LAG - MAGAZIN NS-GEDENKSTÄTTEN UND ERINNERUNGSORTE IN BADEN-WÜRTTEMBERG 31.03.2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
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LaG - Magazin NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Baden-Württemberg 31.03.2021
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Zur Gedenkstättenlandschaft in Baden-Württemberg............................................................4 Betroffenheit reicht nicht – Die Arbeit der Initiative KZ Gedenken in Spaichingen..............9 „Was hat ein Kaninchen mit unserer Geschichte zu tun?“ – Die Mannheimer KZ-Gedenkstätte Sandhofen führt seit 2014 eine Geschichts-AG zum Nationalsozialismus mit Grundschulkindern durch................................................................................................14 Museum Synagoge Affaltrach – Bildungsarbeit am historischen Ort...................................20 Die KZ-Gedenkstätte Hessental als Lernort der Geschichte..................................................25 Die Gedenkstätte Theresienkapelle in Singen: Lokale Erinnerungsschichten, europäische Verflechtungen, Mahnmal für Frieden und Versöhnung.......................................................30 Bildung gegen Antisemitismus – eine ehemalige Synagoge als „Schul“................................35 Dokufiktionen als Zweites Leben in Gedenkstätten...............................................................39 Empfehlung Fachbuch Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen. Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945..................................................43 Ausgrenzung, Raub, Vernichtung...........................................................................................47 Empfehlung Unterrichtsmaterial Das Konzentrationslager Natzweiler im Elsass......................................................................51 „Es war ein Ort, an dem alles grau war…“..............................................................................54 Praxis des Widerstands 1933 bis 1945. Formen widerständigen Handelns in Südwestdeutschland...............................................................................................................56 Magazin vom 31.03.2021 2
Einleitung Liebe Leser*innen, Folker Förtsch stellt die Geschichte des Au- wir begrüßen Sie zum LaG-Magazin im ßenkommandos Hessental des Konzentrati- März. Diese Ausgabe ist mit Unterstützung onslagers Natzweiler-Struthof vor sowie die der Landeszentrale für politische Bildung pädagogische Arbeit der heutigen KZ-Ge- Baden-Württemberg entstanden. Demzu- denkstätte Schwäbisch Hall-Hessental am folge stellen wir unterschiedliche histori- historischen Ort. sche Lernorte und ihre Bildungsangebote In der ehemaligen Kapelle eines Kriegsge- aus dem südwestlichen Bundesland vor. fangenenlagers für Wehrmachtssoldaten Die Gedenkstättenlandschaft in Baden- wird an die Geschichte der NS-Zwangsar- Württemberg zeichnet sich durch eine Viel- beit in der südbadischen Stadt Singen er- zahl an Lern- und Gedenkorten, aber auch innert. Carmen Scheide schreibt zur Re- Gedenkinitiativen zur Auseinandersetzung gionalgeschichte und über die Arbeit mit mit den NS-Verbrechen aus. Katrin Ham- Zeitzeug*innen. merstein gibt in ihrem einführenden Artikel Das Pädagogisch-Kulturelle Centrum Ehe- einen Überblick. malige Synagoge Freudental arbeitet am Die Kleinstadt Spaichingen ist einer der historischen Ort des Synagogengebäudes vielen Orte an denen ein Außenlager des mit Jugendlichen ausgehend von jüdischer Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof Geschichte, Kultur und Religion gegen Anti- errichtet wurde. Regina Braungart befasst semitismus. Michael Volz stellt den pädago- sich mit den Widerständen und Fortschrit- gischen Ansatz vor. ten der Gedenkarbeit vor Ort. Gabriele Valeska Wilczek gibt einen Ein- Die Arbeit mit Kindern im Grundschulal- blick in die pädagogische Arbeit mit Hör- ter ist ein wichtiger Pfeiler der Pädagogik spielen am historischen Ort des ehemaligen in der KZ- Gedenkstätte Sandhofen. Marco jüdischen Gemeindehauses in Breisach. Brenneisen und Corinna Keunecke stellen Wir bedanken uns bei allen Beiträger*innen die Bildungsarbeit am historischen Ort des für die eingereichten Texte. Ein besonderer ehemaligen Außenlagers des Konzentrati- Dank gebührt Dr. Katrin Hammerstein für onslagers Natzweiler vor. die Zusammenarbeit und Beratung. Heinz Deininger, Petra Schön und Samuel Das nächste LaG-Magazin erscheint am 28. Stern geben einen Überblick zur Geschichte April 2021. Es wird sich mit unterschiedli- der 1851 eingeweihten Synagoge Affaltrach chen universitären geschichtsdidaktischen und zur Nutzung des Gebäudes als histori- Projekten befassen. schen Lernort. Ein gesonderter Abschnitt ist der Bildungsarbeit während der derzeitigen Ihre LaG-Redaktion Pandemie gewidmet. Magazin vom 31.03.2021 3
Zur Diskussion Zur Gedenkstättenlandschaft in bis 1935 als Konzentrationslager für das Baden-Württemberg Land Württemberg. Etwa 600 Gegner des NS-Regimes waren dort inhaftiert, an de- Von Katrin Hammerstein ren Schicksal das DZOK erinnert. Im Land Baden-Württemberg zeichnet sich durch Baden bestand im Schloss Kislau von 1933 eine vielfältige Gedenkstättenlandschaft bis 1939 ein frühes Konzentrationslager, aus. Über das ganze Land verteilt gibt es in dem ca. 1.500 Männer in Haft waren, v. zahlreiche Lern- und Gedenkorte sowie Ge- a. politische Gegner, später auch Zeugen denkstätteninitiativen, die an die Zeit der Jehovas, sogenannte Asoziale und ande- nationalsozialistischen Diktatur erinnern re „Volksschädlinge“. Dieser Geschichte und der Opfer gedenken. Damit werden der widmet sich das 2012 gegründete Projekt Nationalsozialismus und seine Verbrechen Lernort Kislau. nicht nur konkret vor Ort (be-)greifbar, son- • die Verfolgung der jüdischen Bevöl- dern es wird auch vor Augen geführt, wie kerung und den Holocaust: Zahlreiche flächendeckend und allgegenwärtig die NS- Gedenkstätten und Jüdische Museen in Verbrechen waren. Sie fanden nicht nur in ehemaligen Synagogen, einstigen Rabbi- den großen, auch international bekannten nats- oder Schulgebäuden dokumentieren Konzentrationslagern wie Dachau, Buchen- die Zerstörung und Vernichtung der jü- wald oder Auschwitz statt, sondern auch in dischen Gemeinden in Baden und Würt- der nahen Umgebung, teils in der unmittel- temberg durch die Nationalsozialisten. baren Nachbarschaft. 1985 konnte das PKC Freudental seine Thematische Bandbreite Türen als Gedenk- und Begegnungsstätte öffnen, nachdem es das ehemalige Syna- Entstanden sind die baden-württembergi- gogengebäude vor dem Abriss bewahrt schen Gedenkstätten ab den 1980er Jahren hatte. Die Orte zur jüdischen Geschichte aus bürgerschaftlichem Engagement heraus thematisieren auch das teils jahrhunder- und oftmals gegen Widerstände. Heute bil- telange Zusammenleben, so etwa im Mu- den sie ein dichtes und zugleich ausdifferen- seum zur Geschichte von Christ*innen ziertes Netz von Orten zur Auseinanderset- und Juden*Jüdinnen in Laupheim. In der zung mit der NS-Geschichte. So nehmen sie Ehemaligen Synagoge Rexingen infor- unterschiedliche Verfolgungs- und Verbre- miert eine Ausstellung über die Auswan- chenskomplexe in den Blick: derung von Rexinger Juden*Jüdinnen • die politische Verfolgung an den Orten im Jahr 1938 nach Palästina, wo sie ge- früher Konzentrationslager: 1985 wur- meinsam die Siedlung Shavei Zion grün- de das Dokumentationszentrum Oberer deten. Gedenkorte wie das Mahnmal Kuhberg (DZOK) in Ulm eröffnet. Das zur Erinnerung an die nach Gurs depor- „Fort Oberer Kuhberg“ fungierte von 1933 tierten badischen Juden*Jüdinnen in Magazin vom 31.03.2021 4
