Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung - AWO

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Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung - AWO
Bundesverband e.V.

Zur Situation von Jugendlichen
und jungen Frauen in
Frauenhäusern und/oder
in der Beratung

DOKUMENTATION DES WORKSHOPS 2.-3. NOVEMBER 2020
EIN ANGEBOT DES BUNDESVERBANDES DER ARBEITERWOHLFAHRT (AWO) IN KOOPERATION MIT
PROF. DR. ANGELIKA HENSCHEL VON DER LEUPHANA UNIVERSIÄT LÜNEBURG
Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung - AWO
Impressum

AWO Bundesverband e. V.
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10916 Berlin
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Internet: awo.org

Verantwortlich: Prof. Dr. Jens Schubert, Vorstandsvorsitzender
Redaktion: Christiane Völz
Layout/Satz: Linda Kutzki – textsalz.de

Verfasserinnen: Prof. Angelika Henschel & Birgit Schwarz,
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Leuphana Universität Lüneburg

@ AWO Bundesverband e. V., Berlin.
Das Copyright für Texte und Bilder liegt, soweit nicht anders vermerkt,
beim AWO Bundesverband e. V.

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung
des AWO Bundesverbands e. V.

Alle Rechte vorbehalten.

Januar 2021
Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung - AWO
Inhaltsverzeichnis

Christiane Völz

Vorwort und Hintergründe zum Projekt      4

Prof. Dr. Angelika Henschel

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen  5

Birgit Schwarz, Mag. Mag. phil.

Konzept und Inhalte des Workshops        17

Birgit Schwarz, Mag. Mag. phil.

Workshopergebnisse                       19

Birgit Schwarz, Mag. Mag. phil.

Evaluationsergebnisse                    38

Prof. Dr. Angelika Henschel

„Was tun?!“ Zusammenfassung
und Ausblick                             43

Anhang                                   52

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Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung - AWO
ZUR SITUATION VON JUGENDLICHEN UND JUNGEN FRAUEN IN FRAUENHÄUSERN UND/ODER IN DER BERATUNG
4

                      Christiane Völz

                      Vorwort und Hintergründe zum Projekt

                      Wie ist die Verbleibsituation von jugendlichen        licher Gewalterfahrung zu gewinnen. Wie die
                      Kindern, wenn ihre Mütter Zuflucht vor häusli-        Ergebnisse des Workshops zeigen, gibt es noch
                      cher Gewalt im Frauenhaus suchen? Und welche          viele Leerstellen und Handlungsbedarfe.
                      besonderen Anforderungen stellt die Zusam-
                      menarbeit mit jungen Frauen Anfang zwanzig,           Neben der Verbleibsituation junger Menschen im
                      die – teils bereits mit eigenen kleinen Kindern       Falle häuslicher Gewalt und ihren spezifischen
                      – vor der Familie ins Frauenhaus flüchten? Wel-       Bedarfen wurde auch die arbeitsfeldübergrei-
                      che Spezifik ist kennzeichnend für diese jungen       fende Zusammenarbeit von Frauengewaltschutz
                      Menschen und ihre Lebensphase, um die Mitar-          und Jugendhilfe zum Gegenstand der Sondie-
                      beiterinnen in Frauenhäusern und/oder Fach-           rung. Die Erfahrungen in der arbeitsfeldübergrei-
                      beratungsstellen wissen müssen? Diese Fragen          fenden Zusammenarbeit zeigen, dass Koopera-
                      tauchen in Gesprächen und Arbeitskreisen mit          tionsbedarf besteht und es noch allzu oft einer
                      Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern und Fach-           besseren Abstimmung bedarf. Um gute Angebote
                      beratungsstellen der AWO verstärkt auf.               und Lösungen im Sinne der Jugendlichen und
                                                                            jungen Frauen zu entwickeln, sollen in weiteren
                      Im Jahr 2019 haben bundesweit mehr als 7.000          Schritten beide Perspektiven – die des Frauen-
                      Frauen Schutz und Hilfe in einem Frauenhaus           gewaltschutzes und der Jugendhilfe – zusam-
                      erhalten1 sowie mehr als 8.000 mitbetroffene          mengebracht werden.
                      Kinder. 10 % der Kinder waren älter als zwölf
                      Jahre. Fast 22 % der Frauen waren zwischen 18         Ein herzlicher Dank geht an die Teilnehmerin-
                      und 25 Jahre alt. Die genannten Zahlen aus der        nen des Workshops, die mit ihrer Expertise und
                      Bewohnerinnenstatistik der Frauenhauskoordi-          ihren Erfahrungen die Problemlagen beschrieben
                      nierung werden weit höher sein, da lediglich 182      und angereichert haben. So konnte ein spezifi-
                      von den rund 350 Frauenhäusern in Deutschland         sches Bild zur Situation von Jugendlichen und
                      an dieser Statistik teilgenommen haben.               jungen Frauen im Frauenhaus bzw. in der Bera-
                                                                            tung gezeichnet werden. Gemeinsam wurden
                      Über Mittel aus dem Kinder- und Jugendplan des        erste Handlungsanforderungen formuliert und
                      Bundes hat der AWO Bundesverband die Mög-             Ideen gesammelt. Durch die wissenschaftliche
                      lichkeit und den Auftrag erhalten, vertieft zur       Begleitung von Professorin Dr. Angelika Henschel
                      Situation dieser jungen Menschen zu arbeiten. Im      und Birgit Schwarz wurde der Workshop fundiert
                      Rahmen des Kooperationsverbunds Jugendsozi-           konzipiert, durchgeführt und dokumentiert, auch
                      alarbeit hat der AWO Bundesverband die Feder-         dafür sehr herzlichen Dank. Damit liegen hier
                      führung für dieses Schwerpunktthema über-             umfangreiche Ergebnisse vor, die die weitere
                      nommen. In einem ersten Schritt wurde in dem          Arbeit zu diesem Schwerpunktthema bestimmen
                      Arbeitsfeld Frauengewaltschutz die Sondierung         werden. Das Ziel ist dabei stets, die Situation
                      aufgenommen. Gerade weil dieses Arbeitsfeld           von jungen Menschen, die von häuslicher Gewalt
                      nicht der Jugendhilfe zugeordnet ist, hier aber       betroffen sind, durch bedarfsgerechte Angebote
                      jedes Jahr mehrere tausend Kinder und Jugendli-       zu verbessern.
                      che mit ihren Müttern bzw. junge Frauen Schutz
                      und Hilfe erhalten, war die Absicht, hier erste       Berlin, Dezember 2020
                      wichtige Erkenntnisse über die Bedürfnisse und        Christiane Völz
                      Bedarfslagen von jungen Menschen mit häus-

