Zur Diskussion Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen
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Zur Diskussion Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen Michael B. Buchholz terrestrischen Beobachter immer die glei- Zusammenfassung: Wissenschaftstheoretische Positionen von Michael Polanyi ma- che sein müsse, egal in welche Richtung chen eine Rehabilitierung des Impliziten Wissens für die Erörterung therapeutischer das Licht versandt würde. Das war deshalb Kompetenz möglich. Die philosophischen Positionen von Hans Blumenberg gestatten, überraschend, weil man ja annehmen das Unbewusste als unbegriffliche Basis der therapeutischen Kompetenz auszuweisen. musste, dass es doch immerhin kleine In die gleiche Richtung weisen Entwicklungen der cognitive science. Therapeutische Differenzen gäbe in jener Richtung, in die Kompetenz muss demnach in Stufenmodellen konzeptualisiert werden. Dafür wird die Erde sich dreht. Hier hätte sich ein Be- auf mehrere empirische Arbeiten, insbesondere auf die von Orlinsky und Ronnestad obachter ja mitbewegt und folglich hätte verwiesen. 1 die Lichtgeschwindigkeit langsamer sein müssen. Die Ergebnisse des Experiments widersprachen jedoch diesen Erwartun- Kleiner Einstieg beim ersten Mal erblickte, habe er ein Ge- gen. Die Geschichte wird so erzählt, dass fühl gehabt, als sei „eine Glasscheibe zwi- Einstein vom Scheitern dieses Experiments Wir wissen immer mehr, als wir zu sagen schen mir und dem Werk“. Andere hinzu- gelesen habe und daraufhin seine neue wissen. Dafür gibt es Beispiele nicht nur gezogene Kunstexperten fühlten nur, dass Konzeption von Zeit und Raum mit der aus der Supervisionspraxis. Der Wissen- etwas „faul“ sei, ohne ihr Unbehagen be- Lichtgeschwindigkeit als einer Konstanten schaftstheoretiker Alan Musgrave schilder- gründen zu können. Erneute Untersuchun- konzipiert hätte. „But the historical facts are te 1993 in seinem Buch „Alltagswissen, gen der Statuette, für die ein Kunsthändler different“, schreibt Polanyi (S. 10) mit Ge- Wissenschaft und Skeptizismus“ ein drol- 10 Millionen Dollar verlangt hatte, erwie- nugtuung. Denn Einstein hatte, wie man liges Beispiel. Hühnerzüchter wollen um sen sie schließlich als Fälschung. Innerhalb seiner Autobiographie sowie weiteren Zeu- des Eierlegens willen nur Hennen aufzie- von wenigen Sekunden war der Kenner zu genberichten entnehmen kann, über diese hen. Küken müssen deshalb im Alter von einem richtigen Urteil gelangt (Klappacher, Frage bereits als 16jähriger gegrübelt. Intu- einem Tag entsprechend sortiert werden, 2006, S. 50f.). itiv, schreibt er dort, sei ihm klar gewesen, aber die Untersuchung durch einen Tier- arzt wäre nicht nur teuer, sondern v.a. zeit- dass die Dinge so verlaufen müssten, wie Beispiele dieser Art werden gerne erzählt, es erst viele Jahre später das Experiment aufwendig. Es hat sich nun herausgestellt, um den Wert der geheimnisvollen Intuiti- gezeigt habe. Anders als bei der Intuition, dass es bestimmte Leute gibt, die auf on spektakulär zu unterstreichen2. Damit die sich in actu und in Echtzeit gegenüber Anhieb sagen können, ob es sich um ein stellt man die Intuition neben andere Wis- einem Problem vollziehen muss, hatte er männliches oder um ein weibliches Küken senszugänge und verrätselt sie zugleich. handelt. Meist sind das Frauen, aber nicht Und wir wollen nicht übersehen, dass die nur. Alle möglichen Untersuchungen ha- Intuition sich ja nur deshalb als wahr her- ben bislang nicht heraus gebracht, wie sie 1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags beim aus gestellt hat, weil sie überprüft werden das machen und auch sie selbst können dritten Berliner Psychotherapeutentag am konnte. Aber es gibt Beispiele, die mehr 1. September 2007. es nicht sagen. Aber es klappt. illustrieren, etwas, was der verstorbene 2 Das interessante Buch von Gigerenzer (2007), Gleich noch ein ganz anderes Beispiel. Ge- Chemiker und Philosoph Michael Polanyi Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung in Berlin, enthält eine orgios Dontas ist Präsident der Archäologi- als „Personal Knowledge“ (1958/62) be- Fülle von Beispielen. Seine Rehabilitation des schen Gesellschaft in Athen. Er erhielt im zeichnete. Die Entdeckung der Relativitäts- Unbewussten in der Kognitiven Psychologie Juni 2005 vom Getty-Museum in Los An- theorie wird in Lehrbüchern der Physik so freut mich als Mit-Herausgeber (neben Gün- ter Gödde) eines dreibändigen Werkes über geles eine Statuette mit der Mitteilung, die dargestellt, dass Einstein 1905 von den „Das Unbewusste“ besonders auch deshalb, monatelangen High-Tech-Untersuchungen, Michelson-Morley-Experimenten und de- weil er mit Begriffen wie „Der unbewusste u.a. mit dem Elektronenmikroskop, hätten ren negativem Ausgang erfahren und die Schluss“ (S. 105) dem Unbewussten damit entsprechenden Schlüsse gezogen habe. kognitive Fähigkeiten zuspricht, wie Freud ergeben, dass diese Marmor-Statuette als das in der „Traumdeutung“ begann, als er da- echt und als einige tausend Jahre alt zu Diese Experimente basierten auf der Idee, von sprach, dass das Träumen eine Form des qualifizieren sei. Aber als er die Statuette dass die Lichtgeschwindigkeit für einen Denkens sei. Vgl. Buchholz (2005 a und b). Psychotherapeutenjournal 4/2007 373
Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen „personal knowledge“ über einen erst sehr zum Begriff. Hier, bei der Unbegrifflichkeit, purer Empirismus, bloße Ansammlung von viel später experimentell geprüften Sach- wären psychotherapeutische Kompeten- Daten scheint ihm selbst im Labor sinn- verhalt. zen wohl in allererster Linie zu verorten. los, wenn nicht ein Forscher dabei ist, der Dazu will ich einleitend einige Bemerkun- Muster oder Gestalten zu erkennen in der Es gibt ein Wissen außerhalb des wissen- gen machen, die auf Blumenberg und Mi- Lage wäre. Ohne das, was Kant Urteils- schaftlich Geprüften. Polanyi hält es für chael Polanyi beruhen; dann will ich eine kraft genannt hatte, könnten Daten nicht einen ausgemachten Irrtum zu meinen, empirische Studie referieren, die, obwohl in Ordnungen gebracht, Gestalten nicht dass Wissenschaft v.a. in der Prüfung von philosophisch ohne Ehrgeiz, solche Ideen wahrgenommen und Muster nicht mit Aussagen besteht. Für ihn ist der weit für die Entwicklung psychotherapeutischer anderen Mustern verglichen werden. Wis- wichtigere Schritt die Entdeckung eines Kompetenzen empirisch bestens belegt senschaftstheorie ist für ihn deshalb v.a. als interessanten Problems, die sich immer hat und schließlich Überlegungen ein- Wissenschaftspsychologie zu betreiben. aus persönlichem Wissen ergibt. So sieht streuen, was das alles für die Ausbildung Interessanterweise erläutert Polanyi das es auch der Chemiker Theodore L. Brown von Psychotherapeuten bedeuten könnte. am berühmten Menon-Paradox aus dem (2003). Auch Freud hatte schon seinen Gespräch des