LAG - MAGAZIN NS-GEDENKSTÄTTEN UND ERINNERUNGSORTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG 31.03.2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE

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LaG - Magazin

   NS-Gedenkstätten
 und Erinnerungsorte
in Baden-Württemberg
      31.03.2021
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Zur Gedenkstättenlandschaft in Baden-Württemberg............................................................4
Betroffenheit reicht nicht – Die Arbeit der Initiative KZ Gedenken in Spaichingen..............9
„Was hat ein Kaninchen mit unserer Geschichte zu tun?“ – Die Mannheimer
KZ-Gedenkstätte Sandhofen führt seit 2014 eine Geschichts-AG zum Nationalsozialismus
mit Grundschulkindern durch................................................................................................14
Museum Synagoge Affaltrach – Bildungsarbeit am historischen Ort...................................20
Die KZ-Gedenkstätte Hessental als Lernort der Geschichte..................................................25
Die Gedenkstätte Theresienkapelle in Singen: Lokale Erinnerungsschichten, europäische
Verflechtungen, Mahnmal für Frieden und Versöhnung.......................................................30
Bildung gegen Antisemitismus – eine ehemalige Synagoge als „Schul“................................35
Dokufiktionen als Zweites Leben in Gedenkstätten...............................................................39

Empfehlung Fachbuch
Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen. Die „zweite Geschichte“ der
südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945..................................................43
Ausgrenzung, Raub, Vernichtung...........................................................................................47

Empfehlung Unterrichtsmaterial
Das Konzentrationslager Natzweiler im Elsass......................................................................51
„Es war ein Ort, an dem alles grau war…“..............................................................................54
Praxis des Widerstands 1933 bis 1945. Formen widerständigen Handelns in
Südwestdeutschland...............................................................................................................56

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Einleitung

Liebe Leser*innen,                             Folker Förtsch stellt die Geschichte des Au-
wir begrüßen Sie zum LaG-Magazin im            ßenkommandos Hessental des Konzentrati-
März. Diese Ausgabe ist mit Unterstützung      onslagers Natzweiler-Struthof vor sowie die
der Landeszentrale für politische Bildung      pädagogische Arbeit der heutigen KZ-Ge-
Baden-Württemberg entstanden. Demzu-           denkstätte Schwäbisch Hall-Hessental am
folge stellen wir unterschiedliche histori-    historischen Ort.
sche Lernorte und ihre Bildungsangebote        In der ehemaligen Kapelle eines Kriegsge-
aus dem südwestlichen Bundesland vor.          fangenenlagers für Wehrmachtssoldaten
Die Gedenkstättenlandschaft in Baden-          wird an die Geschichte der NS-Zwangsar-
Württemberg zeichnet sich durch eine Viel-     beit in der südbadischen Stadt Singen er-
zahl an Lern- und Gedenkorten, aber auch       innert. Carmen Scheide schreibt zur Re-
Gedenkinitiativen zur Auseinandersetzung       gionalgeschichte und über die Arbeit mit
mit den NS-Verbrechen aus. Katrin Ham-         Zeitzeug*innen.
merstein gibt in ihrem einführenden Artikel    Das Pädagogisch-Kulturelle Centrum Ehe-
einen Überblick.                               malige Synagoge Freudental arbeitet am
Die Kleinstadt Spaichingen ist einer der       historischen Ort des Synagogengebäudes
vielen Orte an denen ein Außenlager des        mit Jugendlichen ausgehend von jüdischer
Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof       Geschichte, Kultur und Religion gegen Anti-
errichtet wurde. Regina Braungart befasst      semitismus. Michael Volz stellt den pädago-
sich mit den Widerständen und Fortschrit-      gischen Ansatz vor.
ten der Gedenkarbeit vor Ort.                  Gabriele Valeska Wilczek gibt einen Ein-
Die Arbeit mit Kindern im Grundschulal-        blick in die pädagogische Arbeit mit Hör-
ter ist ein wichtiger Pfeiler der Pädagogik    spielen am historischen Ort des ehemaligen
in der KZ- Gedenkstätte Sandhofen. Marco       jüdischen Gemeindehauses in Breisach.
Brenneisen und Corinna Keunecke stellen        Wir bedanken uns bei allen Beiträger*innen
die Bildungsarbeit am historischen Ort des     für die eingereichten Texte. Ein besonderer
ehemaligen Außenlagers des Konzentrati-        Dank gebührt Dr. Katrin Hammerstein für
onslagers Natzweiler vor.                      die Zusammenarbeit und Beratung.
Heinz Deininger, Petra Schön und Samuel        Das nächste LaG-Magazin erscheint am 28.
Stern geben einen Überblick zur Geschichte     April 2021. Es wird sich mit unterschiedli-
der 1851 eingeweihten Synagoge Affaltrach      chen universitären geschichtsdidaktischen
und zur Nutzung des Gebäudes als histori-      Projekten befassen.
schen Lernort. Ein gesonderter Abschnitt ist
der Bildungsarbeit während der derzeitigen
                                               Ihre LaG-Redaktion
Pandemie gewidmet.

                                                        Magazin vom 31.03.2021 3
Zur Diskussion

Zur Gedenkstättenlandschaft in                  bis 1935 als Konzentrationslager für das
Baden-Württemberg                               Land Württemberg. Etwa 600 Gegner des
                                                NS-Regimes waren dort inhaftiert, an de-
Von Katrin Hammerstein                          ren Schicksal das DZOK erinnert. Im Land
Baden-Württemberg zeichnet sich durch           Baden bestand im Schloss Kislau von 1933
eine vielfältige Gedenkstättenlandschaft        bis 1939 ein frühes Konzentrationslager,
aus. Über das ganze Land verteilt gibt es       in dem ca. 1.500 Männer in Haft waren, v.
zahlreiche Lern- und Gedenkorte sowie Ge-       a. politische Gegner, später auch Zeugen
denkstätteninitiativen, die an die Zeit der     Jehovas, sogenannte Asoziale und ande-
nationalsozialistischen Diktatur erinnern       re „Volksschädlinge“. Dieser Geschichte
und der Opfer gedenken. Damit werden der        widmet sich das 2012 gegründete Projekt
Nationalsozialismus und seine Verbrechen        Lernort Kislau.
nicht nur konkret vor Ort (be-)greifbar, son-   • die Verfolgung der jüdischen Bevöl-
dern es wird auch vor Augen geführt, wie        kerung und den Holocaust: Zahlreiche
flächendeckend und allgegenwärtig die NS-       Gedenkstätten und Jüdische Museen in
Verbrechen waren. Sie fanden nicht nur in       ehemaligen Synagogen, einstigen Rabbi-
den großen, auch international bekannten        nats- oder Schulgebäuden dokumentieren
Konzentrationslagern wie Dachau, Buchen-        die Zerstörung und Vernichtung der jü-
wald oder Auschwitz statt, sondern auch in      dischen Gemeinden in Baden und Würt-
der nahen Umgebung, teils in der unmittel-      temberg durch die Nationalsozialisten.
baren Nachbarschaft.                            1985 konnte das PKC Freudental seine
               Thematische Bandbreite           Türen als Gedenk- und Begegnungsstätte
                                                öffnen, nachdem es das ehemalige Syna-
Entstanden sind die baden-württembergi-
                                                gogengebäude vor dem Abriss bewahrt
schen Gedenkstätten ab den 1980er Jahren
                                                hatte. Die Orte zur jüdischen Geschichte
aus bürgerschaftlichem Engagement heraus
                                                thematisieren auch das teils jahrhunder-
und oftmals gegen Widerstände. Heute bil-
                                                telange Zusammenleben, so etwa im Mu-
den sie ein dichtes und zugleich ausdifferen-
                                                seum zur Geschichte von Christ*innen
ziertes Netz von Orten zur Auseinanderset-
                                                und Juden*Jüdinnen in Laupheim. In der
zung mit der NS-Geschichte. So nehmen sie
                                                Ehemaligen Synagoge Rexingen infor-
unterschiedliche Verfolgungs- und Verbre-
                                                miert eine Ausstellung über die Auswan-
chenskomplexe in den Blick:
                                                derung von Rexinger Juden*Jüdinnen
  • die politische Verfolgung an den Orten      im Jahr 1938 nach Palästina, wo sie ge-
  früher Konzentrationslager: 1985 wur-         meinsam die Siedlung Shavei Zion grün-
  de das Dokumentationszentrum Oberer           deten. Gedenkorte wie das Mahnmal
  Kuhberg (DZOK) in Ulm eröffnet. Das           zur Erinnerung an die nach Gurs depor-
  „Fort Oberer Kuhberg“ fungierte von 1933      tierten badischen Juden*Jüdinnen in

