ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41

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ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender
        NO 4 April 2015 CHF 8.– www.null41.ch

ZUHAUSE IM TRANSITLAND
ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
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                                                                                                                                          Wir feiern
                                                                                                                                           500 000
                                                                                                                                          Besucher!
                                                                                                                                                         !
                                                                                                                                          Feiern Sie mit

                                                                                               EINSTEINMUSEUM
                                                                                                IM BERNISCHEN HISTORISCHEN MUSEUM

                                                                                                Einstein-Woche vom 11. bis 19. April 2015
                                                                                                k Gratiseintritt
                                                                                                k gratis Audioguide in 9 Sprachen (solange vorrätig)
                                                                                                k erstmalige Ausstellung persönlicher Einstein-Briefe

                                                                                                Einstein Museum im Bernischen Historischen Museum
                                                                                                Helvetiaplatz 5, 3005 Bern, www.einsteinmuseum.ch

                                                                                  BHM_Einstein-Woche_Inserate_6 Sorten.indd 4                                06.03.15 12:59

                                                                                                                    mit

                                                                                        Sonntag

                                                                                       17. MAI 2015                       11:00 Uhr Konzertsaal KKL Luzern

                                                                                        BALLETT
             MAX GUBLER                                                                 IM
             EIN LEBENSWERK
             13.03. – 02.08.2015
                                                                                        KONZERT                                      Werke von B. Smetana
                                                                                                                                      A. Ponchielli E. Grieg
                                                                                                                                     Ch. Gounod M. Ravel
                                                                                                                                           ABBA J. Kander

                                                                                        Leitung
                                HODLERSTRASSE 8 – 12
                                                                                        DAN COVACI-BABST
                                CH -3000 BERN 7
                                WWW.KUNSTMUSEUMBERN.CH
                                DI 10H – 21H MI – SO 10H – 17H                          Vorverkauf ab 6. April 2015
                                                                                        KKL Luzern T 041 226 77 77 www.kkl-luzern.ch

150305_Ins_Kulturpool_041_Gubler_96X126mm.indd 1                 05.03.2015 14:03:22
ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
EDITORIAL

                                     AB NACH URI

So sicher, wie man im Zug nach                                                    mehr, seit die Autos auf der Autobahn
Airolo dreimal den Kirchturm von                                                  vorbeibrausen. Eine mindestens so
Wassen zu sehen bekommt, so sicher                                                spannende Tankstelle auf dem Weg
werden auch diese Ostern die Auto-                                                von Erstfeld Richtung Gotthard ist
reisenden vor dem Gotthardtunnel                                                  allerdings noch geöffnet. Das gesellige
im Stau stehen. Für ein verlänger-                                                Ehepaar Stern betreibt sie seit 40 Jah-
tes Wochenende in Mailand oder                                                    ren und hat die Verkehrsgeschichte
Rom werden sie zu Tausenden die                                                   des Gotthards hautnah miterlebt.
schnellste Nord-Süd-Achse Europas                                                 Wir haben gestoppt und zugehört.
passieren. Und die soll künftig ja                                                (Seite 8)
noch schneller werden: Die Vorberei-                                              Ebenfalls eine berühmte Verkehrs-
tungen zum Eröffnungsanlass des Basistunnels 2016              achse von Uri ist die Klausenpassstrasse. Die Bilder der
laufen bereits, und auch über eine zweite Autoröhre            Urner Fotografendynastie Aschwanden dokumentieren
wird nächstes Jahr abgestimmt.                                 eindrücklich ihre Entstehung und Geschichte. Diese
Die schnellsten Routen sind aber selten die interessan-        wird momentan in einem interessanten Buchprojekt
testen. Wer das imposante Bergpanorama rund um                 aufgearbeitet. (Seite 14)
den Gotthard, das schon Goethe faszinierte, geniessen          Im Kanton Uri gibt es aber nicht nur berühmte Strassen
will, fährt oben drüber. So schrieb der Dichter Julius         zu entdecken. Natürlich haben wir uns auch nach
Bierbaum, einer der ersten, der den Gotthardpass mit           Kulturellem umgesehen – und sind reichlich fündig
dem Auto überquerte, 1902: «Die Fahrt ist so wunderbar         geworden. Wir wünschen viel Vergnügen mit diesem
schön, dass man durchaus nicht den Wunsch hegt, sie            Urner Heft, und gute Fahrt!
abzukürzen. – Es ist die vielleicht abwechslungsreichste
Fahrt, die wir überhaupt je gemacht haben.» Der
schönen Bergkulisse wegen kurvte auch James Bond
schon durchs Urserental und machte dabei gleich auch
eine Tankstelle in Andermatt, an der er kurz hielt,
berühmt. Die James-Bond-Tankstelle schloss vor einem
                                                                          Martina Kammermann
Jahr, denn das Geschäft mit dem Sprit lohnt sich nicht                    kammermann@kulturmagazin.ch

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ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
INHALT

8 ANGEHALTEN                                   21    HERAUSGEPICKT
                                                     Eine kleine Kunstentdeckungstour in Uri.

Zu Besuch bei einer einzigartigen Tankstelle   24    AUSGEFLOGEN
an der Gotthardstrasse.                              Der Urner Regisseur und Musiker Benno
                                                     Muhheim bespielt Bühnen in der ganzen
                                                     Schweiz.

                                               26    MINI-SHOPPING
14 ZURÜCKGESCHAUT                                    Wir stellen vor: drei Kreativ-Kioske.

Ein fotografischer Ausflug zu den Anfängen
der Klausenpassstrasse.
                                                     KOLUMNEN
                                               6     Gabor Feketes Hingeschaut
                                               7     Lechts und Rinks: Ein Hoch auf Porno-Beamte
                                               30    Gefundenes Fressen: Dicke Eier
                                               47    11 Fragen an: Corinne Wegmüller
                                               73    Kämpf / Steinemann
                                               74    Käptn Steffis Rätsel
                                               75    Das Leben, wie es ist

                                                     SERVICE
                                               31    Bau. Schöner bauen neben Samih Sawiris
                                               32    Ausstellungen. Meditativ durch Raum und Zeit
                                               35    Musik. Eine junge Pianistin, die auffällt
                                               38    Kino. Liebeserklärung an einen Film
                                               41    Wort. Der Beizen-Poet ist zurück
                                               44    Bühne. Getanzte Bilderflut
                                               72    Ausschreibungen / Namen&Notizen / Preise
                                               48    Kultursplitter. Tipps aus der ganzen
                                                     Schweiz

                                                     KULTURKALENDER
                                               49    Kinderkulturkalender
                                               50    Veranstaltungen
                                               67    Ausstellungen

                                               Titelbild: Christof Hirtler

22 DER EVERGREEN
Das Werk von Teufelsmaler Heiri Danioth
                                                                                                    Heinrich Danioth, «Selbstporträt», 1923, Dätwyler Stiftung
ist in Uri noch immer omnipräsent.             20
                                                    PROGRAMME DER KULTURHÄUSER
                                                    Kunstmuseum Luzern
                                               50   Stadtmühle Willisau
                                               52   ACT / Stattkino
                                               54   Kulturlandschaft / Kleintheater
                                               56   Neubad / Chäslager
                                               58   LSO / Luzerner Theater
28 ZUKUNFTSBLICK NR. 3                         62
                                               64
                                                    Romerohaus / HSLU Musik
                                                    Südpol

So ticken die Künstler von morgen.             66
                                               68
                                                    Kunsthalle / Museum Bellpark
                                                    Historisches Museum / Natur-Museum
                                               70   Nidwaldner Museum

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ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
SCHÖN GESAGT

                 «Als Jugendlicher in Uri hast du drei Möglichkeiten.
                         Entweder du machst Sport, Musik, sprich Metal-
                   oder Blasmusik, oder du gehst saufen.»
                                                                                                         BENNO MUHEIM, MUSIKER UND REGISSEUR (SEITE 21)

