Zehn Jahre Dublin kein Grund zum Feiern - Zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland

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Zehn Jahre Dublin kein Grund zum Feiern - Zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland
Zehn Jahre  Dublin
      kein Grund zum Feiern
Zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Abkürzungen
AsylVfG        Asylverfahrensgesetz
AsylZBV        Asylzuständigkeitsbestimmungsverordnung
AufenthG       Aufenthaltsgesetz
BAMF           Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
BMI            Bundesministerium des Inneren
BPol           Bundespolizei
B-UMF          Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
BVerfG         Bundesverfassungsgericht
EGMR           Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK           Europäische Menschenrechtskonvention
EuGH           Europäischer Gerichtshof
FamFG          Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil-
               ligen Gerichtsbarkeit
D-II-VO        Dublin-II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar
               2003)
D-II-DVO       Dublin-II-Durchführungsverordnung (Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission
               vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr.
               343/2003)
GG             Grundgesetz
GRCh           Grundrechtecharta der Europäischen Union
LG             Landgericht
MS             Mitgliedsstaat (hier: der die D-II-VO anwendet, d.h. alle 27 EU-Staaten sowie die
               Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island)
NGO            Nichtregierungsorganisation
OVG            Oberverwaltungsgericht (auch VGH=Verwaltungsgerichtshof)
UMF            unbegleitete(r) minderjährige(r) Flüchtling(e)
VG             Verwaltungsgericht
VGH            Verwaltungsgerichtshof (auch OVG=Oberverwaltungsgericht)

Danksagung
Wir danken den vielen Flüchtlingen, die ihre Erfahrungen mit der Dublin-II-Verordnung mit uns ge-
teilt haben, sowie den Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Arbeit an diesem Bericht unterstützt
haben: Thomas Berthold, Silke Born-Gotta, Klaudia Dolk, Peter Fahlbusch, Janina Gieseking, Judith
Gleitze, Stephan Hocks, Henrike Janetzek, Stephen Marquardt, Dirk Morlok, Karl Kopp, Marei Pelzer,
Uta Rieger, Uli Sextro, Klaus Walliczek und ganz besonders Rebecca Zippelt.

Frankfurt am Main, im Dezember 2012

Dominik Bender und Maria Bethke, für den Hessischen Flüchtlingsrat.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern
     „National Report“ zur Umsetzung der
     Dublin-II-Verordnung in Deutschland
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Inhalt
   1. Einführung...................................................................................................................................6
        1.1. Das Dublin-System auf europäischer Ebene .........................................................................6
        1.2. Übersicht über die Dublin-II-Verordnung in Deutschland ....................................................7
   2. Rechtliche Rahmenbedingungen und Ablauf der Verfahren ....................................................8
        2.1. Rechtliche Rahmenbedingungen ..........................................................................................8
        2.2. Ablauf der Dublinverfahren ..............................................................................................            9
              2.2.1. Zuständige Behörden ...........................................................................................              9
              2.2.2. Einleitung der Verfahren mit und ohne Asylantragstellung in Deutschland ..... 10
              2.2.3. Ablauf der Verfahren ......................................................................................... 10
              2.2.4. Klageverfahren................................................................................................... 11
              2.2.5. Petitionsverfahren ............................................................................................. 12
   3. Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland ........................................................... 13
        3.1. Information der Betroffenen und Anwendung der Kriterien durch die Behörden .......... 13
              3.1.1. Das Recht auf Information ................................................................................. 13
              3.1.2. Probleme bei der korrekten Anwendung der Kriterien .................................... 16
              3.1.3. Der Familienbegriff und das Kriterium der Familieneinheit ............................. 20
              3.1.4. Regionale Unterschiede bei der Umsetzung der Dublin-II-VO ......................... 22
        3.2. Die Anwendung der Ermessensklauseln ........................................................................ 23
              3.2.1. Selbsteintrittsrecht und Humanitäre Klausel .................................................... 23
              3.2.2. Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedsstaat ................................... 24
        3.3. Fristen und Wiedereinreisesperren ............................................................................... 28
              3.3.1. Fristen ................................................................................................................ 28
              3.3.2. Keine „freiwillige Ausreise“ gem. D-II-DVO, Wiedereinreisesperre ................. 30
        3.4. Besonders schutzbedürftige Personen im Dublinverfahren .......................................... 31
              3.4.1. Besonders Schutzbedürftige / Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse .... 31
              3.4.2. Unbegleitete Minderjährige ............................................................................. 34
        3.5. Effektiver Rechtsschutz und Rechtsberatung ................................................................ 37
              3.5.1. Effektiver Rechtsschutz ..................................................................................... 37
              3.5.2. Zugang zu Rechtsberatung für Asylsuchende in Deutschland .......................... 38
        3.6. Haft im Dublinverfahren ................................................................................................ 41
        3.7. Personen, die in einem anderen Dublinstaat den Flüchtlingsstatus oder subsidiären
             Schutz erhalten haben ................................................................................................... 43
        3.8. Die Situation der nach Deutschland abgeschobenen Personen .................................... 46
        3.9. Beispiele für „Good Practice“ ........................................................................................ 47
   4. Empfehlungen ...................................................................................................................... 48
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Anhang
A. Literaturverzeichnis ...................................................................................................................... 51
B. Statistische Daten ......................................................................................................................... 52
           Abbildung 1: Dublin-Abschiebungen aus Deutschland / nach Deutschland 2003-2011
           Tabelle 1: Überprüfung der Zuständigkeit eines anderen MS - Jahr 2011
           Tabelle 2: Übernahmeersuchen und Abschiebungen von Deutschland an andere MS
           1. Halbjahr 2012
           Tabelle 3: Übernahmeersuchen, Zustimmungen, Abschiebungen von Deutschland an
           andere MS – Jahr 2011
           Tabelle 4: Übernahmeersuchen, Zustimmungen, Abschiebungen von anderen MS an
           Deutschland – Jahr 2011
           Tabelle 5: Übernahmeersuchen Deutschlands an andere MS mit Aufschlüsselung der
           EURODAC-Treffer – Jahr 2011
           Tabelle 6: Abschiebungen von Deutschland an andere MS – Staatsangehörigkeit der
           Asylsuchenden – Jahr 2011 und 1. Halbjahr 2012
           Tabelle 7: Abschiebungen an Deutschland aus anderen MS – Staatsangehörigkeit der
           Asylsuchenden – Jahr 2011
           Tabelle 8a: Anzahl der Zustimmungen Deutschlands zu Übernahmeersuchen anderer
           MS auf der Basis von Art. 15 – 2009-2012
           Tabelle 8b: Anzahl der Zustimmungen anderer MS zu Übernahmeersuchen Deutschlands
           auf der Basis von Art. 15 – 2009-2012
           Tabelle 9: Abschiebungen von minderjährigen Personen - Jahr 2011 und 1. Halbjahr 2012
           Tabelle 10: Abschiebungen von minderjährigen Personen nach den wichtigsten
           Herkunftsländern – Jahr 2011 und 1. Halbjahr 2012

C. Zitierte Rechtsprechung zur Dublin-II-Verordnung in Deutschland............................................. 61
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

