RESEARCH PAPERS Zur Darstellung und dem Wandel von Gewalt auf russischen und sowjetischen Plakaten der Jahre 1917-1932
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RESEARCH PAPERS Zur Darstellung und dem Wandel von Gewalt auf russischen und sowjetischen Plakaten der Jahre 1917-1932 Nicola Hille Cruquiusweg 31 1019 AT Amsterdam The Netherlands Tel. + 31 20 6685866 Fax + 31 20 6654181
IISG Research Paper 37 For a list of IISG Research Papers, see page 25. ISSN 0927-4618 © Copyright 1999, Nicola Hille All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without the prior permission of the publisher. IISG Research Papers is a prepublication series inaugurated in 1989 by the International Institute of Social History (IISG) to highlight and promote socio-historical research and scholarship. Through distribution of these works the IISG hopes to encourage international discussion and exchange. This vehicle of publicizing works in progress or in a prepublication stage is open to all labour and social historians. In this context, research by scholars from outside the IISG can also be disseminated as a Research Paper. Those interested should write to Marcel van der Linden, IISG, Cruquiusweg 31, 1019 AT, The Netherlands. Telephone 31-20-6685866, Telefax 31-20-6654181, e-mail mvl@iisg.nl.
Zur Darstellung und dem Wandel von Gewalt auf russischen und sowjetischen Plakaten der Jahre 1917-1932 Nicola Hille Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis Amsterdam, 1999
Meinen Eltern gewidmet
3 I. Einleitung In der letzten Zeit wird verstärkt gefragt, was die kulturhistorischen Ansätze für die Stalinismus- forschung leisten können. In einem neuen Beitrag ist zu lesen: „Die Kulturanthropologie hat ein ungleich komplexeres Material gesammelt. Sie gleicht daher einer Goldmine, die von Historikern und Historikerinnen zum guten Teil noch nicht einmal entdeckt, geschweige denn methodisch genutzt worden ist. (...) Darüber hinaus lenkt die Kulturanthropologie auf neue, bisher noch gar nicht entdeckte Probleme hin, oder aber sie wertet unterschätzte, vernachlässigte Themenbereiche entschieden auf. Potentiell wird daher eine neue Sicht auf Sozialisations- vorgänge durch die Kulturanthropologie viel intensiver ermöglicht.”1 Ich möchte die Notwen- digkeit einer dialektischen Verschränkung von Sozial- und Kulturanalyse zum Anlaß nehmen, um die Tragweite des kunsthistorischen Ansatzes für die Stalinismusforschung vorzustellen. Eine auch auf die Bildquellen erweiterte kulturhistorische Erforschung des Stalinismus halte ich für gewinnbringend, denn es ist für die Kultur einer Zeit sehr bezeichnend, ob – und in welcher Weise – sie Bilder fordert oder ablehnt.2 Einig scheint man sich in der Stalinismusfor- schung darin zu sein, daß der kulturgeschichtliche Ansatz die Strategien und Mechanismen der stalinistischen Mentalitätsstiftung stärker zu berücksichtigen vermag. „Objektive” und „subjektive” Geschichtsfaktoren können in ihrer gegenseitigen Bedingtheit und Wirkungs- mächtigkeit untersucht werden.3 Dies bietet sich besonders bei der Untersuchung von Bildmedien an, deren Bildsprache oft nur in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang verständlich ist. Das politische Plakat ist ein solches Medium, das nur durch eine interdisziplinäre Analyse als bildhistorische Quelle richtig erfaßt werden kann.4 Eine grundlegende Aufarbeitung des Forschungsgegenstandes „Plakat” im politischen Kontext wurde jedoch lange Zeit versäumt. Nach einem kurzzeitigen Forschungsinteresse in den 70er Jahren und vereinzelten kunsthistorischen Untersuchungen in den 80er Jahren, ist erst wieder seit den 90er Jahren ein größeres Interesse am politischen Plakat im Kontext von Kunst und Propaganda zu bemerken.5 Die Kontextbildung, „welche die Postulate der Ein- fachheit und Isolierung überwinden und sich an der Vorstellung struktureller wie dynamischer 1. Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S.137-138. 2. Das Treffen des Stalinismus-Arbeitskreises am 6.-7. November 1998 (Seminar für osteuropäische Geschichte der Philipps-Universität Marburg) stand unter der Frage „Die neue Kulturgeschichte: Eine Perspektive für die Stalinismus-Forschung?” Die Frage, wie tragfähig die Anwendung neuer kulturhistorischer Konzepte in der Stalinismusforschung ist, stand im Mittelpunkt. 3. Eine Auswahl der neueren dt.-sprachigen Literatur: Manfred Hildermeier, Osteuropäische Geschichte an der Wende. Anmerkungen aus wohlwollender Distanz, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46, 1998, S.244- 255; Ders. (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998; Wolfgang Hardtwig/ Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte heute (=Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 16), Göttingen 1996; Matthias Stadelmann, Die neue Kulturgeschichte des revolutionären Rußland. Diskursive Formationen und soziale Identitäten, Erlangen/Jena 1997; Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von R. Vierhaus und Roger Chartier, Göttingen 1995, S.7-28; Stefan Plaggenborg, Die wichtigsten Herangehensweisen an den Stalinismus in der westlichen Forschung, in: Ders. (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S.13-33. 4. Zur Erforschung bildlicher Geschichtsquellen hat sich eine “historische Bildkunde” etabliert, die nach den Bedingungen und Voraussetzungen fragt, unter denen Bilder entstanden sind, und die Ideen und Vorstellung untersucht, die im Bild zum Ausdruck gelangen. 5. Propaganda umfaßt das Ensemble der Strategien zur politischen Sinnstiftung, Meinungs- und Wahrnehmungs- lenkung. In letzter Zeit wird das Plakat als bildhistorische Quelle zunehmend von der interdisziplinären Forschung berücksichtigt. In den siebziger Jahren plädierte vor allem Manfred Hagen für eine breitere Einbeziehung dieses Bildmediums. Siehe seinen Aufsatz Das politische Plakat als zeitgeschichtliche Quelle, in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 4, 1978, S.412-436.
