder überhaupt nicht müsste er über die Kriterien der Zuständigkeits- informiert. Dies betrifft unter anderem unbe- bestimmung und die länder- bzw. personenspe- gleitete Minderjährige, also Personen, die be- zifischen Ausnahmen 15 informiert und entspre- sonders schutzbedürftig sind. chend befragt werden. Dies wiederum setzt voraus, dass ein Behördenmitarbeiter, der mit Immerhin knapp ein Drittel der Akten, bei de- den Kriterien der D-II-VO und den Vorschriften nen eines der beiden Dublinreferate im Jahr zum Selbsteintritt vertraut ist, den Betroffenen 2011 die Zuständigkeit eines anderen MS prüf- belehrt und ein „Dublin-Interview“ durchführt; te, waren für Personen angelegt worden, die in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hatten.16 14 Auch Art. 18 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung sieht eine Unterrichtung der Person vor, deren Fingerabdrücke abge- 16 nommen werden. Siehe Tabelle 1 im Anhang: Insgesamt wurde in 15913 15 Z.B. über die Selbsteintrittspraxis gegenüber Malta oder Fällen von einem der Dublinreferate die Zuständigkeit die Möglichkeit, drohende unmenschliche Behandlung im eines anderen Staates geprüft, in 4223 Fällen hatte die Zielstaat als Grund für einen Selbsteintritt geltend zu ma- betroffene Person (noch) keinen Asylantrag in Deutschland chen. gestellt.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Auch die Belehrung über die Abfrage bei Euro- durch den Vormund oder eine andere Person dac erhalten nicht alle Personen. Die Autoren die Entscheidung zu treffen, ob ein Asylantrag befragten über 50 unbegleitete Minderjährige gestellt wird, siehe Abschnitt 3.4.2.), werden im Bundesland Hessen, die vor ihrer Asylantrag- nach Erfahrung der Autoren nur in Einzelfällen stellung auf Polizeidienststellen Fingerabdrücke über die Einleitung ihres Dublinverfahrens in abgegeben hatten. Keiner von ihnen berichtete, Kenntnis gesetzt. dort eine Belehrung bzgl. Eurodac oder Dublin-II erhalten zu haben, weder in mündlicher noch in Personen, die noch von der Bundespolizei an schriftlicher Form. Vom zuständigen Innenmi- der Grenze zurückgeschoben werden bzw. so- nisterium war trotz mehrerer Nachfragen bis fort inhaftiert und dann aus der Haft heraus Redaktionsschluss keine Stellungnahme dazu zu zurückgeschoben werden, erhalten immerhin erhalten. vorab eine Zurückschiebungsverfügung, aus der sich ergibt, dass sie in ein anderes (wenn auch Die Bundesregierung teilte dem Bundestag im nicht immer, in welches) Land zurückgeschoben Juli 2010 mit, die von Dublinverfahren Betroffe- werden sollen, so dass sie – sofern der Zugang nen würden „bereits frühzeitig über die Einlei- zu einem Rechtsanwalt technisch möglich ist – tung eines Ersuchens um Übernahme an einen dagegen vorgehen können bzw. zumindest in Mitgliedsstaat und damit über eine mögliche etwa wissen, was mit ihnen geschehen soll. Überstellung dorthin informiert.“17. Nach der Erfahrung der Autoren ist die Information der zu b) Betroffenen allerdings mangelhaft und eine Auf der Basis welcher Informationen ihr Dublin- große Zahl von Asylsuchenden erfährt vor ihrer verfahren durchgeführt wird, ist den Betroffe- Abschiebung nichts über die Einleitung und das nen in aller Regel unklar. Sie können nicht si- Ergebnis ihres Dublinverfahrens. cherstellen, ob alle Informationen, die sie ge- Asylantragsteller können in der Praxis prinzipiell genüber deutschen Behörden gemacht haben, auf zwei Wegen Kenntnis von einem möglichen in dem Verfahren berücksichtigt werden. Übernahmeersuchen erhalten. Wenn sie vom So sind beispielsweise nicht alle Protokolle der Bundesamt angehört werden, kann der Sachbe- Vernehmungen bzw. Anhörungen den Mitarbei- arbeiter ihnen ggf. im Anschluss an die Anhö- tern des Dublinreferates bekannt. Protokolle