Zur Diskussion Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen

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Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen

Michael B. Buchholz

                                                                                               terrestrischen Beobachter immer die glei-
 Zusammenfassung: Wissenschaftstheoretische Positionen von Michael Polanyi ma-
                                                                                               che sein müsse, egal in welche Richtung
 chen eine Rehabilitierung des Impliziten Wissens für die Erörterung therapeutischer
                                                                                               das Licht versandt würde. Das war deshalb
 Kompetenz möglich. Die philosophischen Positionen von Hans Blumenberg gestatten,
                                                                                               überraschend, weil man ja annehmen
 das Unbewusste als unbegriffliche Basis der therapeutischen Kompetenz auszuweisen.
                                                                                               musste, dass es doch immerhin kleine
 In die gleiche Richtung weisen Entwicklungen der cognitive science. Therapeutische
                                                                                               Differenzen gäbe in jener Richtung, in die
 Kompetenz muss demnach in Stufenmodellen konzeptualisiert werden. Dafür wird
                                                                                               die Erde sich dreht. Hier hätte sich ein Be-
 auf mehrere empirische Arbeiten, insbesondere auf die von Orlinsky und Ronnestad
                                                                                               obachter ja mitbewegt und folglich hätte
 verwiesen. 1
                                                                                               die Lichtgeschwindigkeit langsamer sein
                                                                                               müssen. Die Ergebnisse des Experiments
                                                                                               widersprachen jedoch diesen Erwartun-
Kleiner Einstieg                                beim ersten Mal erblickte, habe er ein Ge-     gen. Die Geschichte wird so erzählt, dass
                                                fühl gehabt, als sei „eine Glasscheibe zwi-    Einstein vom Scheitern dieses Experiments
Wir wissen immer mehr, als wir zu sagen
                                                schen mir und dem Werk“. Andere hinzu-         gelesen habe und daraufhin seine neue
wissen. Dafür gibt es Beispiele nicht nur
                                                gezogene Kunstexperten fühlten nur, dass       Konzeption von Zeit und Raum mit der
aus der Supervisionspraxis. Der Wissen-
                                                etwas „faul“ sei, ohne ihr Unbehagen be-       Lichtgeschwindigkeit als einer Konstanten
schaftstheoretiker Alan Musgrave schilder-
                                                gründen zu können. Erneute Untersuchun-        konzipiert hätte. „But the historical facts are
te 1993 in seinem Buch „Alltagswissen,
                                                gen der Statuette, für die ein Kunsthändler    different“, schreibt Polanyi (S. 10) mit Ge-
Wissenschaft und Skeptizismus“ ein drol-
                                                10 Millionen Dollar verlangt hatte, erwie-     nugtuung. Denn Einstein hatte, wie man
liges Beispiel. Hühnerzüchter wollen um
                                                sen sie schließlich als Fälschung. Innerhalb   seiner Autobiographie sowie weiteren Zeu-
des Eierlegens willen nur Hennen aufzie-
                                                von wenigen Sekunden war der Kenner zu         genberichten entnehmen kann, über diese
hen. Küken müssen deshalb im Alter von
                                                einem richtigen Urteil gelangt (Klappacher,    Frage bereits als 16jähriger gegrübelt. Intu-
einem Tag entsprechend sortiert werden,
                                                2006, S. 50f.).                                itiv, schreibt er dort, sei ihm klar gewesen,
aber die Untersuchung durch einen Tier-
arzt wäre nicht nur teuer, sondern v.a. zeit-                                                  dass die Dinge so verlaufen müssten, wie
                                                Beispiele dieser Art werden gerne erzählt,     es erst viele Jahre später das Experiment
aufwendig. Es hat sich nun herausgestellt,
                                                um den Wert der geheimnisvollen Intuiti-       gezeigt habe. Anders als bei der Intuition,
dass es bestimmte Leute gibt, die auf
                                                on spektakulär zu unterstreichen2. Damit       die sich in actu und in Echtzeit gegenüber
Anhieb sagen können, ob es sich um ein
                                                stellt man die Intuition neben andere Wis-     einem Problem vollziehen muss, hatte er
männliches oder um ein weibliches Küken
                                                senszugänge und verrätselt sie zugleich.
handelt. Meist sind das Frauen, aber nicht
                                                Und wir wollen nicht übersehen, dass die
nur. Alle möglichen Untersuchungen ha-
                                                Intuition sich ja nur deshalb als wahr her-
ben bislang nicht heraus gebracht, wie sie                                                     1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags beim
                                                aus gestellt hat, weil sie überprüft werden
das machen und auch sie selbst können                                                            dritten Berliner Psychotherapeutentag am
                                                konnte. Aber es gibt Beispiele, die mehr         1. September 2007.
es nicht sagen. Aber es klappt.
                                                illustrieren, etwas, was der verstorbene       2 Das interessante Buch von Gigerenzer (2007),
Gleich noch ein ganz anderes Beispiel. Ge-      Chemiker und Philosoph Michael Polanyi           Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes
                                                                                                 für Bildungsforschung in Berlin, enthält eine
orgios Dontas ist Präsident der Archäologi-     als „Personal Knowledge“ (1958/62) be-           Fülle von Beispielen. Seine Rehabilitation des
schen Gesellschaft in Athen. Er erhielt im      zeichnete. Die Entdeckung der Relativitäts-      Unbewussten in der Kognitiven Psychologie
Juni 2005 vom Getty-Museum in Los An-           theorie wird in Lehrbüchern der Physik so        freut mich als Mit-Herausgeber (neben Gün-
                                                                                                 ter Gödde) eines dreibändigen Werkes über
geles eine Statuette mit der Mitteilung, die    dargestellt, dass Einstein 1905 von den
                                                                                                 „Das Unbewusste“ besonders auch deshalb,
monatelangen High-Tech-Untersuchungen,          Michelson-Morley-Experimenten und de-            weil er mit Begriffen wie „Der unbewusste
u.a. mit dem Elektronenmikroskop, hätten        ren negativem Ausgang erfahren und die           Schluss“ (S. 105) dem Unbewussten damit
                                                entsprechenden Schlüsse gezogen habe.            kognitive Fähigkeiten zuspricht, wie Freud
ergeben, dass diese Marmor-Statuette als
                                                                                                 das in der „Traumdeutung“ begann, als er da-
echt und als einige tausend Jahre alt zu        Diese Experimente basierten auf der Idee,        von sprach, dass das Träumen eine Form des
qualifizieren sei. Aber als er die Statuette    dass die Lichtgeschwindigkeit für einen          Denkens sei. Vgl. Buchholz (2005 a und b).