4 Komplexität orientieren”6 sollte, wurde vor allem durch soziologische Arbeiten inspiriert, die forderten, das Kunstwerk mit seinem sozialen Zusammenhang in Beziehung zu setzen.7 Hierbei traten Aspekte eines „Vorher” und „Nachher”, sowie die Dimension des Prozesses zur Auf- deckung des sozialgeschichtlichen Referenzsystems eines Kunstwerkes in den Vordergrund, und die Untersuchung historischer Prozesse auf der Grundlage bildlicher Quellen bekam neue Impulse.8 In diesem Kontext wurde auch auf dem vierten „Göttinger Gespräch zur Geschichts- wissenschaft”9 über die Entwicklungsrichtung einer stärkeren Verknüpfung der historischen und kunstwissenschaftlichen Disziplinen nachgedacht.10 Um die Bildmacht der sowjetischen Plakate zu entschlüsseln, müssen ihre „Leerstellen”11 und ihre „historische Psychologie” berücksichtigt werden. Hierzu ist ein in der Warburg-Tradition12 stehender fachübergreifender Dialog von Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft hilfreich. Die folgenden Beobachtungen bewegen sich an dieser Schnittstelle; sie haben eine kunstsoziologische Perspektive13 aus der heraus ich die Darstellungen von Macht und Gewalt auf den Plakaten der Revolutions- und Bürgerkriegszeit, sowie der Frühphase des Stalinismus (bis zum Ende des 1. Planjahrfünfts 1932/33) vorstellen möchte. Die besondere Stellung des ersten Fünfjahresplans innerhalb der sowjetischen Propaganda ist Anlaß zu dieser Untersuchung.14 6. Wolfgang Kemp, Kontexte. Für eine Kunstgeschichte der Komplexität, in: Texte zur Kunst 2,2 /1991, S.89-101 (hier S.89). Der Text war Teil eines Antrages an die DFG zur Errichtung eines Graduiertenkollegs am Fachbereich Neuere dt. Literatur und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Das inter- disziplinär ausgerichtete Kolleg Kunst im Kontext begann bereits 1990. 7. Nur einige Arbeiten als Beispiel: Arnold Hauser, Kunst und Gesellschaft, München 1988 (3. Aufl.), Barbara Aulinger, Kunstgeschichte und Soziologie, Berlin 1992, Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. 8. Als Forschungsarbeiten zur „Historischen Bildkunde” möchte ich nennen: Rainer Wohlfeil, Das Bild als Geschichtsquelle, in: Historische Zeitschrift 243/ 1986, S.91-100; Ders., Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: Historische Bildkunde. Probleme-Wege-Beispiele, hrsg. v. Brigitte Tolkemitt u. Rainer Wohlfeil, Berlin 1991; Martin Knauer, Dokumentsinn – historischer Dokumentsinn. Überlegungen zu einer historischen Ikonologie, in: ebd., S.37-47. Zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist eine Denkschrift von W. Frühwald, H. R. Jauß, R. Koselleck, J. Mittelstraß u. B. Steinwachs erschienen: Geisteswissenschaften heute, Frankfurt a.M. 1991. 9. Die Veranstaltung wurde vom Max-Planck-Institut für Geschichte (Göttingen) veranstaltet. Der vierte Band erschien unter dem Titel: Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, hrsg. v. Otto G. Oexle, Göttingen 1997. 10. Es wurde ein Bezug zu den Vertretern der „Annales” hergestellt, die künstlerische Zeugnisse in ihre Forschung einbezogen und – mit Lucien Febvre – eine Kunstgeschichte forderten, die sich in die Geschichte integriert. Siehe L. Febvre, Combats pour l’histoire, Paris 1965. Vgl. auch Michael Erbe, Die Kunstgeschichte in der Sicht der „Annales”-Histoire, in: Kunst und Alltagskultur, hrsg. v. Jutta Held, Köln 1981, S.45-54. 11. Diesen Begriff führte Wolfgang Kemp in die kunstgeschichtliche Hermeneutik ein. Siehe Kemp, Verständlich- keit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985, S.253-279. 12. Aby Warburg (dt. Kunst- und Kulturhistoriker, 1866-1929) prägte ein neues Verständnis für den kulturellen Zusammenhang in der kunstgeschichtlichen Disziplin. Sein Wunsch und Bestreben nach einer kulturwissen- schaftlichen Bildgeschichte findet vor allem seit den 1980er Jahren eine verspätete Umsetzung in der Forschung. Hierbei ist das Erkenntnisinteresse, das den Blick auf die Bilder leitet, auf den dokumentarischen Aufschluß gerichtet, den die Bilder über eine kollektive Mentalität, über ihre Dauer oder ihren Wandel bieten. Vgl. Carlo Ginzburg, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition, in: Ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S.149-233; D. Wuttke, Aby Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe, Wiesbaden 1990 (4.Aufl.). 13. Hierunter verstehe ich die Analyse der sozialen Figurationen in der Kunst zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. 14. Während meines Forschungsaufenthaltes an der Hoover Institution on War, Revolution and Peace der kalifornischen Stanford Universität, deren archivierte und katalogisierte Plakatsammlung eine der weltweit größten ist, habe ich die umfangreichen Bestände politischer Plakate aus Rußland und der Sowjetunion studiert.
5 Abbildung 1. Die Recherchen wurden mir durch ein DAAD-Stipendium ermöglicht. Vergleichbar reichhaltige Plakatbestände befinden sich in der Russischen Staatsbibliothek (frühere Lenin Bibliothek) in Moskau. Sie werden zur Zeit am Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur der Ruhr- Universität Bochum erfaßt. Informativ für einen ersten Einblick in die Moskauer Bestände ist: The Soviet Political Poster 1917-1980 – from the USSR Lenin-Library-Collection, Middlesex 1985.
6 II. Thema Der Untersuchungsgegenstand sind sowjetrussische Plakate in dem Zeitraum von 1917 bis 1932/33. Um den Übergang von einer situativen Gewalt, die sich dem Oktober 1917 anschloß, in eine systematische und strukturelle Gewalt15 die zum Grundzug der sowjetischen Geschichte wurde, besser beleuchten zu können, werde ich den Zeitraum von der Russischen Revolution bis zum Stalinismus zusammenhängend betrachten.16 Das Plakat gewann als Massenmedium mit einer enormen gesellschaftlichen Breiten- wirkung in der Sowjetunion der 20er Jahre an Bedeutung. Mit dem Plakat erreichte man die Menschen schnell und direkt. Die Macht des graphischen Blattes lag in seiner Multiplikation. Im Gegensatz zu anderen visuellen Medien hatte die Plakatkunst eine für die Ziele der Kollektivierung und Industrialisierung einzigartige Qualifikation: Herstellungstempo und Verbreitungsmöglichkeiten waren ohnegleichen. Durch eine schnelle und unproblematische Vervielfältigung konnte das Plakat direkt auf politische und soziale Ereignisse reagieren und war somit viel direkter mit der ökonomischen und politischen Realität verbunden als andere Produkte der bildenden Kunst.17 III. These Als zentrale These sei an den Anfang gestellt, daß die vom Bürgerkrieg geprägte Bildsprache (1917-20) in veränderter Form am Ende der 20er Jahre wiederaufgegriffen wird, um den mit dem ersten Fünfjahresplan verknüpften Industrialisierungsprozeß propagandistisch zu begleiten und zu forcieren. Die Darstellung der Gewalt der Massen, durch die eine neue politische Handlungsfähigkeit des Volkes ausgedrückt werden sollte, wurde bildlich transformiert in eine Gewalt „im Namen der Massen”. Meine Beobachtungen am Plakat umkreisen ein interessantes Merkmal der stalinistischen Propaganda, das ich im folgenden diskutieren möchte: Während sich die gesellschaftliche Wirkung der Industrialisierungspropaganda im Zeitraum der späten 20er und frühen 30er Jahre einerseits gerade durch den sprachlichen Rückgriff auf die Bürgerkriegsikonographie erzielen ließ, wurden andererseits die Darstellungen körperlicher Gewaltanwendungen, mit denen die Bürgerkriegsikonographie operierte, tabuisiert und ausgeblendet. 15. Mit dem Begriff „strukturelle Gewalt” ist eine indirekte, in das gesellschaftliche System eingebaute Gewalt gemeint. Vgl. H. Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt, München 1990; Siegfried George, Macht – Herrschaft – Gewalt, Stuttgart 1986. 16. Vor allem Stefan Plaggenborg hat hierauf hingewiesen. Vgl. Gewalt und Militanz in Sowjetrußland 1917-1930, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, H.3/ 1996, S.409-431. Siehe auch seine Habilitationsschrift: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus. Köln/Weimar/Wien, 1996. 17. Es soll nicht versäumt sein, darauf hinzuweisen, daß der Stellenwert des Plakates innerhalb der sowjetischen Propaganda und seine psychologische Funktion bis heute noch nicht genügend erforscht sind. Wie das kulturelle und kollektive Gedächtnis mit Bildern bedient wurde, haben untersucht: Aleida Assmann (Hg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991 und Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte, München 1978. Vgl. auch Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1985. Der Autor zeigt auf, wie Gedächtnis und Urteil spezifischen sozialen Bedingungen unterliegen, die gleichsam den Rahmen bilden, in dessen Zusammenhang erinnert und gedacht wird.