                      1 Frauenhauskoordinierung 2020: Statistik Frauenhäuser und ihre Bewohner_innen. B
                                                                                                       ­ ewohner_innenstatistik
                         2019 Deutschland.

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Zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Beratung - AWO
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen

Prof. Dr. Angelika Henschel

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen
„Und wir sind auch noch da …“ Zur Situation
von Jugendlichen und jungen Frauen in
Frauenhäusern und/oder in der Beratung
Seit Ende der sechziger Jahre erfolgte durch              In konkreten sozialen Kontexten, in den ver-
unterschiedliche feministische Strömungen in              schiedenen gesellschaftlichen Sphären wie
Deutschland eine differenzierte Betrachtung               auch im Erwerbs- und Privatleben finden sich
asymmetrischer Geschlechterverhältnisse (vgl.             geschlechtsbezogene Hierarchisierungen einer-
Lenz 2014), die nicht nur einen veränderten               seits in Strukturen, andererseits aber auch in den
öffentlichen und politischen Diskurs bewirkte,            sozialen Praxen von Männern und Frauen wie-
sondern auch Auswirkungen in der Sozialen                 der, die sich durch wechselseitige Beeinflussung
Arbeit zeigte. Die Neue Frauenbewegung, deren             verstärken können (vgl. Henschel 2019; ­Stiegler
Anliegen es war, Gesellschaftskritik um die Ana-          2006). Die historisch gewachsene, traditionelle
lyse von gesellschaftlich geprägten Geschlechter­         Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern
asymmetrien zu erweitern (vgl. Maurer 2014),              (Produktion/Reproduktion) beinhaltet bis heute
ermöglichte die Enttabuisierung von häuslicher            geschlechtsbezogene Be­wertungen von Tätigkei-
Gewalt und dadurch ihre öffentliche Thematisie-           ten (vgl. CareMachtMehr 2020), die Hierarchisie-
rung, indem sie die Kategorie Gender als Struk-           rungen unterliegen und mit jeweils spezifischen
turkategorie verstand (vgl. Ehlert 2012).                 Benachteiligungen einhergehen können. Die
                                                          dadurch entstehende Rangordnung und öko-
Gender bestimmt dabei das Verhältnis der                  nomische Abhängigkeit von Frauen – insbeson-
Geschlechter zueinander wie auch die Bezie-               dere von Müttern mit Familien­verpflichtungen
hung innerhalb der jeweiligen Genus-Gruppe.               – vermag spezifische Gewaltrisiken in partner-
Dadurch geraten die gesellschaftliche sowie sozi-         schaftlichen Beziehungen zu begünstigen (vgl.
ale Hierarchisierung von Frauen und Männern1              Henschel 2019).
nicht nur über Positionierungen innerhalb des
Arbeitsmarktes, sondern auch über die Posi-               Der Gewalt gegen Frauen Einhalt zu bieten,
tion innerhalb von Partnerschaft und Familie              wurde im Rahmen der zweiten Welle der Frau-
(vgl. Stiegler 2006; Henschel 2015) in den Blick.         enbewegung zum politischen Thema, das damit
Sowohl Öffentlichkeit und Privatheit als auch             auch Einzug in die Öffentlichkeit hielt („das Pri-
Herrschafts- und Arbeitsverhältnisse gestalten            vate ist politisch“). Um das damit verbundene
sich dadurch für Frauen und Männer auch hin-              Tabu im Sinne politischer und sozialarbeiteri-
sichtlich der Zugänge zu gesellschaftlichen Res-          scher Strategien (feministisch orientierte Sozi-
sourcen in unterschiedlicher Form. Damit stellt           alarbeit) aufzubrechen, wird seitdem in der
Geschlecht bis heute ein Organisations- und Ord-          konkreten Frauenhausarbeit2 sowie in Fach-
nungsprinzip mit spezifischen gesellschaftlichen          beratungs- und Interventionsstellen bis heute
Regeln dar.                                               häusliche Gewalt auch als strukturelles Element