Sokrates mit jenem Menon. Abitursaufsatz über das Drama des Ödipus Unbegrifflichkeit und implizites Sokrates erläutert dem verblüfften Schüler, geschrieben. Von vielen weiteren Geistes- Wissen wie der Mensch denn etwas entdecke? größen wissen wir, dass sie ihr Lebenswerk Wenn er es schon weiß, dann sucht er es darauf ausrichteten, Beweise für frühe In- Der 1891 in Berlin geborene Michael nicht, denn er kennt es ja schon. Wenn er tuitionen zu finden. „Personal knowledge“ Polanyi4, 1933 als Folge der Bedrohung aber gar nichts davon weiß, dann weiß er motiviert die Arbeit der Wissenschaft mehr, durch die Nazis nach England geflohen, auch nicht, worauf er seine Suche richten als in Poppers Falsifikationismus Platz hat3. dort Professor der Chemie in Manchester, soll und entdeckt es auch nicht, selbst wechselt, nachdem er mehr als 200 na- wenn er es vor der Nase hätte. Und Pola- Der Zugang zur Welt, der hier anvisiert ist, turwissenschaftliche Arbeiten in der Nähe nyi fügt hier an: liegt vor dem Experiment. Er ist primär in des Nobelpreises veröffentlichte, in seiner dem Sinne, dass einer ihn haben muss, zweiten Lebenshälfte auf den für ihn ein- „Aber wie kann man ein Problem erken- bevor er überhaupt Experimente sich aus- gerichteten Lehrstuhl für „social studies“, nen, ein beliebiges Problem, ganz zu denken kann. Das hatte Freud in einem ebenfalls in Manchester, wo er, freigestellt schweigen von einem guten und originel- Brief aus dem Jahre 1911 hellsichtig formu- von allen Lehrverpflichtungen, seine Arbei- len? Denn ein Problem sehen heißt: et- liert, als er meinte, „dass ich gar nicht für ten über die Rolle des impliziten Wissens was Verborgenes sehen. Es bedeutet, die den induktiven Forscher organisiert bin, bin systematisch weiter zu entfalten beginnt. Ahnung eines Zusammenhangs bislang ganz aufs Intuitive angelegt, und dass ich Leser des Säuglingsforschers Daniel Stern unbegriffener Einzelheiten zu haben“ (Po- mir eine außerordentliche Zucht angetan (2004) können sofort Verbindungen er- lanyi, 1985, S. 28). habe, als ich mich an die Feststellung der kennen. Stern spricht vom „impliziten Be- rein empirisch auffindbaren Psychoana- ziehungswissen“ als einer empfindlichen Und diese Ahnung bezeichnet Polanyi als lyse machte“ (Freud an Jung, 17.12.1911). Dimension menschlicher Bezogenheit, implizites Wissen. Man muss – eben wie Die Beschränkung des Wissbaren auf das etwa zwischen Mutter und Säugling. Po- Einstein oder Freud oder der Archäologe Sichtbare oder sichtbar zu Machende ha- lanyi hatte das implizite Wissen vor Stern oder die Hühnerzüchter – etwas schon be unser Denken verwüstet. Polanyi rückt beschrieben und nicht auf menschliche den Popper’schen Falsifikationismus zu- Beziehungen beschränkt, wohl aber das recht, wenn er darauf hinweist, dass Wis- Implizite dort auch gesehen. senschaftler nicht etwa danach streben, ihre Theorien zu falsifizieren; sie streben Polanyi ist ein für unsere Thematik interes- vielmehr danach, sie zu belegen und sind santer Autor, weil er von der harten Natur- bereit, wenn redlich, Widerlegungen zu wissenschaft über erkenntnistheoretische 3 „Objectivism has totally falsified our concep- tion of truth, by exalting what we can know riskieren. Wissenschaftler haben metaphy- Themen bei Grundfragen einer philoso- and prove, while covering up with ambigu- sische Überzeugungen, sie glauben be- phischen Anthropologie und Psychologie ous utterances all that we know and cannot stimmte Dinge auch dann, wenn sie nicht ankommt. Für ihn ist Wissenschaft etwas, prove, even though the latter knowledge underlies, and must ultimately set it seals oder noch nicht bewiesen sind. das nicht durch Regeln (des logischen to, all that we can prove. In trying to restrict Schließens oder der Falsifikation etwa) our minds to the few things that are demon- Solche Weltzugänge zeichnete der 1996 zu verstehen ist, sondern durch einen strable, and therefore explicitly dubitable, it has overlooked the a-critical choices which verstorbene Philosoph Hans Blumenberg letztlich nur metaphysisch verstehbaren determine the whole being of our minds and als unbegrifflich aus. Sie sind Grundlage Glauben an die Existenz einer Wahrheit; has rendered us incapable of acknowledging des wissenschaftlich-begrifflichen Wissens, Polanyi ist überzeugter Realist und könnte these vital choices” (Polanyi, 1958/62, S. nicht also etwa dessen Steigerung. Es gibt es als ein durch die harte Schule des na- 286). 4 Über dessen Biographie und Philosophie in- demnach eine Reihenfolge der Entwick- turwissenschaftlichen Labors gegangener formieren Scott und Moleski (2005) sowie lungsdynamik von der Unbegrifflichkeit Wissenschaftler gar nicht anders sein. Aber M. T. Mitchell (2006). 374 Psychotherapeutenjournal 4/2007
M. B. Buchholz wissen, damit man es auch „sehen“ kann5. als bloß Bezeichnungen für Sachen, dass die Fähigkeit von Neuronengruppen zur Das macht verständlich, wie wir neuen sie oft genug Gegenstände erst schaffen Selbstorganisation nachzubilden versuch- Situationen begegnen und sie als neu er- und das gilt namentlich für Gegenstände ten; dies aber weniger technisch, sondern kennen, obwohl wir sie auf der Grundlage der Mathematik. Es geht also nicht nur um vor allem mathematisch. Dabei stößt er eines alten, schon verfügbaren Wissens psychotherapeutische, es geht um wissen- auf die Schwächen des Computermodells, bewältigen. schaftliche Operationen schlechthin! Und die er genau beschreibt: dabei kommt der Begriff des Unbewussten Nichts anderes beschreibt das Konzept der auf eine beachtliche Weise ins philosophi- “Das Ergebnis der Erfahrungen in den ers- Übertragung6. Der neue Gesprächspart- sche Spiel. ten beiden Dekaden der Herrschaft des ner, eine Therapeutin oder ein Therapeut, Kognitivismus lässt sich am besten in der wird als fremd und neu erlebt, aber auf „Ich meine noch einen anderen Sachver- folgenden Überzeugung formulieren, die der Grundlage schon verfügbaren Wissens halt, der sich dadurch von dem der Erzeu- schrittweise in der Forschergemeinschaft und Erlebens wird das bewältigt. Deutlich gung mathematischer Begriffe unterschei- entstanden ist: Es ist notwendig, die Po- wird die therapeutische Situation beschrie- det, dass er einen Zugang in die Empirie sition des Experten mit der des Kindes zu ben: eine Entdeckung machen, von der eröffnet. So etwas ist der Begriff des Unbe- vertauschen, was die Rangfolge der Leis- ein uns aufsuchender Mensch noch nicht wussten. Wenn man darüber nachdenkt, tungen angeht. Die ersten Versuche richte- einmal eine Ahnung hat. Wegen der ge- wie der Begriff zu Stande gekommen ist ten sich auf die Lösung der allgemeinsten nau er aber kommt – obwohl er das nicht und wie er sich geschichtlich transformiert Probleme, etwa der Übersetzung natürli- sagen könnte! Eine Entdeckung, die ein hat, kommt man aus dem Staunen darü- cher Sprachen oder der Konstruktion ei- Therapeut