rung mitteilen, dass zunächst die Zuständigkeit der Bundespolizei finden sich häufig nicht in der Deutschlands für den Asylantrag geprüft wird. Bundesamtsakte, Anhörungsprotokolle vom Dies geschieht nach Erfahrung der Autoren nicht Bundesamt werden manchmal erst mit Mona- in allen Anhörungen und es werden auch nicht ten Verspätung verschriftlicht.18 alle von einem Dublinverfahren Betroffenen angehört. Seit Herbst 2010 schickt das Dublinre- Damit ein Betroffener dem Dublinreferat alle ferat in Dortmund an einen Teil der Asylantrag- relevanten Angaben machen kann, müsste er steller ein Schreiben in deutscher Sprache, das über das Verfahren einschließlich der Zustän- lediglich besagt, ihr Asylantrag werde im Referat digkeitskriterien und ihre Reihenfolge informiert 431 behandelt – ein Schreiben, dass den aller- und entsprechend angehört werden. Beides, meisten völlig unverständlich sein muss. Beides sowohl das Recht auf Information sowie das kann kaum als ausreichende Information i.S.d. Recht auf ein Interview, ist durch das derzeit in Art. 3 Abs. 4 D-II-VO betrachtet werden. Deutschland angewandte Verfahren nicht si- chergestellt bzw. strukturell ausgeschlossen. (Zu Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten den Anhörungen und den Folgen dieser Praxis und zunächst keinen Asylantrag stellen, wie z.B. für die korrekte Zuständigkeitsbestimmung vgl. unbegleitete Minderjährige (bei denen in eini- Abschnitt 3.1.2.) gen Bundesländern die Chance besteht, erst nach einer gründlichen Prüfung der Asylgründe 18 Das Dublinreferat in Nürnberg kann überhaupt nicht auf 17 Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anhörungsprotokolle zurückgreifen – aus dem einfachen Anfrage, Bundestags-Drucksache Nr. 17/2655 vom Grund, dass die Personen, deren Verfahren dort durchge- 26.7.2010, abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/ führt werden, mangels Asylantrag nicht vom Bundesamt dip21/ btd/17/026/1702655.pdf. angehört werden.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern zu c) habe.21 In einigen Regionen werden Abschie- bungen einem Teil der Betroffenen vorab form- Das deutsche Asylverfahrensgesetz sieht vor, los angekündigt, unabhängig vom Zielstaat der dass Dublin-Bescheide in der Regel erst am Tag Abschiebung oder einer möglichen besonderen der Abschiebung durch die Polizei zugestellt Schutzbedürftigkeit. Ob ein Betroffener infor- werden.19 Die Bundesregierung rückt davon miert wird, ist für ihn jedoch nicht voraussehbar auch nach den jüngsten Entscheidungen des und letztlich dem Zufall überlassen. EGMR und des EuGH nicht ab. Den Ausländer- behörden als Landesbehörden ist es allerdings Unbegleiteten Minderjährigen und ihren Vor- möglich, individuell oder auch generell Beschei- mündern wird laut Auskunft der Bundesregie- de frühzeitig zuzustellen oder die Betroffenen in rung vom 18.4.2011 der ablehnende Bescheid anderer Weise zu informieren. zugestellt bzw. sie werden, wenn in Deutsch- land kein Asylantrag gestellt wurde, über die Am 19.4.2012 wies die Landesregierung von bevorstehende Abschiebung informiert.22 Doch Schleswig-Holstein die dortigen Ausländerbe- den Autoren sind diverse Verfahren bekannt, in hörden an, den Asylsuchenden den ablehnen- denen diese Zustellung nicht erfolgte und das den Dublin-Bescheid vor der Abschiebung zuzu- Bundesamt aus diesem Versäumnis keinerlei stellen. Eine Frist zwischen Bescheidzustellung Konsequenzen im Sinne einer „Folgenbeseiti- und Abschiebung wurde nicht genannt, jedoch gung“ zog. Der genaue Abschiebungstermin müssen die Bescheide sofort zugestellt werden, muss auch Minderjährigen nicht mitgeteilt wer- wenn das Dublinreferat des BAMF sie der Aus- den. länderbehörde übersendet. Begründet wurde dies damit, dass immer mehr Gerichte Eilrechts- Der 