1 Der vorliegende Text verbleibt in der binären Ordnung, wohl wissend, dass in Deutschland auch mittlerweile
   gesetzlich „divers“ als drittes Geschlecht Anerkennung erhält. Die hier beschriebenen dualen, polaren und hie-
   rarchischen Geschlechterverhältnisse spiegeln jedoch nach wie vor real geprägte Verhältnisse zwischen Männern
   und Frauen wider und zeigen das durch wissenschaftliche Studien belegte Ausmaß und die Erscheinungsformen
   der Gewalt in diesen heterosexuellen Beziehungen auf. Um den Konstruktionscharakter von Geschlecht aufzu-
   zeigen wird im Text jedoch darüber hinaus der Genderstern eingesetzt.
2 Das erste Frauenhaus in der Bundesrepublik Deutschland wurde im November des Jahres 1976 in Berlin als
   Modellprojekt eröffnet. Es kann somit auf eine mehr als vierzigjährige Geschichte der Frauenhausbewegung, der
   Frauenhausarbeit und ihrer Professionalisierung zurückgeblickt werden (vgl. Henschel 2017).

                                                                                                                                5
ZUR SITUATION VON JUGENDLICHEN UND JUNGEN FRAUEN IN FRAUENHÄUSERN UND/ODER IN DER BERATUNG
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                      asymmetrischer Geschlechterverhältnisse und              dass Kinder in ihrem Haushalt lebten und dass
                      als Menschenrechtsverletzung analysiert. Carol           ihre Kinder die Gewaltsituation gehört (57 %)
                      Hagemann-White definiert diese Gewalt bereits            oder gesehen (50 %) hätten (vgl. BMFSFJ 2004,
                      1992 folgendermaßen:                                     S. 277). Die Kinder seien dabei selbst in die
                                                                               Auseinandersetzungen mit hineingeraten oder
                      „Gewalt im Geschlechterverhältnis [als] jede Ver-        hätten versucht, die Befragten zu verteidigen
                      letzung der körperlichen oder seelischen Integri-        (21-25 %); jedes zehnte Kind wurde dabei selbst
                      tät einer Person, welche mit der Geschlechtlich-         körperlich angegriffen (vgl. BMFSFJ 2011, S. 7).
                      keit des Opfers und des Täters zusammenhängt             So berichteten Frauen in dieser Studie darüber
                      und unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses            hinaus auch, dass sie bereits als Kind häusliche
                      durch die strukturell stärkere Person zugefügt           Gewalt erleben mussten und in Folge als Erwach-
                      wird“                                                    sene auch häufiger von Partnergewalt betroffen
                                                                               waren (vgl. BMBFSFJ 2011, S. 7).
                      (Hagemann-White 1992, S. 23).
                                                                               Die Situation der von Gewalt betroffenen Frauen
                                                                               und deren Kinder gestaltete sich mitunter auch
                      Zahlen und Fakten                                        nach der Trennung vom gewalttätigen Partner
                                                                               für die Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt
                      Trotz veränderter gesellschaftlich geprägter             waren und deren Kinder Kontakt zum Vater hat-
                      Geschlechterverhältnisse und einer Zunahme von           ten, während der Besuche oder bei der Übergabe
                      Schutz- und Unterstützungseinrichtungen wie              erneut als bedrohlich aufgrund von Misshand-
