ZUHAUSE IM TRANSITLAND - null41
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Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO 4 April 2015 CHF 8.– www.null41.ch ZUHAUSE IM TRANSITLAND
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EDITORIAL AB NACH URI So sicher, wie man im Zug nach mehr, seit die Autos auf der Autobahn Airolo dreimal den Kirchturm von vorbeibrausen. Eine mindestens so Wassen zu sehen bekommt, so sicher spannende Tankstelle auf dem Weg werden auch diese Ostern die Auto- von Erstfeld Richtung Gotthard ist reisenden vor dem Gotthardtunnel allerdings noch geöffnet. Das gesellige im Stau stehen. Für ein verlänger- Ehepaar Stern betreibt sie seit 40 Jah- tes Wochenende in Mailand oder ren und hat die Verkehrsgeschichte Rom werden sie zu Tausenden die des Gotthards hautnah miterlebt. schnellste Nord-Süd-Achse Europas Wir haben gestoppt und zugehört. passieren. Und die soll künftig ja (Seite 8) noch schneller werden: Die Vorberei- Ebenfalls eine berühmte Verkehrs- tungen zum Eröffnungsanlass des Basistunnels 2016 achse von Uri ist die Klausenpassstrasse. Die Bilder der laufen bereits, und auch über eine zweite Autoröhre Urner Fotografendynastie Aschwanden dokumentieren wird nächstes Jahr abgestimmt. eindrücklich ihre Entstehung und Geschichte. Diese Die schnellsten Routen sind aber selten die interessan- wird momentan in einem interessanten Buchprojekt testen. Wer das imposante Bergpanorama rund um aufgearbeitet. (Seite 14) den Gotthard, das schon Goethe faszinierte, geniessen Im Kanton Uri gibt es aber nicht nur berühmte Strassen will, fährt oben drüber. So schrieb der Dichter Julius zu entdecken. Natürlich haben wir uns auch nach Bierbaum, einer der ersten, der den Gotthardpass mit Kulturellem umgesehen – und sind reichlich fündig dem Auto überquerte, 1902: «Die Fahrt ist so wunderbar geworden. Wir wünschen viel Vergnügen mit diesem schön, dass man durchaus nicht den Wunsch hegt, sie Urner Heft, und gute Fahrt! abzukürzen. – Es ist die vielleicht abwechslungsreichste Fahrt, die wir überhaupt je gemacht haben.» Der schönen Bergkulisse wegen kurvte auch James Bond schon durchs Urserental und machte dabei gleich auch eine Tankstelle in Andermatt, an der er kurz hielt, berühmt. Die James-Bond-Tankstelle schloss vor einem Martina Kammermann Jahr, denn das Geschäft mit dem Sprit lohnt sich nicht kammermann@kulturmagazin.ch 3
INHALT 8 ANGEHALTEN 21 HERAUSGEPICKT Eine kleine Kunstentdeckungstour in Uri. Zu Besuch bei einer einzigartigen Tankstelle 24 AUSGEFLOGEN an der Gotthardstrasse. Der Urner Regisseur und Musiker Benno Muhheim bespielt Bühnen in der ganzen Schweiz. 26 MINI-SHOPPING 14 ZURÜCKGESCHAUT Wir stellen vor: drei Kreativ-Kioske. Ein fotografischer Ausflug zu den Anfängen der Klausenpassstrasse. KOLUMNEN 6 Gabor Feketes Hingeschaut 7 Lechts und Rinks: Ein Hoch auf Porno-Beamte 30 Gefundenes Fressen: Dicke Eier 47 11 Fragen an: Corinne Wegmüller 73 Kämpf / Steinemann 74 Käptn Steffis Rätsel 75 Das Leben, wie es ist SERVICE 31 Bau. Schöner bauen neben Samih Sawiris 32 Ausstellungen. Meditativ durch Raum und Zeit 35 Musik. Eine junge Pianistin, die auffällt 38 Kino. Liebeserklärung an einen Film 41 Wort. Der Beizen-Poet ist zurück 44 Bühne. Getanzte Bilderflut 72 Ausschreibungen / Namen&Notizen / Preise 48 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz KULTURKALENDER 49 Kinderkulturkalender 50 Veranstaltungen 67 Ausstellungen Titelbild: Christof Hirtler 22 DER EVERGREEN Das Werk von Teufelsmaler Heiri Danioth Heinrich Danioth, «Selbstporträt», 1923, Dätwyler Stiftung ist in Uri noch immer omnipräsent. 20 PROGRAMME DER KULTURHÄUSER Kunstmuseum Luzern 50 Stadtmühle Willisau 52 ACT / Stattkino 54 Kulturlandschaft / Kleintheater 56 Neubad / Chäslager 58 LSO / Luzerner Theater 28 ZUKUNFTSBLICK NR. 3 62 64 Romerohaus / HSLU Musik Südpol So ticken die Künstler von morgen. 66 68 Kunsthalle / Museum Bellpark Historisches Museum / Natur-Museum 70 Nidwaldner Museum 4
SCHÖN GESAGT «Als Jugendlicher in Uri hast du drei Möglichkeiten. Entweder du machst Sport, Musik, sprich Metal- oder Blasmusik, oder du gehst saufen.» BENNO MUHEIM, MUSIKER UND REGISSEUR (SEITE 21) GUTEN TAG AUFGELISTET GUTEN TAG, FAST-FOOD-GENERÄLE GUTEN TAG, LOHNTRANSPARENZ Furzideen und Nächstenliebe: Fast-Food- und Imbissstände schiessen in der Zen- Unter dem allgegenwärtigen Spardruck rücken tralschweiz aus dem Boden wie Pilze, die Luzerner momentan auch die Löhne von Staatsdienern das bunte Vereinsleben der In- Gewerbepolizei verzeichnet seit 1998 eine Zunahme in den Fokus: Nachdem Stapi Stefan Roth vom nerschweiz. von 45 auf 231 Betriebe. Und es wird Jahr für Jahr Stimmvolk nonchalant der Lohn gekürzt wurde, weiter aufgerüstet … Die jeweiligen Ketten und Be- möchte auch in Kriens die SVP die Höhe der Löhne treiber wenden im Fast-Food-Krieg unterschiedliche ihrer Gemeinderäte erfahren, und die städtische SP - Apro Stiärä Manöver an: McDonalds Schweiz will den Feind fordert Transparenz über die Kaderlöhne der der - Katzenmusikgesellschaft bald mit Tischbedienung ausstechen, damit man Stadt gehörenden Betriebe VBL, EWL und Luzer- Schattdorf beim Anstehen nicht mehr stehen muss – Harold ner Heime. Immer mehr Transparenz in Sachen Hunziker von McDonalds Schweiz: Man wolle Lohn herrscht auch beim Gästival, das mit fast - Nächstenliebe Altdorf eben, höhö, beweglich bleiben. Burger King hat drei Millionen Franken subventioniert wird: Erst - Tell Shooters eine ganz schlaue Strategie entwickelt: In Hochdorf wurde klar, dass Künstler oder Gruppen, die für - Düä-Bäbä Guggä Bristen hat man letztes Jahr eine Filiale direkt neben dem das Tagesprogramm der Seerose gesucht wurden, ONE Fitness Center eröffnet, die Burger wandern im Gegensatz zu denen im offiziellen Abendpro- - Balanggäbäägger Guggä Seedorf dort gleich in die verschwitzten Münder der Mus- gramm gar nicht bezahlt werden, sondern lediglich - Älpler Brüsti Attinghausen kelprotze. Subway hingegen flankiert die Fronten die rosafarbene Plattform gratis nutzen können. um den Kanton Luzern: Die Kette will in Stans Okay. Dann las man im «Tages-Anzeiger», dass die - St. Avgin Süryoyerfrauenverein eine Filiale eröffnen und sich mittelfristig auch in unter «Jobs» gesuchten Springer, Kassenaushilfen, und Muttergemeinschaft Obwalden und Uri etablieren. In der Stadt Luzern Hosts und Hostessen mit garstfreundlichen zehn - furzidee.ch geht man eher taktisch vor: Erdem hat das seit Franken die Stunde bezahlt werden. Toller Job. Monaten leer stehende Lokal rechts der Tankstelle Nur so der Transparenz wegen: Da kommt man - Beerpong Schwyz beim Bundesplatz gleich selbst gemietet, damit es bei manchem regionalen Kulturfestival ohne Acht- - Mythengay – Schwyz und leer bleibt und sich der Feind dort nicht einnistet. Millionen-Budget und mit einem weniger symbo- Schwul lischen Ansatz – im doppelten Sinne – besser weg. - Delphin-Träff-Team Guten Appetit, 041 – Das Kulturmagazin Halb-freiwillig, 041 – Das Kulturmagazin Markt 2015 Vom 11. April – 9. Mai sind wir wieder samstags auf dem Helvetiaplatz, Luzern. Masterprogramm Kulturmanagement Studiengang 2015 - 2017, Beginn Oktober 2015 Informationsveranstaltung Grosses Sortiment Dienstag, 5. Mai 2015, 18.30 bis 20 Uhr einheimischer Wildblumen Ort: Steinengraben 22, 4051 Basel und Kräuter ANZEIGEN www.kulturmanagement.unibas.ch www.wildstauden.ch 5