Zur Diskussion Neckarzimmern oder die Gedenkstätte Namenswand wird der 21.000 Sinte*zze „Zeichen der Erinnerung“ am Stuttgar- und Rom*nja gedacht, die in das Vernich- ter Nordbahnhof erinnern an die Depor- tungslager Auschwitz-Birkenau verbracht tationen der Juden*Jüdinnen aus Ba- und fast alle ermordet wurden. den, Württemberg und Hohenzollern ab • Zwangsarbeit und späte Konzentrations- 1940/41. lager: Mehr als 50 Außenlager gehörten • Zwangssterilisierung und „Euthanasie“- zum KZ Natzweiler-Struthof im Elsass, Verbrechen: Das Schloss Grafeneck auf 35 davon wurden ab 1942/43 im heuti- der Schwäbischen Alb war das erste von gen Baden-Württemberg errichtet. 13 Ge- sechs Vernichtungszentren der „Akti- denkstätten und Initiativen im Land erin- on T4“ im Deutschen Reich. Im Januar nern an das Leid der KZ-Häftlinge, die an 1940 begann hier der Mord an insgesamt diesen Orten zumeist für die Kriegswirt- 10.654 Menschen, die von den National- schaft arbeiten mussten und in der Rüs- sozialisten als „lebensunwertes Leben“ tungsindustrie oder für den Abbau von stigmatisiert wurden. Das Dokumentati- Ölschiefer ausgebeutet wurden. Die Do- onszentrum Gedenkstätte Grafeneck leis- kumentationsstätte Goldbacher Stollen in tet Forschungs- und Vermittlungsarbeit, Überlingen am Bodensee befindet sich am dokumentiert die Ereignis- und Aufarbei- Standort eines Außenlagers des KZ Dach- tungsgeschichte und vernetzt die Erinne- au. Das System der Zwangsarbeit umfasste rung an die Opfer der NS-„Euthanasie“. auch viele andere Bereiche: Industrie-Un- Zunehmend gerät in der Forschung auch ternehmen und Betriebe, Landwirtschaft, das Thema Zwangssterilisation in den Handwerk, Privathaushalte. Die Theresi- Blick. Am Standort des ehemaligen Erb- enkapelle Singen erinnert an Zwangsar- gesundheitsgerichts Ulm informiert seit beiter, die als „Ostarbeiter“ von 1941 bis 2019 das Erinnerungszeichen für die Op- 1945 in Singen untergebracht waren und fer von NS-Zwangssterilisation und „Eu- in lokalen Firmen wie z. B. der Niederlas- thanasie“- Morden über die Geschehnisse sung von Maggi eingesetzt wurden. vor Ort und das Schicksal der Ulmer Op- • die Verfolgung von Gegnern und Wider- fer. stand: In Baden-Württemberg bestehen • die Verfolgung aus „rassischen“ Grün- mehrere Gedenkstätten für bekannte Per- den: Neben Juden*Jüdinnen wurden sönlichkeiten des Widerstands, jeweils an auch Sinte*zze und Rom*nja rassistisch Orten mit biografischem Bezug: für Claus verfolgt. Das Dokumentations- und Kul- Schenk Graf von Stauffenberg und seinen turzentrum Deutscher Sinti und Roma in Bruder Berthold in Stuttgart und Albstadt- Heidelberg zeichnet in seiner Ausstellung Lautlingen, für Hans und Sophie Scholl in die Geschichte des NS-Völkermords an Forchtenberg und Crailsheim und für Ge- Sinte*zze und Rom*nja nach. Mit einer org Elser in Königsbronn. Widerstand der Magazin vom 31.03.2021 5
Zur Diskussion ersten Stunde zeigten die Teilnehmenden Bürgerschaftliches Engagement des Mössinger Generalstreiks vom 31. Ja- und vernetzte Arbeit nuar 1933. Im Rathaus Mössingen infor- Mit ihrer Arbeit, die in weiten Teilen ehren- miert seit Januar 2021 zusätzlich zu dem amtlich erbracht wird, leisten die baden- bisherigen virtuellen Geschichtsort im württembergischen Gedenkstätten einen Internet ein Erinnerungs- und Ausstel- essentiellen Beitrag für die Schaffung und lungskubus über die Geschehnisse. Stärkung eines kritischen Geschichtsbe- Auch die Tätergeschichte ist ein Thema in wusstseins und den Erhalt einer lebendi- Gedenkstätten. Explizit befasst sich in Ba- gen Demokratie. Mittlerweile erreichen sie den-Württemberg z. B. der Geschichtsort über 300.000 Besucher*innen im Jahr. Die Hotel Silber in Stuttgart damit und präsen- Arbeit der Gedenkstätten würdigt auch der tiert in der ehemaligen württembergischen Landtag von Baden-Württemberg in seiner Gestapo-Zentrale eine Dauerausstellung zur 2010 verabschiedeten Konzeption „Kultur Geschichte von Polizei, Gestapo und Verfol- 2020“: „Gedenk- und Erinnerungsstätten gung. Im Entstehen sind außerdem mehrere sind Teil unserer politischen Kultur. […] Die NS-Dokumentationszentren, so im Mann- Ehrenamtlichen haben, oft als einzige, in heimer MARCHIVUM, in Freiburg und in meist jahrelanger Forschung und Archivar- Tübingen, wie insgesamt die Gedenkstät- beit zur Erhellung des dunkelsten Kapitels tenlandschaft sich beständig weiterentwi- der Geschichte in unserem Land beigetra- ckelt: Neue Orte entstehen, bei der Grün- gen. […] Mit ihrem Engagement leisten sie dung eingerichtete Dauerausstellungen einen wesentlichen Beitrag zu einer demo- werden überarbeitet und aktualisiert, wobei kratischen Erinnerungskultur.“ auch die Aufarbeitungsgeschichte nach 1945 Zur gegenseitigen Unterstützung und Inte- in den Fokus rückt. ressenvertretung gegenüber der Politik und Eine Besonderheit der baden-württem- der Öffentlichkeit haben sich die Gedenk- bergischen Gedenkstättenlandschaft stellt stätten 1995 in der Landesarbeitsgemein- schließlich das DDR-Museum Pforzheim schaft der Gedenkstätten (LAG) zusammen- dar. Es ist das einzige DDR-Museum in geschlossen. Heute umfasst die – inzwischen Westdeutschland und erinnert als „Lernort um Gedenkstätteninitiativen erweiterte – Demokratie – Das DDR-Museum Pforz- Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstät- heim“ an die Geschichte der SED-Diktatur ten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG) und der deutschen Teilung. Wie in allen Ge- mehr als 70 Gedenk- und Lernorte sowie denkstätten ist hier die Demokratiebildung Initiativen. Zum gemeinsamen Austausch ein zentraler Aspekt der Erinnerungs-, Bil- trifft sich die LAGG jährlich zu ihrer Dele- dungs- und Vermittlungsarbeit. giertenversammlung; alle zwei Jahre wählt diese den Sprecherrat. Dieses Gremium, das aus acht Personen besteht, vertritt die Magazin vom 31.03.2021 6
