Zum Beispiel das Holliger-Areal - Generationenwohnen in Neubausiedlungen Begleitstudie von 2018 bis 2021 - Age-Stiftung
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Zum Beispiel das Holliger-Areal Generationenwohnen in Neubausiedlungen Begleitstudie von 2018 bis 2021
Impressum Auftraggeber Layout Wohnbaugenossenschaften Schweiz, jaDESIGN: Julie Ting + Andreas Rufer Regionalverband Bern-Solothurn Druck Steuergruppe Druckerei Glauser AG Jürg Sollberger, Wohnbaugenossenschaften Schweiz, Regionalver- band Bern-Solothurn Kontaktadresse Christoph Graf, Förderverein Generationenwohnen-Bern-Solothurn Berner Fachhochschule Jörg Rothaupt, Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit Institut Alter Jonathan Bennett, Berner Fachhochschule, Institut Alter Hallerstrasse 10 Andy Limacher, ProjektForum 3012 Bern Ilja Fanghänel, Arbeitsgruppe Generationenwohnen ISGH, Wohnbaugenossenschaft Warmbächli Telefon +41 31 848 36 70 Begleitgruppe alter@bfh.ch Christa Schönenberger, Pro Senectute bfh.ch/alter Joëlle Zimmerli, Zimraum Simone Gatti, Zukunft Wohnen Datum: Juli 2021 Erscheinungsdatum des Berichts Christian Wiesmann, Architekt Katrin Haltmeier, Stadt Bern Karin Weiss, Age-Stiftung Auflage: 200 Projektverantwortung Prof. Dr. Michèle Métrailler, Berner Fachhochschule Institut Alter Autor*innen Michèle Métrailler, Marie-Hélène Greusing, Sanna Frischknecht, Cécile Neuenschwander, Fabienne Güdel, Thomas Isenschmid Förderung Dieser Bericht dokumentiert ein Förderprojekt der Age-Stiftung, weitere Informationen dazu finden Sie unter www.age-stiftung.ch. Der Bericht ist integraler Bestandteil der Förderung. Lektorat satzbausatz, Bern Illustrationen und Visualisierungen Atelier 5, Bern: S. 63 BHSF Architekten, Zürich: S. 6 Christoph «Chragi» Frei, Bern: S. 43, 47, 49, 57, 58, 74-77 Jaeger Koechlin Architekten, Basel: S. 60 Dr. Meyer Immobilien, Bern: S. 37 Martin Zulauf, werkgruppe agw, Bern: Titelbild Fotos FAMBAU Genossenschaft, Bern: S. 45 Sanna Frischknecht: S. 10, 20, 33, 50 Infrastrukturgenossenschaft Holliger ISGH: S. 13 Daniel Kaufmann: S. 4, 9, 10, 13, 14, 38, 41, 55, 62, 66/67, 72, 78 Nina Bollhalder: S. 63 Yvonne Lenzlinger: S. 61 Jürg Rothhaupt: S. 30 Lisa Schäublin: S. 31 Oliver Slappnig: S. 19 Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, Bern: S. 70
Inhalt 1. Ausgangslage: Bauprojekt Holliger – Generationenwohnen in Bern 5 – Das Bedürfnis nach Generationenwohnen: neu entdeckt? 5 – Die Wohnpolitik der Stadt Bern als Wegweiser für die Neubausiedlung Holliger 5 – Der Holliger – das Arealprojekt stellt sich vor: gemeinsam, vielfältig, daheim 7 – Entstehungsgeschichte 7 2. Informationen zum Forschungs- und Entwicklungsprojekt 11 – Ausgangslage, Fragestellung und Zielsetzung 11 – Methode 11 – Mitwirkende 12 – Finanzierung 12 3. Theoretische Grundlagen 15 – Generationenkonzepte 15 – Generationenwohnen im Zeitverlauf 17 – Generationenbeziehungen im Wandel 17 – Die politischen Erwartungen hinter dem Begriff Generationenwohnen 18 – Interview mit C. Graph zum Thema Neuwertigkeit und Nutzen von Generationenwohnen 19 4. Erwartungen an das Generationenwohnen 21 – Visionen des Generationenwohnens: Wie wollen die Holliger*innen in Zukunft wohnen? 21 – Die Wohn- und Lebenskukltur an der Güterstrasse 8 22 – Die Perspektive des Quartiers: «Ageing in Place» als Kernvision des Generationenwohnens 25 – Holligen an Holliger: Erwartungen und Wünsche des Quartiers 25 – Generationenwohnen im Holliger: förderliche und hinderliche Faktoren 28 – Interview mit J. Rothaupt zum Mehrwert einer integrativen Quartierentwicklung 30 – Generationenwohnen – eine konzeptionell offene Rahmung der Zusammenarbeit 32 zwischen unterschiedlichen Bauträgern – Der Schlüssel zu einer gelungenen Zusammenarbeit 32 – Die Rolle der ISGH und ihres Verwaltungspräsidenten für die Kooperation 34 – Schwierigkeiten bei der Kooperation 35 5. Voraussetzungen für Generationenwohnen 39 – Organisatorische Voraussetzungen 39 – Die Verwaltung der Infrastrukturgenossenschaft Holliger 39 – Die Arbeitsgruppen der ISGH 42 – Siedlungsverein und Siedlungsassistenz 44 – Interview mit O. Kaufmann zu den Aufgaben einer Sozialplanerin im Holliger 45 – Konzepte, Reglemente und Praktiken 46 – Räumliche Voraussetzungen 49 – Wohnraumplanung der einzelnen Bauträger und siedlungsübergreifender Wohnungsmix 49 – Gemeinschaftsräume 54 – Aussenraumgestaltung 56 – Soziale Voraussetzungen 58 – Soziale Durchmischung 58 – Partizipation 59 – Interview mit Y. Lenzlinger zum Leben im Mehrgenerationenhaus Giesserei in Winterthur 61 6. Die Etappen der Planung und Entwicklung des Generationenwohnens 63 – Interview mit I. Fanghänel als Rückschau auf die Planung des Holligers 70 7. Empfehlungen 73 8. Verzeichnisse 79 – Literaturverzeichnis 79 – Grafiken und Tabellen 79
1. Ausgangslage: Das Bauprojekt Holliger – Generationenwohnen in Bern Generationenwohnen erlebt eine Renaissance. Neubauprojekte, 5 die das intergenerationelle Zusammenwohnen und -leben auch im urbanen Raum aufleben lassen wollen, erleben seit den 1990er-Jahren einen Boom. Doch was macht den Unterschied zwischen den heutigen urbanen Generationenwohnprojekten und den intergenerationellen Wohnformen aus, die man früher kannte oder die man auch heute noch in bäuerlichen Milieus kennt? Greifen die sozialpolitischen Versprechen, die mit heutigen Generationenwohnprojekten einher- gehen, nicht doch zu vollmundig? der – wenn auch nur in Bezug auf ihre Wohnlage. Der Zusammenfassung Soziologe François Höpflinger (2011: 3) spricht in diesem Zusammenhang von «multilokalen Mehrgene- – Das Zusammenleben der Generationen innerhalb einer Familie ist rationen-Familien». In diesen Familien vollziehen sich in der Schweiz rückläufig. intergenerationelle (Unterstützungs-)Beziehungen, obwohl die einzelnen Mitglieder weitgehend in – Ein beträchtlicher Anteil älterer Personen hat im Alter keine in der getrennten Haushalten leben – dies oft über grössere Familie begründeten Kontakte zu jüngeren Generationen. Distanzen, ja sogar über Landesgrenzen hinweg. – Nachbarschaftsbeziehungen können eine Alternative zu Generationen- Gleichzeitig ist in der Schweiz der Anteil der Personen, beziehungen innerhalb der Familie bieten, auch wenn sie sich in Bezug die im Alter keine Beziehungen zu Familienmitgliedern auf damit verbundene Emotionen, Funktionen und Normen voneinander anderer Generationen haben, mit 20 Prozent relativ unterscheiden. hoch (BFS 2017). Daher ist der regelmässige Kontakt mit jungen Familien oder mit Jugendlichen für manche Menschen im Alter, etwa aufgrund ihrer