7 IV. Plakatpropaganda 1917-1932: „Und Kunst geknebelt von der groben Macht”18 Die Bildpropaganda der Jahre 1917 bis 1932 spiegelt eine politische Entwicklung, die von einer grundlegenden Disposition für Gewalt getragen wurde. Auf die neue, mit revolutionärer Gewalt erkämpfte gesellschaftliche Grundlage folgte die rasche Etablierung eines staatlichen Gewalt- monopols.19 Die spontane und gegen den alten Staat gerichtete Gewalt der Bolschewiki wurde transformiert in eine neuartige strukturelle Gewalt eines starken, totalitären Staates.20 Die dem Machtwechsel von Lenin zu Stalin folgende, langfristige Umwälzungs- und Umschichtungs- phase21 mündete in einer totalen Transformation der sowjetischen Gesellschaft. Mit der Einführung des ersten Fünfjahresplans (1928) begannen die gigantischen Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagnen. Infrastrukturen, die zum Aufbau der Schwerindustrie benötigt wurden, sollten in kürzester Zeit geschaffen werden. Zur besseren Leistungskontrolle wurde das erste Planjahrfünft in noch kleinere Zeitabschnitte unterteilt. Durch die staatliche 18. Dies ist der Titel einer politischen Monographie von Bernd Feuchtner über Dimitri Schostakowitsch, dessen künstlerische Identität und staatliche Repression (Frankfurt a.M. 1986, zugl. Dissertation). 19. Hierdurch wurde der Gewalt ein gewissermaßen rechtmäßiger Status verliehen. Darauf haben u.a. hingewiesen: Heiko Haumann, Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse. Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrußlands (1917-1921), in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 34, 1994, S.19-35; Isaak Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution, Berlin 1981; Marc Ferro, The Bolshevik Revolution. A Social History of the Russian Revolution, London 1985; Sheila Fitzpatrick, The Russian Revolution 1917-1932, Oxford 1985. 20. In den Theorien des Marxismus und Leninismus wurde die Rolle der politischen und staatlichen Gewalt in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit begründet und für die Verhältnisse des revolutionären Kampfes weiterentwickelt. Dieser Aspekt wurde im Stalinismus aufgegriffen und verformt. Vgl. Harrison Evans Salisbury, Russia in revolution 1900-1930, London 1978; Helmut Altrichter, Staat und Revolution in Sowjetrußland, 1917-1922/23, Darmstadt 1981; Adam B. Ulam, Rußlands gescheiterte Revolutionen, Zürich 1985. 21. Nach Lenins Tod (Jan. 1924) gelang es Stalin, seine Konkurrenten nach und nach auszuschalten und ab 1927 seine Macht zu festigen.
8 Abbildung 2
9 Institution GOSPLAN wurde die gesamte Wirtschaftsplanung zentralisiert. Um die wechselsei- tigen Beziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft auf eine neue Grundlage stellen zu können, wurde die landwirtschaftliche Produktion kollektiviert und mechanisiert. Diese Revolution „von oben” unter stalinistischem Diktat bewirkte eine grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur, der politischen Organisationen sowie der kulturellen Wertvor- stellungen.22 Dieser Prozeß spiegelte sich in der Plakatproduktion, die von staatlicher Seite reglementiert und kontrolliert wurde. Die sowjetische Regierung erkannte, daß „Kunst und Wahrnehmung (...) sich nicht aus sich selbst heraus [bewegen], sondern aufgrund gesell- schaftlicher Veränderungen, die sie allerdings ihrerseits beschleunigen können, indem sie deren Gang „vorausleuchten”, d.h. indem sie an der Herausarbeitung und Präzisierung des neuen Bewußtseins und der veränderten Begehrlichkeit arbeiten.”23 Bereits anhand einer kleinen Auswahl von Plakaten kann man erkennen, wie die revolutionäre Gewalt, die noch von dem Charakter politischer Selbstjustiz geprägt war, visuell eine allmähliche Umwandlung erfuhr. „Nach dem Waffenstillstand der Krieg. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wanderten die Kampffronten ins Innere der Länder”.24 1. „Bürgerkriegsplakate”: Die Plakate der Jahre 1918-20 spiegeln das Ausmaß der frühen revolutionären Gewalt wider, die durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges noch verstärkt wurde. Die Gewalt, die von den Weltkriegsfronten in das Innere Rußlands vorgedrungen ist, erfuhr in der Oktoberrevolution und dem sich anschließenden Bürgerkrieg eine vorläufige Zuspitzung, die in den Plakaten dieser Zeitspanne zum Ausdruck kommt.25 Als sich der von den weißgardistischen Armeen ausgelöste Bürgerkrieg 1919 ausweitete, entstanden zahlreiche „satirische” Kriegsplakate, die einen anarchistischen Zustand der Gewalt aufzeigten und das Verwunden/ Töten eines Menschen äußerst direkt und sarkastisch demonstrierten.26 In dieser Phase sollte die politische Bildpropaganda auch dazu beitragen, die Gewalt im Land zu evozieren und zu glorifizieren. 27 Besonders erkennbar wird dies anhand von Plakaten aus der Zeit des 22. Vgl. Michail E. Erin, Stalinismus in der gegenwärtigen russischen Geschichtsschreibung, in: Gabriele Gorzka (Hg.), Kultur im Stalinismus, Bremen 1994, S.226-237. Der Sammelband birgt weitere interessante Beiträge, so z.B. von G. Gorzka, Inszenierung der Macht. Kultur im Stalinismus (S.13-20); Jurij A. Afanas’ev, Die russischen Wurzeln des Stalinismus (S.20-29); Hans Günther, Der Feind in der totalitären Kultur (S.89-101). 23. Alte Politik, neue Bedürfnisse. Zwei Wahrnehmungsformen auf Kollisionskurs, in: Der Zerfall eines alten Raumes, hrsg. v. Werkbund-Archiv/ Neue Gesellschaft für Bildende Kunst u. dem Museumspädagogischen Dienst Berlin, Berlin (W) 1988, S.71. 24. Gerd Krumeich, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265/ 14. November 1998. 25. Die von mir gewählten Plakate sind für diesen Zeitraum repräsentativ. Für einen Vergleich möchte ich auf Publikationen hinweisen, in denen breitere Gesamtübersichten gegeben werden: Stephen White, The Political Poster in Bolshevik Russia, Leeds 1982; Ders., The Bolshevik Poster, New Haven/London 1988; Mikhail J. German, Art of the October Revolution, Amsterdam 1979; Frank Kämpfer, Das frühsowjetische Plakat als historische Quellengruppe, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 25, Berlin (W) 1978, S.156- 168; Ders., Der rote Keil. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte, Berlin (W) 1985; Klaus Waschik (Hg.), Seht her, Genossen! Plakate der Sowjetunion, Dortmund 1982; Kunst und Propaganda. Sowjetische Plakate bis 1953. Ausst.-Kat., Zürich 1989; Nina I. Baburina, Russkii plakat, Leningrad 1988; M. F. Savelov, Sovetskii politicheskii plakat (1917-1932), Moskau 1956; E. Povolotskaja/ M. Ioffe, Tridzat let sovetskogo plakata, Moskau 1948, Gleb Pavlov, Soviet Political Posters, Leningrad 1986; G. L. Demosfenova/ A. Nurok/ N. Shatyko, Sovetskii politicheskii plakat, Moskau 1962; B. S. Butnik-Siverskii, Sovetskii plakat 1918-1921, Moskau 1960. 26. Georg Piltz, Rußland wird rot, Berlin (O) 1977. Zusammenstellung satirischer Plakate der Jahre 1918 bis 1922. 27. Robert Philippe hat in seiner Untersuchung Political Graphics: Art as a Weapon (New York 1982) darauf