Zur Diskussion Anliegen der Gedenkstätten im Land. werden können. Auch die Vernetzung mit In Arbeitskreisen greift die LAGG aktuelle verschiedenen Akteur*innen im Land, aber Fragestellungen auf. Der Arbeitskreis Ju- auch über Baden-Württemberg hinaus, mit gend- und Vermittlungsarbeit hat z. B. den Schulen, Universitäten, Museen, Archiven Leitfaden „Erinnern – Erfahren – Erlernen. ist eine wichtige Aufgabe, der sich LAGG Pädagogische Ansätze und Konzepte für Ju- und LpB gemeinsam widmen. gend- und Vermittlungsarbeit an Gedenk- Mehrere Gedenkstätten in Baden-Württem- stätten“ erarbeitet und Module für eine Aus- berg haben sich räumlich oder thematisch bildung zu Jugendguides an Gedenkstätten in Verbünden zusammengeschlossen, zum entwickelt. Mit Fragen der Erfassung, Ver- Teil auch über Landesgrenzen hinweg. Der zeichnung und Verwahrung von Archivgut Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb befasst sich der AK Archivarbeit und hat e. V. vereint 13 Gedenkstätten und -initia- auf der Grundlage der Handreichung „Das tiven in Südwürttemberg. Sechs badische materielle Erbe der Zeitzeugen sichern“ des Gedenkstätten haben den Verbund Gedenk- DZOK in Ulm hierfür Hilfsmittel erstellt. stätten südlicher Oberrhein gegründet. Die Auch das Thema Digitalisierung spielt zu- Gedenkstätten an Standorten von Außenla- nehmend eine Rolle. gern des KZ Natzweiler-Struthof im Elsass Bei ihren Aktivitäten arbeitet die LAGG haben sich zum Verbund der Gedenkstätten eng mit der Landeszentrale für politische im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler e. V. Bildung Baden-Württemberg (LpB) zu- (VGKN) zusammengeschlossen. 2018 wur- sammen, die vom Landtag mit der Förde- de dieser gemeinsam mit dem Centre Euro- rung der Gedenkstätten beauftragt ist. Der péen du Résistant Déporté (CERD) der fran- Fachbereich Gedenkstättenarbeit der LpB zösischen Gedenkstätte am Ort des früheren koordiniert die Gedenkstättenförderung Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof des Landes. Neben der finanziellen För- für die grenzüberschreitende Vermittlungs- derung begleitet er die Arbeit der Gedenk- arbeit mit dem Europäischen Kulturerbe- stätten auch beratend und inhaltlich, mit Siegel ausgezeichnet. Über 80 Gedenkorte Konzepten und Angeboten u. a. im Bereich in Oberschwaben und im angrenzenden der Gedenkstättenpädagogik, mit Veran- Ausland (Schweiz/Österreich) bringt das staltungen, Vortragsreihen, Fachtagungen, Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Fortbildungen und der Herausgabe von Pu- Oberschwaben zusammen. Die Gedenkstät- blikationen. In der Reihe MATERIALIEN ten vernetzen sich auch auf Bundesebene, z. z. B. erscheinen Lese- und Arbeitshefte, die B. in der 2019 gebildeten AG „Gedenkstät- in Zusammenarbeit mit einzelnen Erinne- ten an Orten früher Konzentrationslager“. rungsorten erarbeitet werden und für die Die LAGG insgesamt ist Mitglied des im De- Bildungsarbeit im Schulunterricht, in der zember 2020 gegründeten Verbandes der Jugendarbeit und an Gedenkstätten genutzt Gedenkstätten in Deutschland e. V. Magazin vom 31.03.2021 7
Zur Diskussion Diktaturgeschichte und Demokratie einzustehen. Weil unsere liberale, moder- Anknüpfungspunkte bestehen auch zu den ne Gesellschaft nicht selbstverständlich ist, Erinnerungsorten der Demokratiegeschich- sondern etwas, woran wir täglich arbeiten te, von denen es in Baden-Württemberg u. a. müssen.“ (https://muhterem-aras.de/pra- mit der Erinnerungsstätte für die deutschen esidentin/gedenken/) Freiheitsbewegungen in Rastatt, der Fried- Weiterführende rich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, Hinweise und Literatur der Erinnerungsstätte Matthias Erzber- Eine Übersicht über die Gedenkstätten in ger in Münsingen-Buttenhausen oder dem Baden-Württemberg und weitere Informati- Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart ebenfalls onen zu ihrer Arbeit finden sich auf dem von eine Vielzahl gibt. Die Erinnerungsstätte der Landeszentrale für politische Bildung Salmen in Offenburg steht zugleich für die Baden-Württemberg (LpB) eingerichteten badische Freiheitsbewegung 1847 und als Gedenkstättenportal www.gedenkstaetten- einstige Synagoge auch für die Verfolgung bw.de. Dort ist auch der von LpB und LAGG der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit. gemeinsam herausgegebene Guide „Ge- Dies macht sie zu einem eindrücklichen Ort denkstätten in Baden-Württemberg“ online für die Reflexion und Vermittlung von Ge- abrufbar. schichte im Spannungsfeld von Demokratie Sibylle Thelen, Gedenkstätten in Baden- und Diktatur. Die Auseinandersetzung mit Württemberg. Ohne Erinnerung keine Zu- der NS-Geschichte führt immer wieder auch kunft, in: bildung & wissenschaft 06/2018, in die Gegenwart. Die Gedenkstätten rich- S. 19–23. ten nicht nur aktuelle Fragen an die Ver- gangenheit, sondern treten auch aktiv gegen Sibylle Thelen, Gedenkstättenarbeit in Ba- Rassismus, Antisemitismus und Rechtsext- den-Württemberg. Zusammenarbeit – Aus- remismus ein und setzen sich für das Enga- bau – künftige Aufgaben, in: Gedenkstät- gement für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie tenRundbrief Nr. 179 vom 1. Oktober 2015, und Menschenrechte ein. S. 15–24. In diesem Sinne unterstreicht die seit 2016 amtierende baden-württembergische Land- tagspräsidentin Muhterem Aras die Be- Über die Autorin deutung der Gedenkstätten im Land: „Die Dr. Katrin Hammerstein leitet seit Juni 2020 den Fachbereich Gedenkstättenarbeit bei der vielen Gedenkorte in Baden-Württemberg Landeszentrale für politische Bildung Baden- […] erinnern uns […] nicht nur an histori- Württemberg. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Landesarchivs Baden- sche Ereignisse. Sie erinnern uns, dass un- Württemberg/Abteilung Staatsarchiv Freiburg sere Grundwerte eine Antwort sind, auf Un- und der Universität Heidelberg und hat zur Geschichte und Nachgeschichte des recht, auf Hass, auf Unmenschlichkeit. Und Nationalsozialismus geforscht und publiziert. sie mahnen uns, für diese Grundwerte auch Magazin vom 31.03.2021 8