Psychotherapeutenjournal 4/2007                                                                                                          373
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„personal knowledge“ über einen erst sehr       zum Begriff. Hier, bei der Unbegrifflichkeit,   purer Empirismus, bloße Ansammlung von
viel später experimentell geprüften Sach-       wären psychotherapeutische Kompeten-            Daten scheint ihm selbst im Labor sinn-
verhalt.                                        zen wohl in allererster Linie zu verorten.      los, wenn nicht ein Forscher dabei ist, der
                                                Dazu will ich einleitend einige Bemerkun-       Muster oder Gestalten zu erkennen in der
Es gibt ein Wissen außerhalb des wissen-        gen machen, die auf Blumenberg und Mi-          Lage wäre. Ohne das, was Kant Urteils-
schaftlich Geprüften. Polanyi hält es für       chael Polanyi beruhen; dann will ich eine       kraft genannt hatte, könnten Daten nicht
einen ausgemachten Irrtum zu meinen,            empirische Studie referieren, die, obwohl       in Ordnungen gebracht, Gestalten nicht
dass Wissenschaft v.a. in der Prüfung von       philosophisch ohne Ehrgeiz, solche Ideen        wahrgenommen und Muster nicht mit
Aussagen besteht. Für ihn ist der weit          für die Entwicklung psychotherapeutischer       anderen Mustern verglichen werden. Wis-
wichtigere Schritt die Entdeckung eines         Kompetenzen empirisch bestens belegt            senschaftstheorie ist für ihn deshalb v.a. als
interessanten Problems, die sich immer          hat und schließlich Überlegungen ein-           Wissenschaftspsychologie zu betreiben.
aus persönlichem Wissen ergibt. So sieht        streuen, was das alles für die Ausbildung       Interessanterweise erläutert Polanyi das
es auch der Chemiker Theodore L. Brown          von Psychotherapeuten bedeuten könnte.          am berühmten Menon-Paradox aus dem
(2003). Auch Freud hatte schon seinen                                                           Gespräch des Sokrates mit jenem Menon.
Abitursaufsatz über das Drama des Ödipus        Unbegrifflichkeit und implizites                Sokrates erläutert dem verblüfften Schüler,
geschrieben. Von vielen weiteren Geistes-       Wissen                                          wie der Mensch denn etwas entdecke?
größen wissen wir, dass sie ihr Lebenswerk                                                      Wenn er es schon weiß, dann sucht er es
darauf ausrichteten, Beweise für frühe In-      Der 1891 in Berlin geborene Michael             nicht, denn er kennt es ja schon. Wenn er
tuitionen zu finden. „Personal knowledge“       Polanyi4, 1933 als Folge der Bedrohung          aber gar nichts davon weiß, dann weiß er
motiviert die Arbeit der Wissenschaft mehr,     durch die Nazis nach England geflohen,          auch nicht, worauf er seine Suche richten
als in Poppers Falsifikationismus Platz hat3.   dort Professor der Chemie in Manchester,        soll und entdeckt es auch nicht, selbst
                                                wechselt, nachdem er mehr als 200 na-           wenn er es vor der Nase hätte. Und Pola-
Der Zugang zur Welt, der hier anvisiert ist,    turwissenschaftliche Arbeiten in der Nähe       nyi fügt hier an:
liegt vor dem Experiment. Er ist primär in      des Nobelpreises veröffentlichte, in seiner
dem Sinne, dass einer ihn haben muss,           zweiten Lebenshälfte auf den für ihn ein-       „Aber wie kann man ein Problem erken-
bevor er überhaupt Experimente sich aus-        gerichteten Lehrstuhl für „social studies“,     nen, ein beliebiges Problem, ganz zu
denken kann. Das hatte Freud in einem           ebenfalls in Manchester, wo er, freigestellt    schweigen von einem guten und originel-
Brief aus dem Jahre 1911 hellsichtig formu-     von allen Lehrverpflichtungen, seine Arbei-     len? Denn ein Problem sehen heißt: et-
liert, als er meinte, „dass ich gar nicht für   ten über die Rolle des impliziten Wissens       was Verborgenes sehen. Es bedeutet, die
den induktiven Forscher organisiert bin, bin    systematisch weiter zu entfalten beginnt.       Ahnung eines Zusammenhangs bislang
ganz aufs Intuitive angelegt, und dass ich      Leser des Säuglingsforschers Daniel Stern       unbegriffener Einzelheiten zu haben“ (Po-
mir eine außerordentliche Zucht angetan         (2004) können sofort Verbindungen er-           lanyi, 1985, S. 28).
habe, als ich mich an die Feststellung der      kennen. Stern spricht vom „impliziten Be-
rein empirisch auffindbaren Psychoana-          ziehungswissen“ als einer empfindlichen         Und diese Ahnung bezeichnet Polanyi als
lyse machte“ (Freud an Jung, 17.12.1911).       Dimension menschlicher Bezogenheit,             implizites Wissen. Man muss – eben wie
Die Beschränkung des Wissbaren auf das          etwa zwischen Mutter und Säugling. Po-          Einstein oder Freud oder der Archäologe
Sichtbare oder sichtbar zu Machende ha-         lanyi hatte das implizite Wissen vor Stern      oder die Hühnerzüchter – etwas schon
be unser Denken verwüstet. Polanyi rückt        beschrieben und nicht auf menschliche
den Popper’schen Falsifikationismus zu-         Beziehungen beschränkt, wohl aber das
recht, wenn er darauf hinweist, dass Wis-       Implizite dort auch gesehen.
senschaftler nicht etwa danach streben,
ihre Theorien zu falsifizieren; sie streben     Polanyi ist ein für unsere Thematik interes-
vielmehr danach, sie zu belegen und sind        santer Autor, weil er von der harten Natur-
bereit, wenn redlich, Widerlegungen zu          wissenschaft über erkenntnistheoretische        3 „Objectivism has totally falsified our concep-
                                                                                                  tion of truth, by exalting what we can know
riskieren. Wissenschaftler haben metaphy-       Themen bei Grundfragen einer philoso-             and prove, while covering up with ambigu-
sische Überzeugungen, sie glauben be-           phischen Anthropologie und Psychologie            ous utterances all that we know and cannot
stimmte Dinge auch dann, wenn sie nicht         ankommt. Für ihn ist Wissenschaft etwas,          prove, even though the latter knowledge
                                                                                                  underlies, and must ultimately set it seals
oder noch nicht bewiesen sind.                  das nicht durch Regeln (des logischen             to, all that we can prove. In trying to restrict
                                                Schließens oder der Falsifikation etwa)           our minds to the few things that are demon-
Solche Weltzugänge zeichnete der 1996           zu verstehen ist, sondern durch einen             strable, and therefore explicitly dubitable, it
                                                                                                  has overlooked the a-critical choices which
verstorbene Philosoph Hans Blumenberg           letztlich nur metaphysisch verstehbaren
                                                                                                  determine the whole being of our minds and
als unbegrifflich aus. Sie sind Grundlage       Glauben an die Existenz einer Wahrheit;           has rendered us incapable of acknowledging
des wissenschaftlich-begrifflichen Wissens,     Polanyi ist überzeugter Realist und könnte        these vital choices” (Polanyi, 1958/62, S.
nicht also etwa dessen Steigerung. Es gibt      es als ein durch die harte Schule des na-         286).
                                                                                                4 Über dessen Biographie und Philosophie in-
demnach eine Reihenfolge der Entwick-           turwissenschaftlichen Labors gegangener           formieren Scott und Moleski (2005) sowie
lungsdynamik von der Unbegrifflichkeit          Wissenschaftler gar nicht anders sein. Aber       M. T. Mitchell (2006).