1. Einführung
1.1. Das Dublin-System auf europäischer Ebene
Die Dublin-II-Verordnung1 (D-II-VO) aus dem                sche Umsetzung der Verordnung verletzt die
Jahr 2003 verfolgt, wie schon das Dubliner                 Grundrechte von Asylsuchenden, etwa ihr
Übereinkommen von 1997, folgendes Ziel: Jeder              Recht, angehört zu werden, das Recht auf effek-
Asylantrag eines Schutzsuchenden in Europa                 tiven Rechtsschutz und das Grundrecht auf Asyl
muss geprüft werden, aber nur von einem (ein-              selbst, da der Zugang zum Asylverfahren nicht
zigen) Staat, so dass sekundäre Wanderungs-                immer garantiert ist. In einer Reihe von Mit-
bewegungen und die Stellung mehrerer Asylan-               gliedsstaaten sind die Aufnahmebedingungen
träge in Folge verhindert werden. Welcher Staat            für „Dubliner“ deutlich schlechter als für andere
für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist,            Asylsuchende. Bilaterale Vereinbarungen gem.
soll durch einheitliche Kriterien festgelegt wer-          Art. 23 D-II-VO werden verstärkt angewandt
den, die in allen EU-Staaten sowie Island, Nor-            und Streitigkeiten über die Zuständigkeit für
wegen, der Schweiz und Liechtenstein gelten.               Asylverfahren werden zunehmend auf informel-
                                                           lem Wege gelöst. Einige Mitgliedsstaaten bür-
Zehn Jahre nach der Verabschiedung der Dub-                den den Asylsuchenden die Beweislast in un-
lin-II-Verordnung haben NGOs in elf europäi-               verhältnismäßiger Weise auf, wenn diese einen
schen Ländern im Rahmen eines transnationa-                anderen als den von den Behörden für zustän-
len Projektes sowohl nationale Berichte zur                dig erklärten Staat für ihr Asylverfahren verant-
Umsetzung der Dublin-II-Verordnung veröffent-              wortlich halten, etwa weil sie dort Verwandte
licht als auch eine vergleichende Studie. Der              haben oder weil früher bestehende Zuständig-
vorliegende Bericht wurde vom Hessischen                   keiten durch eine Ausreise aus dem Dublinge-
Flüchtlingsrat erstellt, die weiteren Berichte und         biet erloschen sind. Eine Reihe von Mitglieds-
die vergleichende Studie sind im Internet unter            staaten erklärt Asylsuchende vorschnell und
www.dublin-project.eu abrufbar.                            ungerechtfertigt für „untergetaucht“, was zu
                                                           einer Verlängerung der Überstellungsfristen und
Die Untersuchungen zeigen, dass sich die Um-
                                                           Verzögerungen bei der Bearbeitung der Asylan-
setzung der D-II-VO zum Nachteil der Flüchtlin-
                                                           träge führt.
ge auswirkt; Familien werden auseinander ge-
rissen und Asylsuchende werden immer häufi-                Die Probleme innerhalb des Dublinsystems wer-
ger inhaftiert. Die D-II-VO verzögert die Bearbei-         den verschärft durch die unterschiedliche Praxis
tung der Asylanträge erheblich und zwingt so               der Staaten bei der Gewährung von Schutz, der
die Betroffenen zu einem „Leben in der Warte-              Wahrung der Rechte der Flüchtlinge, den Auf-
schleife“.                                                 nahmebedingungen und den Asylverfahren.
                                                           Schutzsuchende sehen sich also nicht etwa ei-
Die Rangfolge der Kriterien, nach der der zu-
                                                           nem einheitlichen System, sondern vielmehr
ständige Mitgliedsstaat bestimmt wird, wird
                                                           einer „Asyl-Lotterie“ gegenüber.
nicht immer eingehalten. Zu oft wird fälschli-
cherweise Art. 10 D-II-VO angewandt und der                Die Länderberichte wie der hier vorliegende
Betroffene in den Einreisestaat abgeschoben,               bieten einen Einblick in die praktische Umset-
wo ihm zum ersten Mal in Europa Fingerabdrü-               zung der D-II-VO in den einzelnen Staaten, wäh-
cke abgenommen und diese in das Eurodac-                   rend die vergleichende Studie die Entwicklun-
System eingespeist wurden, obwohl auf ihn ein              gen auf europäischer Ebene analysiert. Die Un-
vorrangiges Kriterium, etwa der Einheit der Fa-            tersuchungen wurden durchgeführt, nachdem
milie, anzuwenden gewesen wäre. Die prakti-                sowohl der Europäische Gerichtshof für Men-
                                                           schenrechte in Straßburg als auch der Europäi-
1
  Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar
                                                           sche Gerichtshof in Luxemburg die Vereinbar-
2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Be-    keit des Dublinsystems mit den Grundrechten
stimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines    der Asylsuchenden in Frage gestellt haben.
von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat
gestellten Asylantrags zuständig ist, abrufbar unter       Kürzlich haben sich die Gremien der EU auf eine
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=     Neufassung der D-II-VO geeinigt. Die sogenann-
CELEX:32003R0343:DE:HTML.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

te Dublin-III-Verordnung führt bedeutende                    sie in allen Mitgliedsstaaten korrekt angewen-
Neuerungen ein wie etwa das Recht auf eine                   det wird.
persönliche Anhörung und einen Frühwarnme-
chanismus bei Überlastung eines Mitgliedsstaa-               Letzten Endes muss aber das grundlegende
tes oder Mängeln im Asylsystem.                              Prinzip der Dublin-II-Verordnung revidiert wer-
                                                             den, um ein humaneres und gerechteres System
Aber das grundlegende Prinzip des Dublinsys-                 zu schaffen, das die persönliche Situation der
tems bleibt unangetastet und dessen Mängel                   Asylsuchenden und ihre Anknüpfungspunkte an
werden nicht behoben. Die Europäische Kom-                   bestimmte Mitgliedsstaaten berücksichtigt und
mission sollte die Umsetzung der Verordnung                  ihre Chancen verbessert, sich in Europa zu in-
genau kontrollieren, um sicher zu stellen, dass              tegrieren.