Verwandt- schaftsbeziehungen, keine Selbstverständlichkeit. Für diese Personen sind gesellschaftliche Angebote nötig, Das Bedürfnis nach Generationenwohnen: um dem Bedürfnis nach intergenerationellen Begeg- neu entdeckt? nungen gerecht zu werden: entweder in Form gemein- Der demografische Wandel prägt uns und unsere samer Aktivitäten oder des gemeinsamen Wohnens. Gesellschaft. Wir leben länger und dies oftmals bei guter Gesundheit. Wir sind mobiler – sowohl in jungen Warum sollte man also nicht den Kontakt zur Familie, Jahren als auch im Alter. Diese Entwicklung zieht die nebenan wohnt, herstellen? Gerade die Nachbar- Veränderungen in Bezug auf die Generationenbezie- schaft könnte sich als Träger intergenerationeller hungen nach sich. Uns bietet sich die Chance, mehr Beziehungen anbieten. Zwar stammen die Nachbar- Zeit mit unseren Grosseltern, Eltern, Kindern, Enkeln schaftskinder oder die frisch gebackenen Eltern, die und vielleicht sogar Grossenkeln zu verbringen. Doch nebenan eingezogen sind, nicht aus derselben Familie, nutzen wir diese Gelegenheit? doch auch intergenerationelle Beziehungen ausserhalb der Familie sind wertvoll: Sie lassen emotionale Nähe Obwohl die gemeinsame Lebensspanne mehrerer zu. Vielleicht werden dort verschiedene Wertvorstel- Generationen innerhalb einer Familie noch nie so lang lungen gemeinsam ausgehandelt oder neue Entde- war wie heute, ist der Anteil an Haushalten in der ckungen gemacht. Die Nachbarschaft kann also zu Schweiz, in denen mehr als zwei Generationen zusam- einem Ort werden, wo Wissen und Erfahrungen weiter- menleben, mit weniger als einem Prozent sehr klein gegeben werden und eine gemeinsame Geschichte (Höpflinger, Hugentobler & Spini 2019: 45). Was in entsteht. Partnerschaften als Trend gilt, nämlich «living apart together», scheint sich als Zauberformel auch in Bezug auf das Zusammenleben der Generationen zu bewäh- Die Wohnpolitik der Stadt Bern als Wegweiser ren: emotionale Nähe bei gleichzeitiger räumlicher für die Neubausiedlung Holliger Distanz. Eltern und Kinder wohnen oftmals nicht mehr Eine Stossrichtung der Wohnpolitik in der Stadt Bern in unmittelbarer räumlicher Nähe, wie es früher auf geht in Richtung gemeinnütziger Wohnungsbau. Nicht dem Hof die Regel war, sondern die zunehmende nur soll preisgünstiger Wohnraum geschaffen werden, berufliche und private Mobilität bringt die unter- sondern der traditionelle Wohnraum des Stadtberner schiedlichen Generationen einer Familie auseinan- Portfolios soll um neue, kreative Wohnformen
1. Ausgangslage: Bauprojekt Holliger – Generationenwohnen in Bern 6 erweitert werden. Der Holliger soll dabei eine Zusammenfassung Vorreiterrolle übernehmen und ein neues Wohnange- bot schaffen, das diesem Gedanken entspricht. – Die Stadt Bern hat im Quartier Holligen das Areal der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage im Auf dem Areal der ehemaligen Kehrichtverbrennungs- Baurecht sechs gemeinnützigen Bauträgern mit anlage entstehen in den nächsten Jahren rund 380 bis der Vorgabe übertragen, preisgünstigen Wohn- 390 neue Wohneinheiten, die auf sechs Baufelder raum zu schaffen, der auch innovativen Charakter verteilt sind. Die Planungsgemeinschaft besteht aus aufweist. sechs gemeinnützigen Berner Wohnbauträgern. Sie hat sich unter der Koordination des Regionalverbands – Damit soll gesellschaftlichen Veränderungen, wie Bern-Solothurn (Wohnbaugenossenschaften Schweiz) veränderten Familienformen oder dem wachsen- bei der Stadt Bern für die gemeinsame Überbauung den Bedürfnis nach Generationenwohnen, Rech- des Areals beworben. Im Juni 2016 haben die sechs nung getragen werden. Bauträger den Zuschlag durch den Gemeinderat erhalten. Neben der Umnutzung des bestehenden – Das Neubauprojekt ist nicht die einzige Überbau- Gebäudes an der Güterstrasse 8 in der Stadt Bern ung in Bern, die das Gesicht der Stadt in den werden fünf Neubauten entstehen. kommenden Jahren verändern wird. Geplant sind weitere Überbauungen an mehreren Standorten Der Berner Gemeinderat hat das Areal den sechs in Bern. Erfahrungen aus dem Holliger-Projekt gemeinnützigen Wohnbauträgern im Baurecht übertra- können in diese Bauprojekte einfliessen. gen. Er erwartet, dass neue gemeinschaftliche Wohn- formen und Wohnprojekte entwickelt und realisiert werden. Dies entspricht den Stossrichtungen der städtischen Wohnstrategie, die preisgünstigen oder
gemeinnützigen Wohnungsbau fördern und ihr Woh- Entstehungsgeschichte 7 nungsportfolio um kreative, neue Wohnformen erwei- Mit dem Umzug der Kehrichtverbrennungsanlage in die tern möchte. In der Stadt Bern soll den gesellschaftli- Energiezentrale Forsthaus wurde ab 2013 das Warm- chen Veränderungen Rechnung getragen werden: bächli Areal in Bern frei. Die Stadt Bern gab bekannt, das ehemalige Industrieareal nun als Wohn- und Gewerberaum nutzen zu wollen. Die Abstimmungsbot- «Dazu gehört beispielsweise die schaft (2012: 5) für die Abstimmung zur Zonenplanän- Zunahme von Eineltern- und Patchwork- derung vom 17. Juni 2012 lautete, dass auf dem Areal familien oder das wachsende Bedürfnis, “ein attraktives Quartier mit 250 Wohnungen” entste- dass mehrere Generationen in der gleichen hen solle, dass dem Quartier neue Impulse verleiht. Siedlung oder in einem Haus zusammen- Die Rede ist von einem ausgewogenen Mix aus Wohn-, wohnen möchten.» Stadt Bern 2018 Arbeits- und Freizeitnutzungen, wobei dem Wohnraum besondere Bedeutung beigemessen wird. Ein breites Vielleicht können zukünftige Projekte in der Haupt- Wohnangebot soll für eine ausgewogene gesellschaftli- stadt aus diesem Neubauprojekt sogar lernen? Bald che Durchmischung sorgen. Ebenso soll das neue werden weitere grosse Bauvorhaben realisiert – nicht Quartier in ökologischer Hinsicht Vorbildcharakter nur an der nahe gelegenen Mutachstrasse (Überbau- haben. Ziel sei eine 2000-Watt-konforme Überbauung, ung «Huebergass»), sondern auch auf dem Meinen- eine reduzierte Anzahl Autoabstellplätze (maximal 0,5 Areal, im Viererfeld und auf dem Gaswerkareal. Die Parkplätze pro Wohnung) sowie der Anschluss der Überbauung des Warmbächli-Areals, das später zum Siedlung ans Fernwärmenetz der neuen Kehrichtver- «Holliger» umgetauft wurde, übernimmt also eine brennungsanlage. wichtige Vorreiterrolle für zukünftige Überbauungen im Raum Bern und in anderen Städten. Die Zonenplanänderung wurde im Juni 2012 mit 85,82 Prozent Ja-Stimmenanteil angenommen. Im September 2012 stimmten die Bernerinnen und Berner über den Der Holliger – das Arealprojekt stellt sich vor: Kauf einzelner Parzellen durch die Stadt Bern zu. Den