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M. B. Buchholz

wissen, damit man es auch „sehen“ kann5.       als bloß Bezeichnungen für Sachen, dass         die Fähigkeit von Neuronengruppen zur
Das macht verständlich, wie wir neuen          sie oft genug Gegenstände erst schaffen         Selbstorganisation nachzubilden versuch-
Situationen begegnen und sie als neu er-       und das gilt namentlich für Gegenstände         ten; dies aber weniger technisch, sondern
kennen, obwohl wir sie auf der Grundlage       der Mathematik. Es geht also nicht nur um       vor allem mathematisch. Dabei stößt er
eines alten, schon verfügbaren Wissens         psychotherapeutische, es geht um wissen-        auf die Schwächen des Computermodells,
bewältigen.                                    schaftliche Operationen schlechthin! Und        die er genau beschreibt:
                                               dabei kommt der Begriff des Unbewussten
Nichts anderes beschreibt das Konzept der      auf eine beachtliche Weise ins philosophi-      “Das Ergebnis der Erfahrungen in den ers-
Übertragung6. Der neue Gesprächspart-          sche Spiel.                                     ten beiden Dekaden der Herrschaft des
ner, eine Therapeutin oder ein Therapeut,                                                      Kognitivismus lässt sich am besten in der
wird als fremd und neu erlebt, aber auf        „Ich meine noch einen anderen Sachver-          folgenden Überzeugung formulieren, die
der Grundlage schon verfügbaren Wissens        halt, der sich dadurch von dem der Erzeu-       schrittweise in der Forschergemeinschaft
und Erlebens wird das bewältigt. Deutlich      gung mathematischer Begriffe unterschei-        entstanden ist: Es ist notwendig, die Po-
wird die therapeutische Situation beschrie-    det, dass er einen Zugang in die Empirie        sition des Experten mit der des Kindes zu
ben: eine Entdeckung machen, von der           eröffnet. So etwas ist der Begriff des Unbe-    vertauschen, was die Rangfolge der Leis-
ein uns aufsuchender Mensch noch nicht         wussten. Wenn man darüber nachdenkt,            tungen angeht. Die ersten Versuche richte-
einmal eine Ahnung hat. Wegen der ge-          wie der Begriff zu Stande gekommen ist          ten sich auf die Lösung der allgemeinsten
nau er aber kommt – obwohl er das nicht        und wie er sich geschichtlich transformiert     Probleme, etwa der Übersetzung natürli-
sagen könnte! Eine Entdeckung, die ein         hat, kommt man aus dem Staunen darü-            cher Sprachen oder der Konstruktion ei-
Therapeut aber auch noch nicht wissen,         ber nicht heraus, wie zeugungskräftig eine      nes allgemeinen Problemlösers. Alle diese
sondern allenfalls ahnen kann und die wir      solche begriffliche Prägung sein kann. Es       Versuche zielten auf die Objektivierung
verhindern, wenn wir mit zuviel Theorie        sieht wirklich so aus, als läge hier zunächst   der Intelligenz eines Menschen, der ein
oder mit zuviel Kompetenzüberlegenheit         nur ein Wort vor, welches überhaupt keine       hochausgebildeter Experte ist, also auf die
die Erfahrung indoktrinieren oder wenn         Hilfe anbieten, einen Gegenstand, einen         Lösung der interessanten, ‚harten’ Proble-
wir reduktionistisch die „Störung“ „erklä-     Sachverhalt, einen Prozess zu erfassen...       me. In dem Maße, in dem diese Versuche
ren“ würden – wir würden epistemisches         Das Unbewusste wird in vergleichbarer           bescheidener und begrenzter wurden,
Wissen anbringen und das macht, das            Weise erschlossen, wie Kant es für die          wurde klar, dass die weitaus komplexere
kann ich jetzt metaphorisch sagen, in der      Freiheit behauptet hatte.“ (Blumenberg,         und grundlegendere Art der Intelligenz
Behandlungssituation nicht satt. Bemer-        2007, S. 40 f).                                 die des Kleinkindes ist, das Sprache aus
kenswerterweise heißt Polanyis Buch im                                                         fragmentarischen alltäglichen Äußerungen
Englischen „The Tacit Dimension“ – als         Aus der philosophischen Perspektive Blu-        aufbauen und dort bedeutsame Gegen-
hätte er den Wert des therapeutischen          menbergs erhält die Idee des Unbewuss-          stände konstruieren kann, wo es nichts als
Schweigens schon würdigen können.              ten, als einer relevanten Wissensdimensi-       eine Lichterflut zu geben scheint.“ (Varela,
Freud hatte für das Zuviel an Reden den        on, Auftrieb. Wissenschaftler verarbeiten       1990, S. 56 f.)
schönen Vergleich, dass wir in Zeiten der      nicht nur Informationen, was die immer
Hungersnot nur Speisekarten ausgeben           noch gängige Annahme in weiten Teilen           5 Davon liefert ein sehr schönes Beispiel der
würden. Implizites Wissen, das von Polanyi                                                       Schriftsteller Martin Mosebach in seinem
                                               der cognitive science ist, sondern sie „se-       Roman „Das Beben“ (2005, S. 158). Der
auch als „stilles“ handwerkliches Können       hen“ – wenn man auf den genauen meta-             Ich-Erzähler kommt nach Indien ins kleine
etwa im Labor angesprochen wird, wäre          phorischen Klang dieses Wortes hier hört          Königreich Sanchor, wo ihm das Staatsarchiv
jene Dimension therapeutischer Kompe-                                                            gezeigt werden soll; der Brahmane fragt ihn
                                               – ganzheitliche Zusammenhänge.                    „Was wünschen Sie zu sehen?“ und dann
tenz, die wir als paradoxe Form der Teilha-                                                      schreibt Mosebach: „Seine Frage allein war
be ansprechen: nur dort, wo ein Therapeut                                                        ein Tadel. Er sprach damit zugleich aus, dass
                                               Die überlegene Intelligenz des
auch Patient in dem Sinne sein kann, dass                                                        ich ehrlicherweise hätte zugeben müssen,
                                               Gelehrten Säuglings                               nicht zu wissen, was hier sehenswert sein
er etwas in sich entdeckt (Polanyi spricht
                                                                                                 könne. Was wusste ich über Sanchor? War
von „indwelling“), das dem Leiden seines       Sowohl Polanyi als auch Blumenberg ha-            ich Staatsökonom oder Historiker? Was ging
Patienten nahe kommt, das er näherungs-        ben Recht mit der Idee, dass dem wissen-          mich die Rechnungslegung des Finanzminis-
                                               schaftlich-begrifflichen Denken etwas als         teriums von Sanchor an? Mein Schweigen er-
weise aus eigener Erfahrung kennt, kann
                                                                                                 kannte er hoffentlich als Zeichen gebotener
er in hilfreichen Kontakt treten; implizites   dessen Basis vorausgeht. Francisco J. Va-         Bescheidenheit.“
Wissen ist unverzichtbare Basis therapeu-      rela ist wohlbekannter Biologe und Kyber-       6 Übertragung und Widerstand werden neu-
tischer Kompetenz.                             netiker, der 1990 ein Buch über „Kogniti-         erdings auch von Verhaltenstherapeuten als
                                                                                                 behandlungsrelevant reklamiert: „As in other
                                               onswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine
                                                                                                 therapies, the behaviour therapist may be fa-
Auch der Philosoph Hans Blumenberg             Skizze aktueller Perspektiven“ publizierte.       ced with phenomena such as resistance or
(2007) könnte dafür in Anspruch ge-            Darin fasste er aktuelle Trends zusammen          transference.“ (Emmelkamp et al., 2007, S.
                                               und suchte nach Lösungen für bestehende           65) Allerdings informiert man sich über diese
nommen werden, die Unbegrifflichkeit als                                                         beiden Konzepte doch besser an der Quelle.
Basis des Begreifens auszuweisen. Blu-         Schwierigkeiten in diesem Feld. Er zeich-         Erfreulich, dass diese Dimensionen des The-
menberg weiß, dass Begriffe mehr sind          net nach, wie Kognitionswissenschaftler           rapeutischen anerkannt werden.

Psychotherapeutenjournal 4/2007                                                                                                         375
Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen

       Das ist das, was Wilfried Bion 1961 die                          der Intelligenz“ von Kleinkindern vermag.       könnte hergehen und die Eigenschaften
       „embryology of the mind“ nannte und es                           Just das hatte Ferenczi gemeint, als er         des unabhängigen Denkens beschreiben,
       ist die genaue Analogie zu Blumenbergs                           (1923) in seinem berühmten Aufsatz vom          anhand von Vorbildern wie Montaigne,
       „Unbegrifflichkeit“: Wer mit „hochaus-                           „gelehrten Säugling“ sprach. Wir können         Lessing, Friedrich Schlegel oder anderen
       gebildeten Expertentum“ auf dem Level                            ermessen, welche verheerenden Folgen            (Bohrer, 2007). Aber keiner könnte aus
       des Begriffs beginnt, ignoriert, was schon                       es hätte, wenn wir die Psychotherapie von       diesen Eigenschaften das zusammenset-
       Kleinkinder können: unbegrifflich denken                         dieser Dimension des impliziten Wissens         zen, was unabhängiges Denken meint.
       und unbegrifflich sein (nicht aber: unbe-                        entsorgen würden.                               Und selbst wenn man das könnte, wäre
       greiflich!). Und er macht den Denkfehler,                                                                        es genau das nicht, sondern nur die Kopie
       den Wittgenstein in den „Philosophischen                         Knowledge und Knowing                           von unabhängigem Denken. Das also ist
       Untersuchungen“ am Beispiel des Spra-                                                                            das, was mit dynamisch gemeint ist.
       cherwerbs untersuchte. Kinder lernen                             Weil diese Frage so elementar ist, will ich
       Sprache nicht, indem man auf Dinge zeigt                         mich noch etwas bei Polanyi aufhalten,          Psychotherapeutische Kompetenz sich
       und ihnen dann die bezeichnenden Worte                           mit dem Ziel, verschiedene Wissensfor-          als Wissensanwendung vorzustellen, ent-
       vorspricht. So lernt man allenfalls zweite                       men genauer fassen zu können. Polanyi,          springt somit (Klappacher, 2006, S. 24)
       Sprachen, Fremdsprachen. Erste Sprachen                          wenn er absoluter Realist ist, dann ist er      einem Kategorienfehler. Wer sich gekonnt
       werden als Mitglied einer Lebensform ge-                         auch, in den Worten von Douglas Hof-            verhält, tut das nicht deshalb, weil er ein
       lernt – und dann ganz „nebenbei“. (Vgl.                          stadter, „holist par excellence“. (Vgl. dazu    set von Regeln schon im Kopf hätte, son-
       dazu Tomasello, 2001 und 2003)                                   Klappacher, 2006) Was Wissenschaftlern          dern weil er sich so verhält, als ob er diese
                                                                        einleuchtet, ist nicht einzelnes Faktum         Regeln im Kopf hätte. Eben deswegen tun
       Teilhabe an der Lebensform aber ist basaler                      oder ein aufgestellter Satz, sondern ein        sich Profis wie der Athener Archäologe, so
       als das Begriffliche, es ist vor allem „embo-                    System von Sätzen. Was wir im Deutschen         schwer damit, ihre Wissensbasis zu expli-
       died“ und es ist an Situationen gebunden.                        als „Wissen“ übersetzen müssen, wird bei        zieren. Sie haben einfach „ein Gefühl“ (so
       Daraus erst das Begriffliche erwachsen zu                        Polanyi unterschieden in „knowledge“ und        sieht es auch Gigerenzer, 2007) und wol-
       lassen ist das, was die „grundlegendere Art                      „knowing“. Ersteres meint jenes sagbare,        len ansonsten in Ruhe gelassen werden.
                                                                        formulierbare und mitteilbare Wissen, das       Können, so dürfen wir festhalten, ist ver-
                                                                        in die Lehrbücher eingeht; letzteres den        körpert, es ist dynamisch und es ist situiert.
                                                                        Prozess der Generierung von Wissen, der         Damit kann es auch als flüchtig bezeichnet
                                                                        dem Lehrbuchwissen weit vorgelagert ist.        werden.
                                                                        Knowing ist keine Begrifflichkeit der Re-
                                                                        präsentation; implizites Wissen besteht für     Genau das macht die Situation des profes-
                                                                        Polanyi nicht aus mental repräsentierten        sionellen Psychotherapeuten aus. In seiner
                     Psychotherapie                                     Regeln, die – etwa in Manualen – formu-         Arbeit verhält er sich, als ob er Regeln fol-
                    Fortbildung 2008                                    liert werden könnten, um von anderen            ge und „knowledge“ anwende, während
                                                                        dann mit gleichen Ergebnissen angewandt         er wahrscheinlich vielmehr von dem, was
                                                                        werden zu können. Er stellt sich das eher       Polanyi als „knowing“ bezeichnet, betreibt.
                                                                        vor wie das Erlernen des Fahrradfahrens.        Er ist körperlich präsent und folgt den Si-
! aktuelle Themen / Methoden                                            Nur ein zerstreuter Professor würde es          gnalen seines Körpers, er handelt in Si-
   Trauma, Schmerz, Raucherentwöhn.,
                                                 Universität Tübingen