Zur Diskussion Betroffenheit reicht nicht – KZ dient dem „totalen Krieg“ Die Arbeit der Initiative Die Natzweiler-Außenlager des Wüste- KZ Gedenken in Spaichingen Komplexes auf der Schwäbischen Alb zur Von Regina Braungart Gewinnung von Öl aus Ölschiefer – ein irr- sinniges Vorhaben –, wurden ab 1943, vor Die Geschichte des Gedenkens und der Auf- allem aber 1944 eingerichtet. Das Lager arbeitung der Geschehnisse um das und im Spaichingen sollte Arbeitssklaven für die Konzentrationslager in Spaichingen ist auch Entwicklung und Produktion von Flugzeug- ein Spiegel der Selbstsicht, Befindlichkeit Außenbordkanonen bereitstellen. Kurz vor und des Nutzens für diejenigen, die sich da- Kriegsende dienten sie dem Hauptziel der mit beschäftigten – oder auch nicht damit Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen beschäftigten. Das ist vielleicht der Grund, Reichs: dem „totalen Krieg“. warum es rund 70 Jahre gedauert hat, bis sich die Erinnerung und Erforschung Für Spaichingen war das KZ ein Fremdkör- der Vorgänge um das KZ eine organisierte per. Zwar war schon lange zu spüren, dass Struktur gegeben haben. die heimischen Möbel- und Metallbetriebe Kriegszielen unterworfen wurden. Es gab Zwischen September 1944 und April 1945 eine gleichgeschaltete Verwaltungs- und wurde in der kleinen Stadt Spaichingen ein Gesellschaftsstruktur – andere Einflussele- Außenlager des KZ Natzweiler eingerichtet. mente, wie die Kirche, waren eingeschüch- Davon gab es nach Auflösung des Stammla- tert. Zahlreiche Männer und Frauen waren gers im Elsass 70 östlich des Rheins. eingebunden in die NS-Organisationen, Gut 500 Männer waren in dieser Zeit in Spai- wenn auch oft nur als Mitglieder. Offener chingen inhaftiert. Verschiedene „Transpor- Widerstand von Kommunist*innen und te“ brachten Häftlinge vor allem aus Dach- Sozialdemokrat*innen war ganz am Anfang au. Anfang März aber gab es den größten des „Dritten Reichs“ durch Internierung im Transport mit 250 Häftlingen aus Buchen- KZ Heuberg gebrochen worden. Und auch wald. Dorthin waren auch die Gefangenen die zentrumsnahe Presse war 1935 unter er- der Ghettos, aus Auschwitz, Groß Rosen und staunlich offenem Protest des Redakteurs anderen evakuierten KZ gebracht worden. eingestellt worden. Generell war Spaichin- Fast alle der zuvor in Spaichingen Inhaf- gen katholisch geprägt und ganz sicher kein tierten waren nichtjüdische Mitglieder des Hort des Nationalsozialismus. Aber man Widerstands, Verschleppte oder Zwangsar- arrangierte sich und nutzte Gelegenheiten. beiter, die von der Gestapo wegen verschie- Jüdische Spaichinger*innen gab es nicht. dener „Delikte“ eingekerkert und zur Skla- Die ganze Brutalität des Regimes erlebten venarbeit gezwungen worden waren. die Spaichinger*innen in ihren Augen durch erschwerte Lebensbedingungen und vor allem zahlreiche gefallene Männer, Brüder, Söhne. Magazin vom 31.03.2021 9
Zur Diskussion Und dann kamen auf einmal Männer aus lebten bei Spaichinger*innen und gaben dem „Arbeitserziehungslager“ Aistaig und gutes Geld aus. Ganz sicher hat man dieses begannen mit den Vorbereitungen für ein Unterfangen auch als wirtschaftliche Chan- Lager, das mitten in Gärten und Krautbeeten ce gesehen und davon profitiert. Es wird errichtet werden sollte. Zu dieser Zeit hatten sogar von Liebschaften mit Wachmännern sich die Spaichinger*innen bereits daran ge- berichtet. wöhnt, dass Kriegsgefangene oder vermeint- Brutalität ändert Einstellung lich freiwillig arbeitende Ausländer*innen überall vom kleinen Bauernhof bis zum In- Diese eher indifferente Haltung änderte dustriebetrieb Zwangsarbeit leisteten. Das sich offenbar mit der steigenden Brutalität wurde nicht offen hinterfragt. der Wachleute. Denn unsichtbar war das KZ von Anfang an nicht: Die ausgemergel- Misshandlungen und Tötungen ten Häftlinge mussten sich in einer Kolonne Was dann aber nach Spaichingen kam, war zur Baustelle durch die halbe Stadt schlep- etwas ganz anderes. Kontakt hatten die pen, später aber wurden halb oder ganz Tote Häftlinge nur mit Handwerkern beim Bau mit Schubkarren zurückgebracht. Die durch der beiden Baracken und des Steingebäudes, Misshandlungen, Auszehrung und Krank- beim Brotbacken für das KZ in einer Bäcke- heiten Gestorbenen wurden gut sichtbar bis rei, in der Gasthausküche, in der auch das zum Abtransport ins Tuttlinger Krematori- Essen für die Insassen und die Mannschaft um neben der Baracke abgelegt. Das große gekocht wurde, sowie in den verschiedenen Sterben begann 1945. Die Schreie von in der Rüstungs-Werkstätten. Der Kontakt bezie- Weihnachtszeit zu Tode gefolterten Häft- hungsweise offene Gespräche zwischen der lingen waren überall zu hören, wie Heiner Bevölkerung und den Häftlingen war ver- Geißler in einem Interview bezeugte. Er leb- boten. An der Haupteinsatzstelle, der Bau- te zu jener Zeit als Jugendlicher in Spaichin- stelle für eine Rüstungsproduktionshalle im gen. Gebiet „Lehmgrube“, wurden die Häftlinge Insgesamt starben 110 namentlich bekannte nicht nur mit schwerer Arbeit bei Eiseskälte Häftlinge, die meisten auf Transporten zu gequält, sondern auch misshandelt und hier oder in Spaichingen. Neun davon sind auf gab es auch fast keine zufälligen Kontakte. dem Todesmarsch ins Allgäu umgekommen. Das Verhältnis der Bevölkerung zum KZ Die Erforschung der einzelnen Schicksale muss aus einer Mischung aus Zwangsver- aller Häftlinge ist noch nicht abgeschlossen. pflichtung und Arrangement bestanden Sichtbare Zeichen des Erinnerns haben und hatte auch profitable Seiten. Im- merhin waren viele Wachleute der SS, vor Das Bedürfnis, auf das Leiden hinzuwei- allem aber die Ingenieure und Kaufleute sen, das in dieser Stadt geschehen war, war der „Metallwerke“, so lautete der Deckname da, auch wenn genaue Fakten fehlten. Aber für den neu gegründeten Rüstungsbetrieb, nach außen sichtbar – das war eine ganz Magazin vom 31.03.2021 10
Zur Diskussion andere Sache. Und so wurde gleich nach Die wirkliche Bestialität ist woanders dem Krieg 1946 ein Holzkreuz zum Ge- Denn es herrschte die Wahrnehmung: Die denken auf Geheiß der französischen Sie- wirkliche Bestialität des Regimes war woan- ger erstellt. Deren Namen wurden auf zwei ders. Auschwitz, Dachau vielleicht, aber nicht flankierenden Steinen angebracht. 1963 be- Spaichingen. Das Bielefelder Forscherteam auftragte die Stadt ein Kunstwerks des Tutt- um Andreas Zick hat 2018 herausgefunden, linger Künstlers Roland Martin „den Opfern dass rund 18 Prozent der über 1.000 zufäl- der Gewalt“. Jetzt gestaltete die Stadt einen lig Befragten glaubte, ihre Vorfahren hätten Gedenkplatz und ließ Platten mit den Namen im Nationalsozialismus potenziellen Opfern der 30 Toten des Massengrabs in den Boden wie Juden geholfen. Tatsächlich waren es ein. An Allerheiligen und am Volkstrauer- maximal 0,3 Prozent. So war auch die Zivil- tag wurde das „KZ-Ehrenmal“, wie es jetzt courage einiger mutiger Spaichinger*innen hieß, besucht und eine ökumenische Initi- lange Zeit nach dem Krieg die dominierende ative thematisierte das Spaichinger KZ ab Selbstwahrnehmung: Diese hatten versucht, den 90er Jahren immer auch am Gedenktag Häftlingen Lebensmittel zuzustecken, ob- zur Reichspogromnacht. 