                                                         GUTEN TAG                                                                  AUFGELISTET

           GUTEN TAG, FAST-FOOD-GENERÄLE                          GUTEN TAG, LOHNTRANSPARENZ                           Furzideen und Nächstenliebe:
           Fast-Food- und Imbissstände schiessen in der Zen-      Unter dem allgegenwärtigen Spardruck rücken
           tralschweiz aus dem Boden wie Pilze, die Luzerner      momentan auch die Löhne von Staatsdienern
                                                                                                                       das bunte Vereinsleben der In-
           Gewerbepolizei verzeichnet seit 1998 eine Zunahme      in den Fokus: Nachdem Stapi Stefan Roth vom          nerschweiz.
           von 45 auf 231 Betriebe. Und es wird Jahr für Jahr     Stimmvolk nonchalant der Lohn gekürzt wurde,
           weiter aufgerüstet … Die jeweiligen Ketten und Be-     möchte auch in Kriens die SVP die Höhe der Löhne
           treiber wenden im Fast-Food-Krieg unterschiedliche     ihrer Gemeinderäte erfahren, und die städtische SP   - Apro Stiärä
           Manöver an: McDonalds Schweiz will den Feind           fordert Transparenz über die Kaderlöhne der der      - Katzenmusikgesellschaft
           bald mit Tischbedienung ausstechen, damit man          Stadt gehörenden Betriebe VBL, EWL und Luzer-          Schattdorf
           beim Anstehen nicht mehr stehen muss – Harold          ner Heime. Immer mehr Transparenz in Sachen
           Hunziker von McDonalds Schweiz: Man wolle              Lohn herrscht auch beim Gästival, das mit fast
                                                                                                                       - Nächstenliebe Altdorf
           eben, höhö, beweglich bleiben. Burger King hat         drei Millionen Franken subventioniert wird: Erst     - Tell Shooters
           eine ganz schlaue Strategie entwickelt: In Hochdorf    wurde klar, dass Künstler oder Gruppen, die für
                                                                                                                       - Düä-Bäbä Guggä Bristen
           hat man letztes Jahr eine Filiale direkt neben dem     das Tagesprogramm der Seerose gesucht wurden,
           ONE Fitness Center eröffnet, die Burger wandern        im Gegensatz zu denen im offiziellen Abendpro-       - Balanggäbäägger Guggä Seedorf
           dort gleich in die verschwitzten Münder der Mus-       gramm gar nicht bezahlt werden, sondern lediglich    - Älpler Brüsti Attinghausen
           kelprotze. Subway hingegen flankiert die Fronten       die rosafarbene Plattform gratis nutzen können.
           um den Kanton Luzern: Die Kette will in Stans          Okay. Dann las man im «Tages-Anzeiger», dass die     - St. Avgin Süryoyerfrauenverein
           eine Filiale eröffnen und sich mittelfristig auch in   unter «Jobs» gesuchten Springer, Kassenaushilfen,      und Muttergemeinschaft
           Obwalden und Uri etablieren. In der Stadt Luzern       Hosts und Hostessen mit garstfreundlichen zehn       - furzidee.ch
           geht man eher taktisch vor: Erdem hat das seit         Franken die Stunde bezahlt werden. Toller Job.
           Monaten leer stehende Lokal rechts der Tankstelle      Nur so der Transparenz wegen: Da kommt man
                                                                                                                       - Beerpong Schwyz
           beim Bundesplatz gleich selbst gemietet, damit es      bei manchem regionalen Kulturfestival ohne Acht-     - Mythengay – Schwyz und
           leer bleibt und sich der Feind dort nicht einnistet.   Millionen-Budget und mit einem weniger symbo-          Schwul
                                                                  lischen Ansatz – im doppelten Sinne – besser weg.
                                                                                                                       - Delphin-Träff-Team
           Guten Appetit, 041 – Das Kulturmagazin
                                                                  Halb-freiwillig, 041 – Das Kulturmagazin

                                                                                               Markt 2015
                                                                                               Vom 11. April – 9. Mai sind wir
                                                                                               wieder samstags auf dem
                                                                                               Helvetiaplatz, Luzern.
            Masterprogramm
            Kulturmanagement
            Studiengang 2015 - 2017, Beginn Oktober 2015

            Informationsveranstaltung                                                          Grosses Sortiment
            Dienstag, 5. Mai 2015, 18.30 bis 20 Uhr                                            einheimischer Wildblumen
            Ort: Steinengraben 22, 4051 Basel
                                                                                               und Kräuter
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            www.kulturmanagement.unibas.ch                                                     www.wildstauden.ch

                                                                                           5
ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
HINGESCHAUT

Mapplethorpe und Rodin
Letzten Sommer erlebte ich mein absolutes Highlight, was Mu-            wunderbare Park des Musée Rodin beflügelte uns aufs Neue. Und
seumsbesuche betrifft. Mit meiner Frau besuchte ich in Paris im         dann dies: Die Symbiose dieser Ausstellung stand direkt vor mir.
Musée Rodin die Ausstellung Mapplethorpe–Rodin. Es waren                Der wahrhaftige Körper eines konzentrierten Touristen-Kunst-
die ausserordentlichen Parallelen des amerikanischen Fotografen         Fotografen, nur das Glas war die künstlerische Grenze.
und des französischen Bildhauers, die mich beeindruckten. Durch
dieses magische Erlebnis brauchten unsere Köpfe frische Luft. Der       Bild und Text: Gabor Fekete

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ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
LECHTS UND RINKS

Bitte diesen Artikel während der
Arbeit lesen!
Warum die Luzerner Porno-Beamten ein Vorbild für uns alle sind.

Porno in der Kantonsverwaltung, das ist mal
ein patentes Thema. Für die Medien, für Bei-
zenrunden und Marktgespräche, und auch für
die SVP, die auf ihren Wahlplakaten dankbar
fragte: «Faule Porno-Beamte durchfüttern?»
Aber auch Politiker anderer Parteien starteten
durch, fanden den privaten Internetverkehr,
der in der Luzerner Kantonsverwaltung of-
fenbar herrscht – genau: «nicht akzeptabel»,
«unhaltbar» und so weiter, und sie forderten,
dass jetzt «durchgegriffen» wird. Eine Untersu-
chung hatte 2010 ergeben, dass 54 Prozent des
Internetgebrauchs privaten Zwecken diente,
6 Prozent sogar den Kategorien «Nacktheit»
und «Pornografie». Und während die Regie-
rung noch beschwichtigte, seit der Studie seien
die heikelsten Seiten gesperrt und die Nutzung
neu geregelt worden, kündigte sie trotzdem
eiligst eine Administrativuntersuchung an.
Das ist ja die heute übliche Führungsstärke:
Passiert ist nichts, aber das hindert uns nicht
daran, entschlossen zu handeln.

    Nichts gegen Regeln für den Internetge-       konsumiert wurde. Wer während der Arbeit                     nochmals unsere Büromails checken, für eine
brauch in der Verwaltung. Und klar mutet es       ein Internetradio laufen lässt oder wer sich                 Rückfrage oder für einen Kunden erreichbar
merkwürdig an, wenn die Luzerner Beamten          nebenher per Live-Ticker oder Live-Übertra-                  sind oder dass wir via Dropbox noch rasch
während mehr als der Hälfte der Zeit, die sie     gung über den Stand eines Skirennens oder                    ein Dokument gegenlesen, das am nächsten
im Internet verbringen, privaten Interessen       Fussballmatches auf dem Laufenden hält, ist                  Tag wichtig sein wird. Mit anderen Worten:
nachsurfen. Trotzdem ist die vorauseilende        deswegen noch lange nicht faul. Womöglich                    Wer im Büro rasch einen privaten Flug bucht
Empörung über die Zahlen auch reichlich billig.   arbeitet er sogar besser.                                    oder auf einer Onlinebörse sein altes Sofa
Hat man doch zum Beispiel noch keine Zahlen                                                                    verscherbelt, hält nur Gegenrecht. Aber das
darüber gelesen, wie viel Internet in Pausen          Die Dresche der Boulevardmedien und                      ist natürlich nicht das, was die Effizienz- und
oder nach Büroschluss konsumiert wurde.           -politiker für die Beamten ist aber auch darum               die neoliberalen Wirtschaftspolitiker wollen.
Ebenso schwer fällt die Einschätzung, wie sehr    vulgär, weil sie ein Verhalten skandalisiert,                Ihnen schweben Angestellte vor, die zwar auch
der private Internetkonsum die Angestellten       das vielleicht nicht in jedem Einzelfall, aber               nach Feierabend für den Arbeitgeber da sind,
tatsächlich vom Arbeiten abhält. Für sehr viele   insgesamt doch ziemlich normal ist. Und                      die tagsüber aber keinen einzigen Gedanken
Menschen ist es normal, ihre Facebook-Seite       zeitgemäss. Auch im Kanton Luzern leben                      verschwenden an ihre eigenen Bedürfnisse.
den ganzen Tag offen auf dem Schirm zu            wir schon lange nicht mehr in fein säuber-                   So gesehen, hat die Empörungswirtschaft der
haben – was aber logischerweise nicht heisst,     lich getrennten Arbeits- und Freizeitwelten.                 Boulevardzeitungen von Zürich bis Luzern
dass sie den ganzen Tag nichts anderes tun,       Gerade neue Technologien wie Internet                        halt doch ihre einfältige und devote Logik.
als Däumchen anzuklicken. Gleich verhält          und Smartphones haben wesentlich dazu
es sich mit Streaming-Angeboten von Radio         beigetragen, dass wir auch nach Feierabend                   Christoph Fellmann, Illustration: Mart Meyer*
und Fernsehen, die mit über 20 Prozent
                                                    * Dem Illustrator war es scheinbar aus privaten Gründen nicht möglich, die hier vorgesehene Illustration während seiner
einen beträchtlichen Teil des Datenvolumens         Arbeitszeit termingerecht fertigzustellen. Er wird diese bei Gelegenheit nach Feierabend auf seine private Dropbox stel-
ausmachten, das in der Verwaltung privat            len. Wir finden dies unhaltbar und entschuldigen uns an dieser Stelle.