gemeinsam, vielfältig, daheim städtebaulichen Ideenwettbewerb, der ebenfalls im Das Neubauprojekt Holliger zeichnet sich dadurch aus, Jahr 2012 ausgelobt wurde und mit dem die Bebau- dass sechs unterschiedliche gemeinnützige Bauträger ungsstruktur festgelegt wird, gewann das Projekt gemeinsam ein Bauvorhaben planen, entwickeln und «Strawberry fields» der Zürcher BHSF Architekten in den Betrieb überführen werden. Wie ist es zu GmbH und Christian Salewski. Vorgeschlagen wurden diesem Bauprojekt gekommen? Was wollen die sechs Baukörper und der Erhalt der Güterstrasse 8. Bauträger auf dem neu erschlossenen Areal erreichen? Die Neubauten sollen um einen Innenhof angesiedelt werden, durch den der freizulegende Stadtbach fliessen wird. Zusammenfassung Gemäss städtischer Ausschreibung soll mindestens die – Unter dem Dach der Infrastrukturgenossenschaft Hälfte der Baufelder an gemeinnützige Bauträger im Holliger ISGH haben sich die sechs gemeinnützi- Baurecht abgegeben werden. Die Stadt ging 2013 auf gen Bauträger FAMBAU Genossenschaft, npg AG das Angebot des Regionalverbandes Bern-Solothurn für nachhaltiges Bauen, Baugenossenschaft Aare der Wohnbaugenossenschaften ein, das Bewerbungs- Bern, Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, verfahren unter den gemeinnützigen Bauträgern zu Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz sowie die koordinieren. 2015 stellte die Stadt in Aussicht, dass Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern formiert, das gesamte Areal an gemeinnützige Bauträger verge- um die gemeinsame Siedlung «Holliger» zu ben würde. Daraufhin formierten und koordinierten realisieren. sich sechs gemeinnützige Bauträger, die sich um das Areal bewarben. Sie werden im Folgenden namentlich – Der Holliger wird etappiert gebaut und bezogen. aufgeführt: Dies macht eine Besonderheit des Planungspro- – Baugenossenschaft Aare Bern, zesses aus, wird aber auch für die künftigen – Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz, Bewohner*innen von Bedeutung sein. – Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern, – FAMBAU Genossenschaft, – Zehn Leitideen skizzieren die Vision der Bauträger – Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, für den Holliger. Sie decken neben den Vorstellun- – npg AG für nachhaltiges Bauen. gen zum Wohnungsangebot Aspekte des sozialen Zusammenlebens, der Nachhaltigkeit sowie der Die sechs Bauträger erhielten den Zuschlag, und im Beziehung zum umgebenden Quartier ab. Sommer 2016 wurden die Reservationsverträge unterzeichnet.
1. Ausgangslage: Bauprojekt Holliger – Generationenwohnen in Bern 8 Obwohl die Reservationsverträge mit den Bauträgern gegenüber der Stadt auf. So konnten sie ihre Interes- individuell unterzeichnet wurden, beeinflusste die sen bündeln und einstimmig nach aussen kommunizie- koordinierte Eingabe von Anfang an den darauffolgen- ren. Die einfache Gesellschaft, die die sechs Bauträger den Entwicklungs- und Planungsprozess: Die Bauträger zuerst vereint hatte, wurde im Februar 2017 in eine hatten die Idee, gemeinsam eine Siedlung zu entwi- Genossenschaft (zunächst unter dem Namen Infra- ckeln, die arealübergreifend funktioniert. Daher strukturgenossenschaft Oberholligen ISGO) überführt wollten sich die Bauträger auch nicht ausschliesslich und im Mai 2018 im Zuge des Namensfindungsprozes- auf die Bewirtschaftung ihrer eigenen Baufelder ses für die Siedlung schliesslich in Infrastrukturgenos- konzentrieren. Die sechs Bauträger gruppierten sich senschaft Holliger ISGH umbenannt. Im Juli 2018 für dieses Projekt daher unter einem gemeinsamen unterzeichneten die Bauträger den Baurechtsvertrag, Dach: Zusammen traten sie zunächst in Form einer womit die Basis für die Einreichung von Baugesuchen einfachen Gesellschaft und später als Genossenschaft geschaffen wurde. Leitidee 04 Ob konventionelle Miete oder Engagement in der Genossen- schaft, Einzel-, Familien- oder Gemeinschaftshaushalte – im Holliger finden alle nebeneinander Platz und können miteinan- der in Kontakt treten. Leitidee 05 Die Bebauung ist dicht, aber auch die Natur hat ihren Raum: Der offengelegte Stadtbach gibt dem Siedlungshof einen besonderen naturnahen Charakter. Leitidee 06 Die neue Siedlung Holliger ist durchlässig und fügt sich in ihre Nachbarschaft ein. Als Treffpunkt dient der Quartierplatz an der Freiburgstrasse mit einem Laden und hoffentlich auch einem Die Leitideen des Neubauprojekts Holliger Bistro. Um die Siedlung Holliger zu charakterisieren und den Planungs- Leitidee 07 prozess zu strukturieren, haben die sechs Bauträger zehn Leit- Viele Wohnmöglichkeiten, aber auch Gewerbeflächen, ein Kin- ideen für den Holliger formuliert. In diesen sind auf der einen dergarten, eine Kita und grosszügige Gemeinschaftsräume, die Seite Aspekte des Planungsprozesses angesprochen, auf der auch für private Anlässe zur Verfügung stehen, ergänzen den anderen Seite finden sich auch Hinweise darauf, nach welchen Quartierteil. Prinzipien das Zusammenleben auf dem Areal ausgerichtet werden soll. Diese zehn Leitideen wurden während des Pla- Leitidee 08 nungsprozesses nicht verändert und haben noch heute ihre Die Bauprojekte werden in Etappen ausgeführt. Zuerst baut die Gültigkeit. WBG Warmbächli das alte Tobler Lagerhaus um; fast gleichzeitig entstehen die Gebäude am Quartierplatz. Den Schlusspunkt setzt Leitidee 01 das Wohnhochhaus an der Bahnstrasse. Sechs gemeinnützige Bauträger planen und realisieren gemein- sam die neue Siedlung Holliger. Leitidee 09 Die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft sind heute selbstverständ- Leitidee 02 lich: Eine umweltfreundliche Energienutzung und eine nachhal- Sie haben ein gemeinsames Ziel: Sie schaffen im Holliger ein tige Bauweise tragen ebenso mit dazu bei wie eine reduzierte vielfältiges Angebot preisgünstiger Mietwohnungen für verschie- Parkplatzanzahl sowie eine fussgänger- und velofreundliche denste Wohnkonzepte, und zwar für junge und alte Menschen. Gestaltung. Sie bieten den künftigen Bewohnern und Bewohnerinnen nach Wunsch die Möglichkeit, ihr Quartier mitzugestalten. Leitidee 10 Die Behörden und Politiker*innen der Stadt Bern unterstützen Leitidee 03 das Projekt tatkräftig, damit es möglichst rasch realisiert werden Sechs unterschiedliche Wohnkonzepte gruppieren sich um einen kann. Die Bauträger im Holliger arbeiten eng mit Quartierorgani- Siedlungshof in der Mitte, der von den Wohnenden und sationen und den Menschen in der Nachbarschaft zusammen. Arbeitenden gemeinsam gestaltet und genutzt wird. Sie werden regelmässig offen informieren.