10 russisch-polnischen Krieges, den die Bolschewisten als kapitalistische Verschwörung ansahen. Die Einbeziehung Polens und Deutschlands in den Bürgerkrieg führte zu einer Reihe von „kommunistischen Triumphplakaten”. Zwei der bedeutendsten Plakatkünstler dieser Jahre waren Dimitri Moor und Viktor Deni. Sie hatten bereits vor der Revolution als Karikaturisten für satirische Zeitschriften gearbeitet und stellten ihre künstlerische Arbeit nun ganz in den Dienst der Politik. Beide Künstler gestalteten zahlreiche Plakate, von denen ich zwei Beispiele der Jahre 1919/20 zeigen möchte. 1920 entwarf Viktor Deni in Moskau das Plakat „Beeil dich! Gib dem Pane mehr davon! Und vergiß nicht den Baron!28 (Abbildung 1) Es zeigt einen Rotarmisten, 29 dessen linke Faust zum Schlag gegen einen polnischen Adligen ausholt. Rechts im Bild befindet sich eine karikierende Darstellung des Baron Wrangel,30 der im russischen Bürgerkrieg nach der Niederlage der Truppen Denikins31 im April 1920 zum Oberkommandierenden der weißgar- distischen Truppen in Süd-Rußland und auf der Krim aufstieg. Von der Roten Armee besiegt, floh er im November 1920 ins Ausland und verstarb 1928 in Brüssel. Im selben Jahr entstand von Dimitri Moor das Plakat „Halte Wache!” (Abbildung 2),32 welches einen Rotarmisten bei der Verteidigung seines Landes zeigt. Er ist als heldenhafter Kämpfer dargestellt, der in seiner riesigen Gestalt („Bogatyr’”) auf die unliebsamen Eindringlinge hinabschaut und einige von ihnen mit seinem rechten Fuß zertritt.33 Der kleingedruckte Text im unteren Bildbereich gibt eine Stellungnahme Trotzkis zur Lage zwischen Polen und der Sowjetunion wieder und ist vom Obersten militärischen Redaktionsrat unterzeichnet.34 In ihm wird vor den Provokateuren und Kriegstreibern aus dem Polnischen Stab gewarnt. Der Inhalt des klein gedruckten hingewiesen, daß Kunst half, Gewalt zu evozieren und die politische Bildpropaganda den Einsatz von Gewalt glorifizierte. 28. Speši pana pokrepþe vzdut’! Barona toþe ne zabud’!!! 29. Auf die gesellschaftliche Bedeutung der Roten Armee haben verwiesen: Peter Gosztony, Die Rote Armee. Geschichte und Aufbau der sowjetischen Streitkräfte seit 1917, Wien 1980; Roger R. Reese, The Red Army and the Great Purges, in: Arch Getty/ Roberta T. Manning (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993, S.198-214. 30. Baron Pjotr Nikolajewitsch Wrangel (1878 – 1928) war ein zarentreuer General. 31. Anton Iwanowitsch Denikin (geb. 1872 in Warschau; gestorben 1947 in Ann Arbor, Michigan) war ein russischer General, der 1917 Oberbefehlshaber der Westfront wurde und als Führer eines antibolschewistischen Kampfverbandes im russischen Bürgerkrieg Lenins Sowjetregime 1918/19 in Bedrängnis brachte. Nach der Niederlage seiner Truppen emigrierte er in die USA. 32. „Bud’ na straþe!” Wörtlich: Sei auf der Wacht! 33. Es gibt ein späteres Plakat aus den 30er Jahren, auf dem Stalin in verwandter Pose dargestellt wurde. Der Künstler Gustav Klucis kleidete ihn mit einem langen Mantel und militärischen Stiefeln. Mit seinen Füßen tritt Stalin auf das Volk. Victoria Bonnell hat mich auf dieses Plakat aufmerksam gemacht, das sie in ihrem jüngst erschienenen Buch erwähnt. Siehe Iconography of Power: Soviet Political Posters under Lenin and Stalin (University California Press, 1997). Für ihre Einladung nach Berkeley (Nov. 1996) und das anregende Gespräch möchte ich hier danken. 34. Lev Davidoviþ Trockij (eigentl. Bronštejn) war von 1918-1925 Volkskommissar für das Kriegswesen sowie Vorsitzender des revolutionären Militärrates und daher auch in führender Verantwortlichkeit im Bürgerkrieg.
11 Abbildung 3
12 Plakattextes besagt auszugsweise: „Wir wissen nicht, ob Friedensanhänger oder verbrecherische Kriegsbrandstifter diesen Winter oder den nächsten Frühling in Polen gewinnen. Wir müssen zum Schlimmsten bereit sein. (...) Die Rote Armee verdoppelt ihre Arbeit in Gefechtsausbildung. Keine Ereigniswendung überrascht (überrumpelt) die Rote Armee.” Weiterhin wird berichtet, wie die Rote Armee die „Petlurer Banden zerschmetterte”,35 womit man nachdrücklich auf die Erfolge und die Stärke der russischen Armee hinweisen wollte. Noch ein anderer Satz des Textes ist erwähnenswert: „Hinter dem Rücken Pilsudskijs stehen die Imperialisten”. Wer war Pilsudski? Der polnische Politiker Josef Klemens Pilsudski wurde im November 1918 (bis 1922) zum Staatschef mit der obersten Militär- und Staatsgewalt ernannt. Bereits seit 1893 wirkte er führend in der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) und stieg 1920 zum „Marschall” von Polen auf. Im Interesse einer Eigenstaatlichkeit Polens stellte er sich auf die Seite der Mittelmächte und verfolgte den Plan, die alte polnisch-litauische Föderation wiederherzustellen und eine Si- cherheitszone gegen Sowjetrußland zu schaffen. Im Friedensvertrag von Riga (18. März 1921) wurde die polnische Ost-Grenze beträchtlich verschoben. Gestützt auf die Armee, errichtete Pilsudski nach einem Staatsstreich 1926 ein autoritäres Regime, dem er von 1926-28 und 1930 als Premierminister sowie 1926-35 gleichzeitig als Verteidigungsminister und Generalinspekteur der Streitkräfte vorstand. Außenpolitisch suchte Pilsudski Polen durch den Nichtangriffspakt mit der UdSSR 1932 und dem Deutsch-Polnischen Nichtangriffspakt 1934 abzusichern. Das Plakat entstand im Jahr 1920 und bezieht sich auf die Machtstellung Pilsudskis zu dieser Zeit. Die Rote Armee wird zur Wachsamkeit gegenüber den polnischen Streitkräften