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«Komm raus, gopf, du musst rauskommen», schreit der
Feuerwehrmann. Frieda Stern möchte sich anziehen, doch
sie kann nicht. Sie ist blockiert. Als der Boden mitten in
der Nacht zu vibrieren begann, dachte sie erst, es sei ein
Steinschlag. Stattdessen kommt die Bedrohung von unten:
Die Reuss hat das ganze Haus unterhalb ihrer Tankstelle,
in der sie sich befindet, weggerissen, ebenso das Pfarrhaus
und den halben Friedhof. «Jetzt komm!», ruft auch ihr
Mann von draussen. Frieda Stern bewegt sich nicht. Die
Männer beschliessen, sie übers Dach rauszuholen – da
setzt ihr Verstand wieder ein. Das Dach kaputtmachen?
Auf keinen Fall. Draussen findet sie ihren Mann nicht. «Er
ist nochmal rein, wir wissen auch nicht, wieso», sagt der
Feuerwehrmann. Das wars, der kommt nicht mehr zurück,
denkt Frieda, es ist ihr angst und bang. Doch da steht er
im Türrahmen – er hat das Töffli aus dem Keller geholt.
         Das war in der Nacht vom 24. auf den 25. August
1987. Ein Jahrhundert-Unwetter wütete über dem Gott-
hardmassiv und verwandelte die Reuss in einen wilden
Strom, der weite Teile des Tals verwüstete. Gurtnellen,
ein kleines Dorf im Urner Oberland, traf es besonders,
es musste vollständig evakuiert werden. Tage später fand
Frieda Stern im Schlamm eine Predigt, die der Pfarrer für
den Sonntag vorbereitet hatte und der in dieser Nacht – Gott
sei Dank – in den Ferien war.

         Wenn es am Gotthard rumort, rumort es gewöhnlich
in der ganzen Schweiz. Hier wurden manche Kämpfe mit
der Natur ausgefochten und das Verhältnis des Menschen
zu ihr verhandelt. Die mächtige, lange als unpassierbar
geltende Berglandschaft wurde in den letzten 200 Jahren
dutzendfach durchlöchert, überbrückt, gesprengt, betoniert
und milliardenfach durchfahren. Von Sagen, Schriftstellern
und Politikern wurde sie gleichzeitig mystifiziert, glorifiziert,
politisiert: Keine andere Region prägt das Selbstverständnis
der Schweiz als Festung und Transitland wie der Gotthard.
Er steht für glänzende Ingenieursleistungen, historische
Momente, Schutz vor fremden Fürsten. Auch für sommer-
liche Autostaus. Bereits der Bau des Gotthard-Bahntunnels
von 1882 hatte die Region nachhaltig verändert. Mit dem
Siegeszug des Automobils wurde die Geschichte des Urner
Oberlands definitiv zu einer Mobilitätsgeschichte. Ein
Akteur dieser Geschichte ist eine winzige Tankstelle im
Reusstal zwischen Erstfeld und Wassen. Wo auch immer

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NORD-SÜD

Die letzten Tankwarte
vom Gotthard
Mitten in der historischen Verkehrslandschaft des Gotthards
versorgt das Ehepaar Stern seit 40 Jahren Fahrzeuge mit ihrem Lebenssaft.
Die Geschichte der wohl interessantesten Tankstelle der Schweiz.
  Von Martina Kammermann, Bilder: Christof Hirtler

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NORD-SÜD

die Autos sich ihren Weg durch Uri bahnten – sie blieb in
den vergangenen sechzig Jahren immer bestehen. Und noch
heute werden dort Fahrzeuge mit ihrem Lebenssaft betankt.

                        Reden tut gut
Der kleine, unscheinbare Flachdachbau am Ortseingang von
Gurtnellen ist von der Strasse her gut ersichtlich. «KIOSK»
steht in grossen Lettern auf der weissen Wand. Der Anfang
des Schriftzugs ist bereits von Efeu überwuchert, er wird
ihn wohl noch ganz erobern. Zwei kleine Zapfsäulen mit
analogem Zähler stehen unter einem Wellblechdach, eine
Plache schützt vor eisigem Zugwind. Der Kiosk, ein kleines
Vitrinenhäuschen, ist nicht mehr in Betrieb. Die Plakate
an seinen Scheiben kündigen längst vergangene Anlässe
an, hinter dem Glas erkennt man ein Wähltelefon, eine
alte Rechenmaschine und allerlei Krimskrams, überblickt
von einem verblichenen Marlboro-Mann. Die Zeit scheint
hier stehen geblieben. An der Stahltür daneben ein hand-
geschriebenes Schild: «Bitte läuten».
         Dahinter sitzt Frieda Stern am Küchentisch und liest
die «Glückspost». Es ist ihr liebster Ort in der winzigen, zur
Tankstelle gehörigen Wohnung. Ja, es ist ihr liebster Ort
überhaupt. Seit vierzig Jahren ist die 81-Jährige praktisch
jeden Tag hier. Sie hat das heranfahrende Auto gehört,
greift zu ihrem schwarzen Serviceportemonnaie und tritt
heraus. «Ja kommen Sie, kommen Sie», grüsst sie herzlich
und strahlt. Frieda Stern freut sich immer über Besucher,        Der Kiosk ist nicht mehr in Betrieb, das Büro aber immer noch in Schuss.

vor allem im Winter, wenn nur wenige vorbeifahren. So
bedient sie die Kunden, die zufahren, nicht nur mit Benzin,
sondern immer auch mit einem kurzen Schwatz, einer
kleinen Anekdote. «Reden tut gut», sagt sie, «vor allem
den alten Leuten, die schätzen das.» Es kämen auch fast
nur Alte zu ihr, die Jungen würden alle im Tal arbeiten,         schön ist, sitzt Frau Stern gerne draussen, wo auch ihr
und mit denen könne man sowieso nicht richtig reden.             Mann öfters anzutreffen ist, gerade fährt er mit dem Auto
Es ist auch gar nicht nötig, viel zu sagen. Da fügt sich eine    zu. Sein Nummernschild: UR 871. Der 83-Jährige ist der
Geschichte in die andere – die Tankstelle, die Leute vom         Ruhigere von den beiden. Morgens um neun bis abends
Dorf, der Besuch beim Augenarzt, der Sohn im Tessin,             um zehn sind sie an der Tankstelle, essen hier das Zmittag
die wilden Katzen und Marder, denen sie gern ein Stück           und Znacht und schauen zum Rechten. Nur zum Schlafen
Käserinde rausstellt.                                            gehen sie nach Hause.
         Wenn Frieda Stern erzählt, tut sie es mit dem ganzen
Körper. Überhaupt scheint alles an ihr in Bewegung. Die                  Die Geschichte der Sterns ist eng mit der Geschichte
stahlblauen Augen, die wach umherblicken, die kräftigen          des Gotthards verknüpft. Frieda Stern ist in Gurtnellen
Beine, mit denen sie entschlossene kleine Schritte zur           aufgewachsen und hat dort als junge Frau im Restaurant
Tanksäule tut, wenn ein Auto zufährt, die gepflegten             ihres Onkels serviert. Oft waren Arbeiter zu Gast, da-
Hände, mit denen sie das Erzählte unterstreicht und die          mals wurde am Gotthard viel gebaut. Nach dem Zweiten
sie ihrem Gegenüber gerne auf den Arm legt. Manchmal             Weltkrieg – Frieda Stern kann sich noch gut an die vielen
vergisst sie sie dort und stützt sich eine Weile auf, während    Soldaten erinnern, bei denen sie hungrig um ein Guetzli
sie leicht vornübergebeugt eine Geschichte erzählt. Jawohl,      bettelte – entwickelte sich der Verkehr rasant: Mitte der
aus aller Welt kämen Leute zu ihr, immer die gleichen, seit      Fünfzigerjahre reisten bereits täglich über 2800 Fahrzeuge
Jahren. Besonders freut sie sich auf den Sommer, wenn            über den Pass. Man begann mit dem Ausbau der Schölle-
die Töfffahrer wieder kommen. Ihr Griff wird fester. «Die        nenstrasse, des Urner Lochs mit der neuen Teufelsbrücke
haben ein Gaudi, das glauben Sie nicht!», kichert sie. Ja,       und der Tremola. Von überall her kamen die Arbeiter
hier bedient zu werden ist eine wahre Freude. Wenn es            nach Uri, so auch der Thurgauer Hans Stern. Er hatte