2. Informationen zum Forschungs- und Entwicklungsprojekt Ausgangslage, Fragestellung und Zielsetzung Aufgrund der genossenschaftlichen Struktur der 11 Das von der Age-Stiftung finanzierte Forschungs- und Bauträger ist zudem die Frage nach Partizipationauf- Entwicklungsprojekt dokumentiert und analysiert den gekommen: Damit ist der Miteinbezug der Genossen- Prozess, wie Generationenwohnen im Holliger Bern schaftsmitglieder im Entwicklungs- und Planungspro- konzipiert und implementiert wird. Die gewonnenen zess gemeint. Diese sollen sich auch dann noch Erkenntnisse sollen vergleichbaren Bauvorhaben als beteiligen können, wenn der Holliger in den Betrieb Planungshilfe zur Verfügung gestellt werden. überführt wird. Das Forschungs- und Begleitprojekt hat demzufolge diese Fragen aufgenommen: – Welche Bedürfnisse und Vorstellungen von Genera- Zusammenfassung tionenwohnen haben die zukünftige Bewohner- schaft, die Bauträger und andere Interessengruppen – Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Fragen, wie Generationen- aus dem Quartier? wohnen in Neubausiedlungen entstehen kann und welche Voraussetzun- – Welche Massnahmen (Organisationsstruktur, räum- gen für eine Partizipation der künftigen Bewohnerschaft geschaffen lich, sozial) sind notwendig, um diese Vorstellungen werden können. zu realisieren? – Wie kann die Kooperation zwischen mehreren – Eine besondere Berücksichtigung findet die Tatsache, dass das Bauvor- Bauträgern ausgestaltet werden, damit optimale haben durch sechs autonome Bauträger realisiert wird, die sich für das Strukturen für Generationenwohnen geschaffen Bauvorhaben einer freiwilligen Kooperation verschrieben haben. werden? – Wie werden die Interessen der zukünftigen Bewohner*innen, die in der Planungs-, Bau- und Umsetzungsphase mitwirken, aufgenommen und umgesetzt? – Mit welchen Massnahmen kann die Partizipation der 2017 hat sich eine Projektgruppe aus Interessenver- Bewohner*innen in der Betriebsphase vorbereitend bänden, genossenschaftlichem Wohnungsbau, Gemein- gefördert werden? wesenarbeit und Wissenschaft gebildet mit dem Ziel, ein in Holligen (Bern) geplantes Neubauprojekt unter- stützend zu begleiten. Der Fokus der Projektgruppe richtete sich auf das Thema Generationenwohnen und Methode damit auf die Fragen, was unter Generationenwohnen Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt folgt einem zu verstehen ist und wie ein baulicher Planungs- und qualitativen Forschungsdesign, das den Miteinbezug Entwicklungsprozess gestaltet werden kann, um das unterschiedlicher Interessengruppen anstrebt. Der Konzept «Generationenwohnen» zu implementieren. Vergleich und die Integration unterschiedlicher Pers- In Absprache mit den Bauträgern, welche das Areal pektiven ist nicht nur wesentlich für das Forschungs- entwickeln, wurden die Ziele und Schwerpunkte des projekt, sondern auch für die Arealentwicklung. Projekts definiert. Die so entstandene Projektskizze wurde im Sommer 2017 bei der Age-Stiftung einge- reicht und auf deren Anregung hin leicht überarbeitet. Der positive Finanzierungsentscheid gegen Ende 2017 ermöglichte es, das auf 3 Jahre Laufzeit geplante Zusammenfassung Forschungs- und Entwicklungsprojekt Anfang 2018 in Angriff zu nehmen. – Das Forschungsprojekt beinhaltet eine Prozess- analyse und kombiniert diese mit einem Multi- Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt wurde als perspektivenansatz. Prozessanalyse konzipiert und verfolgt zwei thema- tische Schwerpunkte: – Es werden unterschiedliche Methoden der quali- (1) Generationenwohnen, tativen Sozialforschung angewandt: Interviews, (2) Zusammenarbeit und Partizipation von Fokusgruppen und die Analyse der Dokumente. Bauträgern und Bewohnerschaft. Zu Anfang des Planungs- und Entwicklungsprozesses haben die sechs Bauträger, die den Holliger realisie- ren, eine gemeinsame Vision kommuniziert. Das Areal soll Wohn- und Lebensraum für alle Generationen Um die Entwicklung und Planung des Holliger-Areals bieten. Diesen möchten die Bauträger in einem koordi- zu verfolgen, zu dokumentieren und kritisch zu würdi- nierten Vorgehen entwickeln. Dazu wird eine projekt- gen, wurden (a) eine prozessuale Analyse und (b) ein bezogene langjährige Zusammenarbeit nötig sein. Multiperspektivenansatz verfolgt.
2. Informationen zum Forschungs- und Entwicklungsprojekt 12 Die Pläne für die Neubausiedlung sowie die Art und chen und deren Expertise in die Empfehlungen aus Weise, wie die Bauträger diese umzusetzen gedenken, dem Projekt einfliessen zu lassen. Diese Gespräche wurden im Zeitverlauf verfolgt. Dazu wurden zwei wurden nicht analytisch ausgewertet, sondern flossen Befragungen durchgeführt: eine Initialbefragung zu in gekürzter und redigierter Form in die Schlussbe- Anfang des Planungsprozesses und eine Zweitbefra- richterstattung mit ein. gung gegen Ende des Planungsprozesses. Zudem wurde das Projektteam über die Entwicklungen auf dem Areal in regelmässig stattfindenden Steuergrup- Mitwirkende pensitzungen informiert. Dokumente, die wichtige Das Projektteam setzt sich aus Forscher*innen, Vertre- Etappen im Entwicklungs- und Planungsprozess beglei- tungen unterschiedlicher Interessenverbände sowie teten, wurden systematisch abgelegt und für die einer Vertretung der Bauträger und Kommunikations- Berichterstattung hinzugezogen. fachpersonen zusammen. Dadurch soll eine gute Kommunikation zwischen Praxis, Forschung, involvier- Nicht nur die Bauträger und ihre Arbeitsgremien ten Interessenverbänden und einer interessierten prägen das Gesicht des Holligers, sondern auch andere Öffentlichkeit gewährleistet werden. Anspruchsgruppen beobachteten die Entwicklungen auf dem Areal. Dazu gehören potenzielle Bewohner*innen, Interessengruppen und deren Vertreter*innen aus dem Quartier Holligen, die Stadt Zusammenfassung Bern sowie weitere Experten, Expertinnen der Raum- und Sozialplanung. Sie sollten die Gelegenheit erhal- – Das Projekt wird von der Age-Stiftung finanziert ten, ihre Sicht auf das Entwicklungsgeschehen einzu- und fachlich unterstützt. bringen. Dafür wurden unterschiedliche Gefässe geschaffen. – Das Forschungsprojekt wird durch eine regelmä- ssig tagende Steuergruppe aus