                      Frauenhäusern, Frauenberatungs- oder Inter-              lungen. 58 % der Kinder erlitten Gewalt während
                      ventionsstellen sowie rechtlicher Verbesserungs-         der Umgangszeit mit dem nicht sorgeberechtig-
                      möglichkeiten zum Schutz und zur Unterstützung           ten Elternteil und empirische Untersuchungen
                      von Gewalt betroffenen Frauen und ihren Kin-             zeigen, dass gerade in der Trennungsphase das
                      dern kann nicht übersehen werden, dass gewalt-           Gewalt- und Tötungsrisiko für Frauen und Kinder
                      förmige Geschlechterverhältnisse und konkrete            um ein Fünffaches höher liegt (vgl. ebd.). Das
                      Partner*innengewalt bislang nicht beseitigt              Miterleben von häuslicher Gewalt stellt darüber
                      werden konnten. So wurden beim Bundeskri-                hinaus für die in Familien lebenden Kinder und
                      minalamt3 im Jahr 2018 140.755 Fälle von Gewalt          Jugendlichen einen starken Risikofaktor für spä-
                      in Beziehungen registriert (gegenüber 2017 mit           teres Gewalterleben in der eigenen Partnerschaft
                      138.893 ein Anstieg von 1,3 %). Davon waren              dar (vgl. Kreyssig 2013, S. 15-26).
                      81,3 % der Opfer Frauen. Das bedeutet, dass vier
                      von fünf Opfern Frauen sind, dass pro Tag durch-
                      schnittlich 312 Frauen Opfer von Gewalt in ihrer         Kindliches Miterleben von Gewalt
                      Partnerschaft wurden und dass insgesamt 122              und die Folgen
                      Frauen getötet wurden (vgl. BKA 2019, S. 4-12).
                      Über acht Frauen pro Tag wurden vergewaltigt             „Kinder sind deshalb nicht nur Zeugen häus-
                      oder sexuell genötigt. Außerdem erfuhren ins-            licher Gewalt, sondern immer auch Opfer. Das
                      gesamt 28.657 Frauen Bedrohung, Stalking und             Miterleben von häuslicher Gewalt stellt i. d. R.
                      Nötigung (pro Tag 78 Frauen). 2017 erschienen            deshalb auch eine Gefahr für das Wohl und die
                      in der Statistik neue zu berücksichtigende Tatbe-        Entwicklung der Kinder dar“
                      stände, wie Freiheitsberaubung (1.612 Frauen),
                      Zuhälterei (34) und Zwangsprostitution (49), in          (BMFSFJ 2011, S. 7).
                      denen 2018 insgesamt 1.695 weibliche Opfer
                      erfasst wurden (vgl. BKA 2019, S. 24).                   Diese Gewalterfahrungen, die je nach Häufig-
                                                                               keit, Ausmaß und Schwere der Gewalt kindli-
                      Bereits die erste und bisher einzige Prävalenz-          che Entwicklung individuell unterschiedlich,
                      studie der Bundesrepublik zur „Lebenssitua-              geschlechtsspezifisch und in vielfältiger Form
                      tion, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in            zu beeinträchtigen vermögen, können bis ins
                      Deutschland“ zeigte, dass über die Hälfte der            Erwachsenenleben hinein nachhaltig wirkmäch-
                      von Partnergewalt betroffenen Frauen angaben,            tig sein, wie die repräsentative Prävalenzstudie

                      3 Das Bundeskriminalamt wertet für die Statistiken die Hellfelddaten aus. Sie repräsentieren damit das Anzeige-
                         verhalten; die Zahlen des Dunkelfeldes dürften weitaus höher liegen.