                                                                        10
NORD-SÜD

                                                      Früher war hier im Sommer jeweils der Teufel los. Frieda Stern für ihren Teil ist froh, sind diese Zeiten vorbei.

als Maschinist auf verschiedenen Grossbaustellen in der            und Abfallberge am Wegrand an der Tagesordnung. Der
Schweiz gearbeitet, bevor er 1955 zum Staudamm auf                 Reiseverkehr war zum Massentourismus geworden, der
der Göscheneralp kam. 1956 lernten sich die beiden im              Verkehr kollabierte regelmässig. In diesem Jahr entschied
Restaurant kennen und heirateten zwei Jahre darauf, ein            sich der Bund für einen 16,9 Kilometer langen Autobahn-
Sohn und eine Tochter folgten bald. Als der Staudamm               tunnel parallel zum Eisenbahntunnel. Der Bau, der zehn
1962 fertig war, arbeitete Hans Stern ein paar Jahre als           Jahre dauerte, begann 1970.
Fahrer am Staudamm Mattmark im Wallis und schliesslich                     Damals arbeitete Frieda Stern bereits als Angestellte
über 20 Jahre als Fernfahrer. Mit dem Lastwagen kam                in der Tankstelle. Kunden bedienen, organisieren, den
Hans Stern nach ganz Europa, Jordanien, Kuwait, Iran,              Betrieb in Schuss halten – das lag ihr. Als sich 1974 die
Irak, Marokko – er hat viel von der Welt gesehen. Auf die          Gelegenheit bot, die Tankstelle zu übernehmen, griffen die
eine oder andere Reise ging Frieda Stern mit, doch sie war         Sterns zu. Für die ganze Familie hätte der Gewinn nicht
schon immer am liebsten zu Hause in ihrem Gurtnellen,              gereicht, also blieb Hans Stern weiterhin Fahrer und Frieda
wo sie die Kinder grosszog.                                        führte die Tankstelle alleine.
        Hier stieg der Verkehr weiter rasant an. 1965 passier-
ten von Mai bis Oktober 885 500 Fahrzeuge den Gotthard.                                Die harten Jahre
Entweder mit dem Autozug durch den Eisenbahntunnel oder            Gurtnellen, 1975: Frieda Stern steht im Kiosk und schwitzt.
über die neue Gotthardstrasse, die den Massen aber bald            Das Kind der Kundin quengelt, es darf eine Süssigkeit
nicht mehr gewachsen war. PKW, Motorräder, Lastwagen               auswählen. Draussen an der Tanksäule stehen bereits zwei
und Busse zwängten sich durch die Dörfer – die grossen             Wagen Schlange. «Diese magst du doch so gern», berät
Fahrzeuge mussten in den Haarnadelkurven jeweils mehrere           die Mutter das Kleine – es dauert ewig. Wie kann man
Anläufe nehmen. Im Sommer waren Staus, Abgaswolken                 ein Kind nur so verwöhnen?, denkt Frieda und presst die

                                                                           11
NORD-SÜD

Die einstige Waschanlage haben die Sterns zum Lagerraum umfunktioniert.

                    Lippen zusammen, ihr Blick wandert wieder nach draussen.         zugestossen. Ihr bewährtes Rezept: «Wenn du schlechte
                    Nun ist das hintere Auto wieder abgefahren. Wäre doch            Leute triffst, musst du zu ihnen umso besser sein. Nur so
                    Chantal schon von der Schule zurück! Frieda ist jeden Tag        kannst du sie drehen und gewinnen.»
                    von frühmorgens bis spätnachts hier; jetzt, im Sommer,
                    nimmt sie die Kunden wann immer sie kann, ihre Nächte                             Die Autobahn kommt
                    sind kurz. Heute ist sie mit dem Mittagessen in Verzug, weil     In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre wurden nach und
                    sie am Morgen noch diese Sache aufputzen musste. Schon           nach Teilstücke der Autobahn von Erstfeld Richtung Gö­
                    wieder hat ihr jemand nachts eine Sauerei gemacht. Einfach       schenen eröffnet und die Anzahl Autos, die das Reussstal auf
                    auf den Boden! Scheusslich. «Die Schoggi, die Zigaretten         der Hauptstrasse passierten, nahm langsam ab. 1980 wurde
                    und noch ein Glace? Ja sehr gern.» – Endlich gehen sie.          der Autotunnel eröffnet und die Strecke Basel–Mailand
                    Schnell raus jetzt, die Kunden warten.                           war nun durchgehend als Autobahn befahrbar. Im Urner
                            Frieda Stern erinnert sich gut an diese ersten harten    Oberland konnte man endlich aufatmen – die Staus hatten
                    Jahre. «Die viele Arbeit war das eine, aber ich musste auch      ein Ende. Es setzte allerdings auch eine Entwicklung ein,
                    oft Angst haben», erzählt sie, die damals Mitte vierzig war,     die den Gemeinden an der Nord- wie auf der Südseite des
                    «Gesindel und Halunken waren unterwegs.» Abends, wenn            Gotthards Verluste brachte. Zwar hatte man den Verkehr
                    es dunkel war, war Frieda Stern manches Mal mulmig,              nicht mehr direkt vor der Haustür, wirtschaftlich konnte
                    wenn ein Auto in die Einfahrt bog und sie nicht wusste, aus      man aber auch nicht mehr von ihm profitieren. Viele
                    welchem Holz die Männer darin geschnitzt waren. Alles,           Betriebe, allen voran die Gastbetriebe, verloren ihre Exis-
                    was nicht niet- und nagelfest war, wurde geklaut. Zweimal        tenzgrundlage. Auch Industriebetriebe schlossen und die
                    sei die ganze Kasse weggekommen, da habe sie bittere             Dörfer begannen sich langsam zu entleeren, während der
                    Tränen geweint. Ihr selbst sei zum Glück aber nie etwas          Verkehr anonym an ihnen vorbeirauschte – man wurde