aber auch noch nicht wissen, ber nicht heraus, wie zeugungskräftig eine nes allgemeinen Problemlösers. Alle diese sondern allenfalls ahnen kann und die wir solche begriffliche Prägung sein kann. Es Versuche zielten auf die Objektivierung verhindern, wenn wir mit zuviel Theorie sieht wirklich so aus, als läge hier zunächst der Intelligenz eines Menschen, der ein oder mit zuviel Kompetenzüberlegenheit nur ein Wort vor, welches überhaupt keine hochausgebildeter Experte ist, also auf die die Erfahrung indoktrinieren oder wenn Hilfe anbieten, einen Gegenstand, einen Lösung der interessanten, ‚harten’ Proble- wir reduktionistisch die „Störung“ „erklä- Sachverhalt, einen Prozess zu erfassen... me. In dem Maße, in dem diese Versuche ren“ würden – wir würden epistemisches Das Unbewusste wird in vergleichbarer bescheidener und begrenzter wurden, Wissen anbringen und das macht, das Weise erschlossen, wie Kant es für die wurde klar, dass die weitaus komplexere kann ich jetzt metaphorisch sagen, in der Freiheit behauptet hatte.“ (Blumenberg, und grundlegendere Art der Intelligenz Behandlungssituation nicht satt. Bemer- 2007, S. 40 f). die des Kleinkindes ist, das Sprache aus kenswerterweise heißt Polanyis Buch im fragmentarischen alltäglichen Äußerungen Englischen „The Tacit Dimension“ – als Aus der philosophischen Perspektive Blu- aufbauen und dort bedeutsame Gegen- hätte er den Wert des therapeutischen menbergs erhält die Idee des Unbewuss- stände konstruieren kann, wo es nichts als Schweigens schon würdigen können. ten, als einer relevanten Wissensdimensi- eine Lichterflut zu geben scheint.“ (Varela, Freud hatte für das Zuviel an Reden den on, Auftrieb. Wissenschaftler verarbeiten 1990, S. 56 f.) schönen Vergleich, dass wir in Zeiten der nicht nur Informationen, was die immer Hungersnot nur Speisekarten ausgeben noch gängige Annahme in weiten Teilen 5 Davon liefert ein sehr schönes Beispiel der würden. Implizites Wissen, das von Polanyi Schriftsteller Martin Mosebach in seinem der cognitive science ist, sondern sie „se- Roman „Das Beben“ (2005, S. 158). Der auch als „stilles“ handwerkliches Können hen“ – wenn man auf den genauen meta- Ich-Erzähler kommt nach Indien ins kleine etwa im Labor angesprochen wird, wäre phorischen Klang dieses Wortes hier hört Königreich Sanchor, wo ihm das Staatsarchiv jene Dimension therapeutischer Kompe- gezeigt werden soll; der Brahmane fragt ihn – ganzheitliche Zusammenhänge. „Was wünschen Sie zu sehen?“ und dann tenz, die wir als paradoxe Form der Teilha- schreibt Mosebach: „Seine Frage allein war be ansprechen: nur dort, wo ein Therapeut ein Tadel. Er sprach damit zugleich aus, dass Die überlegene Intelligenz des auch Patient in dem Sinne sein kann, dass ich ehrlicherweise hätte zugeben müssen, Gelehrten Säuglings nicht zu wissen, was hier sehenswert sein er etwas in sich entdeckt (Polanyi spricht könne. Was wusste ich über Sanchor? War von „indwelling“), das dem Leiden seines Sowohl Polanyi als auch Blumenberg ha- ich Staatsökonom oder Historiker? Was ging Patienten nahe kommt, das er näherungs- ben Recht mit der Idee, dass dem wissen- mich die Rechnungslegung des Finanzminis- schaftlich-begrifflichen Denken etwas als teriums von Sanchor an? Mein Schweigen er- weise aus eigener Erfahrung kennt, kann kannte er hoffentlich als Zeichen gebotener er in hilfreichen Kontakt treten; implizites dessen Basis vorausgeht. Francisco J. Va- Bescheidenheit.“ Wissen ist unverzichtbare Basis therapeu- rela ist wohlbekannter Biologe und Kyber- 6 Übertragung und Widerstand werden neu- tischer Kompetenz. netiker, der 1990 ein Buch über „Kogniti- erdings auch von Verhaltenstherapeuten als behandlungsrelevant reklamiert: „As in other onswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine therapies, the behaviour therapist may be fa- Auch der Philosoph Hans Blumenberg Skizze aktueller Perspektiven“ publizierte. ced with phenomena such as resistance or (2007) könnte dafür in Anspruch ge- Darin fasste er aktuelle Trends zusammen transference.“ (Emmelkamp et al., 2007, S. und suchte nach Lösungen für bestehende 65) Allerdings informiert man sich über diese nommen werden, die Unbegrifflichkeit als beiden Konzepte doch besser an der Quelle. Basis des Begreifens auszuweisen. Blu- Schwierigkeiten in diesem Feld. Er zeich- Erfreulich, dass diese Dimensionen des The- menberg weiß, dass Begriffe mehr sind net nach, wie Kognitionswissenschaftler rapeutischen anerkannt werden. Psychotherapeutenjournal 4/2007 375
Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen Das ist das, was Wilfried Bion 1961 die der Intelligenz“ von Kleinkindern vermag. könnte hergehen und die Eigenschaften „embryology of the mind“ nannte und es Just das hatte Ferenczi gemeint, als er des unabhängigen Denkens beschreiben, ist die genaue Analogie zu Blumenbergs (1923) in seinem berühmten Aufsatz vom anhand von Vorbildern wie Montaigne, „Unbegrifflichkeit“: Wer mit „hochaus- „gelehrten Säugling“ sprach. Wir können Lessing, Friedrich Schlegel oder anderen gebildeten Expertentum“ auf dem Level ermessen, welche verheerenden Folgen (Bohrer, 2007). Aber keiner könnte aus des Begriffs beginnt, ignoriert, was schon es hätte, wenn wir die Psychotherapie von diesen Eigenschaften das zusammenset- Kleinkinder können: unbegrifflich denken dieser Dimension des impliziten Wissens zen, was unabhängiges Denken meint. und unbegrifflich sein (nicht aber: unbe- entsorgen würden. Und selbst wenn man das könnte, wäre greiflich!). Und er macht den Denkfehler, es genau das nicht, sondern nur die Kopie den Wittgenstein in den „Philosophischen Knowledge und Knowing von unabhängigem Denken. Das also ist Untersuchungen“ am Beispiel des Spra- das, was mit dynamisch gemeint ist. cherwerbs untersuchte. Kinder lernen Weil diese Frage so elementar ist, will ich Sprache nicht, indem man auf Dinge zeigt mich noch etwas bei Polanyi aufhalten, Psychotherapeutische Kompetenz sich und ihnen dann die bezeichnenden Worte mit dem Ziel, verschiedene Wissensfor- als Wissensanwendung vorzustellen, ent- vorspricht. So lernt man allenfalls zweite men genauer fassen zu können. Polanyi, springt somit (Klappacher, 2006, S. 24) Sprachen, Fremdsprachen. Erste Sprachen wenn er absoluter Realist ist, dann ist er einem Kategorienfehler. Wer sich gekonnt werden als Mitglied einer Lebensform ge- auch, in den Worten von Douglas Hof- verhält, tut das nicht deshalb, weil er ein lernt – und dann ganz „nebenbei“. (Vgl. stadter, „holist par excellence“. (Vgl. dazu set von Regeln schon im Kopf hätte, son- dazu Tomasello, 2001 und 2003) Klappacher, 2006) Was Wissenschaftlern dern weil er sich so verhält, als ob er diese einleuchtet, ist nicht einzelnes Faktum Regeln im Kopf hätte. Eben deswegen tun Teilhabe an der Lebensform aber ist basaler oder ein aufgestellter Satz, sondern ein sich Profis wie der Athener Archäologe, so als das Begriffliche, es ist