                                                                        versuchen, indem er Gesetze der schie-          tuationen und er kann das nur, soweit er
   Depression, Tests, Kurzzeittherapie, Angst,
   Paartherapie, Rechtsfragen                                           fen Ebene und des freien Falls anwendet.        im Fluss der Ereignisse mitschwimmt, al-
! Psychotherapeut. Zusatzausbildungen                                   Für Polanyi ist knowing immer ein embo-         so soweit er sich dynamisch einstellt. Aus
   Hypnose, Autogenes Tr., Verhaltenstherapie                           died knowing. Ohne das handwerkliche            der hier entwickelten Sicht wäre somit der
   Tiefenpsychologie, Psychodynamische PT                               Geschick des versierten Labortechnikers,        Versuch, Psychotherapie zu manualisieren,
! Therapie f. Kinder und Jugendliche                                    ohne das Feingefühl fürs Material könnte        ein schwerer Fehler, weil damit das Kön-
   Hör- / Sprachentwicklung, LRS, ADHS,                                 sich jener Sinn für Situationen nicht entfal-   nen des Psychotherapeuten einem frem-
   Kinderhypnose, Verhaltensstörungen                                   ten, den ein guter Wissenschaftler braucht.     den Regime, dem statischen Knowledge,
   Ängste, Elternarbeit
                                                                        Knowing – das ist eigentlich ein Können7,       unterworfen würde.
! Supervisions-Ausbildung (DGSv)                                        das wir zwar im Nachhinein (!) als „Wis-
! Weiterbildung Psychotherapie                                          sen“ in manchen Fällen zu rekonstruieren        Das statische knowledge wird auch als
   Facharztausbildung / Zusatzbezeichnung:
                                                                        vermögen, das aber nicht von vorneherein        epistemisches Wissen bezeichnet. Zwi-
   Verhaltensth., Tiefenpsych., Psychodyn. PT
   Psychosomatische Grundkompetenz                                      als Wissen auch im Kopf desjenigen vor-
                                                                        handen ist, dem wir Können zusprechen.
                                                                        Können ist, wie Donald Schön (1983) im-         7 Ich habe in meinem Buch „Psychotherapie
                                                                        mer wieder beschrieben hat, dynamisch;            als Profession“ das Können als die zentrale
Wilhelmstraße 5, D-72074 Tübingen                                                                                         Dimension psychotherapeutischer Kompe-
                                                                        knowledge ist statisch. Wer etwa über die         tenz in einigen Dimensionen detailliert be-
07071 / 29-76439, -76872 FAX: 29-5101
                                                                        Fähigkeit, unabhängig zu denken, verfügt,         schrieben.
wit@uni-tuebingen.de, http://www.wit.uni-tuebingen.de

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M. B. Buchholz

schen epistemischem Wissen und Können         Aus diesem Grund scheitern alle Ratgeber,         psychotherapeutische Weiterbildung etwa
lässt sich noch das Alltagswissen verorten    „wie man eine Frau anspricht“ – die dort          so gestellt werden könnten: Wenn ein Su-
(Huppertz, 2006). Epistemisches und All-      formulierten Regeln artikulieren ein epis-        pervisand Fortschritte in einer Supervision
tagswissen sind hochgradig symbolisch,        temisches oder Alltagswissen, das in sol-         macht – wie kann man das verstehen? Ist
etwa in Wissenschafts- und Alltagsspra-       chen Situationen gerade nicht gebraucht           es so, dass er am Ende der Supervision je-
che, das Können hingegen weit weniger.        wird, weil es auf embodied knowledge              nes Wissen in seinem Kopf hat, das vorher
Alle drei weisen unterschiedliche Grade       ankommt.                                          im Kopf des Supervisors war? Kann man
der Systematisierung auf, aber auch un-                                                         sich das so vorstellen? Der Sinn einer sol-
terschiedliche      Kontextabhängigkeiten.    Stufen des Könnens – Verzicht                     chen Frage liegt natürlich darin, sie zu ver-
Epistemisches Wissen ist hochsystema-         auf Regeln                                        neinen, aber wie dann? Selbst wenn der
tisiert und kontext-unabhängig, Können        Können erwirbt man nur durch eigene               Supervisand gleiche Begriffe benutzen wür-
hingegen ist immer gering systematisiert,     Praxis, durch Versuch und Irrtum, durch           de wie der Supervisor – wäre das vielleicht
situativ variabel und damit kontextabhän-     Herausfinden der Regeln und deren An-             Indiz für gleiches Wissen (knowledge),
gig. Epistemisches Wissen besteht lange in    sammlung zu einem Erfahrungsschatz. Sol-          aber müssten wir nicht auf „knowing“ hin-
der Zeit und wird regelgeleitet verändert,    cherart erworbene Regeln können nur im            aus? Das Konzept eines impliziten Wissens
während Alltagswissen sich schleichend        Nachhinein reflektiert werden. Dabei kann         trägt hier weiter – gute Supervision muss
verändert und Können selbst flüchtig, an      man sich täuschen, wenn man meint, man            nicht nur knowledge vermitteln, sondern
Situationen gebunden ist. Therapeutisches     habe Regeln „angewendet“. Hier gilt, dass         implizites Wissen fördern.
Können ist abhängig davon, dass man ei-       Können immer nur so a u s s i e h t , als
nem wirklichen Patienten gegenüber sitzt,     ob es von Regeln geleitet sei, die dann           Georg Hans Neuweg (2004) verweist auf
dass ein echtes Anliegen zur Sprache kom-     nachträglich rekonstruiert wurden. Aber           Bereiche der Pädagogik, die uns belehren
men kann etc., deshalb ist therapeutisches    wenn man Können allein von Regeln her             können, etwa durch Experten-Novizen-Ver-
Können schwer in epistemisches Wissen         aufbauen wollte, würde man scheitern.             gleiche. Es gibt sog. „nicht-saliente“ Lern-
zu übersetzen. Und schließlich erfordern      Das gilt sowohl für das gekonnte Öffnen           aufgaben, die sich nicht durch Verfügung
alle drei Bereiche unterschiedliche Weisen    einer Weinflasche, für das Binden von             über Information auszeichnen, sondern in
des Lehrens: epistemisches Wissen kann        Schnürsenkeln, das Lernen eines Musikin-          der Bewältigung einer Handlungsaufforde-
explizit im Abgleich von Empirie und Theo-    struments oder für das gekonnte Beginnen          rung. Übersetzungsaufgaben gehören da-
rie vermittelt werden und hier können For-    eines schwierigen Gesprächs. Wer das nur          zu, aber auch der Vergleich zweier Bilder,
men des Massen-Unterrichts angewandt          (!) aus Regeln – also ohne Veranschauli-          die Fähigkeit, ein Interview zu führen oder
werden, etwa in Vorträgen, Seminaren          chung in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis –        ein Stück nach Noten vom Blatt zu spielen.
oder mittels Medien. Wissen kann gelehrt      lernen wollte, würde scheitern. Es braucht        Wer prüfen will, ob einer das kann, wird
werden, Erfahrungen muss man machen.          das Embodiment, das körperliche Gefühl            sich nicht Regeln erklären lassen, sondern
Alltagswissen hingegen braucht partiell       für Zugnotwendigkeit, Kraftaufwand und            den Probanden in eine entsprechende Si-
die persönliche Anleitung durch eine Art      Widerstand am Korken, für den Eigensinn           tuation führen. Hier gilt Wittgensteins Ma-
Vorbild (Kochen lernen, oder wie man          des Schnürsenkels, für die Handstellung           xime: „Denk nicht, schau!“
Fremden höflich begegnet), aber auch          beim Musikinstrument, für die Präsenz
Ausbildung eines Sinns für Situationen, et-   des Anderen. Kompetenzerwerb braucht              Die Tatsachen und Faktoren sind in solchen
wa wann man einen Witz erzählen kann          manchmal Stützen, doch das sind nur               Situationen unvollständig, sogar mehrere
oder wann man das besser lässt, mit wem       Etappen auf dem Weg zum Können.                   Muster können gesehen, verschiedene
man klatscht oder wie man flirtet. Episte-                                                      Ziele angesteuert werden; auch ist nicht
misches Wissen, das auf Vereindeutigung       Können, also implizites Wissen, also Kom-         ganz klar, welche Informationen relevant
drängt, wäre in solchen Alltagssituationen    petenz, baut sich auf in Stufenprozessen.         sind und welche vernachlässigt werden
ganz falsch; wer fragt, was ein zugeworfe-    Dafür hat man sich in der Pädagogik sen-          können. Können besteht sogar zu einem
ner Blick bedeutet, zerstört die Situation.   sibilisiert. Dort interessieren Fragen, die für   Teil darin, Information zu ignorieren! (Und