1994 erstellten ein wohl das streng verboten war und die Fol- Spaichinger Firmenchef und der Redakteur gen unabsehbar. Deshalb wurden oft auch des Heuberger Boten die erste Ausstellung Kinder vorgeschickt. Für die Häftlinge war zum KZ. Seit den 80er-Jahren erschienen das Entdeckt werden im schlimmsten Fall einige Zeitungsartikel und der Redakteur aber tödlich. des Heuberger Boten schreib den viel zitier- Diese Barmherzigkeit gab es tatsächlich. ten Beitrag in der Spaichinger Stadtchronik. Gleich mehrere ehemalige Häftlinge, die ihr Einige, auch einige Zeitzeugen, nahmen die Zeugnis bei der Shoah Foundation auf Video Verantwortung des Erinnerns und Mahnens gebannt haben, betonen diese Versuche der sehr ernst, (ehemalige) Stadträte oder Leh- Hilfe zum Überleben für die oft sehr jungen rer zum Beispiel, in Kunstprojekten und Männer. Stadtführungen, oder auch mit dem Voran- Das ist es, was sehr viele Spaichinger*innen treiben von sichtbaren Erinnerungszeichen. nach dem Krieg umtrieb: keine kühlen Bli- Es waren im Grunde aber immer nur rund cke in Strukturen oder Fakten, sondern das ein Dutzend Menschen, die das öffentliche Mitleid, die Trauer. Erinnern aufrechterhalten wollten. 2006 wur- den Gedenkplatten am Spaichinger Markt- Das war sicher auch der Grund, warum so platz eingelassen und sollten die Grenzen spät begonnen wurde, wissenschaftlich zu des ehemaligen KZ markieren. Sie liegen forschen. Es schien, als ob schon alles offen- deutlich verschoben, weil es keine ausreichende bart sei. Die vielen Opferlisten, die kursier- Grundlagenarbeit gab. Überhöhte Todes- ten, galten als gesicherte Faktenlage. Dabei, zahlen hatte der Redakteur wohl hochgerechnet. wie sich später beim akribischen Vergleich Magazin vom 31.03.2021 11
Zur Diskussion herausstellte, bezogen sie sich aufeinander Spielchen überlässt? Wird jetzt jeder Spai- und stammen bis auf wenige Ausnahmen chinger automatisch zum Holocaustleugner aus ein- und derselben Quelle. und macht sich dadurch strafbar, wenn er Gedenkarbeit professionalisiert verworren wirkenden geistigen Klimmzü- sich – nicht ohne Widerstand gen einer Redakteurin nicht folgen kann und will?“ (NBZ, Abruf 28.1.2018, heute 2017 gründeten die Aktiven um das Ärz- nicht mehr abrufbar) teehepaar Ingrid und Albrecht Dapp den Verein KZ-Gedenken in Spaichingen. Der Fast gleichzeitig zur Vereinsgründung hat- wurde sofort ein Teil des Verbundes der Au- te der damals noch amtierende Spaichin- ßenlager des ehemaligen KZ Natzweiler. Die ger Bürgermeister beschlossen, einen Ge- Gedenkstättenarbeit begann, sich im besten denkpfad am Ehrenmal legen zu lassen. Sinne zu professionalisieren. Inwieweit das mit dem Rückgewinnen der „Hoheit“ zu tun hat, wie sie eben jener einst Ein Kapitel war mangels Forschung zuvor so verdienstvolle Redakteur gefordert hat, aber noch gar nicht berührt: „Spaichingen kann nur spekuliert werden. war doch Teil des Holocaust“. So lautete der Titel des Zeitungs-Artikels der jetzt aktiven Dieser kurze Einblick zeigt, wie schwer sich Redakteurin von Januar 2018. Dieser belegt manchmal selbst jene mit der Wahrheit tun, erstmals, dass der März-Transport zahlrei- die sich als Aufklärer sehen. Bisher war in che Juden ins KZ nach Spaichingen brachte. der Wahrnehmung in Spaichingen: Alles Die genaue Anzahl war zu diesem Zeitpunkt war zwar schlimm, aber nicht so monströs noch nicht klar. wie der Holocaust und das System dahinter. Fakt ist: Von 250 Häftlingen des Märztrans- Ein Zitat nun aus der Replik im Blog des ports waren, wie inzwischen einzeln belegt früheren Redakteurs, der den Holocaust ist, mindestens 178 vor allem polnische Ju- fälschlich offenbar ausschließlich in Ver- den. Die Transportliste hatten den Männern nichtungslagern verortet: „Als KZ-Außenla- nur noch Nachnamen, abgekürzte Vorna- ger für die Mauserwerke Oberndorf (…) war men und Nummern gelassen. Aber der Ver- in Spaichingen kein Vernichtungslager ein- ein hat inzwischen die meisten Identitäten gerichtet. Wer so etwas in die Welt setzt, hat entschlüsselt. von Geschichte keine Ahnung, verunglimpft aber Spaichingen in einer Art und Weise, die Die Offenheit wächst der Stadt enorm schaden kann: Fakes. (….) Die Vernetzungsarbeit mit anderen Ge- Ist es nicht an der Zeit, dass sich die Stadt, denkstätten, Veranstaltungen, Vorträge, Gemeinderat und Verwaltung, selbst an ihre Filme, Zeitzeugeninterviews, Publikationen, Hoheit erinnern, auch was die Geschich- Reisen zum Stammlager, Ausstellungen, te betrifft und diese nicht Vereinsmeiern Gedenkfeiern und mehr treibt der sehr ak- für eventuell irgendwelche ideologischen tive Verein voran. Es geht ums Gedenken Magazin vom 31.03.2021 12
Zur Diskussion und die Trauer, um Verantwortung und ihm verbundenen Forschung können nun Sichtbarmachung, und auch ums Aufholen mehr und mehr Antworten nicht nur zu den des Versäumten. Es war in den 80er- und Umständen gegeben werden: Die ersten An- 90er-Jahren eben nicht alles gesagt worden, gehörigen von ausgewanderten Überleben- nachdem über Jahrzehnte die Stadt ver- den haben sich bereits beim Verein gemel- sucht hatte, die Wunde von Scham, Mitleid det und Antworten bekommen. und Trauer zu verdecken, um ein neues Ka- Homepage: kz-gedenken-spaichingen.de pitel aufzuschlagen. Seit den 2000ern ist die Offenheit der Be- völkerung Spaichingens gewachsen, sich allen Fakten des Geschehens zu stellen. Über die Autorin: Regina Braungart hat Politikwissenschaften, Lokale und überregionale Erfahrungen mit Islamkunde und Judaistik (M.A.) studiert. Sie Populismus und neurechten Tendenzen mö- leitet seit dem Jahr 2000 die Lokalredaktion der Schwäbischen Zeitung in Spaichingen und gen hier als Triebmittel gewirkt haben. ist seit 2012 Dozentin an einer Hochschule für Ein Baustein, sich dem Thema „KZ vor der Journalistik. Haustür“ pädagogisch zu widmen, stammt von der Berufsschullehrerin Nadine Her- mann. Die entsprechenden Unterrichtsein- heiten sind auf dem Landesbildungsserver samt den bereitgestellten Materialien frei abrufbar. Alle, die sich in Spaichingen kompetent und aktiv dem Thema widmen – von der Leiterin des Spaichinger Museums, die die informa- tiven Tafeln des Gedenkpfads erstellt hat bis zu den künstlerisch und pädagogisch Wir- kenden – kooperieren in dem Bestreben, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen – der Verantwortung wegen und nicht wegen der „Hoheit über die Geschichte“. Genau dassel- be gilt für die vorbildliche Kooperation der Gedenkstätten untereinander. Das Tragische der heutigen Gedenkstät- ten- und Forschungsarbeit ist, dass jetzt die meisten Zeitzeugen nicht mehr leben. Das Positive ist: Dank des Vereins und der mit Magazin vom 31.03.2021 13