1.2. Übersicht über die Dublin-II-Verordnung in Deutschland
Im Jahr 2003, als die Dublin-II-Verordnung in                auf dem Weg zum Flughafen oder gar erst dort,
Kraft trat, wurden 1562 Asylsuchende von                     ist es den Betroffenen nicht möglich, noch einen
Deutschland in andere Dublin-Mitgliedsstaaten                Rechtsanwalt zu kontaktieren. Doch selbst
abgeschoben.2 Im gleichen Zeitraum musste                    wenn dies einem Betroffenen gelingt, schließt
Deutschland fast doppelt so viele Personen aus               § 34a Abs. 2 AsylVfG aus, dass ein Verwaltungs-
anderen Mitgliedsstaaten aufnehmen. Dieses                   gericht die Abschiebung im Eilverfahren unter-
Verhältnis kehrte sich im Jahr 2008 um, seitdem              sagt.
finden deutlich mehr Dublin-Abschiebungen aus
Deutschland als nach Deutschland statt. Im Jahr              Seit 2008 gewährt zwar eine wachsende Zahl
2011 standen 2902 Abschiebungen aus                          von Verwaltungsgerichten dennoch Eilrechts-
Deutschland nur 1303 Abschiebungen nach                      schutz, dennoch scheitern noch immer Asylsu-
Deutschland gegenüber.                                       chende vor Gericht an der strikten Regelung des
                                                             § 34a Abs. 2 AsylVfG. Auch haben zwar bislang
Die deutschen Behörden haben großes Interes-                 vier Landesregierungen aus der Rechtsprechung
se am Funktionieren des Dublin-Systems. Das                  des EuGH und des EGMR zu Dublin den (richti-
schließt ein, dass Abschiebungen möglichst                   gen) Schluss gezogen, dass die Praxis, die Dub-
„reibungslos“ vonstattengehen sollen. Deshalb                linbescheide erst von der Polizei übergeben zu
wurden die Regelungen, die im Jahr 1993 im                   lassen, rechtswidrig ist und weisen seit diesem
Rahmen des sog. Asylkompromisses für Ab-                     Jahr ihre Ausländerbehörden an, die Betroffe-
schiebungen auf der Basis der sog. Drittstaaten-             nen vorab zu informieren. Doch in den übrigen
regelung geschaffen wurden, auch auf solche im               Bundesländern kommt es noch täglich zu unan-
Rahmen der Dublin-II-Verordnung übertragen.                  gekündigten Abschiebungen.
Für die Betroffenen bedeutet das, dass Eil-
rechtsschutz gegen eine solche Abschiebung                   In diesem Bericht werden die rechtlichen
gesetzlich und faktisch ausgeschlossen ist: Das              Grundlagen, der Ablauf der Dublinverfahren
Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sieht vor, dass               und die zentralen Probleme bei der Umsetzung
der Dublinbescheid, mit dem ein Asylantrag als               der Dublin-II-Verordnung in Deutschland be-
unzulässig abgelehnt und die Abschiebung in                  schrieben. Die Schwierigkeiten, die sich für eine
einen anderen europäischen Staat angeordnet                  korrekte Anwendung der Verordnung ergeben,
wird, dem Betroffenen erst unmittelbar vor der               wenn die Betroffenen nur unzureichend oder
Abschiebung durch die Polizei übergeben wird.                gar nicht über das Verfahren informiert werden,
Da dies meist frühmorgens stattfindet, oft erst              die Berücksichtigung familiärer Bindung, die
                                                             Selbsteintrittspraxis des Bundesamtes, insbe-
2                                                            sondere im Hinblick auf besonders schutzbe-
 Der gelegentlich in verharmlosender Weise verwendete
Ausdruck „Überstellung“ für den Vorgang einer – auslän-      dürftige Asylsuchende und unbegleitete Min-
derrechtlich in aller Regel als Abschiebung durchgeführten   derjährige, der Zugang zu effektivem Rechts-
– Verbringung einer Person in einen anderen Dublinstaat      schutz sowie der Umgang mit Fristen und
wird in diesem Bericht bewusst vermieden und stattdessen
der Begriff „Abschiebung“ gebraucht.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Fragen der Inhaftierung im Dublinverfahren                     ihnen von Rechtsanwälten sowie der NGO Pro
werden ausführlich behandelt.                                  Asyl zur Verfügung gestellt. Die Fälle werden
                                                               anonymisiert wiedergegeben, die Namen und
Der Bericht schließt mit Empfehlungen an den                   die jeweiligen Aktenzeichen beim BAMF sind
Gesetzgeber und Behörden, um die Rechte der                    den Autoren bekannt.
von Dublinverfahren betroffenen Asylsuchen-
den besser zu wahren. Im Anhang werden die                     Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der
verwendete Literatur, statistische Daten sowie                 Verwaltungspraxis. Auf der Internetseite des
sämtliche im Bericht zitierten Gerichtsentschei-               transnationalen Dublinprojektes (www.dublin-
dungen aufgeführt.                                             project.eu) sind neben Gerichtsentscheidungen
                                                               aus den europäischen Partnerländern mittler-
Die Position des Bundesamtes für Migration und                 weile über 50 Entscheidungen deutscher Ge-
Flüchtlinge (BAMF) sowie der Bundesregierung                   richte zur Dublin-II-Verordnung abrufbar. Sie
wurde sowohl öffentlich zugänglichen Publikati-                sind in englischer Sprache zusammengefasst,
onen (siehe Literaturliste im Anhang) als auch                 aber jeweils versehen mit einem Verweis auf die
Äußerungen von Vertretern des Bundesamtes                      deutsche Fassung in der Datenbank des Infor-
auf öffentlichen Veranstaltungen entnommen.                    mationsverbundes Asyl und Migration
Die dargestellten Einzelfälle stammen überwie-                 (www.asyl.net).
gend aus der Praxis der Autoren, einige wurden

2. Rechtliche Rahmenbedingungen und Ablauf der Verfahren
2.1. Rechtliche Rahmenbedingungen
Die D-II-VO wurde nicht in das nationale Recht                 BAMF so ausgelegt, dass der Asylsuchende nur
übernommen, es wurde lediglich mit § 27a                       über die Existenz und die wichtigsten Prinzipien
AsylVfG die Möglichkeit geschaffen, einen Asyl-                der D-II-VO aufgeklärt werden muss, nicht aber
antrag als “unzulässig” abzulehnen, “wenn ein                  über die Einleitung und das Ergebnis des Ver-
anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften                 fahrens, das ihn persönlich betrifft.
der Europäischen Gemeinschaft oder eines völ-
kerrechtlichen Vertrages für die Durchführung                  Die Entscheidung, dass sein Asylantrag unzuläs-
des Asylverfahrens zuständig ist“. Im AsylVfG                  sig ist bzw. dass die Abschiebung in den zustän-
finden sich Regelungen zur Bescheidzustellung                  digen MS angeordnet wird, erhält er zwar in der
und zum Rechtsschutz. Es sind die gleichen, die                Regel schriftlich, allerdings nicht so rechtzeitig,
seit 1993 für Asylantragsteller gelten, die aus                dass er noch ein effektives Rechtsmittel einle-
“sicheren Drittstaaten” nach Deutschland kom-                  gen kann.5
men. Sie wurden lediglich so ergänzt, dass sie
                                                               Die Paragraphen 31 Abs. 1 S. 4-6 und 34a
auch für nach der D-II-VO abgelehnte Asylsu-
                                                               AsylVfG regeln, dass die Entscheidung, dass ein
chende gelten. Die Ausgestaltung des Dublinver-
                                                               Asylantrag unzulässig ist, dem Asylsuchenden
fahrens ist durch verwaltungsinterne Dienstan-
                                                               selbst zuzustellen ist. Eine Frist zur freiwilligen
weisungen geregelt.3
                                                               Ausreise muss ihm nicht gesetzt werden.6
Bezüglich der Informationspflichten der Behör-
den gegenüber den Asylsuchenden fällt Folgen-                  dieser Verordnung, ihre Fristen und ihre Wirkung unter-
des auf: Art. 3 Abs. 4 D-II-VO4 wird seitens des               richtet.“
                                                               5
                                                                 Hat der Betroffene einen Asylantrag in Deutschland ge-
3
  Diese Dienstanweisungen werden üblicherweise nicht           stellt, erhält er einen Bescheid vom Bundesamt für Migra-
veröffentlicht. Die NGO Pro Asyl hat 2008 die Herausgabe       tion und Flüchtlinge mit folgendem Tenor: „1. Der Asylan-
eines Teils der damals aktuellen Dienstanweisungen ge-         trag ist unzulässig. 2. Die Abschiebung nach … wird ange-
richtlich erstritten, eine Version aus dem Jahr 2010 ist       ordnet.“ Hat er keinen Asylantrag in Deutschland gestellt,
abrufbar unter http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-             erhält er nur eine Mitteilung, dass er auf der Basis der
dam/i_Asylrecht/Dienstanweisungen-Asyl_BAMF2010.pdf.           Dublin-II-VO in den zuständigen Staat abgeschoben wird.
4                                                              6
  Er lautet: „Der Asylbewerber wird schriftlich und in einer     § 31 Abs. 1 S. 4-6 lauten: „Wird der Asylantrag nur nach §
ihm hinreichend bekannten Sprache über die Anwendung           26a oder § 27a abgelehnt, ist die Entscheidung zusammen
                                                               mit der Abschiebungsanordnung nach § 34a dem Auslän-
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

In der Praxis sieht dies in aller Regel so aus, dass           digten Abschiebung von der Polizei übergeben
der Bescheid erst am Morgen der unangekün-                     wird und der Rechtsanwalt – falls vorhanden –
                                                               erst am nächsten Tag eine Kopie des Bescheides
der selbst zuzustellen. Sie kann ihm auch von der für die      per Post erhält, also wenn sein Mandant bereits
Abschiebung oder für die Durchführung der Abschiebung          abgeschoben ist.
zuständigen Behörde zugestellt werden. Wird der Auslän-
der durch einen Bevollmächtigten vertreten oder hat er
einen Empfangsberechtigten benannt, soll diesem ein
                                                               Schafft es der Betroffene dennoch, in den weni-
Abdruck der Entscheidung zugeleitet werden.“ § 34a Abs. 1      gen Stunden bis zu seiner Abschiebung Klage zu
AsylVfG lautet: „Soll der Ausländer in einen sicheren Dritt-   erheben, hat diese keine aufschiebende Wir-
staat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asyl-     kung. § 34a Abs. 2 AsylVfG regelt, dass eine
verfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden,       Abschiebung gem. der D-II-VO nicht im Wege
ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an,
sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. (…)       des Eilrechtsschutzes ausgesetzt werden darf.
Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es
nicht.“