ermahnt. Dieser Begleittext wird jedoch dadurch entschärft und konterkariert, daß die Gegner im Vergleich zum Rotarmist bildlich erheblich karikiert werden (vor allem durch die enorme Verzerrung der Größenverhältnisse). Bereits ein Jahr zuvor entstand zum 2. Jahrestag der Großen Oktoberrevolu- tion (1919) in Petrograd ein anonym verbliebenes Plakat. Es trägt den Text „2. Jahrestag der großen Oktoberrevolution” (Abbildung 3).36 Dieses Plakat konfrontierte die zeitgenössischen Betrachter mit einem äußerst brutalen Gewaltakt: Ein mit Schwert und roter Fahne ausgestatteter Bolschewiki durchtrennt seinem politischen Feind im Kampf mit einem Schwertschlag den Arm. Das Plakat läßt sich als eine Allegorie auf die Revolution lesen. Der zum Kampf entschlossene Arbeiter tritt Personen der Bourgeosie 37gegenüber, die vergeblich versuchen, den „Riesen Proletariat” an Ketten zu legen. Diese und ähnliche Motive prägten die Plakatkunst des auf die Revolution folgenden Bürgerkrieges von 1918-1921, dessen „bolschewistische Rhetorik” nicht nur von einer großen revolutionären Leidenschaft getragen wurde, sondern auch von einer visuellen Gewalt geprägt war. Auf den drei erwähnten Plakaten treten sowohl die Soldaten der Roten Armee als auch der Arbeiter in überdimensionierter Gestalt in Erscheinung. Mit der Figur des kämpferischen Mannes, der als „Riese Proletariat” die politische Bildpropaganda entscheidend prägen sollte, griff man zurück auf das französische Vorbild. Seit 1793 hatten die Jakobiner in ihrer Revolutionsikonographie die Allegorie des allmächtigen Kämpfers und Arbeiters benutzt.38 35. Der ukrainische Politiker Simon Wassiljewitsch Petljura (1879-1926) war bereits früh ein Anhänger der ukrainischen Nationalbewegung. Im Mai 1917 wurde er Vorsitzender des Allukrainischen Armeekomitees, dann Kriegsminister und im Februar 1919 Vorsitzender des ententefeindlichen Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik. Nach der Eroberung der Ukraine durch die Rote Armee ging er zunächst nach Warschau, dann ins Exil nach Paris, wo er 1926 ermordet wurde. Unter der Verantwortung von Petljura kam es in der Ukraine in den Jahren 1918 bis 1920 zu antijüdischen Progromen. 36. „Vtoraja godovšþina velikoj oktjabr’skoj revoljucii”. 37. Die Plakate zeigen leicht zu identifizierende Karikaturen der Gegner: Kapitalisten, Bürokraten, Vertreter des Adels (Zar, Baron, etc.) und kirchlicher Institutionen. 38. Vgl. Klaus von Beyme, Die Oktoberrevolution und ihre Mythen in Ideologie und Kunst, in: Jan Assmann/ Dietrich Harth (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt 1992, S.149-177. Auch die ältere Forschung hatte sich schon mit diesem Thema befaßt: Vgl. Peter Scheibert, Der Übermensch in der russischen Revolution,
13 2. „Stalinistische Plakate”: Zehn Jahre später versuchte die Partei unter Stalin an die „heroische Epoche” der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges anzuknüpfen. Dabei wollte sie durch die Erinnerung an die geschichtlichen Ereignisse der Revolutionszeit die kämpferische Mentalität in der Phase der Industrialisierung und Kollektivierung perpetuieren. Auf welche Weise sich dieser Spagat in der politischen Bildpropaganda manifestierte, möchte ich im folgenden darstellen. Während der Einführung und Durchführung des ersten Planjahrfünfts (1928-32/33) übte der Staat einen permanenten Druck auf zwei Ebenen aus: Einhaltung der zeitlichen Planvorgaben und Bekämpfung eines rückwärtsgewandten Gesellschaftsbildes (Feind-propa- ganda).39 Die landwirtschaftlichen und industriellen Transformationsprozesse entzündeten zahlreiche innergesellschaftliche Konflikte. Da die „neuen Feinde” jedoch zahlreich waren (Gegner des Systems, der Zwangskollektivierung, der forcierten Industrialisierung) und sich die Feindbildpropaganda nicht mehr auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe reduzieren ließ, wurde das Bild vom Feind zunehmend abstrahiert. Nun tauchte die allgemeine Redewen- dung einer „belagerten Festung” auf, an die sich die Forderung anschloß, sie „im Sturm des Fünfjahresplans einzunehmen”. Die pathetische Sprache des Kampfes wurde auf den Industriali- sierungsprozeß übertragen. Auch die Künstler wurden zunehmend dazu veranlaßt, politische Programme in Bilder zu überführen. Indem sie den Fünfjahresplan in seinen Etappen visualisieren mußten und den sozialistischen Aufbau zu preisen hatten, wurden auch sie zu (unfreiwilligen) Kämpfern an der ideologischen Front. Betont wurde in der Kunstproduktion immer wieder, daß „das Ziel (...) nicht die Erfüllung eines individuellen Auftrags, nicht die Übereinstimmung mit dem individuellen Geschmack, nicht Ausdruck der inneren Welt des Künstlers (sein kann). Das Ziel sind die konkreten Bedürfnisse und die gesamten ideologischen Aufgaben der Klasse.”40Eine von der Gruppe Oktjabr41 1928 verfaßte Programmatik reglemen- tierte die ideologischen Aufgaben der Künstler wie folgt: „Die Künstlervereinigung ‚Oktjabr’ erkennt an, daß Organisiertheit, Planmäßigkeit und Kollektivismus die Grundprinzipien des neuen ökonomischen und kulturellen Aufbaus im Lande der proletarischen Diktatur sind.”42 In den folgenden Jahren ließ sich die organisierte Zusammenarbeit zwischen den Künstler- gruppen und der Partei erweitern durch die von 1929 bis 1935 bestehende kooperative in: Ernst Benz (Hg.), Der Übermensch. Eine Diskussion, Stuttgart/Zürich 1961. 39. Vgl. Gerhard von Rauch, Machtkämpfe und soziale Wandlungen in der Sowjetunion seit 1923, Stuttgart 1972; Sibylle Plogstedt, Arbeitskämpfe in der sowjetischen Industrie 1917-1933, Frankfurt a.M. 1980; Heiko Haumann, Arbeiterklasse, Partei und Stalinismus. Die Auswirkungen sozialer und organisatorischer Umbrüche 1927-29 auf die Entstehung eines neuen Machtsystems, in: Gernot Erler/ Walter Süß (Hg.), Stalinismus. Die Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1982, S. 345-366. 40. Hubertus Gaßner/Eckhart Gillen, Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare, Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917-1934, Köln 1979, S.187. 41. Die Gruppe wurde 1928 gegründet und war zunächst ein Zusammenschluß der Konstruktivisten. Sie wurde dann zum Wegbereiter der Plakat– und Produktgestaltung. 42. Gaßner/Gillen, wie Anm. 40, S.182.