                                                       Magazin vom 31.03.2021 4
Zur Diskussion

Neckarzimmern oder die Gedenkstätte         Namenswand wird der 21.000 Sinte*zze
„Zeichen der Erinnerung“ am Stuttgar-       und Rom*nja gedacht, die in das Vernich-
ter Nordbahnhof erinnern an die Depor-      tungslager Auschwitz-Birkenau verbracht
tationen der Juden*Jüdinnen aus Ba-         und fast alle ermordet wurden.
den, Württemberg und Hohenzollern ab        • Zwangsarbeit und späte Konzentrations-
1940/41.                                    lager: Mehr als 50 Außenlager gehörten
• Zwangssterilisierung und „Euthanasie“-    zum KZ Natzweiler-Struthof im Elsass,
Verbrechen: Das Schloss Grafeneck auf       35 davon wurden ab 1942/43 im heuti-
der Schwäbischen Alb war das erste von      gen Baden-Württemberg errichtet. 13 Ge-
sechs Vernichtungszentren der „Akti-        denkstätten und Initiativen im Land erin-
on T4“ im Deutschen Reich. Im Januar        nern an das Leid der KZ-Häftlinge, die an
1940 begann hier der Mord an insgesamt      diesen Orten zumeist für die Kriegswirt-
10.654 Menschen, die von den National-      schaft arbeiten mussten und in der Rüs-
sozialisten als „lebensunwertes Leben“      tungsindustrie oder für den Abbau von
stigmatisiert wurden. Das Dokumentati-      Ölschiefer ausgebeutet wurden. Die Do-
onszentrum Gedenkstätte Grafeneck leis-     kumentationsstätte Goldbacher Stollen in
tet Forschungs- und Vermittlungsarbeit,     Überlingen am Bodensee befindet sich am
dokumentiert die Ereignis- und Aufarbei-    Standort eines Außenlagers des KZ Dach-
tungsgeschichte und vernetzt die Erinne-    au. Das System der Zwangsarbeit umfasste
rung an die Opfer der NS-„Euthanasie“.      auch viele andere Bereiche: Industrie-Un-
Zunehmend gerät in der Forschung auch       ternehmen und Betriebe, Landwirtschaft,
das Thema Zwangssterilisation in den        Handwerk, Privathaushalte. Die Theresi-
Blick. Am Standort des ehemaligen Erb-      enkapelle Singen erinnert an Zwangsar-
gesundheitsgerichts Ulm informiert seit     beiter, die als „Ostarbeiter“ von 1941 bis
2019 das Erinnerungszeichen für die Op-     1945 in Singen untergebracht waren und
fer von NS-Zwangssterilisation und „Eu-     in lokalen Firmen wie z. B. der Niederlas-
thanasie“- Morden über die Geschehnisse     sung von Maggi eingesetzt wurden.
vor Ort und das Schicksal der Ulmer Op-     • die Verfolgung von Gegnern und Wider-
fer.                                        stand: In Baden-Württemberg bestehen
• die Verfolgung aus „rassischen“ Grün-     mehrere Gedenkstätten für bekannte Per-
den: Neben Juden*Jüdinnen wurden            sönlichkeiten des Widerstands, jeweils an
auch Sinte*zze und Rom*nja rassistisch      Orten mit biografischem Bezug: für Claus
verfolgt. Das Dokumentations- und Kul-      Schenk Graf von Stauffenberg und seinen
turzentrum Deutscher Sinti und Roma in      Bruder Berthold in Stuttgart und Albstadt-
Heidelberg zeichnet in seiner Ausstellung   Lautlingen, für Hans und Sophie Scholl in
die Geschichte des NS-Völkermords an        Forchtenberg und Crailsheim und für Ge-
Sinte*zze und Rom*nja nach. Mit einer       org Elser in Königsbronn. Widerstand der

                                                   Magazin vom 31.03.2021 5
Zur Diskussion

  ersten Stunde zeigten die Teilnehmenden           Bürgerschaftliches Engagement
  des Mössinger Generalstreiks vom 31. Ja-                    und vernetzte Arbeit
  nuar 1933. Im Rathaus Mössingen infor-      Mit ihrer Arbeit, die in weiten Teilen ehren-
  miert seit Januar 2021 zusätzlich zu dem    amtlich erbracht wird, leisten die baden-
  bisherigen virtuellen Geschichtsort im      württembergischen Gedenkstätten einen
  Internet ein Erinnerungs- und Ausstel-      essentiellen Beitrag für die Schaffung und
  lungskubus über die Geschehnisse.           Stärkung eines kritischen Geschichtsbe-
Auch die Tätergeschichte ist ein Thema in     wusstseins und den Erhalt einer lebendi-
Gedenkstätten. Explizit befasst sich in Ba-   gen Demokratie. Mittlerweile erreichen sie
den-Württemberg z. B. der Geschichtsort       über 300.000 Besucher*innen im Jahr. Die
Hotel Silber in Stuttgart damit und präsen-   Arbeit der Gedenkstätten würdigt auch der
tiert in der ehemaligen württembergischen     Landtag von Baden-Württemberg in seiner
Gestapo-Zentrale eine Dauerausstellung zur    2010 verabschiedeten Konzeption „Kultur
Geschichte von Polizei, Gestapo und Verfol-   2020“: „Gedenk- und Erinnerungsstätten
gung. Im Entstehen sind außerdem mehrere      sind Teil unserer politischen Kultur. […] Die
NS-Dokumentationszentren, so im Mann-         Ehrenamtlichen haben, oft als einzige, in
heimer MARCHIVUM, in Freiburg und in          meist jahrelanger Forschung und Archivar-
Tübingen, wie insgesamt die Gedenkstät-       beit zur Erhellung des dunkelsten Kapitels
tenlandschaft sich beständig weiterentwi-     der Geschichte in unserem Land beigetra-
ckelt: Neue Orte entstehen, bei der Grün-     gen. […] Mit ihrem Engagement leisten sie
dung eingerichtete Dauerausstellungen         einen wesentlichen Beitrag zu einer demo-
werden überarbeitet und aktualisiert, wobei   kratischen Erinnerungskultur.“
auch die Aufarbeitungsgeschichte nach 1945    Zur gegenseitigen Unterstützung und Inte-
in den Fokus rückt.                           ressenvertretung gegenüber der Politik und
Eine Besonderheit der baden-württem-          der Öffentlichkeit haben sich die Gedenk-
bergischen Gedenkstättenlandschaft stellt     stätten 1995 in der Landesarbeitsgemein-
schließlich das DDR-Museum Pforzheim          schaft der Gedenkstätten (LAG) zusammen-
dar. Es ist das einzige DDR-Museum in         geschlossen. Heute umfasst die – inzwischen
Westdeutschland und erinnert als „Lernort     um Gedenkstätteninitiativen erweiterte –
Demokratie – Das DDR-Museum Pforz-            Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstät-
heim“ an die Geschichte der SED-Diktatur      ten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG)
und der deutschen Teilung. Wie in allen Ge-   mehr als 70 Gedenk- und Lernorte sowie
denkstätten ist hier die Demokratiebildung    Initiativen. Zum gemeinsamen Austausch
ein zentraler Aspekt der Erinnerungs-, Bil-   trifft sich die LAGG jährlich zu ihrer Dele-
dungs- und Vermittlungsarbeit.                giertenversammlung; alle zwei Jahre wählt
                                              diese den Sprecherrat. Dieses Gremium,
                                              das aus acht Personen besteht, vertritt die