vor allem „embo- System von Sätzen. Was wir im Deutschen schwer damit, ihre Wissensbasis zu expli- died“ und es ist an Situationen gebunden. als „Wissen“ übersetzen müssen, wird bei zieren. Sie haben einfach „ein Gefühl“ (so Daraus erst das Begriffliche erwachsen zu Polanyi unterschieden in „knowledge“ und sieht es auch Gigerenzer, 2007) und wol- lassen ist das, was die „grundlegendere Art „knowing“. Ersteres meint jenes sagbare, len ansonsten in Ruhe gelassen werden. formulierbare und mitteilbare Wissen, das Können, so dürfen wir festhalten, ist ver- in die Lehrbücher eingeht; letzteres den körpert, es ist dynamisch und es ist situiert. Prozess der Generierung von Wissen, der Damit kann es auch als flüchtig bezeichnet dem Lehrbuchwissen weit vorgelagert ist. werden. Knowing ist keine Begrifflichkeit der Re- präsentation; implizites Wissen besteht für Genau das macht die Situation des profes- Polanyi nicht aus mental repräsentierten sionellen Psychotherapeuten aus. In seiner Psychotherapie Regeln, die – etwa in Manualen – formu- Arbeit verhält er sich, als ob er Regeln fol- Fortbildung 2008 liert werden könnten, um von anderen ge und „knowledge“ anwende, während dann mit gleichen Ergebnissen angewandt er wahrscheinlich vielmehr von dem, was werden zu können. Er stellt sich das eher Polanyi als „knowing“ bezeichnet, betreibt. vor wie das Erlernen des Fahrradfahrens. Er ist körperlich präsent und folgt den Si- ! aktuelle Themen / Methoden Nur ein zerstreuter Professor würde es gnalen seines Körpers, er handelt in Si- Trauma, Schmerz, Raucherentwöhn., Universität Tübingen versuchen, indem er Gesetze der schie- tuationen und er kann das nur, soweit er Depression, Tests, Kurzzeittherapie, Angst, Paartherapie, Rechtsfragen fen Ebene und des freien Falls anwendet. im Fluss der Ereignisse mitschwimmt, al- ! Psychotherapeut. Zusatzausbildungen Für Polanyi ist knowing immer ein embo- so soweit er sich dynamisch einstellt. Aus Hypnose, Autogenes Tr., Verhaltenstherapie died knowing. Ohne das handwerkliche der hier entwickelten Sicht wäre somit der Tiefenpsychologie, Psychodynamische PT Geschick des versierten Labortechnikers, Versuch, Psychotherapie zu manualisieren, ! Therapie f. Kinder und Jugendliche ohne das Feingefühl fürs Material könnte ein schwerer Fehler, weil damit das Kön- Hör- / Sprachentwicklung, LRS, ADHS, sich jener Sinn für Situationen nicht entfal- nen des Psychotherapeuten einem frem- Kinderhypnose, Verhaltensstörungen ten, den ein guter Wissenschaftler braucht. den Regime, dem statischen Knowledge, Ängste, Elternarbeit Knowing – das ist eigentlich ein Können7, unterworfen würde. ! Supervisions-Ausbildung (DGSv) das wir zwar im Nachhinein (!) als „Wis- ! Weiterbildung Psychotherapie sen“ in manchen Fällen zu rekonstruieren Das statische knowledge wird auch als Facharztausbildung / Zusatzbezeichnung: vermögen, das aber nicht von vorneherein epistemisches Wissen bezeichnet. Zwi- Verhaltensth., Tiefenpsych., Psychodyn. PT Psychosomatische Grundkompetenz als Wissen auch im Kopf desjenigen vor- handen ist, dem wir Können zusprechen. Können ist, wie Donald Schön (1983) im- 7 Ich habe in meinem Buch „Psychotherapie mer wieder beschrieben hat, dynamisch; als Profession“ das Können als die zentrale Wilhelmstraße 5, D-72074 Tübingen Dimension psychotherapeutischer Kompe- knowledge ist statisch. Wer etwa über die tenz in einigen Dimensionen detailliert be- 07071 / 29-76439, -76872 FAX: 29-5101 Fähigkeit, unabhängig zu denken, verfügt, schrieben. wit@uni-tuebingen.de, http://www.wit.uni-tuebingen.de 376 Psychotherapeutenjournal 4/2007
M. B. Buchholz schen epistemischem Wissen und Können Aus diesem Grund scheitern alle Ratgeber, psychotherapeutische Weiterbildung etwa lässt sich noch das Alltagswissen verorten „wie man eine Frau anspricht“ – die dort so gestellt werden könnten: Wenn ein Su- (Huppertz, 2006). Epistemisches und All- formulierten Regeln artikulieren ein epis- pervisand Fortschritte in einer Supervision tagswissen sind hochgradig symbolisch, temisches oder Alltagswissen, das in sol- macht – wie kann man das verstehen? Ist etwa in Wissenschafts- und Alltagsspra- chen Situationen gerade nicht gebraucht es so, dass er am Ende der Supervision je- che, das Können hingegen weit weniger. wird, weil es auf embodied knowledge nes Wissen in seinem Kopf hat, das vorher Alle drei weisen unterschiedliche Grade ankommt. im Kopf des Supervisors war? Kann man der Systematisierung auf, aber auch un- sich das so vorstellen? Der Sinn einer sol- terschiedliche Kontextabhängigkeiten. Stufen des Könnens – Verzicht chen Frage liegt natürlich darin, sie zu ver- Epistemisches Wissen ist hochsystema- auf Regeln neinen, aber wie dann? Selbst wenn der tisiert und kontext-unabhängig, Können Können erwirbt man nur durch eigene Supervisand gleiche Begriffe benutzen wür- hingegen ist immer gering systematisiert, Praxis, durch Versuch und Irrtum, durch de wie der Supervisor – wäre das vielleicht situativ variabel und damit kontextabhän- Herausfinden der Regeln und deren An- Indiz für gleiches Wissen (knowledge), gig. Epistemisches Wissen besteht lange in sammlung zu einem Erfahrungsschatz. Sol- aber müssten wir nicht auf „knowing“ hin- der Zeit und wird regelgeleitet verändert, cherart erworbene Regeln können nur im aus? Das Konzept eines impliziten Wissens während Alltagswissen sich schleichend Nachhinein reflektiert werden. Dabei kann trägt hier weiter – gute Supervision muss verändert und Können selbst flüchtig, an man sich täuschen, wenn man meint, man nicht nur knowledge vermitteln, sondern Situationen gebunden ist. Therapeutisches habe Regeln „angewendet“. Hier gilt, dass implizites Wissen fördern. Können ist abhängig davon, dass man ei- Können immer nur so a u s s i e h t , als nem wirklichen Patienten gegenüber sitzt, ob es von Regeln geleitet sei, die dann Georg Hans Neuweg (2004) verweist auf dass ein echtes Anliegen zur Sprache kom- nachträglich rekonstruiert wurden. Aber Bereiche der Pädagogik, die uns belehren men kann etc., deshalb ist therapeutisches wenn man Können allein von Regeln her können, etwa durch Experten-Novizen-Ver- Können schwer in epistemisches Wissen aufbauen wollte, würde man scheitern. gleiche. Es gibt sog. „nicht-saliente“ Lern- zu übersetzen. Und schließlich erfordern Das gilt sowohl für das gekonnte Öffnen aufgaben, die sich nicht durch Verfügung alle drei Bereiche unterschiedliche Weisen einer Weinflasche, für das Binden von über Information auszeichnen, sondern in des Lehrens: epistemisches Wissen kann Schnürsenkeln, das Lernen eines Musikin- der Bewältigung einer Handlungsaufforde- explizit im Abgleich von Empirie und Theo- struments oder für das gekonnte Beginnen rung. Übersetzungsaufgaben gehören da- rie vermittelt werden und hier können For- eines schwierigen Gesprächs. Wer das nur zu, aber auch der Vergleich zweier Bilder, men des Massen-Unterrichts angewandt (!) aus Regeln – also ohne Veranschauli- die Fähigkeit, ein Interview zu führen oder werden, etwa in Vorträgen, Seminaren chung in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis – ein Stück nach Noten vom Blatt zu spielen. oder mittels Medien. Wissen kann gelehrt lernen wollte, würde scheitern. Es braucht Wer prüfen will, ob einer das kann, wird werden, Erfahrungen muss man machen. das Embodiment, das körperliche Gefühl sich nicht Regeln erklären lassen, sondern Alltagswissen hingegen braucht partiell für Zugnotwendigkeit, Kraftaufwand und den Probanden in eine entsprechende Si- die persönliche Anleitung durch eine Art Widerstand am Korken, für den Eigensinn tuation führen. Hier gilt Wittgensteins Ma- Vorbild (Kochen lernen, oder wie man des Schnürsenkels, für die Handstellung xime: „Denk nicht, schau!