17jährige Khalib flüchtet im Dezember 2010 schutz gegen Dublin-Abschiebungen gewährten, nach Deutschland. Das Jugendamt nimmt ihn in dies aber nicht möglich sei, wenn der Bescheid Obhut und bringt ihn in einem Kinderheim unter. erst am Tag der Abschiebung zugestellt werde. Das Familiengericht bestellt einen Vormund und Einige Monate später erließen die Landesregie- einen Rechtsanwalt für ihn. Khalib berichtet rungen von Rheinland-Pfalz (3.7.), Brandenburg beiden, dass er zuvor in den Niederlanden Asyl (12.7.) und Nordrhein-Westfalen (26.7.) ähnli- beantragt habe, dort aber aus gravierenden che Regelungen, die aber darüber hinaus konk- Gründen nicht habe bleiben können. Der ret forderten, dass mindestens eine Woche Rechtsanwalt nimmt Kontakt mit dem Dublinre- zwischen Bescheidzustellung und geplanter ferat auf. Der Sachbearbeiter sichert ihm schrift- Abschiebung liegen müsse.20 Bei Redaktions- lich zu, dass er, falls eine Abschiebung geplant schluss dieses Berichts (Dezember 2012) sind werde, mindestens eine Woche vorher benach- diese vier Bundesländer damit die einzigen, die richtigt werde. Auch der Vormund werde zu Konsequenzen aus der nationalen und europäi- diesem Zeitpunkt eine Mitteilung erhalten. schen Rechtsprechung zum Eilrechtsschutz ge- zogen haben. Zeitweise gab es auch zuvor be- reits auf Länder- oder Bezirksebene einzelne 21 Regelungen, dass bei bestimmten Zielstaaten Ein entsprechender Erlass vom Februar 2010 aus (Griechenland bzw. Italien) oder bestimmten Schleswig-Holstein, Abschiebungen nach Griechenland betreffend, ist abrufbar unter Gruppen (z.B. Familien mit Kindern) vorab eine http://www.frsh.de/fileadmin/pdf/behoerden/Erlass_01- Information über die Abschiebung zu erfolgen 02-2010_Rueckfuehrungen-Griechenland.PDF. Im Jahr 2011 kündigte beispielsweise eine hessische Ausländerbe- hörde Abschiebungen nach Italien den Betroffenen eine 19 Dublin-Bescheide werden also, anders als dies in ande- Woche im Voraus schriftlich an, wenn auch ohne den ren Bereichen des Verwaltungsrechts üblich ist, nicht von Bescheid zuzustellen. Diese Praxis wurde allerdings nach der Behörde zugestellt, die sie erlässt, sondern von der einigen Monaten eingestellt, so dass dort nun wieder Ausländerbehörde bzw. Polizei, die die Abschiebung voll- unangekündigte Abschiebungen stattfinden. 22 streckt. Da diese Behörden den jeweiligen Landesregierun- Bundestags-Drucksache 17/5579 vom 18.4.2011, abruf- gen unterstellt sind, kommt es zu einer bundesweit mitt- bar unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/ lerweile sehr unterschiedlichen Praxis der Bescheidzustel- btd/17/055/1705579.pdf, dort S. 6. Dies ist lediglich eine lung. laut Auskunft der Bundesregierung geübte Praxis, es be- 20 Der rheinland-pfälzische Erlass ist abrufbar unter steht nach wie vor keine bundesweite gesetzliche Ver- http://wp.asyl-rlp.org/wp-content/uploads/2011/05/12- pflichtung, Dublin-Bescheide vor dem Tag der Abschiebung 07-03_DublinIIVO.pdf. zuzustellen.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern Dennoch wird Khalib im Juli 2011 ohne jede An- Am 6.Dezember wird Kidane T. früh morgens kündigung mitten in der Nacht im Kinderheim aus der Unterkunft in Oberursel im hessischen verhaftet, auf der Polizeistation mehrere Stun- Hochtaunuskreis abgeholt und direkt zum Flug- den an eine Heizung gefesselt und am nächsten hafen gebracht.