                                                       Magazin vom 31.03.2021 6
Zur Diskussion

Anliegen der Gedenkstätten im Land.            werden können. Auch die Vernetzung mit
In Arbeitskreisen greift die LAGG aktuelle     verschiedenen Akteur*innen im Land, aber
Fragestellungen auf. Der Arbeitskreis Ju-      auch über Baden-Württemberg hinaus, mit
gend- und Vermittlungsarbeit hat z. B. den     Schulen, Universitäten, Museen, Archiven
Leitfaden „Erinnern – Erfahren – Erlernen.     ist eine wichtige Aufgabe, der sich LAGG
Pädagogische Ansätze und Konzepte für Ju-      und LpB gemeinsam widmen.
gend- und Vermittlungsarbeit an Gedenk-        Mehrere Gedenkstätten in Baden-Württem-
stätten“ erarbeitet und Module für eine Aus-   berg haben sich räumlich oder thematisch
bildung zu Jugendguides an Gedenkstätten       in Verbünden zusammengeschlossen, zum
entwickelt. Mit Fragen der Erfassung, Ver-     Teil auch über Landesgrenzen hinweg. Der
zeichnung und Verwahrung von Archivgut         Gedenkstättenverbund        Gäu-Neckar-Alb
befasst sich der AK Archivarbeit und hat       e. V. vereint 13 Gedenkstätten und -initia-
auf der Grundlage der Handreichung „Das        tiven in Südwürttemberg. Sechs badische
materielle Erbe der Zeitzeugen sichern“ des    Gedenkstätten haben den Verbund Gedenk-
DZOK in Ulm hierfür Hilfsmittel erstellt.      stätten südlicher Oberrhein gegründet. Die
Auch das Thema Digitalisierung spielt zu-      Gedenkstätten an Standorten von Außenla-
nehmend eine Rolle.                            gern des KZ Natzweiler-Struthof im Elsass
Bei ihren Aktivitäten arbeitet die LAGG        haben sich zum Verbund der Gedenkstätten
eng mit der Landeszentrale für politische      im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler e. V.
Bildung Baden-Württemberg (LpB) zu-            (VGKN) zusammengeschlossen. 2018 wur-
sammen, die vom Landtag mit der Förde-         de dieser gemeinsam mit dem Centre Euro-
rung der Gedenkstätten beauftragt ist. Der     péen du Résistant Déporté (CERD) der fran-
Fachbereich Gedenkstättenarbeit der LpB        zösischen Gedenkstätte am Ort des früheren
koordiniert die Gedenkstättenförderung         Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof
des Landes. Neben der finanziellen För-        für die grenzüberschreitende Vermittlungs-
derung begleitet er die Arbeit der Gedenk-     arbeit mit dem Europäischen Kulturerbe-
stätten auch beratend und inhaltlich, mit      Siegel ausgezeichnet. Über 80 Gedenkorte
Konzepten und Angeboten u. a. im Bereich       in Oberschwaben und im angrenzenden
der Gedenkstättenpädagogik, mit Veran-         Ausland (Schweiz/Österreich) bringt das
staltungen, Vortragsreihen, Fachtagungen,      Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation
Fortbildungen und der Herausgabe von Pu-       Oberschwaben zusammen. Die Gedenkstät-
blikationen. In der Reihe MATERIALIEN          ten vernetzen sich auch auf Bundesebene, z.
z. B. erscheinen Lese- und Arbeitshefte, die   B. in der 2019 gebildeten AG „Gedenkstät-
in Zusammenarbeit mit einzelnen Erinne-        ten an Orten früher Konzentrationslager“.
rungsorten erarbeitet werden und für die       Die LAGG insgesamt ist Mitglied des im De-
Bildungsarbeit im Schulunterricht, in der      zember 2020 gegründeten Verbandes der
Jugendarbeit und an Gedenkstätten genutzt      Gedenkstätten in Deutschland e. V.

                                                        Magazin vom 31.03.2021 7
Zur Diskussion

 Diktaturgeschichte und Demokratie            einzustehen. Weil unsere liberale, moder-
Anknüpfungspunkte bestehen auch zu den        ne Gesellschaft nicht selbstverständlich ist,
Erinnerungsorten der Demokratiegeschich-      sondern etwas, woran wir täglich arbeiten
te, von denen es in Baden-Württemberg u. a.   müssen.“ (https://muhterem-aras.de/pra-
mit der Erinnerungsstätte für die deutschen   esidentin/gedenken/)
Freiheitsbewegungen in Rastatt, der Fried-                            Weiterführende
rich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg,                          Hinweise und Literatur
der Erinnerungsstätte Matthias Erzber-        Eine Übersicht über die Gedenkstätten in
ger in Münsingen-Buttenhausen oder dem        Baden-Württemberg und weitere Informati-
Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart ebenfalls     onen zu ihrer Arbeit finden sich auf dem von
eine Vielzahl gibt. Die Erinnerungsstätte     der Landeszentrale für politische Bildung
Salmen in Offenburg steht zugleich für die    Baden-Württemberg (LpB) eingerichteten
badische Freiheitsbewegung 1847 und als       Gedenkstättenportal www.gedenkstaetten-
einstige Synagoge auch für die Verfolgung     bw.de. Dort ist auch der von LpB und LAGG
der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit.     gemeinsam herausgegebene Guide „Ge-
Dies macht sie zu einem eindrücklichen Ort    denkstätten in Baden-Württemberg“ online
für die Reflexion und Vermittlung von Ge-     abrufbar.
schichte im Spannungsfeld von Demokratie
                                              Sibylle Thelen, Gedenkstätten in Baden-
und Diktatur. Die Auseinandersetzung mit
                                              Württemberg. Ohne Erinnerung keine Zu-
der NS-Geschichte führt immer wieder auch
                                              kunft, in: bildung & wissenschaft 06/2018,
in die Gegenwart. Die Gedenkstätten rich-
                                              S. 19–23.
ten nicht nur aktuelle Fragen an die Ver-
gangenheit, sondern treten auch aktiv gegen   Sibylle Thelen, Gedenkstättenarbeit in Ba-
Rassismus, Antisemitismus und Rechtsext-      den-Württemberg. Zusammenarbeit – Aus-
remismus ein und setzen sich für das Enga-    bau – künftige Aufgaben, in: Gedenkstät-
gement für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie    tenRundbrief Nr. 179 vom 1. Oktober 2015,
und Menschenrechte ein.                       S. 15–24.

In diesem Sinne unterstreicht die seit 2016
amtierende baden-württembergische Land-
tagspräsidentin Muhterem Aras die Be-                                          Über die Autorin
deutung der Gedenkstätten im Land: „Die            Dr. Katrin Hammerstein leitet seit Juni 2020
                                                   den Fachbereich Gedenkstättenarbeit bei der
vielen Gedenkorte in Baden-Württemberg             Landeszentrale für politische Bildung Baden-
[…] erinnern uns […] nicht nur an histori-        Württemberg. Zuvor war sie wissenschaftliche
                                                        Mitarbeiterin des Landesarchivs Baden-
sche Ereignisse. Sie erinnern uns, dass un-       Württemberg/Abteilung Staatsarchiv Freiburg
sere Grundwerte eine Antwort sind, auf Un-              und der Universität Heidelberg und hat
                                                        zur Geschichte und Nachgeschichte des
recht, auf Hass, auf Unmenschlichkeit. Und         Nationalsozialismus geforscht und publiziert.
sie mahnen uns, für diese Grundwerte auch