2.2. Ablauf der Dublinverfahren
2.2.1. Zuständige Behörden                                     Auch die Bundespolizei, die im „grenznahen
                                                               Bereich“ und an Flughäfen, Bahnhöfen und in
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge                    Zügen Personenkontrollen durchführt, kann
(BAMF) ist eine Bundesbehörde im Geschäftsbe-                  Dublinverfahren durchführen. Voraussetzung ist
reich des Bundesinnenministeriums. Es ist so-                  gem. § 3 der deutschen Asylzuständigkeitsbe-
wohl für die Durchführung der Asylverfahren als                stimmungsverordnung (AsylZBV), dass die be-
auch der Dublinverfahren zuständig.                            troffene Person im grenznahen Bereich aufge-
                                                               griffen wurde und ein an Deutschland angren-
Die Zentrale des Bundesamtes befindet sich in
                                                               zender MS für zuständig gehalten wird.
Nürnberg, darüber hinaus gibt es 22 Außenstel-
len, mindestens eine in jedem der 16 Bundes-                   Das Bundesamt setzt z.Zt. auch eigene Mitarbei-
länder.7 In den Außenstellen werden die Asyl-                  ter - sog. Liaisonbeamte - in den Niederlanden,
verfahren durchgeführt, also die Antragsteller                 Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Ita-
zu ihren Asylgründen befragt und die materiel-                 lien, Polen und Ungarn ein. In der Zentrale des
len Entscheidungen über die Asylanträge getrof-                Bundesamtes arbeitet zur Zeit Liaisonpersonal
fen. Die Dublinverfahren werden dagegen zent-                  aus den Niederlanden, Belgien und Großbritan-
ral in zwei gesonderten Referaten durchgeführt,                nien. Das Liaisonpersonal des Bundesamtes in
eines befindet sich in Nürnberg in der Zentrale,               anderen MS hat die Aufgabe, in Dublinverfahren
das andere in Dortmund.                                        beratend und vermittelnd tätig zu sein, über
                                                               wichtige Entwicklungen bzgl. Asyl, Migration
Das größere der beiden, das Referat 431 in
                                                               und Integration zu informieren sowie Herkunfts-
Dortmund, ist für Dublinverfahren der Asylsu-
                                                               länderinformationen und Rechtsprechung aus-
chenden zuständig, die in Deutschland bereits
                                                               zutauschen.8
einen Asylantrag gestellt haben. Das Referat
430 in Nürnberg ist für sog. Aufgriffsfälle zu-                Die deutschen Dublinreferate sind personell gut
ständig, d.h. für Personen, die in Deutschland                 ausgestattet, es sind etwa 40 Personen dort
(noch) keinen Asylantrag gestellt haben. Wei-                  beschäftigt. Angaben über Personal- und sonsti-
terhin werden Dublinverfahren von „besonderer                  ge Kosten teilte die Bundesregierung auch auf
Bedeutung“ im Referat 430 durchgeführt.                        Anfrage nicht mit.9
                                                               8
7                                                                Siehe www.bamf.de/DE/DasBAMF/Aufgaben/Europa
  Das Organigramm des BAMF ist abrufbar unter                  Zusammenarbeit/Liasonpersonal/liasonpersonal-
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads             node.html.
/Infothek/Sonstige/organigramm.pdf?__blob=publicationF         9
                                                                 Die Kosten des Dublin-Systems würden nicht analysiert,
ile.                                                           hieß es in der Mitteilung der Bundesregierung. Bundes-
                                                               tags-Drucksache 17/2655 vom 26. 07.2010, dort S. 6,
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