Forschung, Praxis Eine Begleitgruppe von Expertinnen und Experten rund und spezifischen Interessengruppen begleitet, ums Thema Generationenwohnen wurde einberufen, beraten und gesteuert. die über den Stand des Projekts bzw. die gewonnenen Erkenntnisse informiert wurde. Diese Begleitgruppe – Eine Begleitgruppe aus externen Fachpersonen gab zu den Ergebnissen und zum Entwicklungsprozess aus den Bereichen Architektur, Sozialplanung und im Holliger Rückmeldungen. Ihre Aufgabe war, offene Stadtentwicklung lieferte ergänzende fachliche Fragen kritisch zu diskutieren (vgl. Organigramm der Inputs für das Projekt und gab zu zwei Zeitpunk- Mitwirkenden). ten Rückmeldungen zu den Ergebnissen. In Form von Einzelinterviews, Fokusgruppen und einem Workshop wurden folgende Gruppierungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Planungsprozess aufgefordert, ihre Visionen, Pläne, Bedenken und Folgende Organisationen haben in unterschiedlicher Sichtweisen auf die Entwicklung des Neubauprojekts Funktion im Projektteam mitgewirkt: mit dem Forschungsteam zu teilen: – Wohnbaugenossenschaften Schweiz, Regionalver- – Vertreter*innen der sechs Bauträger, band Bern-Solothurn, – Präsident der Infrastrukturgenossenschaft Holliger, – Berner Fachhochschule, Institut Alter, – Mitglieder der Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, – Förderverein Generationenwohnen Bern-Solothurn, – Arbeitsgruppe Generationenwohnen der sechs – Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit, Bauträger, – Wohnbaugenossenschaft Warmbächli. – Vertreter*innen des Quartiers Holligen (Stadtteil III, Bern). Finanzierung So kann der Entwicklungsprozess auf dem Holliger Dieses Projekt wäre ohne die Unterstützung der möglichst breit abgestützt werden. Zudem werden Age-Stiftung nicht möglich gewesen. Sie hat das Themen, die für eine integrative Entwicklung wichtig Projekt mit einer Laufdauer von knapp vier Jahren sind, in den Prozess eingespeist. Auf diese Weise vollumfänglich finanziert, wofür der Stiftung an dieser lassen sich mögliche Differenzen und Konflikte zwi- Stelle bestens gedankt sei. schen unterschiedlichen Interessengruppen erkennen. Als es darum ging, die Ergebnisse der Untersuchung in einem Schlussbericht zusammenzuführen und falls nötig kritisch zu diskutieren, wurden in einem weite- ren Schritt Fachpersonen der jeweiligen Thematik gezielt beigezogen, um kontroverse Fragen zu bespre-
Organigramm 13 Wohnbaugenossenschaften Schweiz Antragsteller Regionalverband Bern-Solothurn J. Sollberger, Präsident Institut Alter, Berner Fachhochschule Projektmanagement M. Métrailler, Dozentin Praxispartner Wisenschaftliche Partner Netzwerkpartner u. WGB Warmbächli bzw. Institut Alter, Berner Fachhochschule Co-Antragsteller Infrastrukturgenossenschaft Steuergruppe (M. Métrailler, C. Neuenschwander, Förderverein Generationenwohnen Holliger (I. Fanghänel) S. Frischknecht, M. Greusing, (C. Graf, H. P. Hauck) Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit T. Isenschmid, F. Güdel) (J. Rothaupt) Kommunikation ProjektForum AG Fachliche Expertise (A. Limacher, M. Stübi) C. Schönenberger, Pro Senectute Age-Stiftung J. Zimmerli, Zimraum Begleitgruppe K. Weiss S. Gatti, Zukunft Wohnen C. Wiesmann, Architekt K. Haltmeier, Stadt Bern
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3. Theoretische Grundlagen Generationenkonzepte Es gibt unterschiedliche Generationenkonzepte: Neben 15 Für den Begriff «Generation» gibt es unterschiedliche dem (1) genealogischen Verständnis des Generationen- Definitionen. Grundsätzlich kann zwischen einem begriffs als Verwandtschaft und Familie kann der genealogischen, einem pädagogischen, einem histo- Terminus auch in einem (2) pädagogischen Verhältnis risch-gesellschaftlichen und einem zeitdiagnostischen zueinander definiert werden. Dieses Konzept bezieht Verständnis von Generationen unterschieden werden. sich auf das Erziehungsverhältnis zwischen den In den alltäglichen Beziehungen der Generationen Generationen. Eine dritte Generationenkonzeption zueinander tritt je nach Kontext das eine oder andere umfasst die (3) soziokulturell historischen Generatio- Verständnis von Generationen in den Vordergrund. nen, die durch wirtschaftliche und politische Umwäl- Zum Verständnis von Generationenwohnen, den damit zungen erzeugt werden. Als letzte Kategorie können verbundenen Erwartungen und darin eingebetteten die (4) zeitdiagnostischen Generationen genannt Beziehungen tragen die unterschiedlichen Konzepte werden. Diese stellen Thesen zu spezifischen Populati- verschiedene Erklärungsansätze bei. onen und deren Befindlichkeit auf (Lüscher 2014/15). Zusammenfassung – Es gibt unterschiedliche Arten von Generationenbeziehungen: solche, die innerhalb der Familie bestehen, und Beziehungen zwischen Mitglie- dern unterschiedlicher Generationen, die nicht auf Familienzugehörig- keit beruhen. Diese Beziehungen können unterschiedliche Qualitäten und Prinzipien aufweisen. (1) Genealogisches Generationenverständnis – Generationenunterschiede werden an unterschiedlichen Aspekten Dieses Generationenverständnis bezieht sich auf das festgemacht: Ältere Personen können der jüngeren Generation Wissen Familiensystem und ordnet die Familienmitglieder vermitteln («Lehrende*r versus Lernende*r»). Dieser Prozess kann auch in ihrer Nachfolge. Grosseltern, Eltern, Kinder bzw. umgekehrt oder wechselseitig verlaufen. Beziehungen zwischen Genera- Enkel bilden je eine Generation. Jeder Generation tionen können auf emotionalen und instrumentalen Unterstützungsleis- innerhalb einer Familie werden spezifische Rollen und tungen beruhen (Generationenbeziehungen als [Quasi-] Familienbezie- damit einhergehende Pflichten und Rechte zugewie- hungen). Sie können ferner Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den sen, die im Rahmen der Generationensolidarität Ereignissen, die im Lebenslauf aufgetreten sind, herausstellen und verpflichtenden, aber auch ausgleichenden Charakter unterschiedliche Denk- und Handlungsweisen prägen (Generationen- aufweisen. Die Generationenordnung und die Charak- identität). Zuletzt können Beziehungen zwischen den Generationen teristiken der in ihr eingebetteten