                                                        Magazin vom 31.03.2021 8
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Betroffenheit reicht nicht –                            KZ dient dem „totalen Krieg“
Die Arbeit der Initiative                      Die Natzweiler-Außenlager des Wüste-
KZ Gedenken in Spaichingen                     Komplexes auf der Schwäbischen Alb zur
Von Regina Braungart                           Gewinnung von Öl aus Ölschiefer – ein irr-
                                               sinniges Vorhaben –, wurden ab 1943, vor
Die Geschichte des Gedenkens und der Auf-
                                               allem aber 1944 eingerichtet. Das Lager
arbeitung der Geschehnisse um das und im
                                               Spaichingen sollte Arbeitssklaven für die
Konzentrationslager in Spaichingen ist auch
                                               Entwicklung und Produktion von Flugzeug-
ein Spiegel der Selbstsicht, Befindlichkeit
                                               Außenbordkanonen bereitstellen. Kurz vor
und des Nutzens für diejenigen, die sich da-
                                               Kriegsende dienten sie dem Hauptziel der
mit beschäftigten – oder auch nicht damit
                                               Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen
beschäftigten. Das ist vielleicht der Grund,
                                               Reichs: dem „totalen Krieg“.
warum es rund 70 Jahre gedauert hat,
bis sich die Erinnerung und Erforschung        Für Spaichingen war das KZ ein Fremdkör-
der Vorgänge um das KZ eine organisierte       per. Zwar war schon lange zu spüren, dass
Struktur gegeben haben.                        die heimischen Möbel- und Metallbetriebe
                                               Kriegszielen unterworfen wurden. Es gab
Zwischen September 1944 und April 1945
                                               eine gleichgeschaltete Verwaltungs- und
wurde in der kleinen Stadt Spaichingen ein
                                               Gesellschaftsstruktur – andere Einflussele-
Außenlager des KZ Natzweiler eingerichtet.
                                               mente, wie die Kirche, waren eingeschüch-
Davon gab es nach Auflösung des Stammla-
                                               tert. Zahlreiche Männer und Frauen waren
gers im Elsass 70 östlich des Rheins.
                                               eingebunden in die NS-Organisationen,
Gut 500 Männer waren in dieser Zeit in Spai-   wenn auch oft nur als Mitglieder. Offener
chingen inhaftiert. Verschiedene „Transpor-    Widerstand von Kommunist*innen und
te“ brachten Häftlinge vor allem aus Dach-     Sozialdemokrat*innen war ganz am Anfang
au. Anfang März aber gab es den größten        des „Dritten Reichs“ durch Internierung im
Transport mit 250 Häftlingen aus Buchen-       KZ Heuberg gebrochen worden. Und auch
wald. Dorthin waren auch die Gefangenen        die zentrumsnahe Presse war 1935 unter er-
der Ghettos, aus Auschwitz, Groß Rosen und     staunlich offenem Protest des Redakteurs
anderen evakuierten KZ gebracht worden.        eingestellt worden. Generell war Spaichin-
Fast alle der zuvor in Spaichingen Inhaf-      gen katholisch geprägt und ganz sicher kein
tierten waren nichtjüdische Mitglieder des     Hort des Nationalsozialismus. Aber man
Widerstands, Verschleppte oder Zwangsar-       arrangierte sich und nutzte Gelegenheiten.
beiter, die von der Gestapo wegen verschie-    Jüdische Spaichinger*innen gab es nicht.
dener „Delikte“ eingekerkert und zur Skla-     Die ganze Brutalität des Regimes erlebten
venarbeit gezwungen worden waren.              die Spaichinger*innen in ihren Augen durch
                                               erschwerte Lebensbedingungen und vor allem
                                               zahlreiche gefallene Männer, Brüder, Söhne.

                                                        Magazin vom 31.03.2021 9
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Und dann kamen auf einmal Männer aus             lebten bei Spaichinger*innen und gaben
dem „Arbeitserziehungslager“ Aistaig und         gutes Geld aus. Ganz sicher hat man dieses
begannen mit den Vorbereitungen für ein          Unterfangen auch als wirtschaftliche Chan-
Lager, das mitten in Gärten und Krautbeeten      ce gesehen und davon profitiert. Es wird
errichtet werden sollte. Zu dieser Zeit hatten   sogar von Liebschaften mit Wachmännern
sich die Spaichinger*innen bereits daran ge-     berichtet.
wöhnt, dass Kriegsgefangene oder vermeint-
                                                           Brutalität ändert Einstellung
lich freiwillig arbeitende Ausländer*innen
überall vom kleinen Bauernhof bis zum In-        Diese eher indifferente Haltung änderte
dustriebetrieb Zwangsarbeit leisteten. Das       sich offenbar mit der steigenden Brutalität
wurde nicht offen hinterfragt.                   der Wachleute. Denn unsichtbar war das
                                                 KZ von Anfang an nicht: Die ausgemergel-
       Misshandlungen und Tötungen
                                                 ten Häftlinge mussten sich in einer Kolonne
Was dann aber nach Spaichingen kam, war          zur Baustelle durch die halbe Stadt schlep-
etwas ganz anderes. Kontakt hatten die           pen, später aber wurden halb oder ganz Tote
Häftlinge nur mit Handwerkern beim Bau           mit Schubkarren zurückgebracht. Die durch
der beiden Baracken und des Steingebäudes,       Misshandlungen, Auszehrung und Krank-
beim Brotbacken für das KZ in einer Bäcke-       heiten Gestorbenen wurden gut sichtbar bis
rei, in der Gasthausküche, in der auch das       zum Abtransport ins Tuttlinger Krematori-
Essen für die Insassen und die Mannschaft        um neben der Baracke abgelegt. Das große
gekocht wurde, sowie in den verschiedenen        Sterben begann 1945. Die Schreie von in der
Rüstungs-Werkstätten. Der Kontakt bezie-         Weihnachtszeit zu Tode gefolterten Häft-
hungsweise offene Gespräche zwischen der         lingen waren überall zu hören, wie Heiner
Bevölkerung und den Häftlingen war ver-          Geißler in einem Interview bezeugte. Er leb-
boten. An der Haupteinsatzstelle, der Bau-       te zu jener Zeit als Jugendlicher in Spaichin-
stelle für eine Rüstungsproduktionshalle im      gen.
Gebiet „Lehmgrube“, wurden die Häftlinge
                                                 Insgesamt starben 110 namentlich bekannte
nicht nur mit schwerer Arbeit bei Eiseskälte
                                                 Häftlinge, die meisten auf Transporten zu
gequält, sondern auch misshandelt und hier
                                                 oder in Spaichingen. Neun davon sind auf
gab es auch fast keine zufälligen Kontakte.
                                                 dem Todesmarsch ins Allgäu umgekommen.
Das Verhältnis der Bevölkerung zum KZ            Die Erforschung der einzelnen Schicksale
muss aus einer Mischung aus Zwangsver-           aller Häftlinge ist noch nicht abgeschlossen.
pflichtung und Arrangement bestanden
                                                       Sichtbare Zeichen des Erinnerns
haben und hatte auch profitable Seiten. Im-
merhin waren viele Wachleute der SS, vor         Das Bedürfnis, auf das Leiden hinzuwei-
allem aber die Ingenieure und Kaufleute          sen, das in dieser Stadt geschehen war, war
der „Metallwerke“, so lautete der Deckname       da, auch wenn genaue Fakten fehlten. Aber
für den neu gegründeten Rüstungsbetrieb,         nach außen sichtbar – das war eine ganz

                                                           Magazin vom 31.03.2021 10
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andere Sache. Und so wurde gleich nach            Die wirkliche Bestialität ist woanders
dem Krieg 1946 ein Holzkreuz zum Ge-              Denn es herrschte die Wahrnehmung: Die
denken auf Geheiß der französischen Sie-          wirkliche Bestialität des Regimes war woan-
ger erstellt. Deren Namen wurden auf zwei         ders. Auschwitz, Dachau vielleicht, aber nicht
flankierenden Steinen angebracht. 1963 be-        Spaichingen. Das Bielefelder Forscherteam
auftragte die Stadt ein Kunstwerks des Tutt-      um Andreas Zick hat 2018 herausgefunden,
linger Künstlers Roland Martin „den Opfern        dass rund 18 Prozent der über 1.000 zufäl-
der Gewalt“. Jetzt gestaltete die Stadt einen     lig Befragten glaubte, ihre Vorfahren hätten
Gedenkplatz und ließ Platten mit den Namen        im Nationalsozialismus potenziellen Opfern
der 30 Toten des Massengrabs in den Boden         wie Juden geholfen. Tatsächlich waren es
ein. An Allerheiligen und am Volkstrauer-         maximal 0,3 Prozent. So war auch die Zivil-
tag wurde das „KZ-Ehrenmal“, wie es jetzt         courage einiger mutiger Spaichinger*innen
hieß, besucht und eine ökumenische Initi-         lange Zeit nach dem Krieg die dominierende
ative thematisierte das Spaichinger KZ ab         Selbstwahrnehmung: Diese hatten versucht,
den 90er Jahren immer auch am Gedenktag           Häftlingen Lebensmittel zuzustecken, ob-
zur Reichspogromnacht. 1994 erstellten ein        wohl das streng verboten war und die Fol-
Spaichinger Firmenchef und der Redakteur          gen unabsehbar. Deshalb wurden oft auch
des Heuberger Boten die erste Ausstellung         Kinder vorgeschickt. Für die Häftlinge war
zum KZ. Seit den 80er-Jahren erschienen           das Entdeckt werden im schlimmsten Fall
einige Zeitungsartikel und der Redakteur          aber tödlich.
des Heuberger Boten schreib den viel zitier-
                                                  Diese Barmherzigkeit gab es tatsächlich.
ten Beitrag in der Spaichinger Stadtchronik.
                                                  Gleich mehrere ehemalige Häftlinge, die ihr
Einige, auch einige Zeitzeugen, nahmen die        Zeugnis bei der Shoah Foundation auf Video
Verantwortung des Erinnerns und Mahnens           gebannt haben, betonen diese Versuche der
sehr ernst, (ehemalige) Stadträte oder Leh-       Hilfe zum Überleben für die oft sehr jungen
rer zum Beispiel, in Kunstprojekten und           Männer.
Stadtführungen, oder auch mit dem Voran-
                                                  Das ist es, was sehr viele Spaichinger*innen
treiben von sichtbaren Erinnerungszeichen.
                                                  nach dem Krieg umtrieb: keine kühlen Bli-
Es waren im Grunde aber immer nur rund
                                                  cke in Strukturen oder Fakten, sondern das
ein Dutzend Menschen, die das öffentliche
                                                  Mitleid, die Trauer.
Erinnern aufrechterhalten wollten. 2006 wur-
den Gedenkplatten am Spaichinger Markt-           Das war sicher auch der Grund, warum so
platz eingelassen und sollten die Grenzen         spät begonnen wurde, wissenschaftlich zu
des ehemaligen KZ markieren. Sie liegen           forschen. Es schien, als ob schon alles offen-
deutlich verschoben, weil es keine ausreichende   bart sei. Die vielen Opferlisten, die kursier-
Grundlagenarbeit gab. Überhöhte Todes-            ten, galten als gesicherte Faktenlage. Dabei,
zahlen hatte der Redakteur wohl hochgerechnet.    wie sich später beim akribischen Vergleich