“23 Morgen mit dem Flugzeug in die Niederlande abgeschoben. Weder Bundesamt noch Auslän- Vertreter des Dublinreferates betonten in der derbehörde sind bereit, diese Abschiebung zu Vergangenheit mehrfach, die Betroffenen selbst stoppen, obwohl sie entgegen der schriftlichen wüssten stets sehr gut, dass ihnen die Abschie- Zusicherung ohne jede Ankündigung erfolgt. bung in einen anderen Staat drohe. Davon ab- gesehen, dass die Kenntnis der Zuständigkeits- Das Bundesamt ist zwar dazu verpflichtet, Asyl- regeln der D-II-VO nicht pauschal allen Asylsu- suchenden bzw. ihren Bevollmächtigten Akten- chenden unterstellt werden kann, ersetzt eine einsicht zu gewähren. In der Praxis dauert es solche pauschale Vermutung nicht die Erfüllung allerdings häufig mehrere Wochen, manchmal der Informationspflicht aus Art. 3 Abs. 4 D-II-VO. Monate, bis Akteneinsichtsersuchen beantwor- tet werden. Auch sind die Akten nicht immer vollständig, es fehlen beispielsweise die Anga- 3.1.2 Probleme bei der korrekten Anwendung ben zu den Eurodac-Treffern oder die Mitteilung der Kriterien an den zuständigen MS, dass der Betroffene untergetaucht und deshalb die Frist zu verlän- a) Problem, dass der Sachverhalt nicht richtig gern sei. Auch das Einschalten eines Rechtsan- bzw. erschöpfend ermittelt wird: walts, der regelmäßig Akteneinsicht beantragt, schützt also nicht unbedingt vor einer unange- Weder im Aufenthaltsgesetz noch im Asylver- kündigten Abschiebung. fahrensgesetz ist geregelt, wie Personen im Dublinverfahren zu befragen sind. Ein „Dublin- Die NGO Pro Asyl dokumentierte im Dezember Interview“ ist nirgends explizit vorgesehen, des- 2011 folgenden Fall: halb können nur die Informationen, die im Rahmen der Anhörung im Asylverfahren ohne- „Der Eritreer Kidane T. flüchtet im Dezember hin erhoben werden, für das Dublinverfahren 2010 von Italien nach Deutschland. Hier stellt im verwendet werden. Allerdings sieht die interne Juli 2011 seine Anwältin einen Eilantrag gegen Dienstanweisung des BAMF vor, dass in be- die drohende Abschiebung nach Italien vor dem stimmten Konstellationen auf eine Anhörung Verwaltungsgericht in Frankfurt. Das Bundes- verzichtet werden kann.24 amt für Migration und Flüchtlinge reagiert schnell: eine Abschiebung nach Italien sei nicht Um die Kriterien der D-II-VO richtig anwenden möglich, da Italien die Übernahme von Kidane T. zu können, müsste das Bundesamt eigentlich abgelehnt habe. Daraufhin lehnt das Gericht den Eilantrag ab, denn eine Abschiebung sei ja 23 aktuell nicht geplant. Ab diesem Zeitpunkt ist es Auszug aus der Dokumentation von Pro Asyl, abrufbar nun plötzlich nicht mehr möglich, Akteneinsicht unter http://www.proasyl.de/fileadmin/fm- dam/NEWS/2011/Kidane_Ts_Odysee_durch_Europa.pdf. zu bekommen. Auf mehrere Anschreiben der 24 Siehe Seite 96 der Dienstanweisung, die von Pro Asyl Anwältin reagiert das BAMF schlicht nicht. Das veröffentlicht wurde, abrufbar unter bedeutet allerdings nicht, dass nichts geschieht: http://www.proasyl.de/fileadmin/fm- Inzwischen hat das BAMF Italien erneut ange- dam/i_Asylrecht/Dienstanweisungen-Asyl_BAMF2010.pdf. fragt. Und Italien stimmt schließlich doch der Gerade was die Anhörungspraxis im Dublinverfahren be- trifft, wird die Dienstanweisung allerdings in den verschie- Übernahme von Kidane T. zu. Ohne Kidane T. denen Außenstellen des Bundesamtes recht unterschied- oder seine Anwältin vorab zu informieren wer- lich umgesetzt. Einheitlich ist lediglich, dass die Anhörun- den nun Nägel mit Köpfen gemacht. Rechtsmit- gen in Anwesenheit eines Dolmetschers stattfinden, dass tel einzulegen ist nicht möglich, es gibt ja keine das Gesagte protokolliert wird, dass eine mündliche Rück- übersetzung des Protokolls zumindest angeboten wird und Information über eine nun doch bevorstehende dass das Protokoll i.d.R. nach einigen Wochen schriftlich Abschiebung nach Italien. Rechtsschutzmöglich- übersandt wird. Ein Teil der Anhörungen findet mittlerwei- keiten werden so gezielt hintertrieben. le per Videokonferenz statt, so dass sich der Interviewer und/oder der Dolmetscher nicht im gleichen Raum befin- den wie der Befragte.
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