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NORD-SÜD

zur europäischen Transitregion. Zudem wuchs der Verkehr         eigentlich auch die Tankstelle schliessen: «Wirtschaftlich
so rasch und massiv, wie es sich zu Beginn wohl niemand         rentierte es längst nicht mehr», sagt er. – Aber es ging nicht.
vorstellen konnte. Schon im ersten Betriebsjahr des Tunnels     Einen Alltag ohne die Tankstelle konnte sich seine Frau
stieg die Anzahl der Fahrzeuge, die Uri passierten, von gut     nicht mehr vorstellen: «Für sie wäre es der Tod gewesen.»
einer auf über drei Millionen. 1990 waren es bereits über       Und so ist ihre Tankstelle noch immer geöffnet, als Zeuge
sechs Millionen. «Dieser Tunnel ist kein Korridor für den       alter Zeiten und herzlicher Weiler für Gäste und Stamm-
Schwerverkehr», verkündete alt Bundesrat Hans Hürlimann         kunden von nah und fern, die tanken oder einfach nur
bei der Eröffnung noch feierlich. Auch in diesem Punkt          reden wollen. Hier haben die Sterns immer etwas zu tun,
hatte man sich gewaltig verrechnet. Der neue Durchgang          die Kinder besuchen sie oft, die Enkelkinder fast täglich.
zog die Lastwagen regelrecht an, und ihre Zahl vervielfachte    Manchmal, wenn die Autobahn aus irgendeinem Grund
sich sprunghaft. So standen die Ferienreisenden an Som-         nicht befahrbar ist, stauen sich die Autos erneut vor ihrer
merwochenenden fortan in Göschenen im Stau, und die             Einfahrt. Doch tanken würden die wenigsten, winkt Hans
Urnerinnen und Urner hatten den Gestank und Lärm noch           Stern ab: «Die haben Angst, nicht wieder in die Schlange
immer. So lancierten sie – zusammen mit Leuten aus dem          zu kommen!»
Wallis, Graubünden und dem Tessin – die Alpeninitiative,
die den verkehrspolitischen Grundsatz «Güter auf die
Schienen» 1994 in der Verfassung verankerte und einer
zweiten Autobahnröhre den gesetzlichen Riegel schob.
87 Prozent der Urner Bevölkerung stimmten Ja.
         Als die neue Autobahn kam, betraf dies die Sterns
mit ihrer Tankstelle ganz direkt: viele ihrer Kunden verloren
sie an die Autobahnraststätten. Für das Geschäft war das
schlecht – für Frieda Stern aber auch eine Erleichterung:
«Ich hätte es nicht mehr machen mögen», sagt sie. Da
die Tankstelle schon immer ein Zweitverdienst war und
die Kinder bald auf eigenen Beinen standen, war der
Geschäftseinbruch für die Sterns nicht existenzbedrohend.
Die folgenden Jahre brachten sie sich mit Kunden aus der
Region und mit dem Zeitschriftenverkauf am Kiosk über
die Runden. Die Tanksäulen auf der gegenüberliegenden           Frieda und Hans Stern halten hier Tag für Tag die Stellung und
                                                                bedienen herzlich ihre Kunden – wenns die Zeit erlaubt auch mit
Strassenseite gaben sie auf. Hans Stern begann Mitte der        der einen oder anderen Anekdote.
Achtziger als Chauffeur bei der lokalen Schmelz Metall
AG und half abends und an den Wochenenden mit. Doch
zusehends wurden die Einwohner in Gurtnellen und den
umliegenden Dörfern weniger, die Kunden rarer. Als die                 Auch jetzt rumort es wieder am Gotthard. Die
Leute Ende der Achtziger begannen, Zeitschriften nach           Vorbereitungen für die Eröffnung des neuen Eisenbahn-
Hause zu abonnieren, gingen auch die Kiosk-Einnahmen            tunnels von Erstfeld nach Biasca 2016 – notabene des
zurück. Hatten sie in den besten Zeiten noch 85 Sonntags-       wiederum längsten Tunnels der Welt – laufen, und der
blicke verkauft, waren es vor drei Jahren, als sie den Laden    Autobahntunnel muss nach 2020 saniert werden. Heute
schlossen, nur noch drei.                                       durchfahren ihn jährlich sechs Millionen Fahrzeuge,
         Fährt man heute über die Hauptstrasse Richtung         die Zahl stagniert seit 2001. Eine knappe Million davon
Wassen, begegnet einem in der Regel kaum Gegenverkehr,          sind Lastwagen. Der Streit, ob eine zweite Strassenröhre
das Tal entleert sich. In Gurtnellen selbst ist die Einwoh-     gebaut werden soll oder nicht, ist längst entbrannt. 2016
nerzahl allein in den letzten zwanzig Jahren um rund 25         wird das Schweizer Stimmvolk ein weiteres Mal darüber
Prozent auf 580 Einwohner gesunken. Nur der Arnisee,            entscheiden können.
der zur Gemeinde gehört, und das Gourmetrestaurant «Im
Feld» ziehen noch Touristen an. Bis heute bedauert Hans                    Es ist ein strahlend schöner Märztag. Frieda Stern
Stern, dass Gurtnellen anders als die Nachbargemeinden          sitzt auf ihrer Bank und sonnt sich, die Augen geschlossen.
Amsteg und Wassen keine Autobahnausfahrt erhalten               Um sie ragen die Berge malerisch in den blauen Himmel, es
hat. «So billig wie hier hätten sie keine gekriegt», ist er     ist still, das gleichmässige Rauschen der Autobahn scheint
überzeugt. Er kennt sich mit politischen Vorgängen in der       ganz fern. «Wissen Sie, ich schlafe nicht, ich schliesse
Region bestens aus: Von 1989 bis 1996 war er Gurtnellens        nur die Augen und geniesse es und warte, warte auf den
Gemeindepräsident. Als Hans Stern in Rente ging, wollte er      Frühling. Dann kommen die Töfffahrer wieder.»

                                                                       13
Während sich der Gotthard zum Nord-
                                                                                Süd-Transitgebiet entwickelte, wurde
                                                                                die Klausenpassstrasse vor allem von
                                                                                Freizeitfahrern erobert. Im Buchprojekt
                                                                                «Saumpfad – Liini – Speedway» gehen
                                                                                die Architekturhistorikerin Marion Sauter
                                                                                und der Fotograf F. X. Brun der Verkehrs-
                                                                                und der Kulturgeschichte am Klausen-
                                                                                pass nach. Sie nehmen uns mit auf einen
                                                                                    Ausflug in ihre laufende Arbeit.

                                                                                                    Text: Marion Sauter
                                                                                         Fotos: Michael Aschwanden (1865–1940),
                                                                                     Richard Aschwanden (1909–2001) und F. X. Brun

                                                                            Über Stock, Stein

Serpentinen in der Vorfrutt, als Schotterstrasse um 1900 und «staubfrei»
          1930. Rechts die Strasse, wie wir sie heute kennen.
                                                                            und Asphalt
                                                                                Ein Postauto müht sich gemächlich die Serpentinen in
                                                                                Richtung Klausenpasshöhe hinauf, dahinter bildet sich
                                                                                allmählich eine Kolonne ungeduldiger Passtouristen – hoch-
                                                                                motorisierte Cabrio- und Töfffahrer, welche die Aussicht
                                                                                geniessen, vor allem jedoch uneingeschränkten Fahrspass
                                                                                haben wollen. Unter anderem auf der halsbrecherischen
                                                                                «Liini» die in den 1890er-Jahren in die steile Felswand
                                                                                zwischen dem Seelithaltunnel und der Balm geschlagen
                                                                                wurde.
                                                                                    Was heute vollkommen alltäglich anmutet, hat sich erst
                                                                                in den letzten Jahrzehnten etabliert. Die Klausenstrasse
                                                                                wurde im Jahr 1900 eröffnet und 1922 für den Automo-
                                                                                bilverkehr freigegeben – im selben Jahr startete auch das
                                                                                Klausenrennen von Linthal in Glarus bis zur Passshöhe auf
                                                                                1948 m. ü. M. Anfänglich in einem alles verschlingenden
                                                                                Staubwirbel: Das Schottertrassee der Klausenstrasse wurde
                                                                                erst in den 1930er-Jahren getränkt und somit «staubfrei»
                                                                                gemacht. Die historischen Fotografien von Michael Asch-
                                                                                wanden aus den Jahren 1900 bis 1935 und die aktuellen
                                                                                Bilder des Urner Fotografen F. X. Brun verdeutlichen, wie
                                                                                sich die Strasse mehr und mehr aus der Landschaft heraus-
                                                                                schälte, wie der Verkehr mehr und mehr Raum einforderte.
                                                                                    Der Klausenpass ist seit der Bronzezeit begangen – lange
                                                                                bevor sich die beiden Talorte Altdorf und Linthal gebildet
                                                                                haben. Über die steilen Saumpfade wurde aber über mehr
                                                                                als drei Jahrtausende kein nennenswerter Warenverkehr
                                                                                abgewickelt. Bis 1880 waren auch die beiden hintersten

                                                                           14
15
OST-WEST

               Seelithaltunnel, um 1910                                                   Blick auf die «Liini», um 1900

          Älpler auf dem Urnerboden, um 1910                                        Postkutschenkurs auf der «Liini», um 1900

Schächentaler Bergbauerndörfer Spiringen und Unterschä-             Tiere über den Pass zu treiben. Bergbauern und Vieh waren
chen lediglich durch unwegsame Saumpfade erschlossen.               steile Anstiege gewohnt. Eine befahrbare Strasse brachte
    Im 18. Jahrhundert verlagerten sich die Linthaler zuneh-        hier keinerlei Verbesserung. Der Alpkäse wurde seit jeher
mend auf die Spinnerei und die Weberei, die Textilindustrie         auf dem Rücken der Bergbauern oder auf Lasttieren, das
prosperierte. Es brauchte neue Absatzmärkte und einen               Wildheu im Winter auf Schlitten ins Tal gebracht. Selbst
Anschluss an die seit 1830 fahrbare Gotthardroute, vor              als der Urnerboden 1877 zur bescheidenen Dauersiedlung
allem jedoch an die 1882 eröffnete Gotthardbahn. Die ersten         wurde, änderte sich die Situation nicht. Die Urner Bergbau-
Glarner Vorstösse zur Fahrbarmachung des Klausenpasses              ern betrieben Selbstversorgung und wirtschafteten nach
und damit zur Auflösung der Sackgassenlage von Linthal              dem dramatischen Klimaeinbruch der «Kleinen Eiszeit»
datieren in das Jahr 1829.                                          Anfang des 19. Jahrhunderts am Existenzminimum. Ohne
                                                                    Perspektive – die heutigen, bequemen Viehtransporte per
    Dieses Bedürfnis stand den Interessen der Urner Berg-           Lastwagen waren damals unvorstellbar. Und der Kanton
bauern vollkommen entgegen. Die etablierten Saumpfade               Uri, gefordert durch den Ausbau der Gotthardroute, des
erschlossen die grösste Alp der Schweiz, den Urnerboden. Sie        Oberalp- (1863) und des Furkapasses (1866) sowie der Gott-
genügten, um im Frühsommer und im Herbst jeweils 1800               hardbahn und der Axenstrasse (1860), sah sich finanziell

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OST-WEST

        Touristen und erste Radsportler, um 1910                            Automobilverkehr vor dem Hotel Klausenpass, 1920er-Jahre