                                                            Magazin vom 31.03.2021 11
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herausstellte, bezogen sie sich aufeinander      Spielchen überlässt? Wird jetzt jeder Spai-
und stammen bis auf wenige Ausnahmen             chinger automatisch zum Holocaustleugner
aus ein- und derselben Quelle.                   und macht sich dadurch strafbar, wenn er
       Gedenkarbeit professionalisiert           verworren wirkenden geistigen Klimmzü-
         sich – nicht ohne Widerstand            gen einer Redakteurin nicht folgen kann
                                                 und will?“ (NBZ, Abruf 28.1.2018, heute
2017 gründeten die Aktiven um das Ärz-
                                                 nicht mehr abrufbar)
teehepaar Ingrid und Albrecht Dapp den
Verein KZ-Gedenken in Spaichingen. Der           Fast gleichzeitig zur Vereinsgründung hat-
wurde sofort ein Teil des Verbundes der Au-      te der damals noch amtierende Spaichin-
ßenlager des ehemaligen KZ Natzweiler. Die       ger Bürgermeister beschlossen, einen Ge-
Gedenkstättenarbeit begann, sich im besten       denkpfad am Ehrenmal legen zu lassen.
Sinne zu professionalisieren.                    Inwieweit das mit dem Rückgewinnen der
                                                 „Hoheit“ zu tun hat, wie sie eben jener einst
Ein Kapitel war mangels Forschung zuvor
                                                 so verdienstvolle Redakteur gefordert hat,
aber noch gar nicht berührt: „Spaichingen
                                                 kann nur spekuliert werden.
war doch Teil des Holocaust“. So lautete der
Titel des Zeitungs-Artikels der jetzt aktiven    Dieser kurze Einblick zeigt, wie schwer sich
Redakteurin von Januar 2018. Dieser belegt       manchmal selbst jene mit der Wahrheit tun,
erstmals, dass der März-Transport zahlrei-       die sich als Aufklärer sehen. Bisher war in
che Juden ins KZ nach Spaichingen brachte.       der Wahrnehmung in Spaichingen: Alles
Die genaue Anzahl war zu diesem Zeitpunkt        war zwar schlimm, aber nicht so monströs
noch nicht klar.                                 wie der Holocaust und das System dahinter.
                                                 Fakt ist: Von 250 Häftlingen des Märztrans-
Ein Zitat nun aus der Replik im Blog des
                                                 ports waren, wie inzwischen einzeln belegt
früheren Redakteurs, der den Holocaust
                                                 ist, mindestens 178 vor allem polnische Ju-
fälschlich offenbar ausschließlich in Ver-
                                                 den. Die Transportliste hatten den Männern
nichtungslagern verortet: „Als KZ-Außenla-
                                                 nur noch Nachnamen, abgekürzte Vorna-
ger für die Mauserwerke Oberndorf (…) war
                                                 men und Nummern gelassen. Aber der Ver-
in Spaichingen kein Vernichtungslager ein-
                                                 ein hat inzwischen die meisten Identitäten
gerichtet. Wer so etwas in die Welt setzt, hat
                                                 entschlüsselt.
von Geschichte keine Ahnung, verunglimpft
aber Spaichingen in einer Art und Weise, die                         Die Offenheit wächst
der Stadt enorm schaden kann: Fakes. (….)        Die Vernetzungsarbeit mit anderen Ge-
Ist es nicht an der Zeit, dass sich die Stadt,   denkstätten, Veranstaltungen, Vorträge,
Gemeinderat und Verwaltung, selbst an ihre       Filme, Zeitzeugeninterviews, Publikationen,
Hoheit erinnern, auch was die Geschich-          Reisen zum Stammlager, Ausstellungen,
te betrifft und diese nicht Vereinsmeiern        Gedenkfeiern und mehr treibt der sehr ak-
für eventuell irgendwelche ideologischen         tive Verein voran. Es geht ums Gedenken

                                                          Magazin vom 31.03.2021 12
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und die Trauer, um Verantwortung und            ihm verbundenen Forschung können nun
Sichtbarmachung, und auch ums Aufholen          mehr und mehr Antworten nicht nur zu den
des Versäumten. Es war in den 80er- und         Umständen gegeben werden: Die ersten An-
90er-Jahren eben nicht alles gesagt worden,     gehörigen von ausgewanderten Überleben-
nachdem über Jahrzehnte die Stadt ver-          den haben sich bereits beim Verein gemel-
sucht hatte, die Wunde von Scham, Mitleid       det und Antworten bekommen.
und Trauer zu verdecken, um ein neues Ka-       Homepage: kz-gedenken-spaichingen.de
pitel aufzuschlagen.
Seit den 2000ern ist die Offenheit der Be-
völkerung Spaichingens gewachsen, sich
allen Fakten des Geschehens zu stellen.                                          Über die Autorin:
                                                       Regina Braungart hat Politikwissenschaften,
Lokale und überregionale Erfahrungen mit
                                                     Islamkunde und Judaistik (M.A.) studiert. Sie
Populismus und neurechten Tendenzen mö-               leitet seit dem Jahr 2000 die Lokalredaktion
                                                    der Schwäbischen Zeitung in Spaichingen und
gen hier als Triebmittel gewirkt haben.
                                                    ist seit 2012 Dozentin an einer Hochschule für
Ein Baustein, sich dem Thema „KZ vor der                                              Journalistik.

Haustür“ pädagogisch zu widmen, stammt
von der Berufsschullehrerin Nadine Her-
mann. Die entsprechenden Unterrichtsein-
heiten sind auf dem Landesbildungsserver
samt den bereitgestellten Materialien frei
abrufbar.
Alle, die sich in Spaichingen kompetent und
aktiv dem Thema widmen – von der Leiterin
des Spaichinger Museums, die die informa-
tiven Tafeln des Gedenkpfads erstellt hat bis
zu den künstlerisch und pädagogisch Wir-
kenden – kooperieren in dem Bestreben, der
Wahrheit möglichst nahe zu kommen – der
Verantwortung wegen und nicht wegen der
„Hoheit über die Geschichte“. Genau dassel-
be gilt für die vorbildliche Kooperation der
Gedenkstätten untereinander.
Das Tragische der heutigen Gedenkstät-
ten- und Forschungsarbeit ist, dass jetzt die
meisten Zeitzeugen nicht mehr leben. Das
Positive ist: Dank des Vereins und der mit