HINGESCHAUT Mapplethorpe und Rodin Letzten Sommer erlebte ich mein absolutes Highlight, was Mu- wunderbare Park des Musée Rodin beflügelte uns aufs Neue. Und seumsbesuche betrifft. Mit meiner Frau besuchte ich in Paris im dann dies: Die Symbiose dieser Ausstellung stand direkt vor mir. Musée Rodin die Ausstellung Mapplethorpe–Rodin. Es waren Der wahrhaftige Körper eines konzentrierten Touristen-Kunst- die ausserordentlichen Parallelen des amerikanischen Fotografen Fotografen, nur das Glas war die künstlerische Grenze. und des französischen Bildhauers, die mich beeindruckten. Durch dieses magische Erlebnis brauchten unsere Köpfe frische Luft. Der Bild und Text: Gabor Fekete 6
LECHTS UND RINKS Bitte diesen Artikel während der Arbeit lesen! Warum die Luzerner Porno-Beamten ein Vorbild für uns alle sind. Porno in der Kantonsverwaltung, das ist mal ein patentes Thema. Für die Medien, für Bei- zenrunden und Marktgespräche, und auch für die SVP, die auf ihren Wahlplakaten dankbar fragte: «Faule Porno-Beamte durchfüttern?» Aber auch Politiker anderer Parteien starteten durch, fanden den privaten Internetverkehr, der in der Luzerner Kantonsverwaltung of- fenbar herrscht – genau: «nicht akzeptabel», «unhaltbar» und so weiter, und sie forderten, dass jetzt «durchgegriffen» wird. Eine Untersu- chung hatte 2010 ergeben, dass 54 Prozent des Internetgebrauchs privaten Zwecken diente, 6 Prozent sogar den Kategorien «Nacktheit» und «Pornografie». Und während die Regie- rung noch beschwichtigte, seit der Studie seien die heikelsten Seiten gesperrt und die Nutzung neu geregelt worden, kündigte sie trotzdem eiligst eine Administrativuntersuchung an. Das ist ja die heute übliche Führungsstärke: Passiert ist nichts, aber das hindert uns nicht daran, entschlossen zu handeln. Nichts gegen Regeln für den Internetge- konsumiert wurde. Wer während der Arbeit nochmals unsere Büromails checken, für eine brauch in der Verwaltung. Und klar mutet es ein Internetradio laufen lässt oder wer sich Rückfrage oder für einen Kunden erreichbar merkwürdig an, wenn die Luzerner Beamten nebenher per Live-Ticker oder Live-Übertra- sind oder dass wir via Dropbox noch rasch während mehr als der Hälfte der Zeit, die sie gung über den Stand eines Skirennens oder ein Dokument gegenlesen, das am nächsten im Internet verbringen, privaten Interessen Fussballmatches auf dem Laufenden hält, ist Tag wichtig sein wird. Mit anderen Worten: nachsurfen. Trotzdem ist die vorauseilende deswegen noch lange nicht faul. Womöglich Wer im Büro rasch einen privaten Flug bucht Empörung über die Zahlen auch reichlich billig. arbeitet er sogar besser. oder auf einer Onlinebörse sein altes Sofa Hat man doch zum Beispiel noch keine Zahlen verscherbelt, hält nur Gegenrecht. Aber das darüber gelesen, wie viel Internet in Pausen Die Dresche der Boulevardmedien und ist natürlich nicht das, was die Effizienz- und oder nach Büroschluss konsumiert wurde. -politiker für die Beamten ist aber auch darum die neoliberalen Wirtschaftspolitiker wollen. Ebenso schwer fällt die Einschätzung, wie sehr vulgär, weil sie ein Verhalten skandalisiert, Ihnen schweben Angestellte vor, die zwar auch der private Internetkonsum die Angestellten das vielleicht nicht in jedem Einzelfall, aber nach Feierabend für den Arbeitgeber da sind, tatsächlich vom Arbeiten abhält. Für sehr viele insgesamt doch ziemlich normal ist. Und die tagsüber aber keinen einzigen Gedanken Menschen ist es normal, ihre Facebook-Seite zeitgemäss. Auch im Kanton Luzern leben verschwenden an ihre eigenen Bedürfnisse. den ganzen Tag offen auf dem Schirm zu wir schon lange nicht mehr in fein säuber- So gesehen, hat die Empörungswirtschaft der haben – was aber logischerweise nicht heisst, lich getrennten Arbeits- und Freizeitwelten. Boulevardzeitungen von Zürich bis Luzern dass sie den ganzen Tag nichts anderes tun, Gerade neue Technologien wie Internet halt doch ihre einfältige und devote Logik. als Däumchen anzuklicken. Gleich verhält und Smartphones haben wesentlich dazu es sich mit Streaming-Angeboten von Radio beigetragen, dass wir auch nach Feierabend Christoph Fellmann, Illustration: Mart Meyer* und Fernsehen, die mit über 20 Prozent * Dem Illustrator war es scheinbar aus privaten Gründen nicht möglich, die hier vorgesehene Illustration während seiner einen beträchtlichen Teil des Datenvolumens Arbeitszeit termingerecht fertigzustellen. Er wird diese bei Gelegenheit nach Feierabend auf seine private Dropbox stel- ausmachten, das in der Verwaltung privat len. Wir finden dies unhaltbar und entschuldigen uns an dieser Stelle. 7
«Komm raus, gopf, du musst rauskommen», schreit der Feuerwehrmann. Frieda Stern möchte sich anziehen, doch sie kann nicht. Sie ist blockiert. Als der Boden mitten in der Nacht zu vibrieren begann, dachte sie erst, es sei ein Steinschlag. Stattdessen kommt die Bedrohung von unten: Die Reuss hat das ganze Haus unterhalb ihrer Tankstelle, in der sie sich befindet, weggerissen, ebenso das Pfarrhaus und den halben Friedhof. «Jetzt komm!», ruft auch ihr Mann von draussen. Frieda Stern bewegt sich nicht. Die Männer beschliessen, sie übers Dach rauszuholen – da setzt ihr Verstand wieder ein. Das Dach kaputtmachen? Auf keinen Fall. Draussen findet sie ihren Mann nicht. «Er ist nochmal rein, wir wissen auch nicht, wieso», sagt der Feuerwehrmann. Das wars, der kommt nicht mehr zurück, denkt Frieda, es ist ihr angst und bang. Doch da steht er im Türrahmen – er hat das Töffli aus dem Keller geholt. Das war in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1987. Ein Jahrhundert-Unwetter wütete über dem Gott- hardmassiv und verwandelte die Reuss in einen