“ Fremden höflich begegnet), aber auch beim Musikinstrument, für die Präsenz Ausbildung eines Sinns für Situationen, et- des Anderen. Kompetenzerwerb braucht Die Tatsachen und Faktoren sind in solchen wa wann man einen Witz erzählen kann manchmal Stützen, doch das sind nur Situationen unvollständig, sogar mehrere oder wann man das besser lässt, mit wem Etappen auf dem Weg zum Können. Muster können gesehen, verschiedene man klatscht oder wie man flirtet. Episte- Ziele angesteuert werden; auch ist nicht misches Wissen, das auf Vereindeutigung Können, also implizites Wissen, also Kom- ganz klar, welche Informationen relevant drängt, wäre in solchen Alltagssituationen petenz, baut sich auf in Stufenprozessen. sind und welche vernachlässigt werden ganz falsch; wer fragt, was ein zugeworfe- Dafür hat man sich in der Pädagogik sen- können. Können besteht sogar zu einem ner Blick bedeutet, zerstört die Situation. sibilisiert. Dort interessieren Fragen, die für Teil darin, Information zu ignorieren! (Und Psychotherapeutenjournal 4/2007 377
Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen natürlich gekonnt zu wissen, welche). Das Im Stadium des fortgeschrittenen Anfän- intuitiv Erwartungen (Neuweg, S. 309) wei- ist der Fall etwa beim Treffen von Kaufent- gers begreift der Lernende die Wiederkehr ter aus. Er folgt weniger präzisen Regeln als scheidungen, beim Schachspiel (das Freud einzelner bedeutungsvoller Elemente, die offenen Maximen. Ein guter Lehrer erkennt als Vergleich für die Psychoanalyse diente) nicht über präzise Definitionsregeln erfass- sofort, wenn die Arbeit einer Schülerprojekt- oder beim Autofahren. In all diesen Situ- bar sind, sich deshalb auch nicht eindeutig gruppe nicht „läuft“, muss aber auf diesem ationen gibt es zwar ein bestimmtes Set lehren lassen, sondern voraussetzen, dass Niveau noch überlegen, wie er eingreift. von Regeln wie in der Erhebung einer der Lernende sich im Problemfeld schon Anamnese oder in den Anfangssituationen länger aufhält. Dazu gehören etwa die Fä- Wer zu dieser Stufe gelangen will, kann einer psychotherapeutischen Behandlung higkeiten von Hundehaltern, verschiedene nicht mehr durch Begrifflichkeit, Analyse – aber der Weg vom Novizen zum Kön- Arten des Bellens zu unterscheiden oder und Verbalisierung, unterrichtet werden; er ner besteht gerade darin, diese Regeln das, woran wir erkennen, dass ein ande- muss vielmehr an prototypischen Situati- irgendwann hinter sich zu lassen. Überall res Auto, das auf eine Kreuzung zufährt, onen lernen. Im Fall der psychotherapeu- gilt, dass Könner Regelwissen hinter sich halten wird. Solche Momente werden als tischen Weiterbildung käme hier die Kon- lassen, freilich erst, wenn sie lang genug physiognomische Elemente bezeichnet, frontation mit Fallbeispielen ins Spiel, die mit verschiedenen Fällen zu tun hatten. weil sie das „Gesicht“ einer Situationsge- in Vieldeutigkeit und Detailliertheit alltäg- stalt erfassen. Hier müssen Lernende auf lichen Situationen real vergleichbar sind. “Die bewusste Verarbeitung isolierter Ele- präzise Definitionen situationaler Aspekte Hier auf kontextfreies Regelwissen oder mente und Regeln, die die ersten Lernstadien geradezu verzichten, man muss an Bei- auf Anwendung allgemeiner Theorien zu kennzeichnet und die sich in Computerpro- spielen lernen. Der Lernende bleibt aber rekurrieren würde Lernende, die diese Stu- grammen objektivieren lässt, wird allmählich gleichsam „Pedant“ (Neuweg, S. 306), fe erreicht haben, nur frustrieren. durch ein nur durch den Menschen anei- weil er sich noch arg an Regeln hält selbst genbares holistisches Wahrnehmen ganzer dann, wenn die Gesamtsituation eigentlich Im fünften Stadium des Könnens Intuitives Situationen, durch ‚situatives Verstehen’ er- den Regelverstoß verlangt. Handeln wird die Antwort nun gleichsam setzt, wobei schließlich in der Situation die automatisch ausgelöst. Nicht mehr auf adäquate Verhaltensweise gleichsam schon Deshalb ist die zentrale Errungenschaft Elemente wird regelgeleitet reagiert, son- mitgesehen wird. Diese Fähigkeit kann nur der dritten Stufe das Kompetenzstadium. dern Elemente haben sich zu komplexen in einem Prozess ausgedehnter Erfahrung Hier begreift der Lernende, dass er mit Situationen und Klassen von Situationen erworben werden.“ (Neuweg, S. 298) einer Perspektive an die Situation heran- gruppiert, für die Handlungsalternativen treten muss, die gestattet, die einzelnen und Antworten zur Verfügung stehen, die Die Stufen dieses Prozesses gibt Neuweg Aspekte und physiognomischen Elemente bildhaft und nicht begrifflich (Neuweg, S. unter Verweis auf verschiedenste Lern- nicht mehr absolut zu nehmen, sondern 311) im Gedächtnis aufbewahrt sind. Lehr-Bereichen so an: zu gewichten – aus der perspektivischen Betrachtung der Gesamtgestalt heraus. Au- Auf dieser Stufe entfällt strategisches Pla- In einem ersten Novizenstadium wird der tofahrer wollen an einem Ziel ankommen nen, weil es Antipode zum Intuitiven Han- Lernende mit gleichsam ‚schriftlichen’ Ins- und erwägen verschiedene Wege, be- deln wäre, dem jetzt viel mehr zugetraut truktionen ausgestattet. In einem Prozess schleunigen kurz vor dem Rotwerden der wird. Das physiognomische Erkennen von bottom-up lernt der Novize jene abstrak- Ampel noch rasch etc. Aber der Lernende Situationen, das verkörperte Wissen, die ten Merkmale kennen, die eine Aufgabe benutzt immer noch ein Kalkül, auch wenn situative Teilhabe ermöglichen intuitiv rich- bestimmen. Diese Merkmale sind nicht- sein emotionales Involvement schon weit tiges Reagieren unter Verzicht auf sämtli- situational; sie erfordern gerade nicht, höher ist und als solches bemerkt wird. che relevanten Informationen; die Situati- dass der Lernende sich auf die Situation Denn er fühlt sich verantwortlich, auf ihm on als ganzes wird erkannt. Aber Könner einlässt. Solange er die Merkmale nur ein- lasten Folgen von Entscheidungen. analysieren Situationen natürlich dennoch, zeln wahrnimmt, erschließt sich dem Ler- nämlich genau dann, wenn sie bemerken, nenden die Gesamtstruktur der Situation Im