14 Abbildung 4
15 Genossenschaft „Der Künstler und der soziale Auftrag” und der ab 1931 bestehenden Ver- einigung der RAPKh, der „Russischen Assoziation proletarischer Künstler”. Obwohl die Parteiführung erst im zweiten Fünfjahresplan eine verbindliche Programmatik des Sozialistischen Realismus formulierte43 und die Künstler im ersten Planabschnitt noch keine konkreten Richtlinien besaßen, fußten die Plakate bereits auf der Grundlage jener Ideologie, die das Denken in Bildern als eine Form der politischen Indoktrination okkupieren konnte. Der Kunstbetrieb ließ sich mit dem staatlichen Fünfjahresplan gleichschalten und an einen Kulturfeldzug koppeln, den die Initiatoren durch die Kampagnen zur Industrialisierung und Kollektivierung steuerten. Hierbei stand die Euphorie des Fortschritts im Vordergrund, der sich alle Künstler zunehmend verpflichten mußten.44 Durch einen Beschluß des Sovnarkom (Rat der Volkskommissare) schickten die Kunstbeauftragten am 15. Juli 1929 erstmals Delegationen von Künstlern in die Kolchosen und Fabriken, um eine anschauliche Darstellung des sozialistischen Wettbewerbs einzuleiten. Hierzu sollten die Künstler ganze Bilderreihen mit Studiencharakter in einer vorher durchdachten Ordnung seriell anfertigen.45 Auch die Pravda initiierte verschiedene Kampagnen, bei denen die besten Arbeiter mit Texten und Bildern geehrt wurden. Eine der bekanntesten lief 1931 unter dem Motto „Das Land muß seine Helden kennen”.Im gleichen Jahr griff der Staatsverlag „Izogiz” das Thema der Pravda-Kampagnen auf, und publizierte ein Buch mit dem Titel „Udarniki” (Schockarbeiter/ Stoßarbeiter), dessen Bilder das neue sozialistische Konzept glorifizierten. Die Staatskultur des ersten Fünfjahresplans sollte Identifikationsmuster schaffen und gleichzeitig einen gesellschaftlichen Aktionsrahmen abstecken. Das „wilde” Gewalt- und Aktionspotential der Bürgerkriegsplakate wurde bildlich in eine geregelte Produktion überführt. Dies läßt sich durch Gegenüberstellungen von Plakaten der frühen und späten 20er Jahre deutlich aufzeigen. Ein Beispiel möchte ich geben: 1920 entstand in Moskau ein anonymes Plakat mit dem Text „Herrscher der Welt wird die Arbeit sein! Drei Jahre proletarische Diktatur” (Abbildung 4).46 Es zeigt einen Arbeiter, der sich (mit wehrhafter Gewalt) gegen die internationale Bourgeoisie erhebt. Die proletarische Diktatur – dargestellt anhand eines in kämpferischer Pose energisch vorwärts schreitenden Arbeiters – erscheint noch frei und unkontrolliert. Im Kontrast dazu propagierte das 1931 von einem Leningrader Künstlerkollektiv geschaffene Plakat „Wir verwandeln Stoßtruppen in gemeinsame Stoßbrigaden” (Abbildung 5)47 die genormten Bewegungsabläufe von Industriearbeitern. In rhythmisierter, gleichförmiger Bewegung führen die Arbeiter der Brigaden ihren Produktions- vorgang durch. Wir sehen „Armeen von Kultur- und Industriearbeitern”, die sich im Gleich- klang und Gleichschritt bewegen und die Figur des „Arbeitsathleten” – das Ideal des sozialisti- schen Wettbewerbs – bildlich propagieren. Anfang der dreißiger Jahre entstanden zahlreiche Plakate, die eine Verwandlung der militärischen Truppen in Arbeitsbrigaden begrüßten. In der damaligen Agitation sprach man von einer „grandiosen Umwandlung des Gewaltpotentials in Friedenspotential”. Bereits die Plakate der späten 20er Jahre spiegeln eine Militarisierung 43. Siehe Olga Postnikowa, Unsere Herzen gehören der Partei. Künstler unter der Doktrin des Sozialistischen Realismus, in: Jan Tabor (Hg.), Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion, 1922-1956. Wien 1994, Bd. 2, S.760-784. 44. Andrej Sinjawskij, Der Traum vom neuen Menschen oder: Die Sowjetzivilisation, Frankfurt a.M. 1989. 45. Siehe Kunst aus der Revolution. Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisie- rung 1927-1933, Bd. 1, hrsg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin (W) in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Tretjakov-Galerie Moskau, Berlin 1977; Boris Groys, The Soviet Poster: Art and Life, in: Miranda Banks (Hg.), The Aesthetic Arsenal. Socialist Realism under Stalin, New York/Moskau 1993, S.127-133. 46. Vladykoj mira budet trud! Tri goda proletarskoj diktatury”. 47. „Sol’em udarnye otrjady. V skvoznye udarnye brigady”.
16 der Gesellschaft an der „betrieblichen Front”.48 Die körperliche „Stählung” der Industriearbeiter wurde gekoppelt an die Erfüllung immer größerer Planvorgaben in kürzeren Zeitspannen. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß sich die in der Industrie eingeführten Stoßbriga- den und die Bewegung der Stachanovisten zu tragenden Elementen der stalinistischen Repressionskultur entwickelten.49 Die Stachanovbewegung, die aus einer zentral inszenierten Kampagne zur Intensivierung des Wettbewerbs in den Kohlengruben des Donez-Becken hervorging, avancierte schon bald zu einem großen Politikum. Es läßt sich daher nicht übersehen, daß die Einführung der Propaganda-Feldzüge für Stachanovisten ein Instrument des aufkommenden staatlichen Terrors war. Über dieses „populistische Gesicht des Stalinismus”50 verband man den physischen Arbeitsterror mit dem psychischen Druck am Arbeitsplatz.51 Das Plakat (Abbildung 5) zeigt uns den symbolischen Krieg (Bellum Symboli- cum) am Arbeitsplatz. Hierbei mutiert der Mensch bildlich zur Maschine52 und es ist beachtens- wert, daß der „neue Mensch” – das Wunschbild der stalinistischen Gesellschaft – in der bildlichen Darstellung keine Individualität mehr aufweist. Die Idealfiguren des sozialistischen Aufbaus wurden visuell zur Schablone gepreßt. Ihre menschliche Darstellung wurde mechani- siert und ihre Körper sind nur noch konturiert. Dies wird besonders deutlich bei einem anonym gebliebenen Plakat von 1931, das zudem zu den wenigen Ausnahmen von Plakaten dieses Zeitraums gehört, auf denen die direkte Anwendung von Gewalt bildlich thematisiert wurde (Abbildung 6). Auf ihm sind drei Arbeiter zu sehen, die zum Schlag mit einem Hammer ausholen. Ihr Zielobjekt sind schlafende Menschen. Eine Uhr am unteren Plakatrand zeigt an, daß es bereits fünf Minuten nach neun ist und der Arbeitsalltag schon lange begonnen hat. Der Text „Schlagen wir falsche Rekordisten”53 bleibt doppeldeutig: er kann sowohl auf den bildlichen Akt der Erschlagung verweisen als auch auf den staatlich initiierten Kampf gegen sogenannte Abweichler des Systems. Während des ersten Planjahrfünfts führten die Betriebe nachweislich einen erbitterten Kampf gegen Unpünktlichkeit und Faulheit am Arbeitsplatz, 48. John E. Bowlt spricht in diesem Zusammenhang von einer „dynamischen Stille”, die eingekehrt sei: From Action to Dynamic Silence, Salt Lake City/ Utah 1991. Vgl. auch Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986; Ders., Prozesse der Machtbildung, Tübingen 1968. 49. Vgl. Robert Maier, Die Stachanov-Bewegung 1935-38. Der Stachanovismus als tragendes und verschärfendes Moment der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Stuttgart 1990; Lewis H. Siegelbaum, Stakhanovism and the Politics of Productivity in the USSR 1935-1941. Cambridge 1988; Robert Thurston, The Stakhanovite Movement: Background to the Great Terror in the Factories, 1935-1938, In: J. Arch Getty/ Roberta Manning (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993, S.142-160. 50. Michael Gelb, Mass Politics under Stalinism: Two Case Studies, In: John W. Strong (Hg.), Essays on Revolutionary Culture and Stalinism: selected papers from the Third World Congress for Soviet and East European Studies, Columbus/Ohio 1990, S.166-191; hier S.188. 51. Siehe G. A. Alijew, Das Gesetz der UdSSR über die Arbeitskollektive, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschafts- wissenschaftliche Mitteilungen 30 (1983) 6, S.718-726. 52. Auf die Metaphorik der Industrialisierung (Mechanisierung des menschlichen Körpers/ „Festung Körper”) hat Hans-Martin Kaulbach in seiner kunsthistorischen Untersuchung zur Metaphorik der Vernichtungs- drohung hingewiesen: Bombe und Kanone in der Karikatur, Marburg 1987. 53. „B’em po lþeudarnikam” (einschreiten/vorgehen gegen falsche Arbeiter/Abweichler/Saboteure des Systems).