wilden Strom, der weite Teile des Tals verwüstete. Gurtnellen, ein kleines Dorf im Urner Oberland, traf es besonders, es musste vollständig evakuiert werden. Tage später fand Frieda Stern im Schlamm eine Predigt, die der Pfarrer für den Sonntag vorbereitet hatte und der in dieser Nacht – Gott sei Dank – in den Ferien war. Wenn es am Gotthard rumort, rumort es gewöhnlich in der ganzen Schweiz. Hier wurden manche Kämpfe mit der Natur ausgefochten und das Verhältnis des Menschen zu ihr verhandelt. Die mächtige, lange als unpassierbar geltende Berglandschaft wurde in den letzten 200 Jahren dutzendfach durchlöchert, überbrückt, gesprengt, betoniert und milliardenfach durchfahren. Von Sagen, Schriftstellern und Politikern wurde sie gleichzeitig mystifiziert, glorifiziert, politisiert: Keine andere Region prägt das Selbstverständnis der Schweiz als Festung und Transitland wie der Gotthard. Er steht für glänzende Ingenieursleistungen, historische Momente, Schutz vor fremden Fürsten. Auch für sommer- liche Autostaus. Bereits der Bau des Gotthard-Bahntunnels von 1882 hatte die Region nachhaltig verändert. Mit dem Siegeszug des Automobils wurde die Geschichte des Urner Oberlands definitiv zu einer Mobilitätsgeschichte. Ein Akteur dieser Geschichte ist eine winzige Tankstelle im Reusstal zwischen Erstfeld und Wassen. Wo auch immer 8
NORD-SÜD Die letzten Tankwarte vom Gotthard Mitten in der historischen Verkehrslandschaft des Gotthards versorgt das Ehepaar Stern seit 40 Jahren Fahrzeuge mit ihrem Lebenssaft. Die Geschichte der wohl interessantesten Tankstelle der Schweiz. Von Martina Kammermann, Bilder: Christof Hirtler 9
NORD-SÜD die Autos sich ihren Weg durch Uri bahnten – sie blieb in den vergangenen sechzig Jahren immer bestehen. Und noch heute werden dort Fahrzeuge mit ihrem Lebenssaft betankt. Reden tut gut Der kleine, unscheinbare Flachdachbau am Ortseingang von Gurtnellen ist von der Strasse her gut ersichtlich. «KIOSK» steht in grossen Lettern auf der weissen Wand. Der Anfang des Schriftzugs ist bereits von Efeu überwuchert, er wird ihn wohl noch ganz erobern. Zwei kleine Zapfsäulen mit analogem Zähler stehen unter einem Wellblechdach, eine Plache schützt vor eisigem Zugwind. Der Kiosk, ein kleines Vitrinenhäuschen, ist nicht mehr in Betrieb. Die Plakate an seinen Scheiben kündigen längst vergangene Anlässe an, hinter dem Glas erkennt man ein Wähltelefon, eine alte Rechenmaschine und allerlei Krimskrams, überblickt von einem verblichenen Marlboro-Mann. Die Zeit scheint hier stehen geblieben. An der Stahltür daneben ein hand- geschriebenes Schild: «Bitte läuten». Dahinter sitzt Frieda Stern am Küchentisch und liest die «Glückspost». Es ist ihr liebster Ort in der winzigen, zur Tankstelle gehörigen Wohnung. Ja, es ist ihr liebster Ort überhaupt. Seit vierzig Jahren ist die 81-Jährige praktisch jeden Tag hier. Sie hat das heranfahrende Auto gehört, greift zu ihrem schwarzen Serviceportemonnaie und tritt heraus. «Ja kommen Sie, kommen Sie», grüsst sie herzlich und strahlt. Frieda Stern freut sich immer über Besucher, Der Kiosk ist nicht mehr in Betrieb, das Büro aber immer noch in Schuss. vor allem im Winter, wenn nur wenige vorbeifahren. So bedient sie die Kunden, die zufahren, nicht nur mit Benzin, sondern immer auch mit einem kurzen Schwatz, einer kleinen Anekdote. «Reden tut gut», sagt sie, «vor allem den alten Leuten, die schätzen das.» Es kämen auch fast nur Alte zu ihr, die Jungen würden alle im Tal arbeiten, schön ist, sitzt Frau Stern gerne draussen, wo auch ihr und mit denen könne man sowieso nicht richtig reden. Mann öfters anzutreffen ist, gerade fährt er mit dem Auto Es ist auch gar nicht nötig, viel zu sagen. Da fügt sich eine zu. Sein Nummernschild: UR 871. Der 83-Jährige ist der Geschichte in die andere – die Tankstelle, die Leute vom Ruhigere von den beiden. Morgens um neun bis abends Dorf, der Besuch beim Augenarzt, der Sohn im Tessin, um zehn sind sie an der Tankstelle, essen hier das Zmittag die wilden Katzen und Marder, denen sie gern ein Stück und Znacht und schauen zum Rechten. Nur zum Schlafen Käserinde rausstellt. gehen sie nach Hause. Wenn Frieda Stern erzählt, tut sie es mit dem ganzen Körper. Überhaupt scheint alles an ihr in Bewegung. Die Die Geschichte der Sterns ist eng mit der Geschichte stahlblauen Augen, die wach umherblicken, die kräftigen des Gotthards verknüpft. Frieda Stern ist in Gurtnellen Beine, mit denen sie entschlossene kleine Schritte zur aufgewachsen und hat dort als junge Frau im Restaurant Tanksäule tut, wenn ein Auto zufährt, die gepflegten ihres Onkels serviert. Oft waren Arbeiter zu Gast, da- Hände, mit denen sie das Erzählte unterstreicht und die mals wurde am Gotthard viel gebaut. Nach dem Zweiten sie ihrem Gegenüber gerne auf den Arm legt. Manchmal Weltkrieg – Frieda Stern kann sich noch gut an die vielen vergisst sie sie dort und stützt sich eine Weile auf, während Soldaten erinnern, bei denen sie hungrig um ein Guetzli sie leicht vornübergebeugt eine Geschichte erzählt. Jawohl, bettelte – entwickelte sich der Verkehr rasant: Mitte der aus aller Welt kämen Leute zu ihr, immer die gleichen, seit Fünfzigerjahre reisten bereits täglich über 2800 Fahrzeuge Jahren. Besonders freut sie sich auf den Sommer, wenn über den Pass. Man begann mit dem Ausbau der Schölle- die Töfffahrer wieder kommen. Ihr Griff wird fester. «Die nenstrasse, des Urner Lochs mit der neuen Teufelsbrücke haben ein Gaudi, das glauben Sie nicht!», kichert sie. Ja, und der Tremola. Von überall her kamen die Arbeiter hier bedient zu werden ist eine wahre Freude. Wenn es nach Uri, so auch der Thurgauer Hans Stern. Er hatte 10