Stadium des gewandten Könnens er- dass sie für bestimmte Situationen keine gerade nicht und ebenso wenig, dass die kennt der Lernende Situationen als Ganzes, Könner sind. Sie oszillieren dann zu den Bedeutung der einzelnen Merkmale sich erwirbt mit der Fähigkeit zum Handeln aus Modalitäten früherer Stufen zurück, weil erst aus der Wahrnehmung der Gesamtge- einer gewählten Perspektive entschieden sie ihre Kompetenzgrenzen erkennen und stalt ergibt. Der Lernende, etwa ein Fahr- Urteilskraft; er durchdenkt Situationen nicht sich in jedem Fall wieder auf das höchste schüler, lernt kontextunabhängige Regeln. mehr sequentiell step-by-step, sondern han- Niveau bringen wollen. Sie iterieren den Charakteristischerweise müssen Leute, die delt auf der Basis holistischen Erkennens von Prozess der Könnerschaft immer erneut dieses Stadium längst hinter sich gelassen situativen Ähnlichkeiten so wie wir Gesichter und immer gekonnter. Könner wissen um haben, sich angestrengt daran erinnern, erkennen, nämlich ohne die Merkmale im etwas, das Polanyi so ausgedrückt hat: welchen Regeln sie eigentlich folgen – so Einzelnen zusammen zu fügen. Der Lernen- haben etwa Krankenschwestern, bei de- de hat eine Vorstellung über den erwartba- „We alone can catch the knack of it; no nen jeder Handgriff längst „sitzt“, Mühe, ren, „normalen“ Ablauf der Dinge, wo kein teacher can do this for us“ (Knowing and diese Schritte zu lehren. Eingreifen erforderlich ist und gestaltet damit Being, 1969, S. 126). 378 Psychotherapeutenjournal 4/2007
M. B. Buchholz Nicht Planung für die Zukunft, sondern Stadien, eine solche Frage eher als Kritik implizites Wissen. Nachträglich kann man das Erkennen der Rolle der Gegenwart ist auffassen, würden sich verprellt fühlen o. eine Theorie aufstellen, aber sie kann un- hier einer der entscheidenden Lernschrit- dergl. Dem stimmte die systemische Kolle- mittelbar nicht angewendet werden, weil te. Diese „Zielorientierung des Handelns gin zu und wir klärten, dass solche Fragen es gerade auf die unbewussten Fähigkei- ohne bewusste Zielsetzung“, wie Neuweg dennoch Sinn machen, wenn sie einge- ten von Therapeuten ankommt, sich für (S. 312) das paradoxale Moment genau bettet sind in ein konversationelles „soft solche Dinge zu sensibilisieren. Es gibt beschreibt, kommt dem psychothera- environment“. Solche Fragen kommen an, Vergleichbares auf der Ebene des Sprachli- peutischen Kompetenzerwerb sehr nahe, wenn sie „weich“ gestellt werden; der The- chen, etwa bei gemeinsamen Fehlleistun- was aufregend deshalb ist, weil in diesem rapeut zeigt gerade in seinem einleitenden gen oder wenn Therapeuten absichtslos Modell ganz andere Lernentwicklungen zu Gestotter und Gestammel, an der Art, wie Worte verwenden, die fulminante Wirkung Könnerschaften beschrieben werden. Dies er die Technik platziert, an welcher Stelle haben. Die Theorie kommt erst hinterher. Modell ist für nicht-psychotherapeutische des Gesprächs er sie ein- und anbringt, Situationen entwickelt und gilt dennoch für wie viele Anläufe und Reformulierungen Dies alles läuft (vgl. Buchholz, 2006) auf den psychotherapeutischen Kompetenzer- er macht, genauen intuitiven Sinn für die einer prozessualen Ebene ab. Der Prozess, werb genau. Beziehungsgestaltungsbedürfnisse seiner das ist alles, was im Behandlungszimmer Patienten. Leider ist diese wechselseitige geschieht. Die prozessuale Ebene ist un- „Der Handelnde steht nicht über, sondern Einbettung von Behandlungstechnik und terlegt von einer basalen Ebene, von klei- in der Situation, distanziert sich nicht von, Beziehungsgestaltung, dieses psychothe- nen alltäglichen Voraussetzungen, die wir sondern verschmilzt mit ihr. Sein Sinn für rapeutische Pendant zu epistemischem zum Prozess mitbringen müssen. Etwa, Abweichungen von der befriedigenden Wissen und professionellem Können, mik- dass wir nicht übermüdet sind, aufmerk- Gestalt wirkt unmittelbar handlungsauf- roanalytisch bisher wenig studiert worden. sam und einigermaßen ausgeglichen. Auf fordernd, ohne dass Sollgestalten als Ziele Und hier liegt der Ursprung von Katego- der prozessualen Ebene muss etwas ent- oder Pläne als Transformationsprozesse rienfehlern einer empirischen Forschung, scheidend deutlich werden. Die einzelnen dazwischengeschaltet wären“ (Neuweg, die nur personunabhängige Technik eva- kommunikativen Operationen nämlich S. 312). luieren will. müssen so aneinander anschließen, dass deutlich wird, hier findet Therapie statt und Wir erkennen einen möglichen Fehler man- Es gibt ein System der Behandlungstech- nicht etwa „Flirt“ oder „Kaffeeklatsch“ oder cher psychotherapeutischer Ausbildungs- nik, das man beschreiben und sogar evalu- einfach Gequatsche. In der Medizin gibt es ideale: Es könnte falsch sein, wenn wir ieren kann und es gibt ein beschreibbares grundsätzlich das gleiche Problem, aber Weiterbildungsteilnehmern das Ideal, über Beziehungssystem. Das System der Tech- Kontextmarkierungen wie der weiße Kittel den Situationen zu stehen, beibringen; nik findet man am ehesten in Lehrbüchern, machen sichtbar, dass hier medizinische richtiger wäre zu würdigen, wie sehr sie in das System der Beziehungen kann man Untersuchung stattfinden soll – und nichts den Situationen stehen. Und dass gerade beispielsweise entdecken, indem man auf anderes. In der Psychotherapie müssen darin ihre Chance zu intuitiver Kompetenz die Gesichtsmimik von Therapeuten und Kontextmarkierungen anders gesetzt wer- und angemessenen Antworten liegt! In Patienten schaut. Ich denke nicht nur an den. Aus empirischen Untersuchungen der Situation sein und aus ihr angemessen die Untersuchungen von Rainer Krause. (Wolff und Meier, 1995) weiß man, dass handeln, würde „moments of meeting“ Ich denke an die Arbeiten von Schwartz Therapeuten bei ihren Antworten etwas (Stern, 2004) mit Patienten ermöglichen, und Wiggins (1987) über die Fähigkeit länger zögern, bis sie sprechen und eine die ihren Therapeuten vergeblich suchen, von Therapeuten, das Suizidrisiko bei Pa- solche Verzögerung würde im Alltag kaum wenn er über der Situation schwebt. tienten einzuschätzen, die gerade wegen toleriert; aber hier handelt es sich um ei- eines misslungenen Suizidversuchs statio- nen anderen Kontext, der durch solche Beziehung und Technik när aufgenommen worden waren. Befragt Markierungen deutlich gemacht wird. So In meinem Buch „Psychotherapie als Pro- man die Therapeuten mit Fragebögen kommt es vor, dass Therapeuten am Ende fession“ (1999) habe ich beschrieben, nach einem Interview mit solchen Pati- eines Erstgesprächs von ihren Patienten so wie „Beziehung“ und „Technik“ Umwel- enten, dann ist ihre verbal-epistemische etwas hören wie: „Vielen Dank!