                                                          Magazin vom 31.03.2021 13
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„Was hat ein Kaninchen mit                      Jugendliche der Sekundarstufe (ab Klasse
unserer Geschichte zu tun?“ –                   8/9). Obwohl sich die Gustav-Wiederkehr-
Die Mannheimer KZ-                              Schule (Grundschule) und die Gedenkstätte
Gedenkstätte Sandhofen führt                    im selben Gebäude befinden, gab es lange
seit 2014 eine Geschichts-AG                    Zeit keine Zusammenarbeit zwischen den
zum Nationalsozialismus mit                     beiden Institutionen. Sowohl unter der Leh-
Grundschulkindern durch                         rerschaft und den Eltern als auch seitens des
Von Marco Brenneisen                            Vereins KZ-Gedenkstätte existierten Vor-
und Corinna Keunecke                            behalte und Skepsis, ob es möglich sei, das
                                                Thema Nationalsozialismus mit Kindern
Von September 1944 bis März 1945 befand
                                                im Alter von 6 bis 10 Jahren zu behandeln.
sich im Gebäude der damaligen Friedrich-
                                                Erst im Frühjahr 2013 nahm sich der Ver-
schule (heute Gustav-Wiederkehr-Schule)
                                                ein dieser Herausforderung an und entwi-
in Mannheims nördlichstem Stadtteil Sand-
                                                ckelte auf Anregung der Schulleitung und
hofen ein Konzentrationslager, das dem KZ
                                                in enger Absprache mit dieser ein Konzept
Natzweiler (Elsass) als Außenlager zugeord-
                                                für eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft für
net war. Nahezu alle der 1.070 Häftlinge die-
                                                Schüler*innen der Klassenstufe 4, die die
ses Lagers waren (nicht-jüdische) polnische
                                                Kinder mit der Gedenkstätte vertraut macht,
Männer und Jungen ab 14 Jahren, überwie-
                                                basale Kenntnisse über die Geschichte des
gend Zivilisten, die während des Warschau-
                                                Nationalsozialismus allgemein sowie des
er Aufstands im August 1944 verhaftet und
                                                KZ Sandhofen im Besonderen vermittelt.
als politische Gefangene zur Zwangsarbeit
                                                Im Mittelpunkt dieses Formats steht dabei
nach Deutschland verschleppt worden wa-
                                                nicht das Erlernen von Faktenwissen; Viel-
ren. In Mannheim mussten sie Zwangsar-
                                                mehr zielt das AG-Konzept darauf ab, ent-
beit für Daimler-Benz leisten.
                                                sprechend des jungen Alters der Kinder,
Seit 1990 dokumentiert eine Gedenkstätte        ein niedrigschwelliges interaktives Angebot
in den Kellerräumen der Grundschule die         historischen Lernens anzubieten, das the-
Geschichte des KZ-Außenlagers und erin-         matisch um die Schwerpunkte Diskriminie-
nert an die Opfer des KZ Sandhofen. Träger      rung, Ausgrenzung und Verfolgung kreist
der Dauerausstellung ist der Verein KZ-Ge-      und den Anspruch erhebt, Kinder im Um-
denkstätte Sandhofen e.V. in Kooperation        gang mit Geschichte zu sensibilisieren, ihr
mit dem MARCHIVUM (ehemals Stadtar-             politisches und demokratisches Bewusst-
chiv Mannheim) und dem Stadtjugendring.         sein zu schärfen und zu einer Orientierung
Bis 2014 richteten sich die pädagogi-           an Menschenrechten zu motivieren. Die
schen Angebote der Gedenkstätte, ange-          überwiegend biographieorientierten Metho-
lehnt an die Bildungspläne und Curricula        den historischen Lernens mit lokalen Bezü-
in Baden-Württemberg, ausschließlich an         gen sollen vergangenheitsbezogenes Wissen

                                                         Magazin vom 31.03.2021 14
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über den unmittelbaren Lebensraum der          tendiere. Neuere Ansätze, die eine Themati-
Kinder vermitteln und zugleich gesellschaft-   sierung im Grundschulbereich befürworten,
liche Probleme und Herausforderungen aus       berücksichtigen jedoch diese Einwände und
dem Erfahrungshorizont der Schüler*innen       benennen Erfordernisse, Gestaltungsmög-
berücksichtigen (Gegenwartsbezug). Das         lichkeiten sowie Bedingungen (vgl. die Bei-
Konzept richtet sich am aktuellen Stand der    träge in Lernen aus der Geschichte 2/2010).
pädagogischen Forschung zur Vermittlung        Dass eine Thematisierung grundsätzlich
von Wissen über den Nationalsozialismus        möglich ist, darüber gibt es mittlerweile ei-
im Grundschulalter sowie altersentspre-        nen weitgehenden Konsens; diskutiert wird
chenden didaktischen Prämissen aus, die        heute überwiegend über das „Wie?“.
darauf zielen, eine kognitive und psychische
                                               Der häufig vorgebrachte Einwand, Grund-
Überbelastung der Schüler*innen zu verhin-
                                               schulkinder seien per se zu jung für eine
dern und sich an den Fähigkeiten und Be-
                                               erste Beschäftigung mit dem Nationalsozi-
dürfnissen der Kinder zu orientieren.
                                               alismus, suggeriert, dass Kinder keinerlei
Das Projekt wurde erstmals im zweiten          Vorwissen zum Thema hätten und histo-
Schulhalbjahr 2013/14 durchgeführt. Die        risches Lernen in diesem Fall nur schwer
als Pilotprojekt gestartete Geschichts-AG      möglich sei, da keine Anknüpfungspunkte
hat sich seitdem als fester Bestandteil des    zur alltäglichen Lebenswelt der Kinder be-
pädagogischen Angebots der KZ-Gedenk-          stünden. Beides ist jedoch nur selten der
stätte Sandhofen etabliert.                    Fall. Die meisten Kinder dürften selbst im
       Nationalsozialismus als Thema           Grundschulalter irgendwann einmal etwas
                 im Grundschulalter?           über „Nazis“, „die Nazi-Zeit“ oder Hitler ge-
        Grundsätzliche Überlegungen            hört haben, ohne aber ein Verständnis da-
                                               von zu haben, wovon hier die Rede ist. Dass
Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre
                                               es sich dabei um etwas „Böses“ handelt, um
wird in der pädagogischen bzw. geschichts-
                                               Unrecht, das Menschen irgendwann in der
didaktischen Forschung in Deutschland
                                               Vergangenheit angetan wurde, wissen Kin-
die Frage diskutiert, ob Nationalsozialis-
                                               der in weitaus größerem Maße als weithin
mus und Holocaust bereits im Primarbe-
                                               angenommen.
reich des Schulsystems behandelt werden
können und dürfen. Als Haupteinwände           In der heutigen Medien- und Kommunikati-
werden in der Regel vorgebracht, dass eine     onsgesellschaft werden Kinder zwangsläufig
Thematisierung Kinder dieses Alters kog-       mit Themen wie Rassismus, Ausgrenzung
nitiv, emotional und psychisch überfordere     und Verfolgung konfrontiert, die in die Ge-
oder durch eine (aus eben diesem Grund         genwart hineinreichen oder gar direkt in
notwendige) Reduktion der vermittelten         der Gegenwart geschehen. Zu nennen sei
Inhalte zu einer Entkontextualisierung und     etwa die breite Medienberichterstattung zu
letztlich Bagatellisierung der NS-Verbrechen   den rechtsextremen Anschlägen in Halle