NORD-SÜD Früher war hier im Sommer jeweils der Teufel los. Frieda Stern für ihren Teil ist froh, sind diese Zeiten vorbei. als Maschinist auf verschiedenen Grossbaustellen in der und Abfallberge am Wegrand an der Tagesordnung. Der Schweiz gearbeitet, bevor er 1955 zum Staudamm auf Reiseverkehr war zum Massentourismus geworden, der der Göscheneralp kam. 1956 lernten sich die beiden im Verkehr kollabierte regelmässig. In diesem Jahr entschied Restaurant kennen und heirateten zwei Jahre darauf, ein sich der Bund für einen 16,9 Kilometer langen Autobahn- Sohn und eine Tochter folgten bald. Als der Staudamm tunnel parallel zum Eisenbahntunnel. Der Bau, der zehn 1962 fertig war, arbeitete Hans Stern ein paar Jahre als Jahre dauerte, begann 1970. Fahrer am Staudamm Mattmark im Wallis und schliesslich Damals arbeitete Frieda Stern bereits als Angestellte über 20 Jahre als Fernfahrer. Mit dem Lastwagen kam in der Tankstelle. Kunden bedienen, organisieren, den Hans Stern nach ganz Europa, Jordanien, Kuwait, Iran, Betrieb in Schuss halten – das lag ihr. Als sich 1974 die Irak, Marokko – er hat viel von der Welt gesehen. Auf die Gelegenheit bot, die Tankstelle zu übernehmen, griffen die eine oder andere Reise ging Frieda Stern mit, doch sie war Sterns zu. Für die ganze Familie hätte der Gewinn nicht schon immer am liebsten zu Hause in ihrem Gurtnellen, gereicht, also blieb Hans Stern weiterhin Fahrer und Frieda wo sie die Kinder grosszog. führte die Tankstelle alleine. Hier stieg der Verkehr weiter rasant an. 1965 passier- ten von Mai bis Oktober 885 500 Fahrzeuge den Gotthard. Die harten Jahre Entweder mit dem Autozug durch den Eisenbahntunnel oder Gurtnellen, 1975: Frieda Stern steht im Kiosk und schwitzt. über die neue Gotthardstrasse, die den Massen aber bald Das Kind der Kundin quengelt, es darf eine Süssigkeit nicht mehr gewachsen war. PKW, Motorräder, Lastwagen auswählen. Draussen an der Tanksäule stehen bereits zwei und Busse zwängten sich durch die Dörfer – die grossen Wagen Schlange. «Diese magst du doch so gern», berät Fahrzeuge mussten in den Haarnadelkurven jeweils mehrere die Mutter das Kleine – es dauert ewig. Wie kann man Anläufe nehmen. Im Sommer waren Staus, Abgaswolken ein Kind nur so verwöhnen?, denkt Frieda und presst die 11
NORD-SÜD Die einstige Waschanlage haben die Sterns zum Lagerraum umfunktioniert. Lippen zusammen, ihr Blick wandert wieder nach draussen. zugestossen. Ihr bewährtes Rezept: «Wenn du schlechte Nun ist das hintere Auto wieder abgefahren. Wäre doch Leute triffst, musst du zu ihnen umso besser sein. Nur so Chantal schon von der Schule zurück! Frieda ist jeden Tag kannst du sie drehen und gewinnen.» von frühmorgens bis spätnachts hier; jetzt, im Sommer, nimmt sie die Kunden wann immer sie kann, ihre Nächte Die Autobahn kommt sind kurz. Heute ist sie mit dem Mittagessen in Verzug, weil In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre wurden nach und sie am Morgen noch diese Sache aufputzen musste. Schon nach Teilstücke der Autobahn von Erstfeld Richtung Gö wieder hat ihr jemand nachts eine Sauerei gemacht. Einfach schenen eröffnet und die Anzahl Autos, die das Reussstal auf auf den Boden! Scheusslich. «Die Schoggi, die Zigaretten der Hauptstrasse passierten, nahm langsam ab. 1980 wurde und noch ein Glace? Ja sehr gern.» – Endlich gehen sie. der Autotunnel eröffnet und die Strecke Basel–Mailand Schnell raus jetzt, die Kunden warten. war nun durchgehend als Autobahn befahrbar. Im Urner Frieda Stern erinnert sich gut an diese ersten harten Oberland konnte man endlich aufatmen – die Staus hatten Jahre. «Die viele Arbeit war das eine, aber ich musste auch ein Ende. Es setzte allerdings auch eine Entwicklung ein, oft Angst haben», erzählt sie, die damals Mitte vierzig war, die den Gemeinden an der Nord- wie auf der Südseite des «Gesindel und Halunken waren unterwegs.» Abends, wenn Gotthards Verluste brachte. Zwar hatte man den Verkehr es dunkel war, war Frieda Stern manches Mal mulmig, nicht mehr direkt vor der Haustür, wirtschaftlich konnte wenn ein Auto in die Einfahrt bog und sie nicht wusste, aus man aber auch nicht mehr von ihm profitieren. Viele welchem Holz die Männer darin geschnitzt waren. Alles, Betriebe, allen voran die Gastbetriebe, verloren ihre Exis- was nicht niet- und nagelfest war, wurde geklaut. Zweimal tenzgrundlage. Auch Industriebetriebe schlossen und die sei die ganze Kasse weggekommen, da habe sie bittere Dörfer begannen sich langsam zu entleeren, während der Tränen geweint. Ihr selbst sei zum Glück aber nie etwas Verkehr anonym an ihnen vorbeirauschte – man wurde 12
NORD-SÜD zur europäischen Transitregion. Zudem wuchs der Verkehr eigentlich auch die Tankstelle schliessen: «Wirtschaftlich so rasch und massiv, wie es sich zu Beginn wohl niemand rentierte es längst nicht mehr», sagt er. – Aber es ging nicht. vorstellen konnte. Schon im ersten Betriebsjahr des Tunnels Einen Alltag ohne die Tankstelle konnte sich seine Frau stieg die Anzahl der Fahrzeuge, die Uri passierten, von gut nicht mehr vorstellen: «Für sie wäre es der Tod gewesen.» einer auf über drei Millionen. 1990 waren es bereits über Und so ist ihre Tankstelle noch immer geöffnet, als Zeuge sechs Millionen. «Dieser Tunnel ist kein Korridor für den alter Zeiten und herzlicher Weiler für Gäste und Stamm- Schwerverkehr», verkündete alt Bundesrat Hans Hürlimann kunden von nah und fern, die tanken oder einfach nur bei der Eröffnung noch feierlich. Auch in diesem Punkt reden wollen. Hier haben die Sterns immer etwas zu tun, hatte man sich gewaltig verrechnet. Der neue Durchgang die Kinder besuchen sie oft, die Enkelkinder fast täglich. zog die Lastwagen regelrecht an, und ihre Zahl vervielfachte Manchmal, wenn die Autobahn aus irgendeinem Grund sich sprunghaft. So standen die Ferienreisenden an Som- nicht befahrbar ist, stauen sich die Autos erneut vor ihrer merwochenenden fortan in Göschenen im Stau, und die Einfahrt. Doch tanken würden die wenigsten, winkt Hans Urnerinnen und Urner hatten den Gestank und Lärm noch Stern ab: «Die haben Angst, nicht wieder in die Schlange immer. So lancierten sie – zusammen mit Leuten aus dem zu kommen!» Wallis, Graubünden und dem Tessin – die Alpeninitiative, die den verkehrspolitischen Grundsatz «Güter auf die Schienen» 1994 in der Verfassung verankerte und einer zweiten Autobahnröhre den gesetzlichen Riegel schob. 87 Prozent der Urner Bevölkerung stimmten Ja. Als die neue Autobahn kam, betraf dies die Sterns mit ihrer Tankstelle ganz direkt: viele ihrer Kunden verloren sie an die Autobahnraststätten. Für das Geschäft war das schlecht – für Frieda Stern aber auch eine Erleichterung: «Ich hätte es nicht mehr machen mögen», sagt sie. Da die Tankstelle schon immer ein Zweitverdienst war und die Kinder bald auf eigenen Beinen standen, war der Geschäftseinbruch für die Sterns nicht existenzbedrohend. Die folgenden Jahre brachten sie sich mit Kunden aus der Region und mit dem Zeitschriftenverkauf am Kiosk über die Runden. Die Tanksäulen auf der gegenüberliegenden Frieda und Hans Stern halten hier Tag für Tag die Stellung und bedienen herzlich ihre Kunden – wenns die Zeit erlaubt auch mit Strassenseite gaben sie auf. Hans Stern begann Mitte der der einen oder anderen Anekdote. Achtziger als Chauffeur bei der lokalen Schmelz Metall AG und half abends und an den Wochenenden mit. Doch zusehends