“ Die Re- ten für einander bilden. Ich hatte einmal Kompetenz, einen zweiten Suizidversuch ziprozitätserwartungen des Alltags würden Gelegenheit, solche Themen mit einer vorherzusagen, nicht besonders gut. Vi- erfordern, mit „Gern geschehen“, „nichts systemischen Kollegin zu diskutieren. Sie deografiert man aber die Gesichtsmimik für ungut“ o. ä. zu antworten. Auswertun- meinte, die systemische Fragerichtung der Therapeuten während des Interviews, gen haben gezeigt, dass das so gut wie nie helfe ihr da immer gut weiter. Man könne dann werden die Trefferquoten sehr gut. vorkommt. Therapeuten schauen vielmehr etwa depressive Patienten fragen, wann Auf ihrem Gesicht zeigt sich nämlich, dass ihre Patienten meist schweigend und be- sie denn nicht depressiv seien. Ich kannte sie bei den wirklich Gefährdeten sehr viel deutungsvoll an, nicken leise mit dem Kopf die Kunstfertigkeit systemischen Fragens, mehr Besorgnis erkennen lassen als bei und machen deutlich, dass sie auch diese aber ich wandte aus meiner klinischen Er- geringer suizidalen Patienten. Das ist eine Bemerkung ihrer dankbaren Patientin mit fahrung ein, meine depressiven Patienten unbegriffliche Beziehungskomponente, in ihre Überlegungen einbeziehen. Sie würden, zumindest in den anfänglichen nicht Anwendung von Theorie, sondern gestalten auf diese Weise mit implizitem Psychotherapeutenjournal 4/2007 379
Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen Wissen eine Beziehung, den allermeisten tung des „Vorurteils“ beteiligt habe; eines Wie aber wird von diesen Autoren denn wahrscheinlich ziemlich unbegrifflich und objektivistischen Vorurteils, dem Psycho- nun die Entwicklung therapeutischer Kom- unbewusst. Sie nutzen das nicht als Tech- therapie, als apersonales Geschehen der petenz beschrieben? Ich fasse sehr knapp nik, sie wenden dazu keine Theorie an. Es Anwendung von Technik und Prozeduren zusammen: ist Teil professioneller Habitusformation, in erscheint und worin die Bedeutung des deren Umwelt dann Theorie vorkommt. persönlichen, impliziten Wissens gerade- Die Entwicklung therapeuti- Solche Kontextmarkierungen machen zu eliminiert würde. Psychotherapie ist scher Kompetenz Therapeuten aller Schulen individuell va- in der Sicht von Orlinsky und Ronnestad Wir beginnen, meist in unseren eigenen riantenreich, aber dennoch so, dass man nicht „Anwendung“ von wissenschaftlich Familien als Laien-Helfer, dem eine zwei- sagen kann, solche professionelle Habi- ermittelten „Techniken“ auf ein „Problem“. te Phase als beginning students folgt. Hier tusformation kommt in der Umwelt der S o l c h e r a r t erscheint Psychothera- interessiert man sich für Theorie und ist Theorie vor. Theorie und Habitus bilden pie nur dem Blickwinkel derjenigen, die bedürftig nach Anerkennung durch die Umwelten für einander. diese Form der Forschung betreiben. Psy- Meister. In dieser Phase wird man süchtig chotherapie als „Problemlösung“ aufzufas- nach leicht zu lernenden Techniken – wie Wie solche Habitusformation ausgebildet sen verkennt, wie viel Zeit verbraucht wird, etwa bestimmte Fragen zu stellen usw. – wird, dazu gibt es die wunderbare Studie damit ein Problem von manchen über- gegriffen, aber wenn man sich davon nicht von Orlinsky und Ronnestad (2005). Die- haupt erst formuliert werden kann, dass lösen kann, stagniert die persönliche Ent- se Autoren haben an 5000 Therapeuten man unterscheiden muss zwischen lös- wicklung. In einer dritten Phase des basic der ganzen Welt und ganz verschiedener baren Problemen und solchen, die nur er- professional level hängt man einer und Schulen gezeigt, dass es für die Entwick- tragen werden können (etwa Krankheiten, nur einer Theorie an und verteidigt sie mit lung von Therapeuten Zeit braucht. Sie Verluste u.a.) und dass manche Probleme Zähnen und Klauen und die Befunde der beobachten, dass der Entwicklung von sich erst lösen lassen, wenn man sich wei- Autoren zeigen deutlich: wer dieses Sta- Psychotherapeuten wenig Aufmerksamkeit ter entwickelt hat. Was einem kindlichen dium eines „true believers“ nicht durch- gezollt wurde: Geist ein Problem sein kann, ist es für die gemacht hat, hat eine Chance, später bei meisten Erwachsenen nicht mehr. den ausgebrannten Zynikern zu landen. In „As a rule, the study of psychotherapies seiner Jugend gleichsam muss man an et- has been favored over the study of psy- Psychotherapie ist weit mehr als „Problem- was geglaubt haben und diesen Glauben chotherapists – as if therapists, when pro- lösen“, sie ist eine mehr und mehr sich dann auch wieder aufgeben können, weil perly trained, are more or less interchan- verselbständigende Profession, was Ro- man nur dann ein Novize wird – viertes geable“ (S. 5). bert Holt und William Henry schon 1971 Stadium –, dem es schon gar nicht mehr vorhergesagt haben, woran Orlinsky und auf Technik ankommt, sondern der einen Dieses Manko soll nun beseitigt werden, Ronnestad mit Nachdruck erinnern, „that „sense of being on one’s own“ (Ronnestad aber dazu muss mit Vorurteilen („bias“) a new international profession has begun und Skovholdt, 2003, S. 17) entfaltet und aufgeräumt werden: to emerge“ (S. 8). Viele Therapeuten se- daran Freude hat. Novize also wird man hen ihre Profession deshalb keineswegs in dieser empirischen Stufenlehre der „We think that one reason for this relative in Analogie zur Wissenschaft, sondern als therapeutischen Habitusformation, wenn paucity of research on psychotherapists Privileg, als kreative Kunst und andere ver- man seine formelle Ausbildung beendet is an implicit bias in thinking about the- gleichen sie mit religiöser, generativer oder hat. Viele Therapeuten erinnern, erst nach rapy leading to the assumption that it is gar spiritueller Erfahrung. ihrer formellen Ausbildung wirkliche Ent- basically a set of methods, techniques, or wicklungsschritte gemacht zu haben, ein procedures that are efficacious, in and of Das wird zur Grundlage der empirischen empirisch gesicherter Befund, der einem themselves, in curing or ameliorating psy- Erhebung, welche die ganz antike Traditi- zu denken geben kann. chological and psychiatric disorder …. This on des Orakels von Delphi („Erkenne Dich bias is supported by a scientific culture of selbst“) aufgreift, auf die sich auch Freud Eine kleine Geschichte passt dazu: ich modernity that prizes and emphasizes ra- berufen hatte: hörte einem Gastvortrag von John Klauber tionality, objectivity, and mechanisms con- 1977 im Frankfurter Sigmund-Freud-Insti- ceived as impersonal processes … and „Therapeutic work involves therapists not tut zu und er beschrieb, dass er 10 Jahre that views the personal element or the only as participant-observers of their cli- gebraucht habe, um sich von den wäh- subjective equation in human experience ents’ personal struggles to develop but al- rend seiner Ausbildung implantierten Vor- and relations as a source of error in re- so as reflectively observing participants in schriften wieder zu befreien. Nachdenken search to be minimized or controlled (e.g. their own professional growth. … Indeed, könnte man hier darüber, wie sich solche the placebo effect).“ judging from their own extensive use of Dezennien verkürzen lassen. personal therapy …, therapists may well Eine Bemerkung dieser Art hält fest, wie be the foremost modern practitioners of Vergleichbares berichten die von Orlinsky die Forschung mit ihrer Betonung von the Delphic oracle’s injunction to ‘Know und Ronnestadt Befragten auch und wei- „Effektivität“ sich an der Aufrechterhal- thyself’“ (S. 16). ter, dass die Novizen eine Art Schock er- 380 Psychotherapeutenjournal 4/2007