                                                        Magazin vom 31.03.2021 15
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(2019) und Hanau (2020) oder zur Mord-        dadurch erforderlich, dass über den Natio-
serie des NSU. Jedes Kind, das gelegentlich   nalsozialismus gesprochen und geschrieben
Radio hört oder mit den Eltern Nachrichten    und der Opfer in Form von Gedenktafeln,
schaut, erlangt davon zumindest beiläufig     Mahnmalen und anderen Erinnerungszei-
Kenntnis. Themen wie Rechtsextremismus,       chen öffentlich gedacht wird, was auch von
Antisemitismus, Rassismus, Krieg und Ge-      Kindern wahrgenommen wird. Die vom
walt, Verfolgung und Flucht bleiben den       Kölner Künstler Gunter Demnig geschaffe-
Heranwachsenden nicht verborgen. Ist es       nen „Stolpersteine“ beispielsweise sind im
für Erwachsene schon kaum erklärbar, wie      öffentlichen Raum sichtbar, werden von
Menschen zu derlei Taten in der Lage sein     Kindern auf dem Schulweg gesehen und
können, stellt sich für Kinder umso mehr      werfen Fragen auf: Warum ist dieser Stein
die Frage nach dem „Warum“. Bei der Su-       hier? Wer war diese Person? Warum wur-
che nach Sinn greifen wir, die wir die Ge-    de sie ermordet, wie auf dem Stein zu lesen
schichte des Nationalsozialismus kennen,      ist? Wo und was ist Auschwitz? Nicht im-
oftmals auf die Geschichte zurück, von der    mer bekommen Kinder Antworten auf die-
wir uns Erklärungsansätze versprechen.        se Fragen; die Art und Weise wie bzw. ob
Wenngleich wir die Mordtaten dadurch          überhaupt darüber in den Familien gespro-
nicht „verstehen“ können, ordnen wir die      chen wird, kann sehr unterschiedlich sein.
Ideologie des NSU in seine historische Ent-   Nichtsdestotrotz speist sich das Vorwissen,
wicklung ein und ziehen durch unser Wis-      das Kinder zum Thema Nationalsozialis-
sen über den Nationalsozialismus wiederum     mus haben, unter anderem aus Erfahrun-
Schlüsse für unser eigenes Handeln in der     gen innerhalb der Familie; oftmals ist dies
Gegenwart. Kindern diese Möglichkeit unter    von den Eltern überhaupt nicht intendiert:
Berücksichtigung ihres Entwicklungsstan-      Erwachsenen ist es häufig nicht bewusst,
des gleichfalls zu ermöglichen, indem wir     dass sie Kinder indirekt mit dem National-
ihnen basale Kenntnisse über Ausgrenzung      sozialismus konfrontieren, wenn etwa über
und Verfolgung im Nationalsozialismus         die Kriegsverletzung des Urgroßvaters ge-
sowie Formen der Gegenwehr und Grund-         sprochen wird, in Fotoalben Familienmit-
werte wie Solidarität, Respekt und Toleranz   glieder in HJ- oder Wehrmachtsuniform zu
vermitteln, führt daher nicht zu Verwirrung   sehen sind oder aber, wenn Kinderfragen
und Desorientierung, sondern fördert im       zu Stolpersteinen (um bei diesem Beispiel
Gegenteil demokratisches Bewusstsein.         zu bleiben) mit der Begründung abgewie-
Wenn also, aus dieser Sichtweise, nicht nur   sen werden, das sei eine schlimme Zeit ge-
Geschichte Fragen an die Gegenwart, son-      wesen, worüber man erst später spreche,
dern vor allem die Gegenwart Fragen an die    wenn die Kinder älter sind. Dies wirft für
Geschichte aufwirft, wird eine Vermittlung    Kinder mitunter neue Fragen auf und weckt
historischer Grundkenntnisse schon allein     Neugier. Da die Fragen unbeantwortet

                                                       Magazin vom 31.03.2021 16
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bleiben, machen sich die Heranwachsen-        sich das Konzept unserer Geschichts-AG.
den ihr eigenes Bild, wie „es“ gewesen sein
                                              Leitgedanke der AG ist es, die Schüler*innen
könnte.
                                              für Ausgrenzungs- und Verfolgungsmecha-
Es ist daher davon auszugehen, dass auch      nismen zu sensibilisieren und Handlungs-
unter Kindern bereits gewisse Geschichts-     möglichkeiten in der Gegenwart zu akzen-
narrative bestehen, die meist eher diffus     tuieren. Menschenrechte und Zivilcourage
sind und sich aus Versatzstücken einzelner    bilden die inhaltliche Klammer des Kon-
Informationen, eigener Vermutungen und        zepts. Da in der ersten Einheit die Übung
Schlussfolgerungen ergeben. Unter den         „Die Rechte des Kaninchens“ (Compasito
Schüler*innen der Gustav-Wiederkehr-          2009, S. 89) durchgeführt wird, trägt die Ar-
Schule kursierte beispielsweise vor Einfüh-   beitsgemeinschaft auf Anregung der Schul-
rung unserer Geschichts-AG das Gerücht,       leitung den Titel „Was hat ein Kaninchen
dass die KZ-Gedenkstätte im Keller des        mit unserer Geschichte zu tun?“. Die Kinder
Schulhauses eine Art Gruselkammer sei, in     bezeichnen das Nachmittagsangebot meist
der Särge aufgebahrt seien und sich Über-     als „Kaninchen-AG“.
reste von getöteten Menschen befänden. Zu
                                              Trotz des Anspruchs, einen reinen Transfer
den Aufgaben der Gedenkstätte als Ort der
                                              von Faktenwissen zu vermeiden, zielt das
historisch-politischen Bildung gehört es,
                                              Kooperationsprojekt zwischen der Gustav-
mittels der Vermittlung historischer Fakten
                                              Wiederkehr-Schule und der KZ-Gedenk-
solchen Mythenbildungen und verzerrten
                                              stätte unter anderem darauf ab, Kindern
Geschichtsvorstellungen entgegenzuwirken.
                                              die Einrichtung näher zu bringen und die
       Ziel, Inhalte und Methode der          Geschichte des KZ-Außenlagers niedrig-
                Geschichts-AG an der          schwellig zu vermitteln. Die AG führt die
    Gustav-Wiederkehr-Grundschule             Schüler*innen langsam an die Geschichte
Der Erziehungswissenschaftler Ido Abram,      des KZ Mannheim-Sandhofen heran, die
ehemaliger Professor für Holocaust Edu-       letztlich nur eine von vielen Themenein-
cation an der Universität Amsterdam, er-      heiten darstellt und erst gegen Ende des
achtete bei der Bildungsarbeit zum Natio-     Schulhalbjahres behandelt wird. In den
nalsozialismus mit Grundschulkindern die      ersten Einheiten geht es allgemein um die
Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten    Frage „Was war der Nationalsozialismus?“,
als essentiell. In seinem bereits Ende der    wobei zentrale Aspekte der NS-Geschichte
1990er Jahre entwickelten „Drei-Punkte-       und deren Vorgeschichte (Kaiserreich, 1.
Programm“ definiert er die Förderung von      Weltkrieg, Weimar) kindgerecht vermit-
Empathie, Wärme und Autonomie als wich-       telt werden. In der AG wird durchgehend
tigste Prinzipien und Hauptziele einer Be-    mit Zeitstrahlen gearbeitet, die sukzessive
schäftigung mit dem Nationalsozialismus im    von den Kindern selbst entwickelt werden.
Kindesalter (Abram 1998). Daran orientiert    Darüber hinaus erhalten die Schüler*innen

                                                       Magazin vom 31.03.2021 17
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regelmäßig „Lexikon-Kärtchen“ zu zentra-       multimediales Lernen, vor allem anhand
len Begriffen. Die einzelnen Themenblöcke      von Biografien, im Vordergrund. Neben der
(u.a. Gleichschaltung und Verbote, Hitler-     Arbeit mit kurzen Texten wird eine Viel-
jugend und BDM, Verfolgung politischer         zahl von Audio-und Video-Beiträgen sowie
Gegner*innen, Antisemitismus und Ju-           Bild- und Fotomaterial eingesetzt, wobei
denverfolgung, Zweiter Weltkrieg) werden       insbesondere bei Letztgenannten auf einen
in mehreren Einheiten anhand der knapp         Lokalbezug geachtet wird. Das Konzept be-
einstündigen Audio-Sendung „Wie war das        inhaltet zahlreiche spielerische und kreative
damals mit dem Nationalsozialismus?“ des       Elemente und bietet den Kindern viel Raum
NDR-Kinderprogramms Mikado behandelt.          für Diskussionen und Fragen.
Dem Thema Judenverfolgung nähern sich
                                               Seit 2014 findet die AG jedes Jahr von Fe-
die Teilnehmer*innen in mehreren Sitzun-
                                               bruar bis Juli wöchentlich in einem Klas-
gen überwiegend mithilfe des Bilderbuchs
                                               senzimmer der Gustav-Wiederkehr-Schule
„Papa Weidt – Er bot den Nazis die Stirn“
                                               statt; eine Einheit umfasst zwei Schulstun-
(Deutschkron/Ruegenberg) und den von
                                               den am Nachmittag. Insgesamt ist die Ar-
der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
                                               beitsgemeinschaft auf 17-20 Einheiten
dazu entwickelten Begleit- und Arbeitsma-
                                               ausgerichtet, die von zwei ehrenamtlichen
terialien. Die Themeneinheit „Zwangsar-
                                               Mitarbeiter*innen der KZ-Gedenkstätte
beit im Nationalsozialismus“ wird zunächst
                                               Sandhofen auf Honorarbasis durchgeführt
nahezu ausschließlich anhand von mehre-
                                               werden. Finanziert wird das Projekt weitge-
ren Biografien behandelt. Erst danach folgt
                                               hend über die Gedenkstättenförderung des
die Thematisierung der Geschichte des KZ
                                               Landes Baden-Württemberg.
Sandhofen. Hierzu lernen die Schüler*innen
die Biografie von Andrzej Branecki (1930-      Im Vorfeld der AG findet jährlich ein Infor-
2020) kennen, der 1944 im Alter von 14 Jah-    mationsabend für Eltern statt, in dem das
ren aus Warschau verschleppt und über das      Konzept vorgestellt und auf Fragen der Er-
KZ Dachau nach Sandhofen gebracht wur-         ziehungsberechtigten eingegangen wird. An
de. Das „Highlight“ der AG ist für die meis-   einem „Schnuppertag“ können nach Voran-
ten Kinder der Besuch der KZ-Gedenkstätte      meldung alle Schüler*innen der Klassenstu-
inklusive Rundgang durch den Stadtteil auf     fe 4 teilnehmen; die feste Teilnahme ist auf
dem „Weg der Häftlinge“. Die letzten beiden    zwölf Kinder beschränkt. In der Vergangen-
AG-Einheiten widmen sich erneut dem The-       heit war das Interesse an der AG seitens der
ma Menschenrechte und legen den Fokus          Schüler*innen bisweilen so groß, dass die
auf Kinderrechte sowie Mitbestimmungs-         Teilnehmer*innen ausgelost werden muss-
möglichkeiten von Kindern in der Gegen-        ten; im Jahr 2016 meldete sich fast ein Drit-
wart.                                          tel des Jahrgangs an.