Generationenbezie- gesellschaftliche Chancen eröffnen oder verschliessen. Diese Aspekte hungen können nicht eins zu eins auf andere soziale definieren die soziale Rolle, die eine Person eines bestimmten Alters Systeme wie die Nachbarschaft übertragen werden, übernimmt bzw. die dieser Person von aussen zugewiesen wird. obwohl die aus dem Familienkontext gewonnenen Generationenbegrifflichkeiten im allgemeinen Sprach- – Das Konzept der Generationensolidarität bezieht sich sowohl auf den gebrauch gerne auf die Gesamtgesellschaft übertragen Familienverbund als auch auf den wohlfahrtsstaatlichen Generationen- werden, beispielsweise die «Grosselterngeneration» vertrag. oder die «Grossmutterrevolution» (vgl. weiterführend Age-Dossier 2020: 16). Der Generationenbegriff erlebt eine Hochkonjunktur. Begriffe wie Generationensolidarität, Generationen- wandel oder, negativ besetzt, Generationen-Clash sind in aller Munde und werden in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt: auf dem Arbeitsmarkt über die soziale Sicherheit bis hin zu den Familien- oder Nach- barschaftsbeziehungen. Von der Babyboomer-Genera- (2) Pädagogischer Generationenbegriff tion über Millenials zur Generation Z – es ist verlo- Beim pädagogischen Generationenbegriff steht die ckend, den Menschen je nach Jahrgang einer Vermittlung von Wissen, Werten und Traditionen im Generation spezifische Bedürfnisse und Eigenschaften Vordergrund der Beziehung zwischen den Generatio- zuzuordnen und sie zu klassifizieren. So wird der nen. Gemäss Höpflinger (1999, zitiert in Age-Dossier Generationenbegriff gerne als soziologischer Grundbe- 2020) kann die Vermittlung generationenspezifischer griff neben «Klasse» und «Geschlecht» verwendet Wissens- und Wertbestände je nach Tempo gesell- (Ziemann 2021). Doch was sind Generationen genau? schaftlicher Transformationen von der älteren zur
3. Theoretische Grundlagen 16 jüngeren Generation, umgekehrt und/oder wechselsei- tig erfolgen. Während in Zeiten langsamer gesellschaft- licher Entwicklungen die jüngere Generation von der älteren lernt, kann es in Zeiten dynamischer Entwicklungen zu Konflikten zwischen den Generatio- nen kommen, wenn die jüngere Generation mit ande- ren Herausforderungen konfrontiert ist als die ältere und die von ihr vermittelten Konzepte sich in der «neuen Welt» nicht bewähren oder umsetzen lassen. (4) Zeitdiagnostisches Generationenverständnis In der heutigen Gesellschaft funktioniert der pädagogi- Kurt Lüscher, ebenfalls Soziologe, knüpfte an Mann- sche Austausch der Generationen wechselseitig, d. h. heim an und lieferte 60 Jahre später eine an die die jüngere Generation kann von der älteren Genera- gegenwärtige Gesellschaft angepasste Konzeption. tion lernen und umgekehrt. Generationenbeziehungen in Familie, Verwandtschaft und der Gesellschaft verdienen seines Erachtens in Zeiten einer alternden Gesellschaft besondere Auf- merksamkeit. Für ihn sind Generationenverhältnisse das Resultat von Interaktionen zwischen sozialstaatli- chen Institutionen, die Auswirkungen auf das Leben unterschiedlicher Altersgruppen haben. Das Konzept der Generation dient dazu, Akteure (Individuen und soziale Gruppierungen) hinsichtlich ihrer (3) Soziokulturell-historisches sozial-zeitlichen Positionierung in einer Bevölkerung, einer Generationenverständnis Gesellschaft, einem Staat, einer sozialen Organisation oder Der Soziologe Karl Mannheim liefert in seinem Werk einer Familie zu charakterisieren und ihnen Facetten ihrer «Das Problem der Generationen» (Mannheim 1928) sozialen Identität zuzuschreiben. Diese zeigen sich darin, dass eine grundlegende soziokulturelle Konzeption von Generation, indem er den Werte- und Kulturwandel mit sich Akteure in ihrem Denken, Fühlen, Wollen und Tun an dem Generationen-Begriff in Zusammenhang bringt. sozialen Perspektiven orientieren, für die entweder der Ge- In seinem Verständnis bezeichnet eine Generation burtsjahrgang, das Alter oder die bisherige Dauer der Mitglied- eine Gruppe von Individuen, die gemeinsame Erfah- schaft in der jeweiligen Sozietät oder die Interpretation rungen teilen. Diese Erfahrungen werden durch den gesellschaftlichen Wandel definiert. Dazu gehört ein historischer Ereignisse von Belang sind. gemeinsamer kultureller und zeitlicher Kontext, der es (Lüscher 2010: 33) ermöglicht, eine ähnliche Wahrnehmung des Gesche- hens zu haben. Gemäss Mannheim (1928: 313): Für Lüscher steht also die Handlungsdimension im Fokus und somit auch die Betrachtung der Handlung auf wissenschaftliche Erfahrung gestütztes Wissen. Es Konstituiert sich ein Generationszusam- wird also betrachtet, was für Handlungsweisen bei- spielsweise eine Generation im Kontrast zu einer menhang durch eine Partizipation der anderen hat. Dabei sind vor allem kollektive Akteure derselben Generationslagerung angehören- und Akteurinnen mit einer gemeinsamen Identität – den Individuen am gemeinsamen Schicksal einer Generation – gemeint. In Abgrenzung zum und an den dazugehörenden, irgendwie soziokulturell-historischen Generationenverständnis zusammenhängenden Gehalten. geht es also vor allem auch um die Betrachtung des subjektiven Empfindens und Erleben der Generation und nicht um die Betrachtung bzw. Abgrenzung von Ein Beispiel dafür ist die Kriegsgeneration, die von der Ereignissen, die eine kollektive Identität stiften. Das Nachkriegsgeneration oder den Babyboomern unter- zeitdiagnostische Generationenverständnis analysiert schieden werden kann. Da die Angehörigen einer demnach auch die subjektive Wahrnehmung einer Generation durch dieselben historischen Ereignisse Generation, während die soziokulturell-historische oder sozialen Entwicklungen geprägt wurden, verfügen sich meist nur auf die strukturellen Merkmale konzent- sie über ein ähnliches Wertesystem und vergleichbare riert. Beide betrachten zwar Generationen als Gruppe Verhaltensmuster. In diesem Zusammenhang kann von mit einer gemeinsamen Identität, aber der zeitdiag- Generationenidentitäten gesprochen werden. nostische Ansatz betrachtet die Gruppe bzw. die Akteure selbst als identitätsstiftend. Während der soziokulturell-historische Ansatz Ereignisse und Strukturen als identitätsstiftend sieht.