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Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen

natürlich gekonnt zu wissen, welche). Das       Im Stadium des fortgeschrittenen Anfän-           intuitiv Erwartungen (Neuweg, S. 309) wei-
ist der Fall etwa beim Treffen von Kaufent-     gers begreift der Lernende die Wiederkehr         ter aus. Er folgt weniger präzisen Regeln als
scheidungen, beim Schachspiel (das Freud        einzelner bedeutungsvoller Elemente, die          offenen Maximen. Ein guter Lehrer erkennt
als Vergleich für die Psychoanalyse diente)     nicht über präzise Definitionsregeln erfass-      sofort, wenn die Arbeit einer Schülerprojekt-
oder beim Autofahren. In all diesen Situ-       bar sind, sich deshalb auch nicht eindeutig       gruppe nicht „läuft“, muss aber auf diesem
ationen gibt es zwar ein bestimmtes Set         lehren lassen, sondern voraussetzen, dass         Niveau noch überlegen, wie er eingreift.
von Regeln wie in der Erhebung einer            der Lernende sich im Problemfeld schon
Anamnese oder in den Anfangssituationen         länger aufhält. Dazu gehören etwa die Fä-         Wer zu dieser Stufe gelangen will, kann
einer psychotherapeutischen Behandlung          higkeiten von Hundehaltern, verschiedene          nicht mehr durch Begrifflichkeit, Analyse
– aber der Weg vom Novizen zum Kön-             Arten des Bellens zu unterscheiden oder           und Verbalisierung, unterrichtet werden; er
ner besteht gerade darin, diese Regeln          das, woran wir erkennen, dass ein ande-           muss vielmehr an prototypischen Situati-
irgendwann hinter sich zu lassen. Überall       res Auto, das auf eine Kreuzung zufährt,          onen lernen. Im Fall der psychotherapeu-
gilt, dass Könner Regelwissen hinter sich       halten wird. Solche Momente werden als            tischen Weiterbildung käme hier die Kon-
lassen, freilich erst, wenn sie lang genug      physiognomische Elemente bezeichnet,              frontation mit Fallbeispielen ins Spiel, die
mit verschiedenen Fällen zu tun hatten.         weil sie das „Gesicht“ einer Situationsge-        in Vieldeutigkeit und Detailliertheit alltäg-
                                                stalt erfassen. Hier müssen Lernende auf          lichen Situationen real vergleichbar sind.
“Die bewusste Verarbeitung isolierter Ele-      präzise Definitionen situationaler Aspekte        Hier auf kontextfreies Regelwissen oder
mente und Regeln, die die ersten Lernstadien    geradezu verzichten, man muss an Bei-             auf Anwendung allgemeiner Theorien zu
kennzeichnet und die sich in Computerpro-       spielen lernen. Der Lernende bleibt aber          rekurrieren würde Lernende, die diese Stu-
grammen objektivieren lässt, wird allmählich    gleichsam „Pedant“ (Neuweg, S. 306),              fe erreicht haben, nur frustrieren.
durch ein nur durch den Menschen anei-          weil er sich noch arg an Regeln hält selbst
genbares holistisches Wahrnehmen ganzer         dann, wenn die Gesamtsituation eigentlich         Im fünften Stadium des Könnens Intuitives
Situationen, durch ‚situatives Verstehen’ er-   den Regelverstoß verlangt.                        Handeln wird die Antwort nun gleichsam
setzt, wobei schließlich in der Situation die                                                     automatisch ausgelöst. Nicht mehr auf
adäquate Verhaltensweise gleichsam schon        Deshalb ist die zentrale Errungenschaft           Elemente wird regelgeleitet reagiert, son-
mitgesehen wird. Diese Fähigkeit kann nur       der dritten Stufe das Kompetenzstadium.           dern Elemente haben sich zu komplexen
in einem Prozess ausgedehnter Erfahrung         Hier begreift der Lernende, dass er mit           Situationen und Klassen von Situationen
erworben werden.“ (Neuweg, S. 298)              einer Perspektive an die Situation heran-         gruppiert, für die Handlungsalternativen
                                                treten muss, die gestattet, die einzelnen         und Antworten zur Verfügung stehen, die
Die Stufen dieses Prozesses gibt Neuweg         Aspekte und physiognomischen Elemente             bildhaft und nicht begrifflich (Neuweg, S.
unter Verweis auf verschiedenste Lern-          nicht mehr absolut zu nehmen, sondern             311) im Gedächtnis aufbewahrt sind.
Lehr-Bereichen so an:                           zu gewichten – aus der perspektivischen
                                                Betrachtung der Gesamtgestalt heraus. Au-         Auf dieser Stufe entfällt strategisches Pla-
In einem ersten Novizenstadium wird der         tofahrer wollen an einem Ziel ankommen            nen, weil es Antipode zum Intuitiven Han-
Lernende mit gleichsam ‚schriftlichen’ Ins-     und erwägen verschiedene Wege, be-                deln wäre, dem jetzt viel mehr zugetraut
truktionen ausgestattet. In einem Prozess       schleunigen kurz vor dem Rotwerden der            wird. Das physiognomische Erkennen von
bottom-up lernt der Novize jene abstrak-        Ampel noch rasch etc. Aber der Lernende           Situationen, das verkörperte Wissen, die
ten Merkmale kennen, die eine Aufgabe           benutzt immer noch ein Kalkül, auch wenn          situative Teilhabe ermöglichen intuitiv rich-
bestimmen. Diese Merkmale sind nicht-           sein emotionales Involvement schon weit           tiges Reagieren unter Verzicht auf sämtli-
situational; sie erfordern gerade nicht,        höher ist und als solches bemerkt wird.           che relevanten Informationen; die Situati-
dass der Lernende sich auf die Situation        Denn er fühlt sich verantwortlich, auf ihm        on als ganzes wird erkannt. Aber Könner
einlässt. Solange er die Merkmale nur ein-      lasten Folgen von Entscheidungen.                 analysieren Situationen natürlich dennoch,
zeln wahrnimmt, erschließt sich dem Ler-                                                          nämlich genau dann, wenn sie bemerken,
nenden die Gesamtstruktur der Situation         Im Stadium des gewandten Könnens er-              dass sie für bestimmte Situationen keine
gerade nicht und ebenso wenig, dass die         kennt der Lernende Situationen als Ganzes,        Könner sind. Sie oszillieren dann zu den
Bedeutung der einzelnen Merkmale sich           erwirbt mit der Fähigkeit zum Handeln aus         Modalitäten früherer Stufen zurück, weil
erst aus der Wahrnehmung der Gesamtge-          einer gewählten Perspektive entschieden           sie ihre Kompetenzgrenzen erkennen und
stalt ergibt. Der Lernende, etwa ein Fahr-      Urteilskraft; er durchdenkt Situationen nicht     sich in jedem Fall wieder auf das höchste
schüler, lernt kontextunabhängige Regeln.       mehr sequentiell step-by-step, sondern han-       Niveau bringen wollen. Sie iterieren den
Charakteristischerweise müssen Leute, die       delt auf der Basis holistischen Erkennens von     Prozess der Könnerschaft immer erneut
dieses Stadium längst hinter sich gelassen      situativen Ähnlichkeiten so wie wir Gesichter     und immer gekonnter. Könner wissen um
haben, sich angestrengt daran erinnern,         erkennen, nämlich ohne die Merkmale im            etwas, das Polanyi so ausgedrückt hat:
welchen Regeln sie eigentlich folgen – so       Einzelnen zusammen zu fügen. Der Lernen-
haben etwa Krankenschwestern, bei de-           de hat eine Vorstellung über den erwartba-        „We alone can catch the knack of it; no
nen jeder Handgriff längst „sitzt“, Mühe,       ren, „normalen“ Ablauf der Dinge, wo kein         teacher can do this for us“ (Knowing and
diese Schritte zu lehren.                       Eingreifen erforderlich ist und gestaltet damit   Being, 1969, S. 126).