M. B. Buchholz leiden, weil sie merken, dass die während sie begreifen, dass das Spirituelle nicht werden können. Therapeutische Kom- der Ausbildung erlernten Techniken kaum Spezialgebiet ist, sondern Stufe im persön- petenzen liegen auf einer prozessualen halten, was ihnen versprochen wurde. lichen Entwicklungsprozess. Sie entwickeln Ebene des impliziten Wissens und perso- Der Schock wird überwunden durch den Wissen, das nicht repräsentativ-verfügend nalen Könnens, sie entfalten sich partizipa- Übergang in die Rolle des erfahrenen Pro- ist, sondern partizipativ und flüchtig; es tiv, embodied in Situationen und deshalb fessionellen. Der übt seine Profession aus muss aktualisiert werden durch Kontakt zu flüchtig. Theorie und Behandlungstechnik durch Anwendung von Technik und Me- den eigenen Verwundungen. Sie machen können und müssen diesen Prozess eine thode, aber keineswegs rigide oder theo- die Entdeckung, dass es meist nicht viel zeitlang begleiten, aber Psychotherapie riekonform, sondern die Entdeckung eines Neues auf dem Laufsteg der therapeuti- kann so nicht vollständig definiert oder gar persönlichen Stils macht den erfahrenen schen Moden gibt, denn sie haben öfter alt global gesteuert werden. Professionellen stolz. Dementsprechend Bekanntes als dernier cri gesehen. Wenn heißt es in der Einleitung zum Oxford Text- sie länger als Ausbildende tätig sind, errei- Offensichtlich liegen die Philosophie Blu- book of Psychotherapy (herausgegeben chen sie die „senior professional phase“ menbergs, die Wissenschaftslehre Pola- von schulisch verschiedenen Autoren: und machen die Entdeckung, „too soon to nyis, Stufenlehren der Pädagogik und der Gabbard, Beck & Holmes, 2005): old and too late smart“ (Ronnestad und empirischen Forschung zur therapeuti- Skovholt) geworden zu sein, aber sie ent- schen Habitusformation nahe beieinander. „Pure forms of psychotherapy are taught schädigen sich mit einem sicheren Gefühl, Vielleicht geht es uns wie dem Archäolo- and tested in randomized controlled trials das eigene Idiom artikulieren zu können. gen: dass wir darin etwas finden, was wir in many universities throughout the world, Der Gefahr einer möglichen intellektuellen immer schon gewusst haben. but most practitioners of psychotherapy in Apathie arbeiten sie aktiv entgegen, indem busy practices end up creating their own sie sich intellektuell lernfähig zu erhalten Schlussbemerkung amalgam of pure and mixed models over versuchen, aber ihr Interesse an Kongres- Wozu sind diese Überlegungen gut? Kürz- time, depending on context and patient sen lässt nach. lich habe ich davon gehört, dass in einer need“. deutschen Großstadt Neubauten zu einem Diese Entwicklung vom Laien-Helfer über Klinikum errichtet wurden. Die Architekten Therapeuten entwickeln persönlichen Stil den beginning student zum basic profes- hatten die Psychotherapie mit eingeplant, höchst variantenreich. Aus der Sicht einer sional level und weiter zum Novizen, er- dabei einer Idee wie der folgend, dass Psy- Forschung, die Standardinterventionen fahrenen Professionellen und zum Senior chotherapie zuständig würde, wenn etwa definieren und hinsichtlich ihrer Wirksam- spielt sich auf einer prozessualen Ebene die „compliance“ eines Patienten schlecht keit prüfen will, folgt daraus babylonische ab, deren Voraussetzung die basale Ebene sei. Solche Ideen sind im Prinzip nicht zu Sprachverwirrung. Aus der Sicht der pro- ist. Eine reflexive Ebene der Theoriebildung verwerfen, aber sie zeigen, dass hier auf fessionellen Praktiker aber ist es gerade oder der theoretischen Schulenzugehörig- einem Level gedacht wird, der besten- notwendig, in vielerlei Zungen zu reden. keit verliert im Prozess der Habitusforma- falls den beginning students zugewiesen Das professionelle Pfingsten antwortet auf tion mehr und mehr an Bedeutung. Als werden könnte. Diese erwarten alles von das empirische Babylon. reflexiv bezeichne ich sie deshalb, weil Optimierung der Technik. Wenn wir die hier entschieden wird, wie das eigene Tun Psychotherapie auf dieser Stufe stehen Hier sieht man eine neue Balance von bezeichnet wird. Das ist deshalb extrem lassen, würden wir sie um das Beste brin- Technik und Beziehung: die schulenge- schwierig, weil es keine allgemein verbind- gen. Dass das so ist, kann, wie Untersu- bundene Technik wurde ebenso gelernt liche Definition von Psychotherapie bisher chungen wie die von Orlinsky und Ronne- wie die Theorie, aber eher im Sinne ei- gibt, jedenfalls keine, der nicht mit guten stad zeigen, empirisch erforscht werden. ner Durchgangspassage, einer Leiter, die Gründen vielfach widersprochen werden Man kann aus der empirischen Forschung man nach erfolgtem Aufstieg nicht mehr könnte; der erfahrene Professionelle weiß, lernen, wo deren eigene Begrenzungen braucht. Verhaltenstherapeuten entde- dass er Psychotherapie kann, aber nicht, liegen. Das befreit vom Verdacht der Wis- cken Widerstand und Übertragung. Der indem er erklärt, sondern ad oculos de- senschaftsfeindlichkeit, nur weil man das erfahrene Professionelle weiß (implizit), monstriert. Reflexiv – das ist die Ebene der Intuitive schätzt. Im Gegenteil, man darf wie manche Patienten für Psychotherapie Theorie, die bestimmen können müsste, bessere Wissenschaft fordern, besseres gewonnen, wie andere engagiert werden ob ein bestimmtes Tun als Psychotherapie Verstehen für die Subtilität therapeutischer müssen und wie man falsche Überzeugun- (eventuell einer bestimmten Schule) gilt Prozesse und angemessenere Möglichkei- gen angeht oder verworrene Vorstellungen oder nicht. Und wir sehen, dass das so gut ten für die Psychotherapie als nur die, sie klärt und auch, wie man sich manchmal wie nicht geht, denn was erfahrene Profes- auf dem Level von beginning students zu gekonnt mit Patienten verstrickt. Erfahrene sionelle tun ist – Reden! Das schafft eine verorten. Professionelle integrieren Technik in einen schwierige Situation, in der wir anerkennen weiteren Bezugsrahmen, sie verlassen das müssen, dass Psychotherapie allgemein Literatur kollegiale Feld mehr und mehr, wenden nicht definiert werden kann, wohl aber in- sich anderen Themen wie Biographien, dividuell immer realisierbar bleibt, soweit Blumenberg, H. (2007). Theorie der Un- der Anthropologie oder der Musik zu und basale und prozessuale Ebene etabliert begrifflichkeit. Frankfurt: Suhrkamp. Psychotherapeutenjournal 4/2007 381
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