Zur Diskussion „Was hat ein Kaninchen mit Jugendliche der Sekundarstufe (ab Klasse unserer Geschichte zu tun?“ – 8/9). Obwohl sich die Gustav-Wiederkehr- Die Mannheimer KZ- Schule (Grundschule) und die Gedenkstätte Gedenkstätte Sandhofen führt im selben Gebäude befinden, gab es lange seit 2014 eine Geschichts-AG Zeit keine Zusammenarbeit zwischen den zum Nationalsozialismus mit beiden Institutionen. Sowohl unter der Leh- Grundschulkindern durch rerschaft und den Eltern als auch seitens des Von Marco Brenneisen Vereins KZ-Gedenkstätte existierten Vor- und Corinna Keunecke behalte und Skepsis, ob es möglich sei, das Thema Nationalsozialismus mit Kindern Von September 1944 bis März 1945 befand im Alter von 6 bis 10 Jahren zu behandeln. sich im Gebäude der damaligen Friedrich- Erst im Frühjahr 2013 nahm sich der Ver- schule (heute Gustav-Wiederkehr-Schule) ein dieser Herausforderung an und entwi- in Mannheims nördlichstem Stadtteil Sand- ckelte auf Anregung der Schulleitung und hofen ein Konzentrationslager, das dem KZ in enger Absprache mit dieser ein Konzept Natzweiler (Elsass) als Außenlager zugeord- für eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft für net war. Nahezu alle der 1.070 Häftlinge die- Schüler*innen der Klassenstufe 4, die die ses Lagers waren (nicht-jüdische) polnische Kinder mit der Gedenkstätte vertraut macht, Männer und Jungen ab 14 Jahren, überwie- basale Kenntnisse über die Geschichte des gend Zivilisten, die während des Warschau- Nationalsozialismus allgemein sowie des er Aufstands im August 1944 verhaftet und KZ Sandhofen im Besonderen vermittelt. als politische Gefangene zur Zwangsarbeit Im Mittelpunkt dieses Formats steht dabei nach Deutschland verschleppt worden wa- nicht das Erlernen von Faktenwissen; Viel- ren. In Mannheim mussten sie Zwangsar- mehr zielt das AG-Konzept darauf ab, ent- beit für Daimler-Benz leisten. sprechend des jungen Alters der Kinder, Seit 1990 dokumentiert eine Gedenkstätte ein niedrigschwelliges interaktives Angebot in den Kellerräumen der Grundschule die historischen Lernens anzubieten, das the- Geschichte des KZ-Außenlagers und erin- matisch um die Schwerpunkte Diskriminie- nert an die Opfer des KZ Sandhofen. Träger rung, Ausgrenzung und Verfolgung kreist der Dauerausstellung ist der Verein KZ-Ge- und den Anspruch erhebt, Kinder im Um- denkstätte Sandhofen e.V. in Kooperation gang mit Geschichte zu sensibilisieren, ihr mit dem MARCHIVUM (ehemals Stadtar- politisches und demokratisches Bewusst- chiv Mannheim) und dem Stadtjugendring. sein zu schärfen und zu einer Orientierung Bis 2014 richteten sich die pädagogi- an Menschenrechten zu motivieren. Die schen Angebote der Gedenkstätte, ange- überwiegend biographieorientierten Metho- lehnt an die Bildungspläne und Curricula den historischen Lernens mit lokalen Bezü- in Baden-Württemberg, ausschließlich an gen sollen vergangenheitsbezogenes Wissen Magazin vom 31.03.2021 14
Zur Diskussion über den unmittelbaren Lebensraum der tendiere. Neuere Ansätze, die eine Themati- Kinder vermitteln und zugleich gesellschaft- sierung im Grundschulbereich befürworten, liche Probleme und Herausforderungen aus berücksichtigen jedoch diese Einwände und dem Erfahrungshorizont der Schüler*innen benennen Erfordernisse, Gestaltungsmög- berücksichtigen (Gegenwartsbezug). Das lichkeiten sowie Bedingungen (vgl. die Bei- Konzept richtet sich am aktuellen Stand der träge in Lernen aus der Geschichte 2/2010). pädagogischen Forschung zur Vermittlung Dass eine Thematisierung grundsätzlich von Wissen über den Nationalsozialismus möglich ist, darüber gibt es mittlerweile ei- im Grundschulalter sowie altersentspre- nen weitgehenden Konsens; diskutiert wird chenden didaktischen Prämissen aus, die heute überwiegend über das „Wie?“. darauf zielen, eine kognitive und psychische Der häufig vorgebrachte Einwand, Grund- Überbelastung der Schüler*innen zu verhin- schulkinder seien per se zu jung für eine dern und sich an den Fähigkeiten und Be- erste Beschäftigung mit dem Nationalsozi- dürfnissen der Kinder zu orientieren. alismus, suggeriert, dass Kinder keinerlei Das Projekt wurde erstmals im zweiten Vorwissen zum Thema hätten und histo- Schulhalbjahr 2013/14 durchgeführt. Die risches Lernen in diesem Fall nur schwer als Pilotprojekt gestartete Geschichts-AG möglich sei, da keine Anknüpfungspunkte hat sich seitdem als fester Bestandteil des zur alltäglichen Lebenswelt der Kinder be- pädagogischen Angebots der KZ-Gedenk- stünden. Beides ist jedoch nur selten der stätte Sandhofen etabliert. Fall. Die meisten Kinder dürften selbst im Nationalsozialismus als Thema Grundschulalter irgendwann einmal etwas im Grundschulalter? über „Nazis“, „die Nazi-Zeit“ oder Hitler ge- Grundsätzliche Überlegungen hört haben, ohne aber ein Verständnis da- von zu haben, wovon hier die Rede ist. Dass Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre es sich dabei um etwas „Böses“ handelt, um wird in der pädagogischen bzw. geschichts- Unrecht, das Menschen irgendwann in der didaktischen Forschung in Deutschland Vergangenheit angetan wurde, wissen Kin- die Frage diskutiert, ob Nationalsozialis- der in weitaus größerem Maße als weithin mus und Holocaust bereits im Primarbe- angenommen. reich des Schulsystems behandelt werden können und dürfen. Als Haupteinwände In der heutigen Medien- und Kommunikati- werden in der Regel vorgebracht, dass eine onsgesellschaft werden Kinder zwangsläufig Thematisierung Kinder dieses Alters kog- mit Themen wie Rassismus, Ausgrenzung nitiv, emotional und psychisch überfordere und Verfolgung konfrontiert, die in die Ge- oder durch eine (aus eben diesem Grund genwart hineinreichen oder gar direkt in notwendige) Reduktion der vermittelten der Gegenwart geschehen. Zu nennen sei Inhalte zu einer Entkontextualisierung und etwa die breite Medienberichterstattung zu letztlich Bagatellisierung der NS-Verbrechen den rechtsextremen Anschlägen in Halle Magazin vom 31.03.2021 15
Zur Diskussion (2019) und Hanau (2020) oder zur Mord- dadurch erforderlich, dass über den Natio- serie des NSU. Jedes Kind, das gelegentlich nalsozialismus gesprochen und geschrieben Radio hört oder mit den Eltern Nachrichten und der Opfer in Form von Gedenktafeln, schaut, erlangt davon zumindest beiläufig Mahnmalen und anderen Erinnerungszei- Kenntnis. Themen wie Rechtsextremismus, chen öffentlich gedacht wird, was auch von Antisemitismus, Rassismus, Krieg und Ge- Kindern wahrgenommen wird. Die vom walt, Verfolgung und Flucht bleiben den Kölner Künstler Gunter Demnig geschaffe- Heranwachsenden nicht verborgen. Ist es nen „Stolpersteine“ beispielsweise sind im für Erwachsene schon kaum erklärbar, wie öffentlichen Raum sichtbar, werden von Menschen zu derlei Taten in der Lage sein Kindern auf dem Schulweg gesehen und können, stellt sich für Kinder umso mehr werfen Fragen auf: Warum ist dieser Stein die Frage nach dem „Warum“. Bei der Su- hier? Wer war diese Person? Warum wur- che nach Sinn greifen wir, die wir die Ge- de sie ermordet, wie auf dem Stein zu lesen schichte des