17 Abbildung 5
18 und es ist anzunehmen, daß dieses Plakat in solch einem Kontext entstand. Auch die Symbolik von Hammer und Sichel, dem neuen Staatsemblem, fand Aufnahme in das Plakat. Während der Hammer als bildbestimmendes Motiv sofort auffällt, ist die Sichel erst auf den zweiten Blick sichtbar. Sie ist durch die Bewegungslinie des Hammerschlages apostrophiert.54 Die Plakate zum ersten Planjahrfünft visualisieren den Prozeß der stalinistischen Zivilisation dahingehend, daß eine individuelle Darstellung weitgehend entfällt. Zu Zeiten der Kollektivierung überwiegt die Darstellung des Menschen im Kollektiv. 3. Von der Gewalt der Akteure zur Gewalt des Systems: Es ist bei einer empirisch-quantitati- ven Untersuchung der Plakate auffällig, daß bei einer gleichzeitigen Zunahme der institu- tionellen Gewalt die Darstellung physischer Gewalt auf den Plakaten der späten 20er und frühen 30er Jahre deutlich abnimmt.55 Die Partei versuchte sich immer entschiedener von der satirischen Gewaltdarstellung bildlicher Revolutionspropaganda zu distanzieren. Dieser bildliche Wandlungsprozeß verlief parallel zu dem Prozeß der Umverteilung von Machtverhältnissen. Während sich die Bildpropaganda zu Zeiten des Bürgerkrieges auf einen Kampf innerhalb der klar voneinander abzugrenzenden gesellschaftlichen Gruppen konzen- trierte, setzte die stalinistische Propaganda andere Akzente. Die soziale Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsschichten wich einem geschickteren Propagandakonzept: dem Kampf gegen das „alte Denken”. Hierdurch entfiel die allegorische Darstellung von Feinden fast vollkommen. Staat und Propaganda adressierten ihre Kampfparolen nun insbesondere an die „durch den Oktober geborene” Generation. Dieser jungen Generation wurde der Aufbau des Sozialismus übertragen, und sie hatte die staatlichen Zielsetzungen mit Disziplin und „Kampf” am Arbeitsplatz zu verfolgen.56 Bei der Suche nach einer neuen politischen Bildsprache wurden ästhetische Strategien der Codierung von Gewalt entwickelt. Die politische Ikonographie (Motivik, Gestik und Symbolik) stand jedoch nicht immer im Einklang mit der Wahl sprachlicher Slogen, so daß die Begleittexte das Dargestellte oftmals (ungewollt) konterkarierten. 4. Bild-Text-Beziehung: Ich möchte im folgenden den Blick auf die Sprache, die Wahl der Texte und ihre metaphorischen Bedeutungen richten. Während die Plakattexte zu Beginn des Fünfjahresplans noch mit Begeisterung und Optimismus von der Zukunft sprachen und die neuen Erfolgsmöglichkeiten verheißungsvoll umschrieben (z.B. „Wir bauen den Sozialismus” 1928), ist eine wirtschaftliche Aggressivität (ausgelöst von einem hohen Produktionsdruck), durch die man die zeitlich immer knapper kalkulierten Zielvorgaben zu erfüllen hoffte, sprachlich zunehmend greifbarer. In dem Zeitraum des ersten Fünfjahresplans entstanden zahlreiche Plakate, die mit sprachlicher Kampfmetaphorik auf die Menschen eindrangen. Über die Sprache stilisierte man Produktionsgemeinschaften zu Kampfgemeinschaften. Zahlreiche Slogen spiegeln den Versuch, das Plakat als Identifikationsträger verstärkt einzusetzen. Während die Plakate der Bürgerkriegszeit den Kampf für ein noch abstraktes Ziel aufzeigten, benannten die in Auftrag gegebenen Plakate der beginnenden stalinistischen Ära nun sehr konkrete Zielsetzungen. Ein von Gustav Klucis 1930 entworfenes Plakat, das die Arbeit im Donez-Becken 54. Zu dieser Thematik sehr passend sind die Ausführugen von Frank Kämpfer, Schlagwort-Schlagbild-Schlagstock. Über den Primat des Schlagworts vor dem Propagandabild, in: Ders., Propaganda. Politische Bilder im 20. Jahrhundert. Bildkundliche Essay, Hamburg 1997, S.132-146. 55. Dieses Ergebnis ist gestützt auf die Durchsicht und Bearbeitung von mehreren hundert Plakaten aus dem Bestand der Hoover Institution und anderen Archivsammlungen. 56. Michel Foucault spricht von einer „Disziplinargesellschaft”, in der die Institutionen der „Sozialdisziplinierung” eine „Maximierung der Kontrollchancen” erreichen. Vgl. auch Manés Sperber, Taten der Gewalt. Die Schreckensherrschaft oder die Gewalt von oben, in: Ders., Sieben Fragen zur Gewalt, München 1978, S. 27-48: Karl Dietrich Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin/W 1981.