   Postauto vor dem Hotel Wilhelm Tell & Post, um 1950                             Erste Passfahrt nach der Wintersperre, 1955

ausserstande, eine weitere Passstrasse zu realisieren: 75         Strassenprovisorium, dessen dringliche Erneuerung kaum
Prozent der Klausenstrasse liegen auf Urner Terrain, das          günstiger gekommen wäre als der Urner Anteil am Bau der
sich bis weit hinter die Passhöhe erstreckt.                      hochsubventionierten Klausenstrasse.
    Doch die Glarner gaben nicht auf: Nach ihrem dritten
Vorstoss im Jahr 1864 einigte man sich auf die Projektie-             Die 46 Kilometer lange Strecke von Altdorf nach Linthal
rung der Klausenstrasse. Da sich die Urner jedoch nicht           bedurfte allein auf der Urner Seite den Bau von mehr
entscheiden konnten, welcher historische Schächentaler            als einem Dutzend Brücken und unzähligen massiven
Saumpfad die Grundlage für die zukünftige Klausenstrasse          Stützwänden. Oberhalb von Urigen wurde der 58 Meter
bilden sollte, scheiterte das Subventionsgesuch. Erst 1890        lange Seelithaltunnel mit anschliessender Galerie in den
erklärte sich der Bund bereit, 80 Prozent der Baukosten           Fels gesprengt (siehe linke Seite oben). Um den sumpfigen
zu übernehmen – wenn die Klausenstrasse den Anforde-              Urnerboden erschliessen zu können, musste der Fätschbach
rungen des Schweizer Militärs genüge. Die Zustimmung              kanalisiert werden. Die gesamte Klausenstrasse wurde mit
der nach wie vor skeptischen Urner sicherte schliesslich          Kolonnensteinen gesäumt und mit einem Geländer aus
eine Naturkatastrophe: Seit dem verheerenden Bergsturz            Granitstelen und Eisenrohren gesichert. Zeitgleich wurden
am Spitzen im Jahr 1887 befand sich in Spiringen ein              entlang der Klausenstrasse Hotels errichtet, um die zu

                                                             17
OST-WEST

  Teatime auf der Terrasse vor dem Hotel Klausenpass, 1905                          Schnappschuss-Pause auf dem Töffparkplatz, heute

erwarteten Passtouristen adäquat verpflegen zu können.               Gebiet führen. Sucht man die Verbindung zur traditionellen
1900 konnte die Klausenstrasse feierlich eröffnet und ein            Alpwirtschaft, muss man den kleinen, von Hand gemalten
regelmässiger Postkutschenkurs eingerichtet werden.                  Schildern «Alpkäse» am Strassenrand folgen und die alten
   Die neue Fahrstrecke verband Uri und Glarus nun wäh-              Saumpfade einschlagen. Die schmale, im Sommer hochfre-
rend der Sommermonate, der über den Klausen abgewickelte             quentierte Klausenstrasse selbst empfiehlt sich nicht mehr
Warenverkehr hielt sich jedoch in Grenzen. Auch die Urner            für einen Spaziergang.
Bergbauern profitierten in den ersten Jahrzehnten nur in
sehr bescheidenem Mass von der neuen Passstrasse: Zwar
konnte der Urnerboden nun auch mit Pferdekarren erreicht
werden, die motorisierte Bewirtschaftung der angrenzenden
Alpstafel setzte sich jedoch erst ab 1950 allmählich flächen-
                                                                      Das Buchprojekt
deckend durch. Wiederum brachte eine Naturkatastrophe
einen Innovationsschub: Nach den verheerenden Unwettern               «Saumpfad – Liini – Speedway. Die Erschliessung des Klausen-
im Jahr 1977 wurden weitere (Natur-)Strassen ausgebaut,               passes» dokumentiert die Verbindung zwischen den Kantonen
welche die Klausenstrasse bis zu den Bergheimwesen und                Uri und Glarus. Einst ein unwegsamer Saumpfad, partiell aus-
zahlreichen Alpstafeln fortsetzen.                                    gebaut zu einem Dammweg, dann erweitert zur «Schächental­
                                                                      strasse», reiht sich der Klausen seit 1900 in die Reihe der ausge-
                                                                      bauten Alpenpässe. Die Erschliessung des Klausenpasses bietet
    Die grösste Errungenschaft ist somit die touristische
                                                                      überraschende Aspekte, etwa ein visionäres Trambahnprojekt,
Erschliessung der Klausenpasshöhe. Während die Touris-                eine Streckenalternative, um den Pass im Winter offen halten zu
ten anfänglich gemächlich reisten, sich unmittelbar am                können, sowie die jüngsten Ausbau- und Unterhaltsarbeiten. Die
Strassenrand auf malerischen Terrassen ausruhten und                  Architekturhistorikerin Marion Sauter hat die historischen Quel-
sich an der Aussicht und der Natur erfreuten, dominiert seit          len gesichtet, unter anderem die einzigartigen Aufnahmen der
den 1920er-Jahren der motorisierte Verkehr auswärtiger                Urner Fotografendynastie Aschwanden, die die Klausenstrasse
                                                                      seit ihrer Eröffnung dokumentiert haben. Dies führte zur Idee,
Passtouristen, ganz nach dem Motto: Immer schneller,
                                                                      den Text um eine eigene Bildebene zu ergänzen. Der Urner Foto-
immer lauter. Besonders eindrucksvoll sind die ersten
                                                                      graf F. X. Brun erzählt die Geschichte der Klausenstrasse in einer
Fahrten nach der Wintersperre im Mai durch meterhohe                  fotografischen Gegenüberstellung und führt die Aschwanden-
Schneeberge, was Richard Aschwanden bereits in den                    Dokumentation fort. Dafür wurde er 2014 von der Kunst- und
1950er-Jahren dokumentierte. Zahlreiche Gasthäuser laden              Kulturstiftung Heinrich Danioth mit einem Preis ausgezeichnet.
zum Verweilen ein, teilweise sind diese inzwischen speziell           Das Klausenstrassenbuch will die Verkehrs- und Kulturgeschich-
auf die über die Passhöhe rasenden Töfffahrer eingestellt.            te zweier Innerschweizer Alpentäler wissenschaftlich fundiert
    Dies bildet einen eigentümlichen Kontrast, gehört die             und zugleich anschaulich erklären. Das Buch wird vom Grafiker
                                                                      Marc Philipp gestaltet und wird 2016 bei Gislerdruck, Altdorf,
Klausenstrasse doch zu den wenigen Passstrassen, die
                                                                      erscheinen.
weitestgehend durch besiedeltes und bewirtschaftetes

                                                                18
KUNSTRÄUME

Auf Kunsttour
Uri gilt nicht eben als Mekka für Kunstinteressierte. Eine kleine Tour
durch den Kanton zeigt aber: Wer sucht, der findet. Ein paar Stopps.
       Von Michael Sutter

Edition 5 Erstfeld
Eine illustre Künstlerliste und ein subtiles Konzept machen die                selbst, dass das Konzept der Edition 5 Erstfeld keinerlei kommerzielle
Edition 5 Erstfeld zu einem einzigartigen Ort der Kunstförderung.              Absichten hegt, sondern vielmehr ein mit Leidenschaft betriebenes,
Statt Kunstschaffende mit Stipendien und Artist-in-Residence-                  kostspieliges Hobby von Jürg und Ruth Nyffeler ist. Dies impliziert
Projekten zu unterstützen, realisiert das Sammlerehepaar Jürg und              eine völlige Unabhängigkeit vom Kunstmarkt und die Möglichkeit,
Ruth Nyffeler seit mehr als zwanzig Jahren Kleinauflagen von drei-             nach persönlichem Geschmack die Editionsreihe fortzusetzen.
dimensionalen Kunstwerken. Was im Jahr 1994 mit Franz Wanners                  Voraussetzungen für eine Edition sind die Professionalität der
«Büchse der Pandora» – eine MDF-Skulptur mit eingeschlossener                  Künstler, die technische Realisierbarkeit sowie – aus logistischen
Pigmentschicht – begann, wurde zu einer imposanten Serie von                   Gründen – das Volumen.
Editionen, die jeweils in Privatsammlungen, Kunstinstitutionen und                 Die Kunstwerke kann man in der Privatwohnung im Mietshaus
Ausstellungen landeten. Mittlerweile sind rund 200 Editionen von               der Nyffelers und in der leer stehenden Wohnung einen Stock
mehr als hundert verschiedenen Kunstschaffenden zusammenge-                    darüber besichtigen, die persönliche Führung inklusive Kaffee
kommen, der Fokus liegt mehrheitlich auf Deutschschweizer Kunst.               versteht sich von selbst. In der Art einer Asservatenkammer lagern
    Das Vorgehen ist meistens dasselbe: Die Nyffelers machen Be-               hier der in Aluminium gegossene Davoserschlitten von Jürgen
kanntschaft mit einem Kunstschaffenden und im Gespräch entsteht                Drescher, Schokolade in DIN-A4-Format von Karin Sander oder
eine Werkidee. Es folgt eine Produktion von fünf Kunstwerken,                  eine Kopfhörerduschbrause der Künstlergruppe KLAT aus Genf.
wobei jeweils eines in die hauseigene Sammlung kommt. Die                      Aus der mehrjährigen Zusammenarbeit mit einzelnen Künstlern
restlichen vier Stücke werden zu moderaten Preisen von 500 bis                 sind mittlerweile freundschaftliche Beziehungen entstanden, die
5000 Schweizer Franken zum Verkauf angeboten, was angesichts                   ein Ende der Editionsreihe nicht absehbar machen und gleichzeitig
der Künstlernamen wie John Armleder, Roman Signer oder Rémy                    die Sammler-Sonderrolle der Edition 5 Erstfeld in der Peripherie
Markowitsch einem Schnäppchen gleichkommt. Es versteht sich von                manifestieren.