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M. B. Buchholz

Nicht Planung für die Zukunft, sondern          Stadien, eine solche Frage eher als Kritik    implizites Wissen. Nachträglich kann man
das Erkennen der Rolle der Gegenwart ist        auffassen, würden sich verprellt fühlen o.    eine Theorie aufstellen, aber sie kann un-
hier einer der entscheidenden Lernschrit-       dergl. Dem stimmte die systemische Kolle-     mittelbar nicht angewendet werden, weil
te. Diese „Zielorientierung des Handelns        gin zu und wir klärten, dass solche Fragen    es gerade auf die unbewussten Fähigkei-
ohne bewusste Zielsetzung“, wie Neuweg          dennoch Sinn machen, wenn sie einge-          ten von Therapeuten ankommt, sich für
(S. 312) das paradoxale Moment genau            bettet sind in ein konversationelles „soft    solche Dinge zu sensibilisieren. Es gibt
beschreibt, kommt dem psychothera-              environment“. Solche Fragen kommen an,        Vergleichbares auf der Ebene des Sprachli-
peutischen Kompetenzerwerb sehr nahe,           wenn sie „weich“ gestellt werden; der The-    chen, etwa bei gemeinsamen Fehlleistun-
was aufregend deshalb ist, weil in diesem       rapeut zeigt gerade in seinem einleitenden    gen oder wenn Therapeuten absichtslos
Modell ganz andere Lernentwicklungen zu         Gestotter und Gestammel, an der Art, wie      Worte verwenden, die fulminante Wirkung
Könnerschaften beschrieben werden. Dies         er die Technik platziert, an welcher Stelle   haben. Die Theorie kommt erst hinterher.
Modell ist für nicht-psychotherapeutische       des Gesprächs er sie ein- und anbringt,
Situationen entwickelt und gilt dennoch für     wie viele Anläufe und Reformulierungen        Dies alles läuft (vgl. Buchholz, 2006) auf
den psychotherapeutischen Kompetenzer-          er macht, genauen intuitiven Sinn für die     einer prozessualen Ebene ab. Der Prozess,
werb genau.                                     Beziehungsgestaltungsbedürfnisse seiner       das ist alles, was im Behandlungszimmer
                                                Patienten. Leider ist diese wechselseitige    geschieht. Die prozessuale Ebene ist un-
„Der Handelnde steht nicht über, sondern        Einbettung von Behandlungstechnik und         terlegt von einer basalen Ebene, von klei-
in der Situation, distanziert sich nicht von,   Beziehungsgestaltung, dieses psychothe-       nen alltäglichen Voraussetzungen, die wir
sondern verschmilzt mit ihr. Sein Sinn für      rapeutische Pendant zu epistemischem          zum Prozess mitbringen müssen. Etwa,
Abweichungen von der befriedigenden             Wissen und professionellem Können, mik-       dass wir nicht übermüdet sind, aufmerk-
Gestalt wirkt unmittelbar handlungsauf-         roanalytisch bisher wenig studiert worden.    sam und einigermaßen ausgeglichen. Auf
fordernd, ohne dass Sollgestalten als Ziele     Und hier liegt der Ursprung von Katego-       der prozessualen Ebene muss etwas ent-
oder Pläne als Transformationsprozesse          rienfehlern einer empirischen Forschung,      scheidend deutlich werden. Die einzelnen
dazwischengeschaltet wären“ (Neuweg,            die nur personunabhängige Technik eva-        kommunikativen Operationen nämlich
S. 312).                                        luieren will.                                 müssen so aneinander anschließen, dass
                                                                                              deutlich wird, hier findet Therapie statt und
Wir erkennen einen möglichen Fehler man-        Es gibt ein System der Behandlungstech-       nicht etwa „Flirt“ oder „Kaffeeklatsch“ oder
cher psychotherapeutischer Ausbildungs-         nik, das man beschreiben und sogar evalu-     einfach Gequatsche. In der Medizin gibt es
ideale: Es könnte falsch sein, wenn wir         ieren kann und es gibt ein beschreibbares     grundsätzlich das gleiche Problem, aber
Weiterbildungsteilnehmern das Ideal, über       Beziehungssystem. Das System der Tech-        Kontextmarkierungen wie der weiße Kittel
den Situationen zu stehen, beibringen;          nik findet man am ehesten in Lehrbüchern,     machen sichtbar, dass hier medizinische
richtiger wäre zu würdigen, wie sehr sie in     das System der Beziehungen kann man           Untersuchung stattfinden soll – und nichts
den Situationen stehen. Und dass gerade         beispielsweise entdecken, indem man auf       anderes. In der Psychotherapie müssen
darin ihre Chance zu intuitiver Kompetenz       die Gesichtsmimik von Therapeuten und         Kontextmarkierungen anders gesetzt wer-
und angemessenen Antworten liegt! In            Patienten schaut. Ich denke nicht nur an      den. Aus empirischen Untersuchungen
der Situation sein und aus ihr angemessen       die Untersuchungen von Rainer Krause.         (Wolff und Meier, 1995) weiß man, dass
handeln, würde „moments of meeting“             Ich denke an die Arbeiten von Schwartz        Therapeuten bei ihren Antworten etwas
(Stern, 2004) mit Patienten ermöglichen,        und Wiggins (1987) über die Fähigkeit         länger zögern, bis sie sprechen und eine
die ihren Therapeuten vergeblich suchen,        von Therapeuten, das Suizidrisiko bei Pa-     solche Verzögerung würde im Alltag kaum
wenn er über der Situation schwebt.             tienten einzuschätzen, die gerade wegen       toleriert; aber hier handelt es sich um ei-
                                                eines misslungenen Suizidversuchs statio-     nen anderen Kontext, der durch solche
Beziehung und Technik
                                                när aufgenommen worden waren. Befragt         Markierungen deutlich gemacht wird. So
In meinem Buch „Psychotherapie als Pro-         man die Therapeuten mit Fragebögen            kommt es vor, dass Therapeuten am Ende
fession“ (1999) habe ich beschrieben,           nach einem Interview mit solchen Pati-        eines Erstgesprächs von ihren Patienten so
wie „Beziehung“ und „Technik“ Umwel-            enten, dann ist ihre verbal-epistemische      etwas hören wie: „Vielen Dank!“ Die Re-
ten für einander bilden. Ich hatte einmal       Kompetenz, einen zweiten Suizidversuch        ziprozitätserwartungen des Alltags würden
Gelegenheit, solche Themen mit einer            vorherzusagen, nicht besonders gut. Vi-       erfordern, mit „Gern geschehen“, „nichts
systemischen Kollegin zu diskutieren. Sie       deografiert man aber die Gesichtsmimik        für ungut“ o. ä. zu antworten. Auswertun-
meinte, die systemische Fragerichtung           der Therapeuten während des Interviews,       gen haben gezeigt, dass das so gut wie nie
helfe ihr da immer gut weiter. Man könne        dann werden die Trefferquoten sehr gut.       vorkommt. Therapeuten schauen vielmehr
etwa depressive Patienten fragen, wann          Auf ihrem Gesicht zeigt sich nämlich, dass    ihre Patienten meist schweigend und be-
sie denn nicht depressiv seien. Ich kannte      sie bei den wirklich Gefährdeten sehr viel    deutungsvoll an, nicken leise mit dem Kopf
die Kunstfertigkeit systemischen Fragens,       mehr Besorgnis erkennen lassen als bei        und machen deutlich, dass sie auch diese
aber ich wandte aus meiner klinischen Er-       geringer suizidalen Patienten. Das ist eine   Bemerkung ihrer dankbaren Patientin mit
fahrung ein, meine depressiven Patienten        unbegriffliche    Beziehungskomponente,       in ihre Überlegungen einbeziehen. Sie
würden, zumindest in den anfänglichen           nicht Anwendung von Theorie, sondern          gestalten auf diese Weise mit implizitem