Generationenwohnen im Zeitverlauf Wohnens, wie etwa mit ökologischen Anliegen oder 17 Das Wohnen hat sich entlang sozioökonomischer altersgerechtem Wohnen. Allerdings ist die Homogeni- Umbrüche verändert. Generationenwohnprojekte gibt tät oftmals nicht das Ziel solcher Wohngemeinschaf- es schon seit der Industrialisierung. Die Motivation ten, im Gegenteil. Heute wird durch gezielte Durchmi- solcher Projekte haben sich jedoch über den Zeitver- schung versucht, eine diverse soziokulturelle lauf hinweg verändert. So oder so, sie können als Fächerung zu erreichen, nicht zuletzt auch soziokulturelle Reaktion auf gesellschaftliche Verände- in Bezug auf die unterschiedlichen Generationen. rungen betrachtet werden. (Beck 2012). Beispiele für Generationenwohnprojekte mit Pioniercharakter in der Schweiz sind das Hunziker Areal in Zürich oder das Mehrgenerationenhaus Zusammenfassung Giesserei in Oberwinterthur. Eine ausführlichere Auflistung von Beispielen des Generationenwohnens – Gemeinschaftliche Wohnprojekte traten bereits im Zuge der Industriali- findet sich im Age-Dossier (2020/2) zum Thema sierung auf. In dieser Zeit fand zuerst eine Entkoppelung des Wohnraums «Generationen-Wohnen heisst Nachbarschaft». vom Arbeitsraum statt. Das Wohnen in der erweiterten Grossfamilie wurde durch das Leben in der Kleinfamilie abgelöst. Generationenbeziehungen im Wandel Generationenbeziehungen zu pflegen ist für die einen – Erste gemeinschaftliche Wohnprojekte entstanden zunächst aus prak- eine Selbstverständlichkeit, in manchen Fällen viel- tisch-ökonomischen Gründen. Sie wurden jedoch zunehmend vom leicht sogar eine Pflicht. Für diejenigen, die innerhalb Wunsch nach einem Miteinander geprägt. der Familie keine Beziehungen zu anderen Generatio- nen haben, stellt sich jedoch die Frage, welche Alter- – Genossenschaftliches Wohnen und gemeinschaftliches Wohnen sind nativen für intergenerationelle Kontakte unsere Gesell- heute eng verknüpfte Konzepte, die oftmals mit dem Wunsch nach einer schaft bieten und wie sich diese Generationen- soziokulturellen Vielfalt der Bewohner*innenschaft einhergehen. beziehungen gestalten lassen. Zusammenfassung Veränderungen des Wohnens gehen oftmals mit gesell- schaftlichen Umbrüchen einher. Mit der Industrialisie- – Generationenbeziehungen innerhalb der Familie rung und der damit verbundenen Auslagerung der begründen sich heute weniger auf ökonomischer Erwerbsarbeit aus dem heimischen Haushalt kam der Notwendigkeit als früher, auch wenn es noch Wandel der Wohnkultur. Zuvor wohnten Menschen als heute beträchtliche finanzielle Transfers Grossfamilie zusammen. Dazu gehörten auch die zwischen den Generationen innerhalb von Haushaltsmitglieder, die nicht zur eigentlichen Familie Familien gibt. gehören, wie Mägde und Knechte. Während der Indust- rialisierung lösten sich diese Strukturen auf. Die – Die Alterssicherung ist seit Einführung der AHV Menschen wohnten als Kleinfamilie zusammen. Dieser wohlfahrtstaatlich geregelt, sodass Diskussionen Trend ging zuerst von der wohlhabenden bürgerlichen zur Generationensolidarität sich zunehmend auf Schicht aus und griff dann auf breitere Bevölkerungs- eine gesamtgesellschaftliche Ebene verlagern. schichten über. Um die Jahrhundertwende war die Trennung zwischen der privaten Wohnsphäre und dem – Die Anzahl intergenerationeller Familienbezie- Arbeitsplatz zumindest im städtischen Gebiet zwar die hungen ist tendenziell rückläufig. Normalität, doch schon damals entstanden auch immer wieder gegenläufige Idealvorstellung des – Ausserhalb der Familie begründete Generationen- Wohnens. So wurden beispielsweise wieder gemein- beziehungen stellen für immer mehr Personen schaftliche Wohnprojekte auch ausserhalb von Fami- daher eine Alternative zum Generationenaus- lien dokumentiert, die den gesellschaftlichen Verhält- tausch innerhalb von Familien dar. nissen mehr oder weniger gezielt entgegenwirken wollten (Paul 2013). Gemeinschaftliche Wohnprojekte entstanden zunächst aus praktisch-ökonomischen Gründen. Ein Gemeinschaftsleben sollte ermöglicht Die demografische Entwicklung und der Ausbau des werden, das vom Wusch nach Miteinander geprägt modernen Wohlfahrtsstaates führen zu Veränderungen war. Solche Formen des Zusammenlebens entwickelten der Beziehungen der Generationen zueinander. Mit der sich fortlaufend weiter und passten sich den gesell- Einführung der AHV 1947 in der Schweiz und der schaftlichen Voraussetzungen an – bis heute. Ausbezahlung der ersten Renten 1948 übernimmt der Wohlfahrtsstaat zunehmend die Funktion eines Auf- In den heutigen westlichen Gesellschaften nimmt fangnetzes, das früher mehrheitlich in der Pflicht der der Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen seit Familie lag. So verlor die Familie einen Teil ihrer den 1990er-Jahren stark zu. Dieser Wunsch steht ökonomischen Notwendigkeit, auch wenn die finanzi- meistens in Verbindung mit anderen Aspekten des ellen Transferleistungen zwischen älteren und jünge-
3. Theoretische Grundlagen 18 ren Familiengenerationen nach wie vor beträchtlich sind. Doch die neu gewonnene Unabhängigkeit der Zusammenfassung Generationen bietet Raum für neue Lebens- und Wohn- formen. Die Menschen haben eine Wahlfreiheit zwi- – Generationenwohnen kann Beziehungen zu Mitgliedern anderer Genera- schen dem Getrennt-Wohnen und dem Zusammen- tionen ermöglichen, die nicht auf Familienbanden beruhen. Wohnen. Sie können ihren Wohnraum mit ihrer Kernfamilie teilen oder mit nicht verwandten Personen – Generationenwohnen kann als sozial- und gesellschaftspolitische zusammenwohnen. Experimentierfläche die Möglichkeit bieten, politische, soziale und gesellschaftliche Visionen gemeinschaftlich zu verfolgen. Zusätzlich zu dieser neuen Wahlfreiheit lässt sich der Trend erkennen, dass die Anzahl intergenerationeller – Generationenwohnen als demokratische Lebensidee ist eng mit Partizi- Bindungen innerhalb der Familie tendenziell rückläufig pation, gegenseitigem Austausch und sozialen Aushandlungsprozessen ist. Die Zahl der Familienmitglieder nimmt im Durch- verbunden. schnitt ab. Die Anzahl kinderloser Personen steigt. Solche intergenerationellen Beziehungen lassen sich jedoch nicht so rasch nachbilden beziehungsweise durch Beziehungen ausserhalb der Familie ersetzen: Generationenbeziehungen basieren auf Biografien und Das vorherige Kapitel hat gezeigt, dass der Ausbau Emotionen. Solchen Bindungen entkommt man selbst des modernen Wohlfahrstaates zu Veränderungen der in konfliktbelasteten Familien nur schwer. Darüber Beziehungen der Generationen zueinander geführt hat. hinaus teilt man innerhalb einer Familie eine gemein- Früher spannte die Familie dieses Sicherheitsnetz. Nun same Identität. Während Bindungen innerhalb von hat der Wohlfahrtsstaat die Funktion des Auffangnet- Familien hier einen Vorteil bieten, können intergenera- zes übernommen. So hat die Familie einen Teil ihrer tionelle Beziehungen ausserhalb von Familien diesbe- ökonomischen Notwendigkeit verloren. Die nicht mehr züglich an ihre Grenzen stossen. Beziehungen zu so stark verankerten innerfamiliären Strukturen er- Personen ausserhalb der Familie, beispielsweise möglichen neue Formen des Zusammenlebens, auch intergenerationelle Nachbarschaftsbeziehungen des Alleine-Lebens. Doch die individuelle (Wahl-) stehen dem mit einer vergleichsweise heterogenen Freiheit erweckte ein neues Bedürfnis nach Gemein- Struktur gegenüber. Während man sich die Familie schaft. Der Austausch zwischen den Generationen nicht auswählen kann, sind intergenerationelle Bezie- ausserhalb der Strukturen einer Familie wird explo- hungen ausserhalb der Familie wählbar und bieten riert. Gemeinsame Wertevorstellungen bringen Men- Möglichkeiten für einen Rück- und Wegzug. schen zusammen, etwa die gemeinsame Vorstellung, Ein weiterer Unterschied zwischen Beziehungen wie ein Zusammenleben aussehen könnte. Das Soziale innerhalb einer Familie und Beziehungen, die von rückt dadurch stärker in den Vordergrund als das Verwandtschaftsbindungen losgelöst sind, liegt in den Ökonomische. Das Generationenwohnen kann feh- unterschiedlichen Erwartungen an die Mitmenschen. lende familiäre Unterstützung ausgleichen, die Mög- Die Forschung zeigt, dass es grundsätzlich fürs soziale lichkeit des Austausches von Wissen und Fertigkeiten System gesund ist, wenn sich Generationen oder bieten und eine Experimentierfläche für manche andere soziale Gruppen mischen. Doch es gibt Hin- Formen des Zusammenlebens schaffen. So bietet weise darauf, dass Generationen ausserhalb von Generationenwohnen Menschen mit ähnlichen Werte- Familien immer weniger voneinander wissen. Je vorstellungen die Möglichkeit, grössere politische, weniger man voneinander weiss, desto eher entstehen soziale und gesellschaftliche Visionen miteinander Projektionsflächen für Ängste, negative Stereotypen auszuprobieren und umzusetzen. Dabei sind Diskussi- oder sogar Feindbilder. Intergenerationelle Kontakte onen und Partizipation die Basis dieser demokrati- können dem entgegenwirken. So ist das Generationen- schen Lebensidee (Cassini 2016). wohnen allein deshalb wichtig und wertvoll, weil wir zwar zunehmend in einer Viergenerationengesellschaft Generationenwohnen kann also das Bedürfnis älterer leben, aber die anderen Generationen nicht kennen. Generationen nach Partizipation ermöglichen und Generationenwohnen bietet die Möglichkeit für ein ihnen die Möglichkeit geben, Dinge weiterzugeben. intergenerationelles Lernen, ein Lernen voneinander Gleichzeitig bietet das Generationenwohnen jüngeren (Age-Dossier 2020/2). Menschen eine Experimentierfläche und die Chance, sich auszuprobieren und einen Platz in der Gesell- Die politischen Erwartungen hinter dem Begriff schaft zu finden. Generationenwohnen ist dabei Generationenwohnen sowohl ein Versprechen im Kleinen für gelebte Solida- Generationenwohnen als wohn- und sozialpolitisches rität als auch ein Beispiel dafür, wie sich diese Werte Schlagwort verweist auf die politischen Erwartungen als Alternative gesamtgesellschaftlich umsetzen der Solidarität und Demokratisierung der Gesellschaft. liessen. Es ist daher vielleicht weniger ein Versprechen Projekte dieser Art liefern oftmals eine Experimentier- als eher ein Ausdruck der Sehnsucht nach mehr Mitei- fläche für ein alternatives Zusammenleben jenseits nander und einer gemeinsamen Lösungsfindung für gewohnter Familienstrukturen. intergenerationelle Bedürfnisse.