wurden die Einwohner in Gurtnellen und den umliegenden Dörfern weniger, die Kunden rarer. Als die Auch jetzt rumort es wieder am Gotthard. Die Leute Ende der Achtziger begannen, Zeitschriften nach Vorbereitungen für die Eröffnung des neuen Eisenbahn- Hause zu abonnieren, gingen auch die Kiosk-Einnahmen tunnels von Erstfeld nach Biasca 2016 – notabene des zurück. Hatten sie in den besten Zeiten noch 85 Sonntags- wiederum längsten Tunnels der Welt – laufen, und der blicke verkauft, waren es vor drei Jahren, als sie den Laden Autobahntunnel muss nach 2020 saniert werden. Heute schlossen, nur noch drei. durchfahren ihn jährlich sechs Millionen Fahrzeuge, Fährt man heute über die Hauptstrasse Richtung die Zahl stagniert seit 2001. Eine knappe Million davon Wassen, begegnet einem in der Regel kaum Gegenverkehr, sind Lastwagen. Der Streit, ob eine zweite Strassenröhre das Tal entleert sich. In Gurtnellen selbst ist die Einwoh- gebaut werden soll oder nicht, ist längst entbrannt. 2016 nerzahl allein in den letzten zwanzig Jahren um rund 25 wird das Schweizer Stimmvolk ein weiteres Mal darüber Prozent auf 580 Einwohner gesunken. Nur der Arnisee, entscheiden können. der zur Gemeinde gehört, und das Gourmetrestaurant «Im Feld» ziehen noch Touristen an. Bis heute bedauert Hans Es ist ein strahlend schöner Märztag. Frieda Stern Stern, dass Gurtnellen anders als die Nachbargemeinden sitzt auf ihrer Bank und sonnt sich, die Augen geschlossen. Amsteg und Wassen keine Autobahnausfahrt erhalten Um sie ragen die Berge malerisch in den blauen Himmel, es hat. «So billig wie hier hätten sie keine gekriegt», ist er ist still, das gleichmässige Rauschen der Autobahn scheint überzeugt. Er kennt sich mit politischen Vorgängen in der ganz fern. «Wissen Sie, ich schlafe nicht, ich schliesse Region bestens aus: Von 1989 bis 1996 war er Gurtnellens nur die Augen und geniesse es und warte, warte auf den Gemeindepräsident. Als Hans Stern in Rente ging, wollte er Frühling. Dann kommen die Töfffahrer wieder.» 13
Während sich der Gotthard zum Nord- Süd-Transitgebiet entwickelte, wurde die Klausenpassstrasse vor allem von Freizeitfahrern erobert. Im Buchprojekt «Saumpfad – Liini – Speedway» gehen die Architekturhistorikerin Marion Sauter und der Fotograf F. X. Brun der Verkehrs- und der Kulturgeschichte am Klausen- pass nach. Sie nehmen uns mit auf einen Ausflug in ihre laufende Arbeit. Text: Marion Sauter Fotos: Michael Aschwanden (1865–1940), Richard Aschwanden (1909–2001) und F. X. Brun Über Stock, Stein Serpentinen in der Vorfrutt, als Schotterstrasse um 1900 und «staubfrei» 1930. Rechts die Strasse, wie wir sie heute kennen. und Asphalt Ein Postauto müht sich gemächlich die Serpentinen in Richtung Klausenpasshöhe hinauf, dahinter bildet sich allmählich eine Kolonne ungeduldiger Passtouristen – hoch- motorisierte Cabrio- und Töfffahrer, welche die Aussicht geniessen, vor allem jedoch uneingeschränkten Fahrspass haben wollen. Unter anderem auf der halsbrecherischen «Liini» die in den 1890er-Jahren in die steile Felswand zwischen dem Seelithaltunnel und der Balm geschlagen wurde. Was heute vollkommen alltäglich anmutet, hat sich erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. Die Klausenstrasse wurde im Jahr 1900 eröffnet und 1922 für den Automo- bilverkehr freigegeben – im selben Jahr startete auch das Klausenrennen von Linthal in Glarus bis zur Passshöhe auf 1948 m. ü. M. Anfänglich in einem alles verschlingenden Staubwirbel: Das Schottertrassee der Klausenstrasse wurde erst in den 1930er-Jahren getränkt und somit «staubfrei» gemacht. Die historischen Fotografien von Michael Asch- wanden aus den Jahren 1900 bis 1935 und die aktuellen Bilder des Urner Fotografen F. X. Brun verdeutlichen, wie sich die Strasse mehr und mehr aus der Landschaft heraus- schälte, wie der Verkehr mehr und mehr Raum einforderte. Der Klausenpass ist seit der Bronzezeit begangen – lange bevor sich die beiden Talorte Altdorf und Linthal gebildet haben. Über die steilen Saumpfade wurde aber über mehr als drei Jahrtausende kein nennenswerter Warenverkehr abgewickelt. Bis 1880 waren auch die beiden hintersten 14
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OST-WEST Seelithaltunnel, um 1910 Blick auf die «Liini», um 1900 Älpler auf dem Urnerboden, um 1910 Postkutschenkurs auf der «Liini», um 1900 Schächentaler Bergbauerndörfer Spiringen und Unterschä- Tiere über den Pass zu treiben. Bergbauern und Vieh waren chen lediglich durch unwegsame Saumpfade erschlossen. steile Anstiege gewohnt. Eine befahrbare Strasse brachte Im 18. Jahrhundert verlagerten sich die Linthaler zuneh- hier keinerlei Verbesserung. Der Alpkäse wurde seit jeher mend auf die Spinnerei und die Weberei, die Textilindustrie auf dem Rücken der Bergbauern oder auf Lasttieren, das prosperierte. Es brauchte neue Absatzmärkte und einen Wildheu im Winter auf Schlitten ins Tal gebracht. Selbst Anschluss an die seit 1830 fahrbare Gotthardroute, vor als der Urnerboden 1877 zur bescheidenen Dauersiedlung allem jedoch an die 1882 eröffnete Gotthardbahn. Die ersten wurde, änderte sich die Situation nicht. Die Urner Bergbau- Glarner Vorstösse zur Fahrbarmachung des Klausenpasses ern betrieben Selbstversorgung und wirtschafteten nach und damit zur Auflösung der Sackgassenlage von Linthal dem dramatischen Klimaeinbruch der «Kleinen Eiszeit» datieren in das Jahr 1829. Anfang des 19. Jahrhunderts am Existenzminimum. Ohne Perspektive – die heutigen, bequemen Viehtransporte per Dieses Bedürfnis stand den Interessen der Urner Berg- Lastwagen waren damals unvorstellbar. Und der Kanton bauern vollkommen entgegen. Die etablierten Saumpfade Uri, gefordert durch den Ausbau der Gotthardroute, des erschlossen die grösste Alp der Schweiz, den Urnerboden. Sie Oberalp- (1863) und des Furkapasses (1866) sowie der Gott- genügten, um im Frühsommer und im Herbst jeweils 1800 hardbahn und der Axenstrasse (1860), sah sich finanziell 16