Nationalsozialismus kennen, ist? Wo und was ist Auschwitz? Nicht im- oftmals auf die Geschichte zurück, von der mer bekommen Kinder Antworten auf die- wir uns Erklärungsansätze versprechen. se Fragen; die Art und Weise wie bzw. ob Wenngleich wir die Mordtaten dadurch überhaupt darüber in den Familien gespro- nicht „verstehen“ können, ordnen wir die chen wird, kann sehr unterschiedlich sein. Ideologie des NSU in seine historische Ent- Nichtsdestotrotz speist sich das Vorwissen, wicklung ein und ziehen durch unser Wis- das Kinder zum Thema Nationalsozialis- sen über den Nationalsozialismus wiederum mus haben, unter anderem aus Erfahrun- Schlüsse für unser eigenes Handeln in der gen innerhalb der Familie; oftmals ist dies Gegenwart. Kindern diese Möglichkeit unter von den Eltern überhaupt nicht intendiert: Berücksichtigung ihres Entwicklungsstan- Erwachsenen ist es häufig nicht bewusst, des gleichfalls zu ermöglichen, indem wir dass sie Kinder indirekt mit dem National- ihnen basale Kenntnisse über Ausgrenzung sozialismus konfrontieren, wenn etwa über und Verfolgung im Nationalsozialismus die Kriegsverletzung des Urgroßvaters ge- sowie Formen der Gegenwehr und Grund- sprochen wird, in Fotoalben Familienmit- werte wie Solidarität, Respekt und Toleranz glieder in HJ- oder Wehrmachtsuniform zu vermitteln, führt daher nicht zu Verwirrung sehen sind oder aber, wenn Kinderfragen und Desorientierung, sondern fördert im zu Stolpersteinen (um bei diesem Beispiel Gegenteil demokratisches Bewusstsein. zu bleiben) mit der Begründung abgewie- Wenn also, aus dieser Sichtweise, nicht nur sen werden, das sei eine schlimme Zeit ge- Geschichte Fragen an die Gegenwart, son- wesen, worüber man erst später spreche, dern vor allem die Gegenwart Fragen an die wenn die Kinder älter sind. Dies wirft für Geschichte aufwirft, wird eine Vermittlung Kinder mitunter neue Fragen auf und weckt historischer Grundkenntnisse schon allein Neugier. Da die Fragen unbeantwortet Magazin vom 31.03.2021 16
Zur Diskussion bleiben, machen sich die Heranwachsen- sich das Konzept unserer Geschichts-AG. den ihr eigenes Bild, wie „es“ gewesen sein Leitgedanke der AG ist es, die Schüler*innen könnte. für Ausgrenzungs- und Verfolgungsmecha- Es ist daher davon auszugehen, dass auch nismen zu sensibilisieren und Handlungs- unter Kindern bereits gewisse Geschichts- möglichkeiten in der Gegenwart zu akzen- narrative bestehen, die meist eher diffus tuieren. Menschenrechte und Zivilcourage sind und sich aus Versatzstücken einzelner bilden die inhaltliche Klammer des Kon- Informationen, eigener Vermutungen und zepts. Da in der ersten Einheit die Übung Schlussfolgerungen ergeben. Unter den „Die Rechte des Kaninchens“ (Compasito Schüler*innen der Gustav-Wiederkehr- 2009, S. 89) durchgeführt wird, trägt die Ar- Schule kursierte beispielsweise vor Einfüh- beitsgemeinschaft auf Anregung der Schul- rung unserer Geschichts-AG das Gerücht, leitung den Titel „Was hat ein Kaninchen dass die KZ-Gedenkstätte im Keller des mit unserer Geschichte zu tun?“. Die Kinder Schulhauses eine Art Gruselkammer sei, in bezeichnen das Nachmittagsangebot meist der Särge aufgebahrt seien und sich Über- als „Kaninchen-AG“. reste von getöteten Menschen befänden. Zu Trotz des Anspruchs, einen reinen Transfer den Aufgaben der Gedenkstätte als Ort der von Faktenwissen zu vermeiden, zielt das historisch-politischen Bildung gehört es, Kooperationsprojekt zwischen der Gustav- mittels der Vermittlung historischer Fakten Wiederkehr-Schule und der KZ-Gedenk- solchen Mythenbildungen und verzerrten stätte unter anderem darauf ab, Kindern Geschichtsvorstellungen entgegenzuwirken. die Einrichtung näher zu bringen und die Ziel, Inhalte und Methode der Geschichte des KZ-Außenlagers niedrig- Geschichts-AG an der schwellig zu vermitteln. Die AG führt die Gustav-Wiederkehr-Grundschule Schüler*innen langsam an die Geschichte Der Erziehungswissenschaftler Ido Abram, des KZ Mannheim-Sandhofen heran, die ehemaliger Professor für Holocaust Edu- letztlich nur eine von vielen Themenein- cation an der Universität Amsterdam, er- heiten darstellt und erst gegen Ende des achtete bei der Bildungsarbeit zum Natio- Schulhalbjahres behandelt wird. In den nalsozialismus mit Grundschulkindern die ersten Einheiten geht es allgemein um die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten Frage „Was war der Nationalsozialismus?“, als essentiell. In seinem bereits Ende der wobei zentrale Aspekte der NS-Geschichte 1990er Jahre entwickelten „Drei-Punkte- und deren Vorgeschichte (Kaiserreich, 1. Programm“ definiert er die Förderung von Weltkrieg, Weimar) kindgerecht vermit- Empathie, Wärme und Autonomie als wich- telt werden. In der AG wird durchgehend tigste Prinzipien und Hauptziele einer Be- mit Zeitstrahlen gearbeitet, die sukzessive schäftigung mit dem Nationalsozialismus im von den Kindern selbst entwickelt werden. Kindesalter (Abram 1998). Daran orientiert Darüber hinaus erhalten die Schüler*innen Magazin vom 31.03.2021 17
Zur Diskussion regelmäßig „Lexikon-Kärtchen“ zu zentra- multimediales Lernen, vor allem anhand len Begriffen. Die einzelnen Themenblöcke von Biografien, im Vordergrund. Neben der (u.a. Gleichschaltung und Verbote, Hitler- Arbeit mit kurzen Texten wird eine Viel- jugend und BDM, Verfolgung politischer zahl von Audio-und Video-Beiträgen sowie Gegner*innen, Antisemitismus und Ju- Bild- und Fotomaterial eingesetzt, wobei denverfolgung, Zweiter Weltkrieg) werden insbesondere bei Letztgenannten auf einen in mehreren Einheiten anhand der knapp Lokalbezug geachtet wird. Das Konzept be- einstündigen Audio-Sendung „Wie war das inhaltet zahlreiche spielerische und kreative damals mit dem Nationalsozialismus?“ des Elemente und bietet den Kindern viel Raum NDR-Kinderprogramms Mikado behandelt. für Diskussionen und Fragen. Dem Thema Judenverfolgung nähern sich Seit 2014 findet die AG jedes Jahr von Fe- die Teilnehmer*innen in mehreren Sitzun- bruar bis Juli wöchentlich in einem Klas- gen überwiegend mithilfe des Bilderbuchs senzimmer der Gustav-Wiederkehr-Schule „Papa Weidt – Er bot den Nazis die Stirn“ statt; eine Einheit umfasst zwei Schulstun- (Deutschkron/Ruegenberg) und den von den am Nachmittag. Insgesamt ist die Ar- der Gedenkstätte Deutscher Widerstand beitsgemeinschaft auf 17-20 Einheiten dazu entwickelten Begleit- und Arbeitsma- ausgerichtet, die von zwei ehrenamtlichen terialien. Die Themeneinheit „Zwangsar- Mitarbeiter*innen der KZ-Gedenkstätte beit im Nationalsozialismus“ wird zunächst Sandhofen auf Honorarbasis durchgeführt nahezu ausschließlich anhand von mehre- werden. Finanziert wird das Projekt weitge- ren Biografien behandelt. Erst danach folgt hend über die Gedenkstättenförderung des die Thematisierung der