                                                                                            Betreiber: Ruth und Jürg Nyffeler
                                                                                            Gründung: 1994
                                                                                            Besucherzahl pro Jahr: 100–150 Besucher,
                                                                                            15 708 auf der Website
                                                                                            Ausstellungen pro Jahr: Dauerausstellung
                                                                                            Öffnungszeiten: nach Voranmeldung
                                                                                            Adresse: Gotthardstrasse 132, Erstfeld, www.edition5.org

Bild: Objekte der Edition 5, ausgestellt im Haus für Kunst Uri 2010

                                                                          19
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     28.02. 21.06.2015

     SHARON
     LOCKHART
     MILENA, MILENA

     28.02. 22.11.2015

     VON
     ANGESICHT                         Talmuseum Ursern
     ZU ANGESICHT
                                       Inmitten des Dorfzentrums von Andermatt steht ein denkmal-
                                       geschütztes, auffällig bemaltes Patrizierhaus, das im Volksmund
                                       Suworowhaus genannt wird. Das einstige Winterquartier des

     FÜSSLI, BÖCKLIN,                  bekannten Generals, der am 25. September 1799 dort übernachtete,
                                       ist mittlerweile zu einem Heimatmuseum umfunktioniert, das die

     RONDINONE UND                     Kulturgeschichte des Urserentals in historischen Räumlichkeiten
                                       präsentiert. Auf mehreren Stockwerken lässt sich die Wohnkultur
                                       des späten 18. Jahrhunderts nachvollziehen und das knarrende
     ANDERE                            Holz – mit riesigen Pantoffeln an den Füssen – auch begutachten.
                                       Dazu gibt es zahlreiche Informationen und Originalobjekte
                                       aus den Sparten Tourismus, Militär, Alpwirtschaft und dem
                                       traditionellen Säumerwesen. Auch dem berühmtesten Sohn
     07.03. 31.05.2015                 von Andermatt – dem Skirennfahrer Bernhard Russi – ist ein
                                       eigenes Kabinett gewidmet. Zusätzlich beherbergt das Talmuseum

     PUSHWAGNER
                                       Wechselausstellungen im Kellergeschoss. Die aktuelle Ausstellung
                                       beschäftigt sich mit Bearbeitungsformen von Bergkristall. Der
                                       gebürtige Luzerner Gold- und Silberschmied Hans Stalder (*1934)

     IN KOOPERATION MIT                lieferte die Entwürfe und der Steinschleifer Joseph Häfliger (*1954)
                                       führte die als «Weg- und Tauschzeichen» betitelten Arbeiten

     FUMETTO – INT. COMIX-             aus. Gemeint sind Werke aus geschliffenem Bergkristall, die
                                       zwischen vertrauten Menschen, trotz räumlicher Trennung, eine
                                       Verbindung schaffen. Die kleinen Objekte werden fein säuberlich
     FESTIVAL LUZERN                   in Glasvitrinen im modernen Untergeschoss des Talmuseums
                                       ausgestellt.

                                        Betreiber: Stiftung Talmuseum Ursern
                                        Eröffnung: 1991 (Hausbau, 1786)
                                        Besucherzahl pro Jahr: ca. 2150 Besucher
                                        Ausstellungen pro Jahr: Dauerausstellung,
                                        ein bis zwei Sonderausstellungen
     europaplatz 1, 6002 luzern         Öffnungszeiten: Winter: MI–SO, 16 bis 18 Uhr /
     www.kunstmuseumluzern.ch
                                        Sommer: MI–SA, 16 bis 18 Uhr
                                        Adresse: Gotthardstrasse 113, Andermatt, www.museum-ursern.ch

                                  20
KUNSTRÄUME

EWA-Galerie Niedervolta
Seit mehr als zwanzig Jahren betreibt die Elektrizitätswerk Altdorf
AG im Kellergeschoss des 1684 erbauten Hauses im Eselmätteli
einen kleinen Ausstellungsraum. Die EWA-Galerie Niedervolta
versteht sich als Ergänzung zu den grösseren Kunstinstitutionen
und präsentiert in der Regel jährlich zwei Ausstellungen von lokalen
Künstlerinnen und Künstlern. So werden in diesem Jahr aktuelle
Arbeiten von Mundi Nussbaumer (ab Ende Mai) und Christoph
Hirtler (Herbst) zu sehen sein.

 Betreiber: Elektrizitätswerk Altdorf AG
 Gründung: 1994
 Besucherzahl pro Jahr: k. A.
 Ausstellungen pro Jahr: 2 Kunstausstellungen und Mittelschulprojekte
 Öffnungszeiten: Während Ausstellungen täglich von 14 bis 17 Uhr
 Adresse: Herrengasse 1, Altdorf, www.niedervolta.ewa.ch

                                                                             Raum für Kunst
                                                                             In ihrer umgebauten Dependance haben Pietro und Patrizia Ca-
                                                                             viglia eine Kleingalerie eingerichtet. Der im Zentrum von Erstfeld
                                                                             gelegene Raum für Kunst existiert seit 2010 und blickt auf eine
                                                                             kleine Ausstellungsgeschichte ausgewählter Werke zurück. In
                                                                             unregelmässigen Abständen – vornehmlich im Sommer – werden
                                                                             vorwiegend Kunstschaffende aus dem Kanton Uri und der restli-
                                                                             chen Zentralschweiz mit einer Ausstellungsmöglichkeit gefördert.
                                                                             Im vergangenen Jahr etwa präsentierte der in Luzern wohnhafte
                                                                             Tobias Weber eine Linoldruckserie über das Urnertal. Während
                                                                             Ausstellungen hat zusätzlich das hauseigene Bistro des Arts geöffnet.

                                                                              Betreiber: Pietro und Patrizia Caviglia, Modestus GmbH
                                                                              Gründung: 2010
                                                                              Besucherzahl pro Jahr: 50–100 Besucher
                                                                              Ausstellungen pro Jahr: 1–3 Kunstausstellungen
                                                                              Öffnungszeiten: Während Ausstellungen i.d.R. SO 14–17 Uhr
                                                                              oder nach Voranmeldung
                                                                              Adresse: Schmiedgasse 3, Erstfeld, www.raumfuerkunst.ch

                                                                                              Eine Auswahl weiterer Museen findet sich auf: www.museen-uri.ch

                                                                        21
DANIOTH

                                                                                              Heinrich Danioth ist der wohl
                                                                                              bekannteste Künstler Uris, und
                                                                                              aktuell ist ihm dort eine Ausstel-
                                                                                              lung gewidmet. Eingehend mit
                                                                                              dem «Teufelsmaler» auseinan-
                                                                                              dergesetzt hat sich Felice Zenoni,
                                                                                              der kürzlich einen Dokumentar-
                                                                                              film über ihn ins Kino brachte.