Didaktisch steht in der AG interaktives und    Aufgrund der Corona-Pandemie musste die

                                                        Magazin vom 31.03.2021 18
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AG im vergangenen Jahr leider nach weni-     NDR Info – Mikado Zeitreise: Wie war das da-
gen Wochen abgebrochen werden; in die-       mals mit dem Nationalsozialismus? Sendung
sem Jahr muss sie pausieren. Im Schuljahr    von Katja Eßbach, 2013. Online: https://
2021/22 soll die Arbeitsgemeinschaft mit     www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/
einem überarbeiteten Konzept fortgesetzt     mikado/Wie-war-das-eigentlich-mit-dem-
werden.                                      Nationalsozialismus,audio554794.html.
                                             Schrader, Ulrike: Unterrichtsmaterialien
                                             zum Bilderbuch „Papa Weidt. Er bot den
                                             Nazis die Stirn“. Hg. von der Gedenkstätte
                                             Deutscher Widerstand und dem Museum
                                             Blindenwerkstatt Otto Weidt, 2. korr. Aufl.,
                               Literatur     Berlin 2005.

Abram, Ido: Holocaust, Erziehung und
Unterricht. Vortrag aus Anlass der Grün-                                 Über die Autor*innen:
dung der Forschungs- und Arbeitsstelle                  Dr. Marco Brenneisen ist Historiker und
                                                      Sozialwissenschaftler. Als Mitarbeiter des
(FAS) „Erziehung nach/über Auschwitz“
                                                            MARCHIVUM (ehemals Stadtarchiv
am 20.05.1998. Online: http://www.uni-           Mannheim-ISG) leitet er wissenschaftlich und
                                               organisatorisch die KZ-Gedenkstätte Sandhofen.
bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/
                                                 Er ist zudem 1. Vorsitzender des Verbunds der
split_lehrstuehle/didaktik_deutsch/Daten/           Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex
                                                     Natzweiler e.V. (VGKN) sowie Mitglied des
Material_Brendel-Perpina/Anne_Frank/
                                               Sprecherrats der Landesarbeitsgemeinschaft der
Abram__1998_.pdf.                               Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in
                                                                  Baden-Württemberg (LAGG).
Compasito – Handbuch zur Menschen-
rechtsbildung mit Kindern, hg. vom Zent-
                                                       Corinna Keunecke ist Historikerin und
rum für Menschenrechtsbildung der PHZ                  Kulturanthropologin. Sie arbeitet beim
                                                   Landesarchiv Baden-Württemberg in einem
Luzern u.a., Luzern 2009, online: https://
                                                  Dokumentations- und Forschungsprojekt zur
www.compasito-zmrb.ch/.                             Heimerziehung und Zwangsunterbringung
                                                            von 1949 bis 1975. Seit 2019 ist sie
Deutschkron, Inge/Lukas Ruegenberg:              ehrenamtlicher Guide in der KZ-Gedenkstätte
                                                      Mannheim-Sandhofen und Mitglied des
Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn, 4.
                                                                                Trägervereins.
Aufl., Kevelaer 1999.
Lernen aus der Geschichte: LAG-Magazin
Nr. 2/2010: Nationalsozialismus – ein The-
ma für zeitgeschichtliches und moralisches
Lernen in der Grundschule? Online: http://
lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-
Lehren/Magazin/7740.

                                                       Magazin vom 31.03.2021 19
Zur Diskussion

Museum Synagoge Affaltrach –                    ersten Stock eine „Arier-Familie“ wohnte.
Bildungsarbeit am historischen                  Auch die enge Bebauung um die Synagoge
Ort                                             mag dazu beigetragen haben. In der Folge
                                                wurde das Gebäude für unterschiedliche
Von Heinz Deininger, Petra Schön und            Zwecke genutzt. So diente es der Unterbrin-
Samuel Stern                                    gung von polnischen Kriegsgefangenen und
               Geschichte des Museums           als Lager für verschiedene Firmen aus Heil-
                                                bronn und Affaltrach. Zeitweise wurde es
Vor drei Jahrzehnten wurde in der ehema-
                                                auch von Vereinen genutzt. Zuletzt diente es
ligen Synagoge Affaltrach das Museum zur
                                                hauptsächlich Wohnzwecken.
Geschichte der Juden in Stadt und Land-
kreis Heilbronn eingerichtet. Seitdem hat       Am 9. November 1988 konnte der Landkreis
sich hier eine intensive Museums- und Ge-       Heilbronn das renovierte Gebäude wieder
denkstättenarbeit etabliert. Der Landkreis      der Öffentlichkeit übergeben. Im Mai 1989
Heilbronn hatte 1985 das zweckentfremdete       wurde das Museum mit einer Daueraus-
und heruntergekommene Gebäude erwor-            stellung eröffnet. Diese zeigt die reiche jü-
ben und es nach den alten Plänen wieder-        dische Kultur und Geschichte der Region
hergestellt. Die Synagoge war 1851 von der      Heilbronn, deren Anfänge mindestens 1000
etwa 200 Mitglieder zählenden jüdischen         Jahre zurückreichen. In der Reichsstadt
Gemeinde Affaltrach erbaut und am 28. No-       Heilbronn lebten bereits im 11. Jahrhundert
vember 1851 feierlich eingeweiht worden.        Jüdinnen und Juden. Im 13. Jahrhundert
Sie war eine der wenigen Synagogen in der       ist dies ebenfalls für die Reichsstadt Wimp-
Gegend, die alle Räume, die für das religiöse   fen nachgewiesen. In zahlreichen Orten des
und tägliche Leben einer jüdischen Gemein-      heutigen Landkreises Heilbronn etablierten
de wichtig sind, in einem Gebäude verein-       sich jüdische Gemeinden von zum Teil be-
te: Gottesdienstraum, Schulzimmer, Sit-         trächtlicher Größe  meist in der Neuzeit.
zungszimmer, Mikwe und Lehrerwohnung.           Während das Herzogtum Württemberg Jü-
Sie wurde bis 1905 als Schule für jüdische      dinnen und Juden seit dem Spätmittelalter
Kinder und bis in die dreißiger Jahre als       ausgeschlossen hatte, ermöglichten es der
Gebetshaus benutzt. In der Pogromnacht,         reichsritterschaftliche Adel, der Deutsche
vom 9. auf den 10. November 1938, kam es        Orden und der Johanniterorden Jüdinnen
zu schweren Ausschreitungen. Der Betsaal        und Juden, sich in ihren Territorien als so-
und weitere Räume wurden durch SA-An-           genannte „Schutzjuden“ niederzulassen.
gehörige verwüstet, schwer beschädigt und       Die vom Kreisarchiv Heilbronn konzipier-
geschändet, die in den Räumlichkeiten im        te Ausstellung spannt den Bogen von den
Erdgeschoss der Synagoge lebende jüdische       frühesten Spuren jüdischen Lebens in der
Familie körperlich angegriffen. Das Ge-         Region Heilbronn, belegt durch steinerne
bäude wurde aber nicht angezündet, da im        Zeugnisse, über die jüdische Emanzipation

                                                         Magazin vom 31.03.2021 20
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