OST-WEST Touristen und erste Radsportler, um 1910 Automobilverkehr vor dem Hotel Klausenpass, 1920er-Jahre Postauto vor dem Hotel Wilhelm Tell & Post, um 1950 Erste Passfahrt nach der Wintersperre, 1955 ausserstande, eine weitere Passstrasse zu realisieren: 75 Strassenprovisorium, dessen dringliche Erneuerung kaum Prozent der Klausenstrasse liegen auf Urner Terrain, das günstiger gekommen wäre als der Urner Anteil am Bau der sich bis weit hinter die Passhöhe erstreckt. hochsubventionierten Klausenstrasse. Doch die Glarner gaben nicht auf: Nach ihrem dritten Vorstoss im Jahr 1864 einigte man sich auf die Projektie- Die 46 Kilometer lange Strecke von Altdorf nach Linthal rung der Klausenstrasse. Da sich die Urner jedoch nicht bedurfte allein auf der Urner Seite den Bau von mehr entscheiden konnten, welcher historische Schächentaler als einem Dutzend Brücken und unzähligen massiven Saumpfad die Grundlage für die zukünftige Klausenstrasse Stützwänden. Oberhalb von Urigen wurde der 58 Meter bilden sollte, scheiterte das Subventionsgesuch. Erst 1890 lange Seelithaltunnel mit anschliessender Galerie in den erklärte sich der Bund bereit, 80 Prozent der Baukosten Fels gesprengt (siehe linke Seite oben). Um den sumpfigen zu übernehmen – wenn die Klausenstrasse den Anforde- Urnerboden erschliessen zu können, musste der Fätschbach rungen des Schweizer Militärs genüge. Die Zustimmung kanalisiert werden. Die gesamte Klausenstrasse wurde mit der nach wie vor skeptischen Urner sicherte schliesslich Kolonnensteinen gesäumt und mit einem Geländer aus eine Naturkatastrophe: Seit dem verheerenden Bergsturz Granitstelen und Eisenrohren gesichert. Zeitgleich wurden am Spitzen im Jahr 1887 befand sich in Spiringen ein entlang der Klausenstrasse Hotels errichtet, um die zu 17
OST-WEST Teatime auf der Terrasse vor dem Hotel Klausenpass, 1905 Schnappschuss-Pause auf dem Töffparkplatz, heute erwarteten Passtouristen adäquat verpflegen zu können. Gebiet führen. Sucht man die Verbindung zur traditionellen 1900 konnte die Klausenstrasse feierlich eröffnet und ein Alpwirtschaft, muss man den kleinen, von Hand gemalten regelmässiger Postkutschenkurs eingerichtet werden. Schildern «Alpkäse» am Strassenrand folgen und die alten Die neue Fahrstrecke verband Uri und Glarus nun wäh- Saumpfade einschlagen. Die schmale, im Sommer hochfre- rend der Sommermonate, der über den Klausen abgewickelte quentierte Klausenstrasse selbst empfiehlt sich nicht mehr Warenverkehr hielt sich jedoch in Grenzen. Auch die Urner für einen Spaziergang. Bergbauern profitierten in den ersten Jahrzehnten nur in sehr bescheidenem Mass von der neuen Passstrasse: Zwar konnte der Urnerboden nun auch mit Pferdekarren erreicht werden, die motorisierte Bewirtschaftung der angrenzenden Alpstafel setzte sich jedoch erst ab 1950 allmählich flächen- Das Buchprojekt deckend durch. Wiederum brachte eine Naturkatastrophe einen Innovationsschub: Nach den verheerenden Unwettern «Saumpfad – Liini – Speedway. Die Erschliessung des Klausen- im Jahr 1977 wurden weitere (Natur-)Strassen ausgebaut, passes» dokumentiert die Verbindung zwischen den Kantonen welche die Klausenstrasse bis zu den Bergheimwesen und Uri und Glarus. Einst ein unwegsamer Saumpfad, partiell aus- zahlreichen Alpstafeln fortsetzen. gebaut zu einem Dammweg, dann erweitert zur «Schächental strasse», reiht sich der Klausen seit 1900 in die Reihe der ausge- bauten Alpenpässe. Die Erschliessung des Klausenpasses bietet Die grösste Errungenschaft ist somit die touristische überraschende Aspekte, etwa ein visionäres Trambahnprojekt, Erschliessung der Klausenpasshöhe. Während die Touris- eine Streckenalternative, um den Pass im Winter offen halten zu ten anfänglich gemächlich reisten, sich unmittelbar am können, sowie die jüngsten Ausbau- und Unterhaltsarbeiten. Die Strassenrand auf malerischen Terrassen ausruhten und Architekturhistorikerin Marion Sauter hat die historischen Quel- sich an der Aussicht und der Natur erfreuten, dominiert seit len gesichtet, unter anderem die einzigartigen Aufnahmen der den 1920er-Jahren der motorisierte Verkehr auswärtiger Urner Fotografendynastie Aschwanden, die die Klausenstrasse seit ihrer Eröffnung dokumentiert haben. Dies führte zur Idee, Passtouristen, ganz nach dem Motto: Immer schneller, den Text um eine eigene Bildebene zu ergänzen. Der Urner Foto- immer lauter. Besonders eindrucksvoll sind die ersten graf F. X. Brun erzählt die Geschichte der Klausenstrasse in einer Fahrten nach der Wintersperre im Mai durch meterhohe fotografischen Gegenüberstellung und führt die Aschwanden- Schneeberge, was Richard Aschwanden bereits in den Dokumentation fort. Dafür wurde er 2014 von der Kunst- und 1950er-Jahren dokumentierte. Zahlreiche Gasthäuser laden Kulturstiftung Heinrich Danioth mit einem Preis ausgezeichnet. zum Verweilen ein, teilweise sind diese inzwischen speziell Das Klausenstrassenbuch will die Verkehrs- und Kulturgeschich- auf die über die Passhöhe rasenden Töfffahrer eingestellt. te zweier Innerschweizer Alpentäler wissenschaftlich fundiert Dies bildet einen eigentümlichen Kontrast, gehört die und zugleich anschaulich erklären. Das Buch wird vom Grafiker Marc Philipp gestaltet und wird 2016 bei Gislerdruck, Altdorf, Klausenstrasse doch zu den wenigen Passstrassen, die erscheinen. weitestgehend durch besiedeltes und bewirtschaftetes 18
KUNSTRÄUME Auf Kunsttour Uri gilt nicht eben als Mekka für Kunstinteressierte. Eine kleine Tour durch den Kanton zeigt aber: Wer sucht, der findet. Ein paar Stopps. Von Michael Sutter Edition 5 Erstfeld Eine illustre Künstlerliste und ein subtiles Konzept machen die selbst, dass das Konzept der Edition 5 Erstfeld keinerlei kommerzielle Edition 5 Erstfeld zu einem einzigartigen Ort der Kunstförderung. Absichten hegt, sondern vielmehr ein mit Leidenschaft betriebenes, Statt Kunstschaffende mit Stipendien und Artist-in-Residence- kostspieliges Hobby von Jürg und Ruth Nyffeler ist. Dies impliziert Projekten zu unterstützen, realisiert das Sammlerehepaar Jürg und eine völlige Unabhängigkeit vom Kunstmarkt und die Möglichkeit, Ruth Nyffeler seit mehr als zwanzig Jahren Kleinauflagen von drei- nach persönlichem Geschmack die Editionsreihe fortzusetzen. dimensionalen Kunstwerken. Was im Jahr 1994 mit Franz Wanners Voraussetzungen für eine Edition sind die Professionalität der «Büchse der Pandora» – eine MDF-Skulptur mit eingeschlossener Künstler, die technische Realisierbarkeit sowie – aus logistischen Pigmentschicht – begann, wurde zu einer imposanten Serie von Gründen – das Volumen. Editionen, die jeweils in Privatsammlungen, Kunstinstitutionen und Die Kunstwerke kann man in der Privatwohnung im Mietshaus Ausstellungen landeten. Mittlerweile sind rund 200 Editionen von der Nyffelers und in der leer stehenden Wohnung einen Stock mehr als hundert verschiedenen Kunstschaffenden zusammenge- darüber besichtigen, die persönliche Führung inklusive Kaffee kommen, der Fokus liegt mehrheitlich auf Deutschschweizer Kunst. versteht sich von selbst. In der Art einer Asservatenkammer lagern Das Vorgehen