2.2.2. Einleitung der Verfahren mit und ohne                   und zum Fluchtweg statt. Einige Asylsuchende
Asylantragstellung in Deutschland                              werden bis zu ihrer Dublinabschiebung kein
                                                               einziges Mal vom Bundesamt angehört – Perso-
Wird eine Person, die kein Asylersuchen äußert,
                                                               nen, die keinen Asylantrag stellen und dennoch
an einer deutschen Grenze oder im Bundesge-
                                                               im Dublinverfahren sind, werden ohnehin allen-
biet von der Polizei aufgegriffenen oder meldet
                                                               falls von der Polizei zu ihrem Fluchtweg befragt.
sie sich bei der Polizei bzw. Ausländerbehörde
und verfügt nicht über den erforderlichen Auf-                 Dublinverfahren werden sehr häufig allein auf-
enthaltstitel, wird sie erkennungsdienstlich be-               grund von Eurodac-Treffern oder Erkenntnissen
handelt. Es wird sofort ein Eurodac-Abgleich                   zum Reiseweg eingeleitet. Informationen, die
vorgenommen, und in der Regel wird die Person                  für die Prüfung der vorrangig anzuwendenden
auch zu ihrem Reiseweg befragt.                                Kriterien relevant sind, liegen den Sachbearbei-
                                                               tern im Dublinreferat häufig (noch) nicht vor,
Wenn die Person von der Bundespolizei im
                                                               wenn sie das Verfahren einleiten, siehe dazu
“grenznahen Raum” aufgegriffen wurde, also
                                                               Abschnitt 3.1.2.
gerade eine europäische Binnengrenze über-
schritten hat, versucht die Bundespolizei, sie                 2.2.3. Ablauf der Verfahren
direkt in den europäischen Staat, aus dem sie
eingereist ist, zurückzuschieben.10 Ist dies nicht             Fall 1 – Dublinverfahren nach Asylantragstel-
möglich, wird bei einem Eurodac-Treffer der                    lung in Deutschland
Kategorie 1, also wenn in einem anderen MS
bereits ein Asylantrag gestellt wurde, ein Dub-                Hat eine Person einen Asylantrag gestellt und
linverfahren begonnen. Die betroffene Person                   den Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutsch-
wird darüber in der Regel nicht informiert, siehe              land beantragt, prüft der zuständige Sachbear-
Abschnitt 3.1.1.                                               beiter im Dublinreferat den Fall und fertigt ein
                                                               Votum für oder gegen den Selbsteintritt. Dieses
Auch bei einer Asylantragstellung in Deutsch-                  Votum muss der Referatsleitung vorgelegt wer-
land werden die Fingerabdruck-Daten sofort an                  den. Nur wenn die Leitung zustimmt, wird der
Eurodac weitergeleitet. Ergeben sich aus diesem                Selbsteintritt ausgeübt. Wird kein Selbsteintritt
Treffer – gleich welcher Kategorie – oder aus                  ausgeübt, fordert der Sachbearbeiter die örtlich
anderen Umständen Anhaltspunkte für die Zu-                    zuständige Ausländerbehörde auf, die Abschie-
ständigkeit eines anderen MS, wird ebenfalls ein               bung vorzubereiten und zu vollziehen. Die Aus-
Dublinverfahren eingeleitet.                                   länderbehörde bucht also den Flug, lässt den
                                                               Betroffenen festnehmen und sorgt für den
Das Dublinverfahren ist für den Betroffenen                    Transport zum Flughafen. Sie zieht dafür wiede-
zeitlich nicht klar vom Asylverfahren getrennt.                rum Bundes- oder Landespolizei hinzu.
Die meisten Asylsuchenden werden nicht dar-
über informiert, dass die Zuständigkeit Deutsch-               Ausländerbehörden unterstehen den Innenmi-
lands für ihren Asylantrag geprüft wird. Ergibt                nisterien der Bundesländer, sie sind bei den
sich eine Zuständigkeit eines anderen MS, wer-                 Stadt-, Landkreis- oder Bezirksverwaltungen
den sie auch darüber nicht informiert, sondern                 angesiedelt. An Dublinabschiebungen sind also
in aller Regel unangekündigt abgeschoben.                      eine Bundesbehörde und zwei Landesbehörden
                                                               beteiligt. Da die Landesregierungen ihren Aus-
In einigen Außenstellen des Bundesamtes wird                   länderbehörden auch zum Vorgehen bei Dublin-
die Anhörung zur Person, dem Fluchtweg und                     abschiebungen Vorschriften machen können –
den Fluchtgründen vor oder während eines                       z.B. dass diese im Voraus angekündigt werden
Dublinverfahrens durchgeführt, in anderen Au-                  müssen oder dass inlandsbezogene Abschie-
ßenstellen findet sie erst statt, wenn die Zu-                 bungsverbote auch von der Ausländerbehörde
ständigkeit Deutschlands geklärt ist, und es fin-              geprüft werden müssen -, kann es zu Abwei-
det zuvor allenfalls eine Anhörung zur Person                  chungen im Verfahrensablauf je nach Bundes-
                                                               land kommen, vgl. dazu Abschnitt 3.1.4.
abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/
026/ 1702655.pdf.
10
   Zu den Schwierigkeiten, in dieser Situation Asyl zu bean-
tragen, siehe Abschnitt 3.6.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Fall 2 – Dublinverfahren ohne Asylantragstel-       wenn es im späteren Verfahrensverlauf zur Be-
lung in Deutschland                                 scheidbekanntgabe kommt - in eine Anfech-
                                                    tungs- bzw. Verpflichtungsklage umgestellt
Für den Fall, dass eine Person vor ihrer Abschie-   werden.
bung noch keinen Asylantrag in Deutschland
gestellt hat, ist die Behördenzuständigkeit an-     Einige Gerichte halten die Zustellung der Ab-
ders geregelt. Auch dann wird nach der Mel-         schiebungsanordnung erst am Morgen der Ab-
dung eines Eurodac-Treffers ein Dublinverfah-       schiebung auch für rechtswidrig und verpflich-
ren durch das Bundesamt durchgeführt. Aber in       ten das Bundesamt auf Antrag im Eilverfahren
diesen Fällen trifft nicht das Bundesamt, son-      dazu, den Dublinbescheid dem Betroffenen
dern die örtlich zuständige Ausländerbehörde        einige Tage oder ein bis zwei Wochen vor der
die Entscheidung über die Ab- bzw. Zurück-          geplanten Abschiebung zuzustellen.
schiebung und vollstreckt sie auch. Das Bundes-
amt ist in diesem Fällen also nur logistisch un-    Nach der Ablehnung eines Eilantrages durch das
terstützend tätig. Bei Personen, die in der Nähe    Verwaltungsgericht kann eine Beschwerde beim
– d.h. maximal 30 km entfernt – von der deut-       Bundesverfassungsgericht erhoben werden.11
schen Grenze oder an einem Flughafen ange-          Auch das Bundesverfassungsgericht kann eine
troffen werden und die keinen Asylantrag stel-      Abschiebung im Eilverfahren durch eine einst-
len, kann die Bundespolizei (früher: Bundes-        weilige Anordnung stoppen. Bisher ist dies nur
grenzschutz) die Aufgaben der Ausländerbehör-       in Verfahren bzgl. Griechenlands geschehen,
de wahrnehmen.                                      Verfassungsbeschwerden und Anträge auf eine
                                                    einstweilige Anordnung wurden bzgl. Abschie-
2.2.4. Klageverfahren                               bungen in andere Dublinstaaten bislang abge-
                                                    lehnt.
Gegen einen Dublinbescheid kann – wie gegen
jeden anderen negativen Bescheid im Asylver-        Auch in der Hauptsache treffen die Gerichte
fahren - Klage beim lokalen Verwaltungsgericht      sehr unterschiedliche Entscheidungen. In eini-
erhoben werden. Die Klage hat allerdings keine      gen Fällen wird lediglich der Dublinbescheid
aufschiebende Wirkung und Eilanträge auf auf-       aufgehoben und das Bundesamt verpflichtet,
schiebende Wirkung werden vom Gesetz gem. §         die Zuständigkeit erneut zu prüfen. In anderen
34a Abs. 2 AsylVfG für unzulässig erklärt. In der   Fällen wird das Bundesamt vom Gericht ver-
Praxis gewähren viele Verwaltungsgerichte in-       pflichtet, den Selbsteintritt vorzunehmen und
zwischen allerdings wegen verfassungs- und          das Asylverfahren durchzuführen.12
europarechtlicher Bedenken auch in Dublinver-
fahren Eilrechtsschutz, vgl. Abschnitt 3.5.1.       Einige Gerichte entscheiden auch gleich über
                                                    den Asylantrag des Klägers.
Da Dublinbescheide in aller Regel erst am Tag
der Abschiebung zugestellt werden, müssen           11
                                                       Das BVerfG hat diese Kompetenz, weil es „Hüter der
Rechtsanwälte häufig - trotz des gesetzlichen
                                                    deutschen Verfassung“ und damit der Grundrechte ist und
Eilrechtsschutzausschlusses in § 34a Abs. 2         deswegen bei jedem Behördenhandeln, das Grundrechte
AsylVfG - entweder bereits vor der Bescheidbe-      betrifft, intervenieren darf.
                                                    12
kanntgabe einstweiligen Rechtsschutz beantra-          Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main verhandelte
gen oder aber sofort nach dessen Bekanntgabe        im Juli 2009 über die Klage des Iraners P. gegen seine
                                                    Abschiebung nach Griechenland. Den Antrag auf aufschie-
gegen den Bescheid Klage erheben und gleich-        bende Wirkung der Klage hatte es zuvor abgelehnt und P.
zeitig die aufschiebende Wirkung der Klage be-      war im Januar 2008 nach Griechenland abgeschoben wor-
antragen. Erfährt ein Betroffener oder Rechts-      den. Die Anwältin und die NGO Pro Asyl hielten Kontakt zu
anwalt bereits vor dem Tag der Abschiebung          ihm und dokumentierten seine Situation in Griechenland.
                                                    Für die mündliche Verhandlung durfte P. nach Deutschland
von den Abschiebeplanungen und will er nicht
                                                    zurückkehren. Das Gericht stellte fest, dass sich mittlerwei-
nur einen Eilantrag stellen, sondern auch schon     le die Sachlage geändert habe und eine Abschiebung den
eine Klage erheben, steht er vor dem Problem,       Kläger in seinen Rechten verletzen würde. Es verpflichtete
dass es noch gar keine Behördenentscheidung         in seinem Urteil das BAMF zum Selbsteintritt. Das Urteil
gibt, die bekanntgegeben wäre und gegen die         (Az. 7 K 4376/07.F.A ) ist abrufbar unter
                                                    http://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/dokumente/
man klagen könnte. Oftmals erheben Anwälte          15906.pdf.
daher sogenannte Unterlassungsklagen, die -
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Im Vergleich mit anderen Mitgliedsstaaten fällt    2.2.5. Petitionsverfahren
auf, dass es nur sehr wenige Hauptsacheent-
scheidungen in Dublinverfahren gibt, die Ver-      Ist eine Person mit der - u.U. zwischenzeitlich
fahren dauern viele Monate bis mehrere Jahre.      sogar gerichtlich bestätigten - Entscheidung des
In diesem langen Zeitraum ergeben sich häufig      Bundesamtes oder der Ausländerbehörde nicht
Umstände, auf Grund derer sich das Klagebe-        einverstanden, kann sie sich mit einer Petition
gehren dann erledigt.                              an den Deutschen Bundestag oder an den Land-
                                                   tag des entsprechenden Bundeslandes wenden.
Entscheidet das erstinstanzliche Gericht in der
Hauptsache negativ, kann der Betroffene beim       Der sog. Petitionsausschuss, bestehend aus
Oberverwaltungsgericht einen Antrag auf Zulas-     Abgeordneten des Parlaments, kann der Regie-
sung der Berufung stellen. Ebenso kann das         rung empfehlen, eine andere Entscheidung zu
Bundesamt im Fall einer positiven Hauptsache-      treffen, also das Bundesamt zu verpflichten, den
entscheidung – wenn also das Bundesamt zum         Selbsteintritt auszuüben bzw. die Ausländerbe-
Selbsteintritt (oder zur Neubescheidung) ver-      hörde zu verpflichten, von einer Abschiebung
pflichtet wurde oder das Gericht sogar über den    abzusehen. So hat zum Beispiel der Deutsche
Asylantrag entschieden hat – diesen Weg wäh-       Bundestag im Jahr 2011 dem Bundesinnenmi-
len. Das war bei jedem der (wenigen) positiven     nisterium einstimmig (!) empfohlen, im Verfah-
Urteile zu Abschiebungen nach Griechenland         ren einer tschetschenischen Familie von der
der Fall, so dass kein einziges Urteil, das das    Abschiebung nach Polen abzusehen und den
Bundesamt zum Selbsteintritt in einem Grie-        Selbsteintritt auszuüben.13
chenlandverfahren verpflichtete, rechtskräftig     Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass Peti-
wurde.                                             tionen zwar recht häufig eingelegt werden, aber
                                                   da das Bundesamt ungeachtet des laufenden
Hat eine Person in Deutschland keinen Asylan-      Petitionsverfahrens nach wenigen Wochen das
trag gestellt und möchte sie sich gegen die Ent-   Verfahren weiterführt, es kaum eine Petition bis
scheidung der Ausländerbehörde, sie in einen       zur Beratung und Beschlussfassung im Petiti-
anderen Mitgliedsstaat abzuschieben, wehren,       onsausschuss bzw. im Bundestag schafft.
ist ebenfalls eine Klage beim Verwaltungsgericht
möglich. In der Praxis sind diese Verfahren al-
                                                   13
lerdings selten.                                    Einzelheiten zu diesem Verfahren können auf der Seite
                                                   www.hasbulat-will-leben.de nachgelesen werden.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

3. Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland
3.1 Information der Betroffenen und Anwendung der Kriterien durch die
Behörden
3.1.1 Das Recht auf Information                               c)

Art. 3 Abs. 4 Dublin-II-Verordnung sieht vor,                 Schließlich müsste der Betroffene darüber in-
dass der Asylsuchende schriftlich und in einer                formiert werden, welches Land sich für zustän-
ihm hinreichend bekannten Sprache über die                    dig erklärt hat bzw. dass und wann er dorthin
Anwendung dieser Verordnung, ihre Fristen und                 abgeschoben werden soll.
ihre Wirkung unterrichtet wird.14 Dies ist denk-
bar vage gehalten und die Praxis in den Mit-
gliedsstaaten zeigt, dass diese Vorschrift sehr
                                                              In der Praxis stellt die Behörde den Betroffenen
unterschiedlich ausgelegt wird.
                                                              nur einen kleinen Teil dieser Informationen
Damit ein Asylsuchender nicht nur Objekt des                  bereit und erhebt auch nur einen Teil der rele-
Behördenverfahrens ist, müsste er nach Ansicht                vanten Informationen.
der Autoren folgende Informationen erhalten:

a)
                                                              zu a)
Dass es ein durch die Dublin-II-Verordnung ge-
                                                              Asylantragsteller erhalten ein allgemein gehal-
regeltes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren
                                                              tenes Informationsblatt zur D-II-VO. Es wird
gibt und sein Asylverfahren möglicherweise
                                                              nach Erfahrung der Autoren nicht mündlich
nicht in dem Land durchgeführt wird, in dem er
                                                              übersetzt oder gar erläutert, und beispielsweise
sich befindet – respektive dass er aus diesem
                                                              in der Außenstelle des BAMF in Gießen erhalten
Land, in dem er gar keinen Asylantrag gestellt
                                                              die Asylsuchenden es häufig nicht in ihrer Mut-
hat, in ein Land abgeschoben wird, in dem er
                                                              tersprache, sondern auf Deutsch. Es erläutert
zuvor Asyl beantragt hat;
                                                              auch nicht die Zuständigkeitskriterien, sondern
b)                                                            informiert nur darüber, dass es möglich ist, dass
                                                              Deutschland in bestimmten Fällen unzuständig
Welche Informationen über seine Person vorlie-                ist. Anschließend erfolgen Hinweise (aber keine
gen und auf Grundlage welcher Angaben wel-                    Erklärungen) zu Art. 7-10 und 13. Art. 15 wird
ches Land angefragt werden soll bzw. angefragt                weder implizit noch explizit erwähnt. Personen,
wurde. Das schließt ein, dass er die Möglichkeit              die keinen Asylantrag gestellt haben und bei
hat, der Behörde die für die Zuständigkeitsbe-                denen dennoch ein Dublinverfahren eingeleitet
stimmung relevanten Angaben zu machen. Dazu                   wurde, werden kaum oder überhaupt nicht
müsste er über die Kriterien der Zuständigkeits-              informiert. Dies betrifft unter anderem unbe-
bestimmung und die länder- bzw. personenspe-                  gleitete Minderjährige, also Personen, die be-
zifischen Ausnahmen 15 informiert und entspre-                sonders schutzbedürftig sind.
chend befragt werden. Dies wiederum setzt
voraus, dass ein Behördenmitarbeiter, der mit                 Immerhin knapp ein Drittel der Akten, bei de-
den Kriterien der D-II-VO und den Vorschriften                nen eines der beiden Dublinreferate im Jahr
zum Selbsteintritt vertraut ist, den Betroffenen              2011 die Zuständigkeit eines anderen MS prüf-
belehrt und ein „Dublin-Interview“ durchführt;                te, waren für Personen angelegt worden, die in
                                                              Deutschland keinen Asylantrag gestellt hatten.16
14
   Auch Art. 18 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung sieht eine
Unterrichtung der Person vor, deren Fingerabdrücke abge-
                                                              16
nommen werden.                                                  Siehe Tabelle 1 im Anhang: Insgesamt wurde in 15913
15
   Z.B. über die Selbsteintrittspraxis gegenüber Malta oder   Fällen von einem der Dublinreferate die Zuständigkeit
die Möglichkeit, drohende unmenschliche Behandlung im         eines anderen Staates geprüft, in 4223 Fällen hatte die
Zielstaat als Grund für einen Selbsteintritt geltend zu ma-   betroffene Person (noch) keinen Asylantrag in Deutschland
chen.                                                         gestellt.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Auch die Belehrung über die Abfrage bei Euro-             durch den Vormund oder eine andere Person
dac erhalten nicht alle Personen. Die Autoren             die Entscheidung zu treffen, ob ein Asylantrag
befragten über 50 unbegleitete Minderjährige              gestellt wird, siehe Abschnitt 3.4.2.), werden
im Bundesland Hessen, die vor ihrer Asylantrag-           nach Erfahrung der Autoren nur in Einzelfällen
stellung auf Polizeidienststellen Fingerabdrücke          über die Einleitung ihres Dublinverfahrens in
abgegeben hatten. Keiner von ihnen berichtete,            Kenntnis gesetzt.
dort eine Belehrung bzgl. Eurodac oder Dublin-II
erhalten zu haben, weder in mündlicher noch in            Personen, die noch von der Bundespolizei an
schriftlicher Form. Vom zuständigen Innenmi-              der Grenze zurückgeschoben werden bzw. so-
nisterium war trotz mehrerer Nachfragen bis               fort inhaftiert und dann aus der Haft heraus
Redaktionsschluss keine Stellungnahme dazu zu             zurückgeschoben werden, erhalten immerhin
erhalten.                                                 vorab eine Zurückschiebungsverfügung, aus der
                                                          sich ergibt, dass sie in ein anderes (wenn auch
Die Bundesregierung teilte dem Bundestag im               nicht immer, in welches) Land zurückgeschoben
Juli 2010 mit, die von Dublinverfahren Betroffe-          werden sollen, so dass sie – sofern der Zugang
nen würden „bereits frühzeitig über die Einlei-           zu einem Rechtsanwalt technisch möglich ist –
tung eines Ersuchens um Übernahme an einen                dagegen vorgehen können bzw. zumindest in
Mitgliedsstaat und damit über eine mögliche               etwa wissen, was mit ihnen geschehen soll.
Überstellung dorthin informiert.“17. Nach der
Erfahrung der Autoren ist die Information der             zu b)
Betroffenen allerdings mangelhaft und eine
                                                          Auf der Basis welcher Informationen ihr Dublin-
große Zahl von Asylsuchenden erfährt vor ihrer
                                                          verfahren durchgeführt wird, ist den Betroffe-
Abschiebung nichts über die Einleitung und das
                                                          nen in aller Regel unklar. Sie können nicht si-
Ergebnis ihres Dublinverfahrens.
                                                          cherstellen, ob alle Informationen, die sie ge-
Asylantragsteller können in der Praxis prinzipiell        genüber deutschen Behörden gemacht haben,
auf zwei Wegen Kenntnis von einem möglichen               in dem Verfahren berücksichtigt werden.
Übernahmeersuchen erhalten. Wenn sie vom
                                                          So sind beispielsweise nicht alle Protokolle der
Bundesamt angehört werden, kann der Sachbe-
                                                          Vernehmungen bzw. Anhörungen den Mitarbei-
arbeiter ihnen ggf. im Anschluss an die Anhö-
                                                          tern des Dublinreferates bekannt. Protokolle
rung mitteilen, dass zunächst die Zuständigkeit
                                                          der Bundespolizei finden sich häufig nicht in der
Deutschlands für den Asylantrag geprüft wird.
                                                          Bundesamtsakte, Anhörungsprotokolle vom
Dies geschieht nach Erfahrung der Autoren nicht
                                                          Bundesamt werden manchmal erst mit Mona-
in allen Anhörungen und es werden auch nicht
                                                          ten Verspätung verschriftlicht.18
alle von einem Dublinverfahren Betroffenen
angehört. Seit Herbst 2010 schickt das Dublinre-          Damit ein Betroffener dem Dublinreferat alle
ferat in Dortmund an einen Teil der Asylantrag-           relevanten Angaben machen kann, müsste er
steller ein Schreiben in deutscher Sprache, das           über das Verfahren einschließlich der Zustän-
lediglich besagt, ihr Asylantrag werde im Referat         digkeitskriterien und ihre Reihenfolge informiert
431 behandelt – ein Schreiben, dass den aller-            und entsprechend angehört werden. Beides,
meisten völlig unverständlich sein muss. Beides           sowohl das Recht auf Information sowie das
kann kaum als ausreichende Information i.S.d.             Recht auf ein Interview, ist durch das derzeit in
Art. 3 Abs. 4 D-II-VO betrachtet werden.                  Deutschland angewandte Verfahren nicht si-
                                                          chergestellt bzw. strukturell ausgeschlossen. (Zu
Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten
                                                          den Anhörungen und den Folgen dieser Praxis
und zunächst keinen Asylantrag stellen, wie z.B.
                                                          für die korrekte Zuständigkeitsbestimmung vgl.
unbegleitete Minderjährige (bei denen in eini-
                                                          Abschnitt 3.1.2.)
gen Bundesländern die Chance besteht, erst
nach einer gründlichen Prüfung der Asylgründe
                                                          18
                                                            Das Dublinreferat in Nürnberg kann überhaupt nicht auf
17
  Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische   Anhörungsprotokolle zurückgreifen – aus dem einfachen
Anfrage, Bundestags-Drucksache Nr. 17/2655 vom            Grund, dass die Personen, deren Verfahren dort durchge-
26.7.2010, abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/      führt werden, mangels Asylantrag nicht vom Bundesamt
dip21/ btd/17/026/1702655.pdf.                            angehört werden.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