Geschichte des KZ Landes Baden-Württemberg. Sandhofen. Hierzu lernen die Schüler*innen die Biografie von Andrzej Branecki (1930- Im Vorfeld der AG findet jährlich ein Infor- 2020) kennen, der 1944 im Alter von 14 Jah- mationsabend für Eltern statt, in dem das ren aus Warschau verschleppt und über das Konzept vorgestellt und auf Fragen der Er- KZ Dachau nach Sandhofen gebracht wur- ziehungsberechtigten eingegangen wird. An de. Das „Highlight“ der AG ist für die meis- einem „Schnuppertag“ können nach Voran- ten Kinder der Besuch der KZ-Gedenkstätte meldung alle Schüler*innen der Klassenstu- inklusive Rundgang durch den Stadtteil auf fe 4 teilnehmen; die feste Teilnahme ist auf dem „Weg der Häftlinge“. Die letzten beiden zwölf Kinder beschränkt. In der Vergangen- AG-Einheiten widmen sich erneut dem The- heit war das Interesse an der AG seitens der ma Menschenrechte und legen den Fokus Schüler*innen bisweilen so groß, dass die auf Kinderrechte sowie Mitbestimmungs- Teilnehmer*innen ausgelost werden muss- möglichkeiten von Kindern in der Gegen- ten; im Jahr 2016 meldete sich fast ein Drit- wart. tel des Jahrgangs an. Didaktisch steht in der AG interaktives und Aufgrund der Corona-Pandemie musste die Magazin vom 31.03.2021 18
Zur Diskussion AG im vergangenen Jahr leider nach weni- NDR Info – Mikado Zeitreise: Wie war das da- gen Wochen abgebrochen werden; in die- mals mit dem Nationalsozialismus? Sendung sem Jahr muss sie pausieren. Im Schuljahr von Katja Eßbach, 2013. Online: https:// 2021/22 soll die Arbeitsgemeinschaft mit www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/ einem überarbeiteten Konzept fortgesetzt mikado/Wie-war-das-eigentlich-mit-dem- werden. Nationalsozialismus,audio554794.html. Schrader, Ulrike: Unterrichtsmaterialien zum Bilderbuch „Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn“. Hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und dem Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, 2. korr. Aufl., Literatur Berlin 2005. Abram, Ido: Holocaust, Erziehung und Unterricht. Vortrag aus Anlass der Grün- Über die Autor*innen: dung der Forschungs- und Arbeitsstelle Dr. Marco Brenneisen ist Historiker und Sozialwissenschaftler. Als Mitarbeiter des (FAS) „Erziehung nach/über Auschwitz“ MARCHIVUM (ehemals Stadtarchiv am 20.05.1998. Online: http://www.uni- Mannheim-ISG) leitet er wissenschaftlich und organisatorisch die KZ-Gedenkstätte Sandhofen. bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ Er ist zudem 1. Vorsitzender des Verbunds der split_lehrstuehle/didaktik_deutsch/Daten/ Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler e.V. (VGKN) sowie Mitglied des Material_Brendel-Perpina/Anne_Frank/ Sprecherrats der Landesarbeitsgemeinschaft der Abram__1998_.pdf. Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in Baden-Württemberg (LAGG). Compasito – Handbuch zur Menschen- rechtsbildung mit Kindern, hg. vom Zent- Corinna Keunecke ist Historikerin und rum für Menschenrechtsbildung der PHZ Kulturanthropologin. Sie arbeitet beim Landesarchiv Baden-Württemberg in einem Luzern u.a., Luzern 2009, online: https:// Dokumentations- und Forschungsprojekt zur www.compasito-zmrb.ch/. Heimerziehung und Zwangsunterbringung von 1949 bis 1975. Seit 2019 ist sie Deutschkron, Inge/Lukas Ruegenberg: ehrenamtlicher Guide in der KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen und Mitglied des Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn, 4. Trägervereins. Aufl., Kevelaer 1999. Lernen aus der Geschichte: LAG-Magazin Nr. 2/2010: Nationalsozialismus – ein The- ma für zeitgeschichtliches und moralisches Lernen in der Grundschule? Online: http:// lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und- Lehren/Magazin/7740. Magazin vom 31.03.2021 19
Zur Diskussion Museum Synagoge Affaltrach – ersten Stock eine „Arier-Familie“ wohnte. Bildungsarbeit am historischen Auch die enge Bebauung um die Synagoge Ort mag dazu beigetragen haben. In der Folge wurde das Gebäude für unterschiedliche Von Heinz Deininger, Petra Schön und Zwecke genutzt. So diente es der Unterbrin- Samuel Stern gung von polnischen Kriegsgefangenen und Geschichte des Museums als Lager für verschiedene Firmen aus Heil- bronn und Affaltrach. Zeitweise wurde es Vor drei Jahrzehnten wurde in der ehema- auch von Vereinen genutzt. Zuletzt diente es ligen Synagoge Affaltrach das Museum zur hauptsächlich Wohnzwecken. Geschichte der Juden in Stadt und Land- kreis Heilbronn eingerichtet. Seitdem hat Am 9. November 1988 konnte der Landkreis sich hier eine intensive Museums- und Ge- Heilbronn das renovierte Gebäude wieder denkstättenarbeit etabliert. Der Landkreis der Öffentlichkeit übergeben. Im Mai 1989 Heilbronn hatte 1985 das zweckentfremdete wurde das Museum mit einer Daueraus- und heruntergekommene Gebäude erwor- stellung eröffnet. Diese zeigt die reiche jü- ben und es nach den alten Plänen wieder- dische Kultur und Geschichte der Region hergestellt. Die Synagoge war 1851 von der Heilbronn, deren Anfänge mindestens 1000 etwa 200 Mitglieder zählenden jüdischen Jahre zurückreichen. In der Reichsstadt Gemeinde Affaltrach erbaut und am 28. No- Heilbronn lebten bereits im 11. Jahrhundert vember 1851 feierlich eingeweiht worden. Jüdinnen und Juden. Im 13. Jahrhundert Sie war eine der wenigen Synagogen in der ist dies ebenfalls für die Reichsstadt Wimp- Gegend, die alle Räume, die für das religiöse fen nachgewiesen. In zahlreichen Orten des und tägliche Leben einer jüdischen Gemein- heutigen Landkreises Heilbronn etablierten de wichtig sind, in einem Gebäude verein- sich jüdische Gemeinden von zum Teil be- te: Gottesdienstraum, Schulzimmer, Sit- trächtlicher Größe meist in der Neuzeit. zungszimmer, Mikwe und Lehrerwohnung. Während das Herzogtum Württemberg Jü- Sie wurde bis 1905 als Schule für jüdische dinnen und Juden seit dem Spätmittelalter Kinder und bis in die dreißiger Jahre als ausgeschlossen hatte, ermöglichten es der Gebetshaus benutzt. In der Pogromnacht, reichsritterschaftliche Adel, der Deutsche vom 9. auf den 10. November 1938, kam es Orden und der Johanniterorden Jüdinnen zu schweren Ausschreitungen. Der Betsaal und Juden, sich in ihren Territorien als so- und weitere Räume wurden durch SA-An- genannte „Schutzjuden“ niederzulassen. gehörige verwüstet, schwer beschädigt und Die vom Kreisarchiv Heilbronn konzipier- geschändet, die in den Räumlichkeiten im te Ausstellung spannt den Bogen von den Erdgeschoss der Synagoge lebende jüdische frühesten Spuren jüdischen Lebens in der Familie körperlich angegriffen. Das Ge- Region Heilbronn, belegt durch steinerne bäude wurde aber nicht angezündet, da im Zeugnisse, über die jüdische Emanzipation Magazin vom 31.03.2021 20
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