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Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen

Wissen eine Beziehung, den allermeisten         tung des „Vorurteils“ beteiligt habe; eines     Wie aber wird von diesen Autoren denn
wahrscheinlich ziemlich unbegrifflich und       objektivistischen Vorurteils, dem Psycho-       nun die Entwicklung therapeutischer Kom-
unbewusst. Sie nutzen das nicht als Tech-       therapie, als apersonales Geschehen der         petenz beschrieben? Ich fasse sehr knapp
nik, sie wenden dazu keine Theorie an. Es       Anwendung von Technik und Prozeduren            zusammen:
ist Teil professioneller Habitusformation, in   erscheint und worin die Bedeutung des
deren Umwelt dann Theorie vorkommt.             persönlichen, impliziten Wissens gerade-        Die Entwicklung therapeuti-
Solche Kontextmarkierungen machen               zu eliminiert würde. Psychotherapie ist         scher Kompetenz
Therapeuten aller Schulen individuell va-       in der Sicht von Orlinsky und Ronnestad
                                                                                                Wir beginnen, meist in unseren eigenen
riantenreich, aber dennoch so, dass man         nicht „Anwendung“ von wissenschaftlich
                                                                                                Familien als Laien-Helfer, dem eine zwei-
sagen kann, solche professionelle Habi-         ermittelten „Techniken“ auf ein „Problem“.
                                                                                                te Phase als beginning students folgt. Hier
tusformation kommt in der Umwelt der            S o l c h e r a r t erscheint Psychothera-
                                                                                                interessiert man sich für Theorie und ist
Theorie vor. Theorie und Habitus bilden         pie nur dem Blickwinkel derjenigen, die
                                                                                                bedürftig nach Anerkennung durch die
Umwelten für einander.                          diese Form der Forschung betreiben. Psy-
                                                                                                Meister. In dieser Phase wird man süchtig
                                                chotherapie als „Problemlösung“ aufzufas-
                                                                                                nach leicht zu lernenden Techniken – wie
Wie solche Habitusformation ausgebildet         sen verkennt, wie viel Zeit verbraucht wird,
                                                                                                etwa bestimmte Fragen zu stellen usw. –
wird, dazu gibt es die wunderbare Studie        damit ein Problem von manchen über-
                                                                                                gegriffen, aber wenn man sich davon nicht
von Orlinsky und Ronnestad (2005). Die-         haupt erst formuliert werden kann, dass
                                                                                                lösen kann, stagniert die persönliche Ent-
se Autoren haben an 5000 Therapeuten            man unterscheiden muss zwischen lös-
                                                                                                wicklung. In einer dritten Phase des basic
der ganzen Welt und ganz verschiedener          baren Problemen und solchen, die nur er-
                                                                                                professional level hängt man einer und
Schulen gezeigt, dass es für die Entwick-       tragen werden können (etwa Krankheiten,
                                                                                                nur einer Theorie an und verteidigt sie mit
lung von Therapeuten Zeit braucht. Sie          Verluste u.a.) und dass manche Probleme
                                                                                                Zähnen und Klauen und die Befunde der
beobachten, dass der Entwicklung von            sich erst lösen lassen, wenn man sich wei-
                                                                                                Autoren zeigen deutlich: wer dieses Sta-
Psychotherapeuten wenig Aufmerksamkeit          ter entwickelt hat. Was einem kindlichen
                                                                                                dium eines „true believers“ nicht durch-
gezollt wurde:                                  Geist ein Problem sein kann, ist es für die
                                                                                                gemacht hat, hat eine Chance, später bei
                                                meisten Erwachsenen nicht mehr.
                                                                                                den ausgebrannten Zynikern zu landen. In
„As a rule, the study of psychotherapies                                                        seiner Jugend gleichsam muss man an et-
has been favored over the study of psy-         Psychotherapie ist weit mehr als „Problem-      was geglaubt haben und diesen Glauben
chotherapists – as if therapists, when pro-     lösen“, sie ist eine mehr und mehr sich         dann auch wieder aufgeben können, weil
perly trained, are more or less interchan-      verselbständigende Profession, was Ro-          man nur dann ein Novize wird – viertes
geable“ (S. 5).                                 bert Holt und William Henry schon 1971          Stadium –, dem es schon gar nicht mehr
                                                vorhergesagt haben, woran Orlinsky und          auf Technik ankommt, sondern der einen
Dieses Manko soll nun beseitigt werden,         Ronnestad mit Nachdruck erinnern, „that         „sense of being on one’s own“ (Ronnestad
aber dazu muss mit Vorurteilen („bias“)         a new international profession has begun        und Skovholdt, 2003, S. 17) entfaltet und
aufgeräumt werden:                              to emerge“ (S. 8). Viele Therapeuten se-        daran Freude hat. Novize also wird man
                                                hen ihre Profession deshalb keineswegs          in dieser empirischen Stufenlehre der
„We think that one reason for this relative     in Analogie zur Wissenschaft, sondern als       therapeutischen Habitusformation, wenn
paucity of research on psychotherapists         Privileg, als kreative Kunst und andere ver-    man seine formelle Ausbildung beendet
is an implicit bias in thinking about the-      gleichen sie mit religiöser, generativer oder   hat. Viele Therapeuten erinnern, erst nach
rapy leading to the assumption that it is       gar spiritueller Erfahrung.                     ihrer formellen Ausbildung wirkliche Ent-
basically a set of methods, techniques, or                                                      wicklungsschritte gemacht zu haben, ein
procedures that are efficacious, in and of      Das wird zur Grundlage der empirischen          empirisch gesicherter Befund, der einem
themselves, in curing or ameliorating psy-      Erhebung, welche die ganz antike Traditi-       zu denken geben kann.
chological and psychiatric disorder …. This     on des Orakels von Delphi („Erkenne Dich
bias is supported by a scientific culture of    selbst“) aufgreift, auf die sich auch Freud     Eine kleine Geschichte passt dazu: ich
modernity that prizes and emphasizes ra-        berufen hatte:                                  hörte einem Gastvortrag von John Klauber
tionality, objectivity, and mechanisms con-                                                     1977 im Frankfurter Sigmund-Freud-Insti-
ceived as impersonal processes … and            „Therapeutic work involves therapists not       tut zu und er beschrieb, dass er 10 Jahre
that views the personal element or the          only as participant-observers of their cli-     gebraucht habe, um sich von den wäh-
subjective equation in human experience         ents’ personal struggles to develop but al-     rend seiner Ausbildung implantierten Vor-
and relations as a source of error in re-       so as reflectively observing participants in    schriften wieder zu befreien. Nachdenken
search to be minimized or controlled (e.g.      their own professional growth. … Indeed,        könnte man hier darüber, wie sich solche
the placebo effect).“                           judging from their own extensive use of         Dezennien verkürzen lassen.
                                                personal therapy …, therapists may well
Eine Bemerkung dieser Art hält fest, wie        be the foremost modern practitioners of         Vergleichbares berichten die von Orlinsky
die Forschung mit ihrer Betonung von            the Delphic oracle’s injunction to ‘Know        und Ronnestadt Befragten auch und wei-
„Effektivität“ sich an der Aufrechterhal-       thyself’“ (S. 16).                              ter, dass die Novizen eine Art Schock er-