zu c)                                                        habe.21 In einigen Regionen werden Abschie-
                                                             bungen einem Teil der Betroffenen vorab form-
Das deutsche Asylverfahrensgesetz sieht vor,                 los angekündigt, unabhängig vom Zielstaat der
dass Dublin-Bescheide in der Regel erst am Tag               Abschiebung oder einer möglichen besonderen
der Abschiebung durch die Polizei zugestellt                 Schutzbedürftigkeit. Ob ein Betroffener infor-
werden.19 Die Bundesregierung rückt davon                    miert wird, ist für ihn jedoch nicht voraussehbar
auch nach den jüngsten Entscheidungen des                    und letztlich dem Zufall überlassen.
EGMR und des EuGH nicht ab. Den Ausländer-
behörden als Landesbehörden ist es allerdings                Unbegleiteten Minderjährigen und ihren Vor-
möglich, individuell oder auch generell Beschei-             mündern wird laut Auskunft der Bundesregie-
de frühzeitig zuzustellen oder die Betroffenen in            rung vom 18.4.2011 der ablehnende Bescheid
anderer Weise zu informieren.                                zugestellt bzw. sie werden, wenn in Deutsch-
                                                             land kein Asylantrag gestellt wurde, über die
Am 19.4.2012 wies die Landesregierung von                    bevorstehende Abschiebung informiert.22 Doch
Schleswig-Holstein die dortigen Ausländerbe-                 den Autoren sind diverse Verfahren bekannt, in
hörden an, den Asylsuchenden den ablehnen-                   denen diese Zustellung nicht erfolgte und das
den Dublin-Bescheid vor der Abschiebung zuzu-                Bundesamt aus diesem Versäumnis keinerlei
stellen. Eine Frist zwischen Bescheidzustellung              Konsequenzen im Sinne einer „Folgenbeseiti-
und Abschiebung wurde nicht genannt, jedoch                  gung“ zog. Der genaue Abschiebungstermin
müssen die Bescheide sofort zugestellt werden,               muss auch Minderjährigen nicht mitgeteilt wer-
wenn das Dublinreferat des BAMF sie der Aus-                 den.
länderbehörde übersendet. Begründet wurde
dies damit, dass immer mehr Gerichte Eilrechts-              Der 17jährige Khalib flüchtet im Dezember 2010
schutz gegen Dublin-Abschiebungen gewährten,                 nach Deutschland. Das Jugendamt nimmt ihn in
dies aber nicht möglich sei, wenn der Bescheid               Obhut und bringt ihn in einem Kinderheim unter.
erst am Tag der Abschiebung zugestellt werde.                Das Familiengericht bestellt einen Vormund und
Einige Monate später erließen die Landesregie-               einen Rechtsanwalt für ihn. Khalib berichtet
rungen von Rheinland-Pfalz (3.7.), Brandenburg               beiden, dass er zuvor in den Niederlanden Asyl
(12.7.) und Nordrhein-Westfalen (26.7.) ähnli-               beantragt habe, dort aber aus gravierenden
che Regelungen, die aber darüber hinaus konk-                Gründen nicht habe bleiben können. Der
ret forderten, dass mindestens eine Woche                    Rechtsanwalt nimmt Kontakt mit dem Dublinre-
zwischen Bescheidzustellung und geplanter                    ferat auf. Der Sachbearbeiter sichert ihm schrift-
Abschiebung liegen müsse.20 Bei Redaktions-                  lich zu, dass er, falls eine Abschiebung geplant
schluss dieses Berichts (Dezember 2012) sind                 werde, mindestens eine Woche vorher benach-
diese vier Bundesländer damit die einzigen, die              richtigt werde. Auch der Vormund werde zu
Konsequenzen aus der nationalen und europäi-                 diesem Zeitpunkt eine Mitteilung erhalten.
schen Rechtsprechung zum Eilrechtsschutz ge-
zogen haben. Zeitweise gab es auch zuvor be-
reits auf Länder- oder Bezirksebene einzelne
                                                             21
Regelungen, dass bei bestimmten Zielstaaten                     Ein entsprechender Erlass vom Februar 2010 aus
(Griechenland bzw. Italien) oder bestimmten                  Schleswig-Holstein, Abschiebungen nach Griechenland
                                                             betreffend, ist abrufbar unter
Gruppen (z.B. Familien mit Kindern) vorab eine               http://www.frsh.de/fileadmin/pdf/behoerden/Erlass_01-
Information über die Abschiebung zu erfolgen                 02-2010_Rueckfuehrungen-Griechenland.PDF. Im Jahr
                                                             2011 kündigte beispielsweise eine hessische Ausländerbe-
                                                             hörde Abschiebungen nach Italien den Betroffenen eine
19
   Dublin-Bescheide werden also, anders als dies in ande-    Woche im Voraus schriftlich an, wenn auch ohne den
ren Bereichen des Verwaltungsrechts üblich ist, nicht von    Bescheid zuzustellen. Diese Praxis wurde allerdings nach
der Behörde zugestellt, die sie erlässt, sondern von der     einigen Monaten eingestellt, so dass dort nun wieder
Ausländerbehörde bzw. Polizei, die die Abschiebung voll-     unangekündigte Abschiebungen stattfinden.
                                                             22
streckt. Da diese Behörden den jeweiligen Landesregierun-       Bundestags-Drucksache 17/5579 vom 18.4.2011, abruf-
gen unterstellt sind, kommt es zu einer bundesweit mitt-     bar unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/
lerweile sehr unterschiedlichen Praxis der Bescheidzustel-   btd/17/055/1705579.pdf, dort S. 6. Dies ist lediglich eine
lung.                                                        laut Auskunft der Bundesregierung geübte Praxis, es be-
20
   Der rheinland-pfälzische Erlass ist abrufbar unter        steht nach wie vor keine bundesweite gesetzliche Ver-
http://wp.asyl-rlp.org/wp-content/uploads/2011/05/12-        pflichtung, Dublin-Bescheide vor dem Tag der Abschiebung
07-03_DublinIIVO.pdf.                                        zuzustellen.
Zehn Jahre Dublin – Kein Grund zum Feiern