19 zeigt, wurde z.B. mit dem Text versehen: „Sturmangriff im 3. Jahr des Fünfjahresplans”. Durch den Gebrauch der ideologisch aufgerüsteten Sprache rückte das Militärische immer stärker ins Bewußtsein der Bevölkerung. Im Jahr 1931 sprach man nur noch von der „Komsomol- Stoßbrigade des Fünfjahresplans”. „Mit bolschewistischem Tempo werden wir Kuzneckstroj in der Planung errichten!” heißt es auf einem Plakat des Künstlers Vjalov (1931), und ein Plakat aus der Leningrader Kunstwerkstatt teilte der Bevölkerung im gleichen Jahr mit: „Jede beliebige Festung werden wir beherrschen! Für die Beherrschung der Technik im Kampf!”.57 Der Einsatz eines militärischen Vokabulars ließ sich mit einer Glorifizierung des nationalen Kollektivs verknüpfen.58 In letzter Zeit wird der Sprache als Integrations- und Ausgrenzungselement und des Phänomens des „speaking Bolshevik”59 stärker gedacht. Ein geglückter Archivfund zeitgenössischer Tagebuchaufzeichnungen60 – die Niederschriften des jungen, aus der Ukraine stammenden Bauernsohns Stepan Podlubnyj – gewährt einen Einblick in den Wandel des politischen Klimas während der dreißiger Jahre. Podlubnyj, der 1931 nach Moskau ging, um in der sowjetischen Gesellschaft aufzusteigen, hielt in täglichen Aufzeichnungen die Zunahme des staatlichen Terrors fest und beschrieb Gewalt und Terror als einen sprachlich-ideologischen Prozeß. Ein wichtiges Kriterium zum Aufstieg im neuen System schien dem jungen Zeitzeugen die ideologische Bindekraft der Sprache zu sein. Die sprachliche Regelung muß als ein wichtiges Kriterium der gesellschaftlichen Transformation in der Sowjetunion bewertet werden.61 In dem agitatorischen Hetzstil der Stalinzeit (seit der Konsolidierung des Stalinismus ab 1930) spiegelt sich die geistige Dimension der Diktatur. 62Die Erforschung der Sprache im Stalinismus wurde 57. Begriffe wie „Festung” und „Kampf” bekamen einen neuen Kontext. Sie wurden benutzt, um auf die gigantischen, industriellen Vorhaben hinzuweisen und die Erschließung des Landes zu umschreiben. Siehe hierzu den Essay von Karl Schlögel, Landschaft nach der Schlacht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.1998 (Beilage Bilder und Zeiten). 58. Vgl. Wolfgang Neugebauer (Hg.), Von der Utopie zum Terror: Stalinismus-Analysen, Wien 1994; Eberhard Müller/ Hans-Henning Schröder (Hg.), Partei, Staat und Sowjetgesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte politischer Macht. Dokumente 1917-1941, Tübingen 1993; Michal Reiman, Die Geburt des Stalinismus. Die UdSSR am Vorabend der „zweiten Revolution”, Frankfurt/M. 1979; Moshe Lewin, The social background of Stalinism, in: Robert C. Tucker, Stalinism. Essays in Historical Interpretation, New York 1977, S.111-137. 59. Diesen Begriff prägte Stephen Kotkin in seiner Studie Coercion and Identity: Workers’Lives in Stalin’s Showcase City, in: Lewis H. Siegelbaum/ Ronald G. Suny (Hg.), Making Workers Soviet. Power, Class and Identity. Ithaca/London 1994, S.274-310; Ders., Peopling Magnitostroi: The Politics of Demography, in: W. G. Rosenberg/ L. H. Siegelbaum (Hg.) Social Dimensions of Soviet Industrialization. Boomington 1993, S.64-74. Den Zusammenhang von Machtgebrauch und Sprachgebrauch analysieren auch Igal Halfin und Jochen Hellbeck in ihrer Rezension „Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkin’s „Magnetic Mountain” and the State of Soviet Historical Studies, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Heft 3, Bd. 44, 1996, S.456-463. Sie sprechen von einem „linguistic turn” unter Stalin. 60. Tagebuch aus Moskau 1931-1939, hrsg. von Jochen Hellbeck, München 1996. Der Herausgeber hat sich bereits in einer früheren Untersuchung dem Identitäts-Thema gewidmet: Vgl. Hellbeck, Wo finde ich mein Spiegelbild? Soziale Identität im sowjetischen Stalinismus der 30er Jahre, In: Bios (Zeitschrift für Biographiefor- schung und Oral History), Heft 2 (1994), S.149-163. 61. Viktor Klemperer hat die systembildende Kraft der Sprachregelung im Nationalsozialismus untersucht. Siehe LTI-Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen,Leipzig 1975. Eine äquivalente russische Studie zum Stalinismus ist mir nicht bekannt. In der amerikanischen Forschung: Katharina Clark, Little Heroes and Big Deeds. Literature Responds to the First Five-Year Plan, in: Sheila Fitzpatrick (Hg.), Cultural Revolution in Russia 1928-31, Bloomington 1978. Clark hat die Sprache des ersten Fünfjahresplans untersucht und festgestellt, daß das Präfix „um” bei den neuen Wortbildungen dominiert: „Umerziehung”/ „Umbau”, etc. waren Begriffe, die immer wieder in der propagandistischen Literatur auftauchten. 62. K. Gadshijew spricht in diesem Zusammenhang von einem „ideologischen Monismus”: Betrachtungen über den russischen Totalitarismus, in: Hans Maier (Hg.) Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn u.a. 1996, S. 75-81.
20 lange Zeit vernachlässigt, obwohl gerade die Untersuchung des sprachlichen „Machtelixier” (die diktatorische Sprachnormierung und ihre sprachlichen Wendungen) ein sehr spannendes Thema sind.63 Die Bild-Propaganda muß als ein sprachliches und bildliches Gesamtkunstwerk erfaßt werden. In ihrer Wechselwirkung von Wort und Bild läßt sich die Text-und Sichtagita- tion besonders aufschlußreich anhand der Plakate aufzeigen. Die Bild-Text-Beziehung der Propagandaplakate ist ein „seeing through language”.64 Die Strategie der Vertextung und Verbildlichung einer vermeintlichen Realität wurde strengstens überwacht. Vor diesem Hintergrund wird ein Blick auf die Kunst- und Kulturpolitik der UdSSR interessant. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei verfaßte am 23. April 1932 den Beschluß, alle freien Künstlervereinigungen aufzulösen und die gesamte sowjetische Kulturarbeit der Parteiführung zu unterwerfen. Die direkte Einbindung der Künstler in den gesellschaftlichen Transformationsprozeß schloß die Möglichkeit einer neutralen (oder interesselosen) Anschauung aus. Dies hatte zur Folge, daß eine freie Kunst zur konterrevolutionären Tätigkeit deklariert werden mußte. Bereits 1932 fanden in Moskau zwei Ausstellungen statt, die zur Kanonisierung der Künste beitragen sollten, indem sie den „einzig richtigen” Standpunkt von Künstler und Gesellschaft erläuterten. Die Ausstellung in der Tretjakow-Galerie zu dem Thema „Das Plakat im Dienst am Fünfjahresplan” korrespondierte mit der Ausstellung im Historischen Museum zu dem Thema „Der Klassenfeind der UdSSR”. Für die Plakatkunst galt schon seit 1931, daß jedes Exemplar dem Izogiz (Staatsverlag für Bildende Kunst) mindestens zur zweimaligen Abnahme vorgelegt werden mußte. Verpflichtend war die offizielle Abnahme nach dem anfänglichen Entwurf und nach der Endmontage, wodurch eine vollständige Kontrolle über Motivwahl und Darstellungsart gewährleistet sein sollte. Die Bedeutung der Plakatkunst als staatlicher Auftragskunst und die einzelnen Stufen einer Steuerung von Bild- und Textgestaltung lassen sich anhand der staatlichen Beschlüsse zur Kunst- und Kulturpolitik gut nachzeichnen. Die Künstler ließen sich bereits lange Zeit vor der auf dem Allunionskongreß sowjetischer 63. In einem Schweizer Projekt wird dies nun näher beleuchtet. Daniel Weiss leitet am Slavischen Seminar der Universität Zürich das Forschungsprojekt „Zur Geschichte der verbalen Propaganda im Realen Sozialismus”. Zum Thema Sprache und Propaganda sind von ihm bereits folgende Beiträge veröffentlicht: D. Weiss, Was ist neu am Newspeak. Reflexionen zur Sprache der Politik in der Sowjetunion, in: Slavistische Linguistik 1985, Referate des XI. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens, hrsg. v. Renate Rathmayr, München 1986, S.247-325; Ders., Prolegomena zur Geschichte der verbalen Propaganda in der Sowjetunion, in: Slavistische Linguistik 1994, Referate des XX. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens, hrsg. v. D. Weiss, München 1995, S.343-391; Ders., Propaganda im Realen Sozialismus. Ein historischer Rückblick, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), Nr. 41, 18./19. Febr. 1995. 64. Der amerikanische Philosoph Donald Davidson schrieb kürzlich den interessanten Artikel Seeing Through Language, in: John Preston (Hg.), Thought and Language, Cambridge 1998.
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