380                                                                                                          Psychotherapeutenjournal 4/2007
M. B. Buchholz

leiden, weil sie merken, dass die während     sie begreifen, dass das Spirituelle nicht       werden können. Therapeutische Kom-
der Ausbildung erlernten Techniken kaum       Spezialgebiet ist, sondern Stufe im persön-     petenzen liegen auf einer prozessualen
halten, was ihnen versprochen wurde.          lichen Entwicklungsprozess. Sie entwickeln      Ebene des impliziten Wissens und perso-
Der Schock wird überwunden durch den          Wissen, das nicht repräsentativ-verfügend       nalen Könnens, sie entfalten sich partizipa-
Übergang in die Rolle des erfahrenen Pro-     ist, sondern partizipativ und flüchtig; es      tiv, embodied in Situationen und deshalb
fessionellen. Der übt seine Profession aus    muss aktualisiert werden durch Kontakt zu       flüchtig. Theorie und Behandlungstechnik
durch Anwendung von Technik und Me-           den eigenen Verwundungen. Sie machen            können und müssen diesen Prozess eine
thode, aber keineswegs rigide oder theo-      die Entdeckung, dass es meist nicht viel        zeitlang begleiten, aber Psychotherapie
riekonform, sondern die Entdeckung eines      Neues auf dem Laufsteg der therapeuti-          kann so nicht vollständig definiert oder gar
persönlichen Stils macht den erfahrenen       schen Moden gibt, denn sie haben öfter alt      global gesteuert werden.
Professionellen stolz. Dementsprechend        Bekanntes als dernier cri gesehen. Wenn
heißt es in der Einleitung zum Oxford Text-   sie länger als Ausbildende tätig sind, errei-   Offensichtlich liegen die Philosophie Blu-
book of Psychotherapy (herausgegeben          chen sie die „senior professional phase“        menbergs, die Wissenschaftslehre Pola-
von schulisch verschiedenen Autoren:          und machen die Entdeckung, „too soon to         nyis, Stufenlehren der Pädagogik und der
Gabbard, Beck & Holmes, 2005):                old and too late smart“ (Ronnestad und          empirischen Forschung zur therapeuti-
                                              Skovholt) geworden zu sein, aber sie ent-       schen Habitusformation nahe beieinander.
„Pure forms of psychotherapy are taught       schädigen sich mit einem sicheren Gefühl,       Vielleicht geht es uns wie dem Archäolo-
and tested in randomized controlled trials    das eigene Idiom artikulieren zu können.        gen: dass wir darin etwas finden, was wir
in many universities throughout the world,    Der Gefahr einer möglichen intellektuellen      immer schon gewusst haben.
but most practitioners of psychotherapy in    Apathie arbeiten sie aktiv entgegen, indem
busy practices end up creating their own      sie sich intellektuell lernfähig zu erhalten    Schlussbemerkung
amalgam of pure and mixed models over         versuchen, aber ihr Interesse an Kongres-
                                                                                              Wozu sind diese Überlegungen gut? Kürz-
time, depending on context and patient        sen lässt nach.
                                                                                              lich habe ich davon gehört, dass in einer
need“.
                                                                                              deutschen Großstadt Neubauten zu einem
                                              Diese Entwicklung vom Laien-Helfer über
                                                                                              Klinikum errichtet wurden. Die Architekten
Therapeuten entwickeln persönlichen Stil      den beginning student zum basic profes-
                                                                                              hatten die Psychotherapie mit eingeplant,
höchst variantenreich. Aus der Sicht einer    sional level und weiter zum Novizen, er-
                                                                                              dabei einer Idee wie der folgend, dass Psy-
Forschung, die Standardinterventionen         fahrenen Professionellen und zum Senior
                                                                                              chotherapie zuständig würde, wenn etwa
definieren und hinsichtlich ihrer Wirksam-    spielt sich auf einer prozessualen Ebene
                                                                                              die „compliance“ eines Patienten schlecht
keit prüfen will, folgt daraus babylonische   ab, deren Voraussetzung die basale Ebene
                                                                                              sei. Solche Ideen sind im Prinzip nicht zu
Sprachverwirrung. Aus der Sicht der pro-      ist. Eine reflexive Ebene der Theoriebildung
                                                                                              verwerfen, aber sie zeigen, dass hier auf
fessionellen Praktiker aber ist es gerade     oder der theoretischen Schulenzugehörig-
                                                                                              einem Level gedacht wird, der besten-
notwendig, in vielerlei Zungen zu reden.      keit verliert im Prozess der Habitusforma-
                                                                                              falls den beginning students zugewiesen
Das professionelle Pfingsten antwortet auf    tion mehr und mehr an Bedeutung. Als
                                                                                              werden könnte. Diese erwarten alles von
das empirische Babylon.                       reflexiv bezeichne ich sie deshalb, weil
                                                                                              Optimierung der Technik. Wenn wir die
                                              hier entschieden wird, wie das eigene Tun
                                                                                              Psychotherapie auf dieser Stufe stehen
Hier sieht man eine neue Balance von          bezeichnet wird. Das ist deshalb extrem
                                                                                              lassen, würden wir sie um das Beste brin-
Technik und Beziehung: die schulenge-         schwierig, weil es keine allgemein verbind-
                                                                                              gen. Dass das so ist, kann, wie Untersu-
bundene Technik wurde ebenso gelernt          liche Definition von Psychotherapie bisher
                                                                                              chungen wie die von Orlinsky und Ronne-
wie die Theorie, aber eher im Sinne ei-       gibt, jedenfalls keine, der nicht mit guten
                                                                                              stad zeigen, empirisch erforscht werden.
ner Durchgangspassage, einer Leiter, die      Gründen vielfach widersprochen werden
                                                                                              Man kann aus der empirischen Forschung
man nach erfolgtem Aufstieg nicht mehr        könnte; der erfahrene Professionelle weiß,
                                                                                              lernen, wo deren eigene Begrenzungen
braucht. Verhaltenstherapeuten entde-         dass er Psychotherapie kann, aber nicht,
                                                                                              liegen. Das befreit vom Verdacht der Wis-
cken Widerstand und Übertragung. Der          indem er erklärt, sondern ad oculos de-
                                                                                              senschaftsfeindlichkeit, nur weil man das
erfahrene Professionelle weiß (implizit),     monstriert. Reflexiv – das ist die Ebene der
                                                                                              Intuitive schätzt. Im Gegenteil, man darf
wie manche Patienten für Psychotherapie       Theorie, die bestimmen können müsste,
                                                                                              bessere Wissenschaft fordern, besseres
gewonnen, wie andere engagiert werden         ob ein bestimmtes Tun als Psychotherapie
                                                                                              Verstehen für die Subtilität therapeutischer
müssen und wie man falsche Überzeugun-        (eventuell einer bestimmten Schule) gilt
                                                                                              Prozesse und angemessenere Möglichkei-
gen angeht oder verworrene Vorstellungen      oder nicht. Und wir sehen, dass das so gut
                                                                                              ten für die Psychotherapie als nur die, sie
klärt und auch, wie man sich manchmal         wie nicht geht, denn was erfahrene Profes-
                                                                                              auf dem Level von beginning students zu
gekonnt mit Patienten verstrickt. Erfahrene   sionelle tun ist – Reden! Das schafft eine
                                                                                              verorten.
Professionelle integrieren Technik in einen   schwierige Situation, in der wir anerkennen
weiteren Bezugsrahmen, sie verlassen das      müssen, dass Psychotherapie allgemein
                                                                                              Literatur
kollegiale Feld mehr und mehr, wenden         nicht definiert werden kann, wohl aber in-
sich anderen Themen wie Biographien,          dividuell immer realisierbar bleibt, soweit     Blumenberg, H. (2007). Theorie der Un-
der Anthropologie oder der Musik zu und       basale und prozessuale Ebene etabliert             begrifflichkeit. Frankfurt: Suhrkamp.

Psychotherapeutenjournal 4/2007                                                                                                      381
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