Dennoch wird Khalib im Juli 2011 ohne jede An-       Am 6.Dezember wird Kidane T. früh morgens
kündigung mitten in der Nacht im Kinderheim          aus der Unterkunft in Oberursel im hessischen
verhaftet, auf der Polizeistation mehrere Stun-      Hochtaunuskreis abgeholt und direkt zum Flug-
den an eine Heizung gefesselt und am nächsten        hafen gebracht.“23
Morgen mit dem Flugzeug in die Niederlande
abgeschoben. Weder Bundesamt noch Auslän-            Vertreter des Dublinreferates betonten in der
derbehörde sind bereit, diese Abschiebung zu         Vergangenheit mehrfach, die Betroffenen selbst
stoppen, obwohl sie entgegen der schriftlichen       wüssten stets sehr gut, dass ihnen die Abschie-
Zusicherung ohne jede Ankündigung erfolgt.           bung in einen anderen Staat drohe. Davon ab-
                                                     gesehen, dass die Kenntnis der Zuständigkeits-
Das Bundesamt ist zwar dazu verpflichtet, Asyl-      regeln der D-II-VO nicht pauschal allen Asylsu-
suchenden bzw. ihren Bevollmächtigten Akten-         chenden unterstellt werden kann, ersetzt eine
einsicht zu gewähren. In der Praxis dauert es        solche pauschale Vermutung nicht die Erfüllung
allerdings häufig mehrere Wochen, manchmal           der Informationspflicht aus Art. 3 Abs. 4 D-II-VO.
Monate, bis Akteneinsichtsersuchen beantwor-
tet werden. Auch sind die Akten nicht immer
vollständig, es fehlen beispielsweise die Anga-
                                                     3.1.2 Probleme bei der korrekten Anwendung
ben zu den Eurodac-Treffern oder die Mitteilung
                                                     der Kriterien
an den zuständigen MS, dass der Betroffene
untergetaucht und deshalb die Frist zu verlän-       a) Problem, dass der Sachverhalt nicht richtig
gern sei. Auch das Einschalten eines Rechtsan-       bzw. erschöpfend ermittelt wird:
walts, der regelmäßig Akteneinsicht beantragt,
schützt also nicht unbedingt vor einer unange-       Weder im Aufenthaltsgesetz noch im Asylver-
kündigten Abschiebung.                               fahrensgesetz ist geregelt, wie Personen im
                                                     Dublinverfahren zu befragen sind. Ein „Dublin-
Die NGO Pro Asyl dokumentierte im Dezember           Interview“ ist nirgends explizit vorgesehen, des-
2011 folgenden Fall:                                 halb können nur die Informationen, die im
                                                     Rahmen der Anhörung im Asylverfahren ohne-
„Der Eritreer Kidane T. flüchtet im Dezember         hin erhoben werden, für das Dublinverfahren
2010 von Italien nach Deutschland. Hier stellt im    verwendet werden. Allerdings sieht die interne
Juli 2011 seine Anwältin einen Eilantrag gegen       Dienstanweisung des BAMF vor, dass in be-
die drohende Abschiebung nach Italien vor dem        stimmten Konstellationen auf eine Anhörung
Verwaltungsgericht in Frankfurt. Das Bundes-         verzichtet werden kann.24
amt für Migration und Flüchtlinge reagiert
schnell: eine Abschiebung nach Italien sei nicht     Um die Kriterien der D-II-VO richtig anwenden
möglich, da Italien die Übernahme von Kidane T.      zu können, müsste das Bundesamt eigentlich
abgelehnt habe. Daraufhin lehnt das Gericht
den Eilantrag ab, denn eine Abschiebung sei ja
                                                     23
aktuell nicht geplant. Ab diesem Zeitpunkt ist es       Auszug aus der Dokumentation von Pro Asyl, abrufbar
nun plötzlich nicht mehr möglich, Akteneinsicht      unter http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-
                                                     dam/NEWS/2011/Kidane_Ts_Odysee_durch_Europa.pdf.
zu bekommen. Auf mehrere Anschreiben der             24
                                                        Siehe Seite 96 der Dienstanweisung, die von Pro Asyl
Anwältin reagiert das BAMF schlicht nicht. Das       veröffentlicht wurde, abrufbar unter
bedeutet allerdings nicht, dass nichts geschieht:    http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-
Inzwischen hat das BAMF Italien erneut ange-         dam/i_Asylrecht/Dienstanweisungen-Asyl_BAMF2010.pdf.
fragt. Und Italien stimmt schließlich doch der       Gerade was die Anhörungspraxis im Dublinverfahren be-
                                                     trifft, wird die Dienstanweisung allerdings in den verschie-
Übernahme von Kidane T. zu. Ohne Kidane T.           denen Außenstellen des Bundesamtes recht unterschied-
oder seine Anwältin vorab zu informieren wer-        lich umgesetzt. Einheitlich ist lediglich, dass die Anhörun-
den nun Nägel mit Köpfen gemacht. Rechtsmit-         gen in Anwesenheit eines Dolmetschers stattfinden, dass
tel einzulegen ist nicht möglich, es gibt ja keine   das Gesagte protokolliert wird, dass eine mündliche Rück-
                                                     übersetzung des Protokolls zumindest angeboten wird und
Information über eine nun doch bevorstehende         dass das Protokoll i.d.R. nach einigen Wochen schriftlich
Abschiebung nach Italien. Rechtsschutzmöglich-       übersandt wird. Ein Teil der Anhörungen findet mittlerwei-
keiten werden so gezielt hintertrieben.              le per Videokonferenz statt, so dass sich der Interviewer
                                                     und/oder der Dolmetscher nicht im gleichen Raum befin-
                                                     den wie der Befragte.
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