ist meistens dasselbe: Die Nyffelers machen Be- hier der in Aluminium gegossene Davoserschlitten von Jürgen kanntschaft mit einem Kunstschaffenden und im Gespräch entsteht Drescher, Schokolade in DIN-A4-Format von Karin Sander oder eine Werkidee. Es folgt eine Produktion von fünf Kunstwerken, eine Kopfhörerduschbrause der Künstlergruppe KLAT aus Genf. wobei jeweils eines in die hauseigene Sammlung kommt. Die Aus der mehrjährigen Zusammenarbeit mit einzelnen Künstlern restlichen vier Stücke werden zu moderaten Preisen von 500 bis sind mittlerweile freundschaftliche Beziehungen entstanden, die 5000 Schweizer Franken zum Verkauf angeboten, was angesichts ein Ende der Editionsreihe nicht absehbar machen und gleichzeitig der Künstlernamen wie John Armleder, Roman Signer oder Rémy die Sammler-Sonderrolle der Edition 5 Erstfeld in der Peripherie Markowitsch einem Schnäppchen gleichkommt. Es versteht sich von manifestieren. Betreiber: Ruth und Jürg Nyffeler Gründung: 1994 Besucherzahl pro Jahr: 100–150 Besucher, 15 708 auf der Website Ausstellungen pro Jahr: Dauerausstellung Öffnungszeiten: nach Voranmeldung Adresse: Gotthardstrasse 132, Erstfeld, www.edition5.org Bild: Objekte der Edition 5, ausgestellt im Haus für Kunst Uri 2010 19
ANZEIGE 28.02. 21.06.2015 SHARON LOCKHART MILENA, MILENA 28.02. 22.11.2015 VON ANGESICHT Talmuseum Ursern ZU ANGESICHT Inmitten des Dorfzentrums von Andermatt steht ein denkmal- geschütztes, auffällig bemaltes Patrizierhaus, das im Volksmund Suworowhaus genannt wird. Das einstige Winterquartier des FÜSSLI, BÖCKLIN, bekannten Generals, der am 25. September 1799 dort übernachtete, ist mittlerweile zu einem Heimatmuseum umfunktioniert, das die RONDINONE UND Kulturgeschichte des Urserentals in historischen Räumlichkeiten präsentiert. Auf mehreren Stockwerken lässt sich die Wohnkultur des späten 18. Jahrhunderts nachvollziehen und das knarrende ANDERE Holz – mit riesigen Pantoffeln an den Füssen – auch begutachten. Dazu gibt es zahlreiche Informationen und Originalobjekte aus den Sparten Tourismus, Militär, Alpwirtschaft und dem traditionellen Säumerwesen. Auch dem berühmtesten Sohn 07.03. 31.05.2015 von Andermatt – dem Skirennfahrer Bernhard Russi – ist ein eigenes Kabinett gewidmet. Zusätzlich beherbergt das Talmuseum PUSHWAGNER Wechselausstellungen im Kellergeschoss. Die aktuelle Ausstellung beschäftigt sich mit Bearbeitungsformen von Bergkristall. Der gebürtige Luzerner Gold- und Silberschmied Hans Stalder (*1934) IN KOOPERATION MIT lieferte die Entwürfe und der Steinschleifer Joseph Häfliger (*1954) führte die als «Weg- und Tauschzeichen» betitelten Arbeiten FUMETTO – INT. COMIX- aus. Gemeint sind Werke aus geschliffenem Bergkristall, die zwischen vertrauten Menschen, trotz räumlicher Trennung, eine Verbindung schaffen. Die kleinen Objekte werden fein säuberlich FESTIVAL LUZERN in Glasvitrinen im modernen Untergeschoss des Talmuseums ausgestellt. Betreiber: Stiftung Talmuseum Ursern Eröffnung: 1991 (Hausbau, 1786) Besucherzahl pro Jahr: ca. 2150 Besucher Ausstellungen pro Jahr: Dauerausstellung, ein bis zwei Sonderausstellungen europaplatz 1, 6002 luzern Öffnungszeiten: Winter: MI–SO, 16 bis 18 Uhr / www.kunstmuseumluzern.ch Sommer: MI–SA, 16 bis 18 Uhr Adresse: Gotthardstrasse 113, Andermatt, www.museum-ursern.ch 20
KUNSTRÄUME EWA-Galerie Niedervolta Seit mehr als zwanzig Jahren betreibt die Elektrizitätswerk Altdorf AG im Kellergeschoss des 1684 erbauten Hauses im Eselmätteli einen kleinen Ausstellungsraum. Die EWA-Galerie Niedervolta versteht sich als Ergänzung zu den grösseren Kunstinstitutionen und präsentiert in der Regel jährlich zwei Ausstellungen von lokalen Künstlerinnen und Künstlern. So werden in diesem Jahr aktuelle Arbeiten von Mundi Nussbaumer (ab Ende Mai) und Christoph Hirtler (Herbst) zu sehen sein. Betreiber: Elektrizitätswerk Altdorf AG Gründung: 1994 Besucherzahl pro Jahr: k. A. Ausstellungen pro Jahr: 2 Kunstausstellungen und Mittelschulprojekte Öffnungszeiten: Während Ausstellungen täglich von 14 bis 17 Uhr Adresse: Herrengasse 1, Altdorf, www.niedervolta.ewa.ch Raum für Kunst In ihrer umgebauten Dependance haben Pietro und Patrizia Ca- viglia eine Kleingalerie eingerichtet. Der im Zentrum von Erstfeld gelegene Raum für Kunst existiert seit 2010 und blickt auf eine kleine Ausstellungsgeschichte ausgewählter Werke zurück. In unregelmässigen Abständen – vornehmlich im Sommer – werden vorwiegend Kunstschaffende aus dem Kanton Uri und der restli- chen Zentralschweiz mit einer Ausstellungsmöglichkeit gefördert. Im vergangenen Jahr etwa präsentierte der in Luzern wohnhafte Tobias Weber eine Linoldruckserie über das Urnertal. Während Ausstellungen hat zusätzlich das hauseigene Bistro des Arts geöffnet. Betreiber: Pietro und Patrizia Caviglia, Modestus GmbH Gründung: 2010 Besucherzahl pro Jahr: 50–100 Besucher Ausstellungen pro Jahr: 1–3 Kunstausstellungen Öffnungszeiten: Während Ausstellungen i.d.R. SO 14–17 Uhr oder nach Voranmeldung Adresse: Schmiedgasse 3, Erstfeld, www.raumfuerkunst.ch Eine Auswahl weiterer Museen findet sich auf: www.museen-uri.ch 21
DANIOTH Heinrich Danioth ist der wohl bekannteste Künstler Uris, und aktuell ist ihm dort eine Ausstel- lung gewidmet. Eingehend mit dem «Teufelsmaler» auseinan- dergesetzt hat sich Felice Zenoni, der kürzlich einen Dokumentar- film über ihn ins Kino brachte. Heimat, Himmel Die Heimat wurde zum Ort seines Existenzkampfs: Heinrich Danioth. Bild: Mesch & Ugge und Hölle Nur zwei Urner haben ihr eigenes Museum. Wilhelm Tell in Bür- Tagebuch notierte: «Ich verstehe die Leute meiner Heimat durch glen und Heinrich Danioth in Altdorf. Tell ist unzählige Male auf und durch, und fühle mich immer tiefer hinein in sie. Sie sind Zelluloid gebannt worden, mit Spiel- und Dokumentarfilmen. meine künstlerische Beute.» Dieser frühen Einsicht folgte er später Erstaunlicherweise hat sich aber noch nie ein Filmemacher aus- konsequent. Er zog sich in sein «Stammesgebiet» zurück, die Heimat führlich mit dem Leben und Werk des 1953 verstorbenen Künstlers wurde zum Ort seines Existenzkampfs. Danioth auseinandergesetzt. Das Denken, die Motivation und die Der geografische Rückzug hat ihn letztlich vielleicht den inter- Arbeitsweise dieses – ausserhalb von Uri leider weitgehend verges- nationalen Durchbruch gekostet. Ihm ist dafür etwas geglückt, was senen – Künstlers haben mich schon immer interessiert. Auch das nur ganz wenigen Künstlern gelingt: sich mit einem einzigen Werk Kantig-Schroffe seiner Art, das Schwimmen