dell. Aber es ist eine Chance für mehr Solidarität, Nach- 19 barschaftshilfe und Synergie zwischen Generationen Neuwertigkeit und Nutzen von und sozialen Gruppen, wenn klare Rahmenbedingungen (beispielsweise durch eine Wohnbaugenossenschaft) Generationenwohnen festgelegt und eingehalten werden. So entsteht eine Win-win-Situation für die Bewohnenden auf individuel- ler Ebene. Interview mit Christoph Graf, Präsident Für die Bauträger entsteht ein Mehrwert durch die des Fördervereins Generationenwohnen Bern- autonome und eigenverantwortliche Bewohnerschaft, Solothurn die durch Selbstregulierung und Partizipation z. B. Kon- flikten selbst begegnen kann. Gesamtgesellschaftlich ist Weshalb boomt das Generationenwohnen? Hat Generationenwohnen eine Chance für die Zukunft im dies mit unserer alternden Gesellschaft zu tun? Sinne der sozialen Kohäsion, der Solidarität und der Christoph Graf: Es ist relativ klar, dass der Boom des gegenseitigen Unterstützung. Generationenwohnens auf den starken und prägnanten sozialen und demografischen Wandel unserer Gesell- Lassen sich die beiden Ziele «soziale Durchmi- schaft zurückzuführen ist. Demografischer Wandel als schung» und «Generationenwohnen» gemeinsam Erweiterung der Lebensspanne führt zum Bedürfnis realisieren? nach verstärkten intergenerationellen Beziehungen. Ich denke schon. Bewusst steht in unserer Definition Kein gesellschaftliches System wäre in der Lage, den des Generationenwohnens als wichtigstes Kriterium: immer grösseren Teil der älteren und sehr alten Men- gesteuerte altersmässige und soziale Durchmischung. schen bei Bedarf angemessen zu betreuen. In dem Sin- Natürlich ist dies nicht zwingend, aber ganz klar vorteil- ne hat der Boom des Generationenwohnens sicher mit haft. Die unterschiedlichen Herkunftskontexte der Be- der älter werdenden Gesellschaft zu tun. Genauso wich- wohnenden und die unterschiedlichen Altersgruppen tig ist aber auch der soziale Wandel, um den Boom des können sich nämlich gegenseitig befruchten. Sie sind Generationenwohnens zu erklären: Der gesellschaftli- insofern eine zukunftsweisende und zukunftsfähige che, soziale Wandel ist eine soziale Diversifizierung, Kombination, als beides – Alter und soziale Herkunft – insbesondere auch der Lebensstile, die flexible Wohn- prägende Faktoren für das soziale Zusammenleben formen suchen. sind. Wir behaupten jetzt einmal, dass Generationen- Generationenwohnen, Demokratisierung und wohnen kein neues Phänomen ist. Das gab es Partizipation: Wie und wie eng sind die Begriffe früher schon, ja, es war die Normalität, dass miteinander verknüpft? Eltern, Kinder und Enkel zusammenleben. Was ist Der Zusammenhang ist gesamtgesellschaftlich relevant. also an den heutigen Generationenwohnprojekten, Partizipation ist der Kern einer demokratischen Struk- wie sie beispielsweise im Holliger aktiv geplant tur. Partizipative, demokratische Strukturen bilden ein werden, anders als an herkömmlichem Generatio- wesentliches Element des Modells Generationenwoh- nenwohnen? Sind diese Modelle zukunftsweisend? nen. Sie ermöglichen und unterstützen gemeinschaftli- Das klassische Generationenwohnen fand innerhalb von ches Wohnen und eine Sozialraumgestaltung in diesem Familien statt (Beispiel: Berner Bauernhaus mit Stöckli). Sinne. Es geht um gegenseitige Unterstützung, Solida- Die traditionelle Grossfamilie – meist in ländlichen Ge- rität und Pflege der Nachbarschaft, um ein Miteinander- genden – lebte aus ökonomischen Gründen zusammen. Wohnen und nicht nur um das einfache Nebeneinander- Das neue Generationenwohnen-Modell geht explizit Wohnen. Dabei spielen demokratische Werte wie Auto- über die Generationen innerhalb von Familien hinaus. nomie, Eigenverantwortung, Mitbestimmung und Menschen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftli- Gemeinschaftsförderung eine wichtige Rolle. chen Gruppen und Strukturen leben zusammen – frei Generationenwohnen kann wohl am besten durch gewählt und nicht aufgrund von Familienbindungen. gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften umgesetzt Dieses Modell ist zukunftsweisend, weil die Struk- werden, da diese die genannten demokratischen Werte turen von Familien aufgrund des Wertewandels nicht vertreten. Sie liefern damit die Antwort auf die Frage mehr so gefestigt sind wie früher und die Menschen nach der Verknüpfung von Generationenwohnen mit daher nach anderen sozialen Strukturen suchen, in de- demokratisch-partizipativen Strukturen. nen es sich wohnen und leben lässt. Erhofft man sich nicht zu viel vom Prof. Dr. phil. Christoph Graf (*1944) arbeitete als Historiker und Generationenwohnen? Archivar. Er war Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs und Honorarprofessor für neuere Geschichte und Archivwissenschaft an Auch wenn ich ein klarer Promotor des Generationen- der Universität Bern. Ausserdem war er Leiter des Weiterbildungs- wohnens bin: Ich glaube, man muss feststellen, dass programms in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft der dieses kein Wundermittel ist. Es gibt ja auch keine klare, Universitäten Bern und Lausanne. Überdies ist er Mitglied des scharfe Definition. Für Generationenwohnen gibt es da- Innovage Netzwerkes Bern-Solothurn und des Fördervereins Genera- tionenwohnen Bern-Solothurn, dessen Präsident er bis Mai 2021 war. her auch kein exklusives, allgemein verbindliches Mo-
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