                                                                                              Heimat,
                                                                                              Himmel
Die Heimat wurde zum Ort seines Existenzkampfs: Heinrich Danioth. Bild: Mesch & Ugge
                                                                                              und Hölle
Nur zwei Urner haben ihr eigenes Museum. Wilhelm Tell in Bür-                               Tagebuch notierte: «Ich verstehe die Leute meiner Heimat durch
glen und Heinrich Danioth in Altdorf. Tell ist unzählige Male auf                           und durch, und fühle mich immer tiefer hinein in sie. Sie sind
Zelluloid gebannt worden, mit Spiel- und Dokumentarfilmen.                                  meine künstlerische Beute.» Dieser frühen Einsicht folgte er später
Erstaunlicherweise hat sich aber noch nie ein Filmemacher aus-                              konsequent. Er zog sich in sein «Stammesgebiet» zurück, die Heimat
führlich mit dem Leben und Werk des 1953 verstorbenen Künstlers                             wurde zum Ort seines Existenzkampfs.
Danioth auseinandergesetzt. Das Denken, die Motivation und die                                  Der geografische Rückzug hat ihn letztlich vielleicht den inter-
Arbeitsweise dieses – aus­serhalb von Uri leider weitgehend verges-                         nationalen Durchbruch gekostet. Ihm ist dafür etwas geglückt, was
senen – Künstlers haben mich schon immer interessiert. Auch das                             nur ganz wenigen Künstlern gelingt: sich mit einem einzigen Werk
Kantig-Schroffe seiner Art, das Schwimmen gegen den Strom der                               buchstäblich ins Kollektiv-Gedächtnis eines Landes zu malen. In
gängigen Trends reizte mich ganz besonders an Heinrich Danioth.                             der Populärmusik würde man Danioths Darstellung der Teufelssage
                                                                                            einen Evergreen nennen, dessen Refrain alle mitsingen, ohne den
Berühmt und doch vergessen                                                                  Urheber zu kennen. Genau das passierte mit dem Teufel in der
Oft findet ein Künstler erst in einer fernen Metropole zu seiner                            Schöllenenschlucht. Die wenigsten wissen, dass er von Danioth
Form des Ausdrucks. Bei Heinrich Danioth war es umgekehrt.                                  stammt. Noch weniger sind es, die wissen, wer dieser Danioth
Nach kurzen Studienaufenthalten in Rom und einem Semester                                   überhaupt war, wo und wie er gelebt hat.
in Karlsruhe ist er in die Abgeschiedenheit seiner Urner Heimat
zurückgekehrt. Und dort geblieben. Die Zeiten waren schwierig,                              Danioth, der Dichter
die Krise der 30er-Jahre blockierte eine ganze Künstlergeneration.                          In seiner Heimat hat Danioth zeitlebens nach der Essenz des Mensch-
Für Danioth kam aus verschiedenen Gründen nur dieser radikale                               seins gesucht. Die Protagonisten seines Œuvres sind ausnahmslos
Weg in Frage. Entscheidend muss eine Erkenntnis gewesen sein,                               die kleinen Leute: die Bauern, der Wegknecht, die Kuhhirtin, der
die er als Mittzwanziger auf Golzern im Maderanertal in seinem                              Holzer. Er malt und zeichnet sie in ihrem täglichen Ringen mit der

                                                                                       22
DANIOTH

                                          Natur, die sie lieben, der sie aber auch ausgesetzt sind. Er suchte
                                          «nach den Weiten des Menschlichen», wie er es einmal formuliert
                                          hat. Was auch Abgründe beinhaltet: Einem Jäger gleich pirscht er
                                          sich in seinem Revier an seine Motive heran. Malend oder dichtend.
                                          Er blickt hinter die Fassaden der Menschen. Wie er seinen Themen
                                          auf den Grund geht, übt auf mich eine enorme Faszination aus. Sein
                                          Werk ist zeitlos und existenziell. Am stärksten sind für mich jene
                                          Bilder, in denen Mensch und Natur zu verschmelzen scheinen. In
                                          ihnen schwingt immer auch jene Verletzlichkeit mit, die von der
                                          Urgewalt ausgeht. Danioth gelingt hier grosses Kino!
                                               Im Danioth Pavillon im Haus für Kunst Uri in Altdorf, wo aktuell
                                          die Ausstellung «Danioth und Weggefährten» zu sehen ist, hat
                                          Danioths Werk ein dauerhaftes Zuhause gefunden. Für meinen Film
                                          wollte ich aber auch ein bis heute nur marginal beackertes Terrain
                                          erschliessen: das Werk des schreibenden Heinrich Danioth. Seine
                                          Doppelbegabung als Maler und Schriftsteller finde ich besonders
                                          spannend, und mit zunehmendem Alter wandte Danioth sich ver-
                                          mehrt dem Wort zu. Das literarische Werk des Vielseitigen umfasst
                                          zwei Hörspiele, er textete und zeichnete über zwanzig Jahre lang
                                          Satire für den «Nebelspalter», er führte Tagebuch, ergänzte seine
                                          Bilder durch literarische Texte und war ein fleissiger Briefeschreiber
                                          im A4-Querformat. Er formulierte sein Pendlerdasein zwischen
                                          verschiedenen Kunstformen einmal so: «Die Texte wie die Bilder
                                          wurden von derselben Feder aufgezeichnet. Nach Lust und Einfall
                                          fiel sie aus der Mitte an den Rand des Blattes und wechselte derart
                                          vom Zeichnen her zum Worte. Aus den schweren Rhythmen eines
                                          Bergumrisses glitt sie zuweilen gerne in den leichtern Takt der               Ausstellung: Danioth und Weggefährten, Haus für Kunst Uri, Altdorf
                                          Buchstaben. Ist es vielleicht doch so, dass dem Gesetz des Schweigens         Die Ausstellung zeigt Werke von Heinrich Danioth zusammen mit Arbeiten
                                          der Drang des Schreibens nahe stünde?» Das ist mit Leichtigkeit               anderer zeitgenössischer (vielfach expressionistischer) Künstler wie etwa
                                          formuliert. Dahinter steht inneres Ringen nach der geeigneten                 Hodler, Segantini, Kirchner oder Giacometti, um Verwandschaften und
                                                                                                                        Unterschiede aufzuzeigen. Sie möchte Danioths Werk so über die heimat-
                                          Form – das Leichte ist bekanntlich schwer.
                                                                                                                        lichen Grenzen hinaustreten lassen und in einen nationalen Kontext stellen.
                                                                                                                        Bezüge zur Gegenwart schaffen aktuelle Installationen von Heidi Arnold
                                          Ein anderer Blick auf Uri                                                     und Andreas Wegmann. Im Begleitprogramm gibt es unter anderem eine
                                          Ich habe Wochen und Monate in unterschiedlichsten Archiven                    Lesung von Danioth-Texten mit Hanspeter Müller-Drossaart (19. April), die
                                          verbracht und dabei mein Auge immer auch bewusst auf Danioths                 Klangperformance «Danioth und die Musik» von MaMaRe (30. April) sowie
                                          schriftlichen Nachlass gerichtet. Am Schluss der Recherche galt               das szenische Rezital «Danioths Welt im Klang» (1. Mai). Die Ausstellung
                                          es aus unzähligen, unterwegs gescannten und transkribierten                   läuft noch bis am 17. Mai.
                                          Einzelseiten die Essenz seiner Gedanken zu filtern. Über drei Jahre
                                          habe ich am Film gearbeitet. Danioths Texte nehmen in meiner                  Felice Zenoni: Danioth – der Teufelsmaler
                                          filmischen Annäherung an den Künstler eine Schlüsselrolle ein.                Der Filmautor Felice Zenoni wurde 1964 in Altdorf geboren und lebt heu-
                                          Erst in Kombination mit seinen schriftlichen Aufzeichnungen                   te in Zürich. Nach seiner Ausbildung am MAZ in Luzern war er während
                                          erschliesst sich dem Zuschauer und Zuhörer Danioths Universum.                zehn Jahren Moderator, Redaktor und Regisseur beim Schweizer Radio und
                                          «Malen heisst Literatur überwinden», sagt Danioth.                            Fernsehen. Seit 1999 ist er als Regisseur bei der Firma Mesch&Ugge tätig
                                                                                                                        und realisierte in der Schweiz und im Ausland mehrere Dokumentarfilme,
                                              Mit meinem Film will ich dem Zuschauer auch einen etwas
                                                                                                                        zum Beispiel «Der General» (2010), «O mein Papa – Paul Burkhard» (2007)
                                          anderen Blick auf meine Urner Heimat vermitteln, den er in der
                                                                                                                        oder «Soldiers Of The Pope» (2005). Drei Jahre dauerte seine Arbeit am
                                          Regel nur als Transit-Kanton kennt. Zum Beispiel im Gotthard-Stau.
Danioths Felswandbild in der Schöllenen

                                                                                                                        Dokumentarfilm «Danioth – der Teufelsmaler», der im Januar 2015 in die
                                          Vielleicht möchte er bei der nächsten Fahrt in den Süden etwas länger         Kinos kam. Der Film ist ist laut Zenoni ein «ganz persönlicher Heimatfilm»
                                          und bewusster in der Berg- und Seenlandschaft verweilen, die für              (als Sechsjähriger stand er 1971 erstmals als Tells Sohn Willi auf der Bühne
                                          Heinrich Danioth Urquell seiner Kunst war. Auch deshalb habe ich              der Tellspiele in Altdorf) – jedoch versuchte er bewusst, die dem Heimatfilm
                                          den Film meiner Heimat Uri und ihren Menschen gewidmet. Und                   oft aneignende verklärende Romantik zu vermeiden. So konzentriert sich
                                          natürlich auch denen, die den speziellen Weg dorthin suchen wollen.           der Film ganz auf den Menschen und Künstler Heinrich Danioth in seinem
                                                                                                                        Schaffens- und Existenzkampf. Die DVD erscheint voraussichtlich im Spät-
                                                                                                                        herbst 2015.
                                          Felice Zenoni

                                                                                                                   23
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