gegen den Strom der buchstäblich ins Kollektiv-Gedächtnis eines Landes zu malen. In gängigen Trends reizte mich ganz besonders an Heinrich Danioth. der Populärmusik würde man Danioths Darstellung der Teufelssage einen Evergreen nennen, dessen Refrain alle mitsingen, ohne den Berühmt und doch vergessen Urheber zu kennen. Genau das passierte mit dem Teufel in der Oft findet ein Künstler erst in einer fernen Metropole zu seiner Schöllenenschlucht. Die wenigsten wissen, dass er von Danioth Form des Ausdrucks. Bei Heinrich Danioth war es umgekehrt. stammt. Noch weniger sind es, die wissen, wer dieser Danioth Nach kurzen Studienaufenthalten in Rom und einem Semester überhaupt war, wo und wie er gelebt hat. in Karlsruhe ist er in die Abgeschiedenheit seiner Urner Heimat zurückgekehrt. Und dort geblieben. Die Zeiten waren schwierig, Danioth, der Dichter die Krise der 30er-Jahre blockierte eine ganze Künstlergeneration. In seiner Heimat hat Danioth zeitlebens nach der Essenz des Mensch- Für Danioth kam aus verschiedenen Gründen nur dieser radikale seins gesucht. Die Protagonisten seines Œuvres sind ausnahmslos Weg in Frage. Entscheidend muss eine Erkenntnis gewesen sein, die kleinen Leute: die Bauern, der Wegknecht, die Kuhhirtin, der die er als Mittzwanziger auf Golzern im Maderanertal in seinem Holzer. Er malt und zeichnet sie in ihrem täglichen Ringen mit der 22
DANIOTH Natur, die sie lieben, der sie aber auch ausgesetzt sind. Er suchte «nach den Weiten des Menschlichen», wie er es einmal formuliert hat. Was auch Abgründe beinhaltet: Einem Jäger gleich pirscht er sich in seinem Revier an seine Motive heran. Malend oder dichtend. Er blickt hinter die Fassaden der Menschen. Wie er seinen Themen auf den Grund geht, übt auf mich eine enorme Faszination aus. Sein Werk ist zeitlos und existenziell. Am stärksten sind für mich jene Bilder, in denen Mensch und Natur zu verschmelzen scheinen. In ihnen schwingt immer auch jene Verletzlichkeit mit, die von der Urgewalt ausgeht. Danioth gelingt hier grosses Kino! Im Danioth Pavillon im Haus für Kunst Uri in Altdorf, wo aktuell die Ausstellung «Danioth und Weggefährten» zu sehen ist, hat Danioths Werk ein dauerhaftes Zuhause gefunden. Für meinen Film wollte ich aber auch ein bis heute nur marginal beackertes Terrain erschliessen: das Werk des schreibenden Heinrich Danioth. Seine Doppelbegabung als Maler und Schriftsteller finde ich besonders spannend, und mit zunehmendem Alter wandte Danioth sich ver- mehrt dem Wort zu. Das literarische Werk des Vielseitigen umfasst zwei Hörspiele, er textete und zeichnete über zwanzig Jahre lang Satire für den «Nebelspalter», er führte Tagebuch, ergänzte seine Bilder durch literarische Texte und war ein fleissiger Briefeschreiber im A4-Querformat. Er formulierte sein Pendlerdasein zwischen verschiedenen Kunstformen einmal so: «Die Texte wie die Bilder wurden von derselben Feder aufgezeichnet. Nach Lust und Einfall fiel sie aus der Mitte an den Rand des Blattes und wechselte derart vom Zeichnen her zum Worte. Aus den schweren Rhythmen eines Bergumrisses glitt sie zuweilen gerne in den leichtern Takt der Ausstellung: Danioth und Weggefährten, Haus für Kunst Uri, Altdorf Buchstaben. Ist es vielleicht doch so, dass dem Gesetz des Schweigens Die Ausstellung zeigt Werke von Heinrich Danioth zusammen mit Arbeiten der Drang des Schreibens nahe stünde?» Das ist mit Leichtigkeit anderer zeitgenössischer (vielfach expressionistischer) Künstler wie etwa formuliert. Dahinter steht inneres Ringen nach der geeigneten Hodler, Segantini, Kirchner oder Giacometti, um Verwandschaften und Unterschiede aufzuzeigen. Sie möchte Danioths Werk so über die heimat- Form – das Leichte ist bekanntlich schwer. lichen Grenzen hinaustreten lassen und in einen nationalen Kontext stellen. Bezüge zur Gegenwart schaffen aktuelle Installationen von Heidi Arnold Ein anderer Blick auf Uri und Andreas Wegmann. Im Begleitprogramm gibt es unter anderem eine Ich habe Wochen und Monate in unterschiedlichsten Archiven Lesung von Danioth-Texten mit Hanspeter Müller-Drossaart (19. April), die verbracht und dabei mein Auge immer auch bewusst auf Danioths Klangperformance «Danioth und die Musik» von MaMaRe (30. April) sowie schriftlichen Nachlass gerichtet. Am Schluss der Recherche galt das szenische Rezital «Danioths Welt im Klang» (1. Mai). Die Ausstellung es aus unzähligen, unterwegs gescannten und transkribierten läuft noch bis am 17. Mai. Einzelseiten die Essenz seiner Gedanken zu filtern. Über drei Jahre habe ich am Film gearbeitet. Danioths Texte nehmen in meiner Felice Zenoni: Danioth – der Teufelsmaler filmischen Annäherung an den Künstler eine Schlüsselrolle ein. Der Filmautor Felice Zenoni wurde 1964 in Altdorf geboren und lebt heu- Erst in Kombination mit seinen schriftlichen Aufzeichnungen te in Zürich. Nach seiner Ausbildung am MAZ in Luzern war er während erschliesst sich dem Zuschauer und Zuhörer Danioths Universum. zehn Jahren Moderator, Redaktor und Regisseur beim Schweizer Radio und «Malen heisst Literatur überwinden», sagt Danioth. Fernsehen. Seit 1999 ist er als Regisseur bei der Firma Mesch&Ugge tätig und realisierte in der Schweiz und im Ausland mehrere Dokumentarfilme, Mit meinem Film will ich dem Zuschauer auch einen etwas zum Beispiel «Der General» (2010), «O mein Papa – Paul Burkhard» (2007) anderen Blick auf meine Urner Heimat vermitteln, den er in der oder «Soldiers Of The Pope» (2005). Drei Jahre dauerte seine Arbeit am Regel nur als Transit-Kanton kennt. Zum Beispiel im Gotthard-Stau. Danioths Felswandbild in der Schöllenen Dokumentarfilm «Danioth – der Teufelsmaler», der im Januar 2015 in die Vielleicht möchte er bei der nächsten Fahrt in den Süden etwas länger Kinos kam. Der Film ist ist laut Zenoni ein «ganz persönlicher Heimatfilm» und bewusster in der Berg- und Seenlandschaft verweilen, die für (als Sechsjähriger stand er 1971 erstmals als Tells Sohn Willi auf der Bühne Heinrich Danioth Urquell seiner Kunst war. Auch deshalb habe ich der Tellspiele in Altdorf) – jedoch versuchte er bewusst, die dem Heimatfilm den Film meiner Heimat Uri und ihren Menschen gewidmet. Und oft aneignende verklärende Romantik zu vermeiden. So konzentriert sich natürlich auch denen, die den speziellen Weg dorthin suchen wollen. der Film ganz auf den Menschen und Künstler Heinrich Danioth in seinem Schaffens- und Existenzkampf. Die DVD erscheint voraussichtlich im Spät- herbst 2015. Felice Zenoni 23
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