6
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen

bestätigte. Für die Mädchen und Jungen, die in             einher. Sie können zu körperlichen und kogniti-
diesen familiären Zusammenhängen aufwach-                  ven Entwicklungsverzögerungen, zu mangelnder
sen, stellt sich die Situation daher aufgrund              Konzentrationsfähigkeit, Lernbereitschaft, Schul-
der mehr oder minder direkten oder indirekten              absentismus, Schulversagen bis hin zu Süchten,
Gewalterfahrungen4 als bedrohlich, beängsti-               Essstörungen, Hyperaktivität, Kopfschmerzen,
gend und die persönliche Entwicklung beein-                Magen- und Darmbeschwerden sowie zu Bett-
trächtigend dar. So wird der Ort der Familie, an           nässen und schweren Traumata führen und somit
dem sich die Kinder und Jugendlichen eigentlich            die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen
geborgen und geschützt fühlen sollten, durch               massiv beeinträchtigen. Auch wenn unter dem
eine Atmosphäre von Wut, Hass bzw. Angst und               Aspekt des Kindeswohls und des Kinderschutzes
Verzweiflung belastet. Mädchen und Jungen füh-             frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden soll-
len sich in diesen Familien oft hilflos, traurig,          ten, um die intergenerationelle Weitergabe von
ohnmächtig oder aber sogar schuldig, da sie der            Gewalt zu durchbrechen und dazu beizutragen,
Gewalt nicht Einhalt gebieten können oder sich             dass der Gewalt Einhalt geboten wird, sodass
gar selbst als Auslöser für die Gewalt verstehen.          Sozialisationserfahrungen und -prozesse für die
Hilfestellung ist zudem in dieser Situation von            von häuslicher Gewalt betroffenen Mädchen und
den Eltern nur schwer zu erlangen, da sich nicht           Jungen verbessert werden, kann eine ausschließ-
an den Vater und die Mutter gewendet werden                liche Fokussierung auf das Gefährdungspotenzial
kann, weil diese zum Auslöser der Gefühle von              häuslicher Gewalt und die damit verbundenen
Angst, Ohnmacht und Bedrohung durch ihr                    Entwicklungsrisiken von Mädchen und Jungen
gewalttätiges Verhalten werden. Mädchen und                auch die Wahrnehmung vorhandener Ressourcen
Jungen erleben sich daher häufig ihren verwir-             erschweren (vgl. Henschel 2019).
renden Gefühlen hilflos ausgesetzt und mit die-
sen allein gelassen, und sie sind der Abwertung            Für die mit der Thematik befassten Professio-
der eigenen Mutter durch den Vater oder Partner            nellen in den Frauenhäusern, Fachberatungs-
der Mutter und den mittelbar bzw. unmittelbar              und Interventionsstellen sollte dies dennoch
erlebten körperlichen, seelischen oder sexuellen           bedeuten, sich auf vielfache und unterschiedli-
Misshandlungen schutzlos ausgeliefert.                     che Ressourcen zu besinnen bzw. diese einzu-
                                                           fordern, die eine verbesserte Unterstützung der
                                                           Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugend-
Folgen der häuslichen Gewalterfahrungen                    lichen ermöglichen. Durch die Minimierung von
für die Kinder und Jugendlichen                            Risikofaktoren (Gewaltbeendung durch Schut-
                                                           zangebote) und die Stärkung innerer Schutz-
Folgen dieser Gewalterfahrungen können sich                faktoren durch positive äußere Schutzfaktoren
bei den Mädchen und Jungen zwar individu-                  (z. B. vertrauensvolle Beziehungen, eine anre-
ell und geschlechtsspezifisch je nach Schwere,             gende Lernumgebung, etc.) können positive Ent-
Häufigkeit und Intensität des Gewaltgesche-                wicklungsverläufe ermöglicht werden, die die zu
hens äußern, sie gehen jedoch nicht selten                 erbringenden psychischen Anpassungsleistungen
mit Verhaltensauffälligkeiten, starker Unruhe,             der Mädchen und Jungen im Sinne von Resilienz 5
Aggressivität, Unaufmerksamkeit, Abwesenheit,
überhöhter Ängstlichkeit und sozialem Rückzug

4 Die Zeugenschaft von Partnerschaftsgewalt stellt nur ein Risikofaktor in der Entwicklung der Kinder und Jugend-
   lichen dar. Darüber hinaus können Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung im Zusammenhang mit häus-
   licher Gewalt, aber auch zusätzliche weitere Belastungsfaktoren, durch die die Familien gekennzeichnet sein
   können, wie z. B. die Suchtmittelabhängigkeit oder die psychische Erkrankung eines Elternteils sowie Armut,
   Migrations- oder Fluchterfahrungen, etc. die Situation für diese Kinder zusätzlich verschärfen.
5 Unter Resilienz wird die psychische Widerstandsfähigkeit, also die Fähigkeit einer Person verstanden, mit belas-
   tenden Lebensumständen und negativem Stresserleben erfolgreich umzugehen. Sie „…wird heute als ein mul-
   tidimensionales, kontextabhängiges und prozessorientiertes Phänomen betrachtet, das auf einer Vielzahl intera-
   gierender Faktoren beruht und somit nur im Sinne eines multikausalen Entwicklungsmodells zu begreifen ist“
   (Wustmann 2007, S. 131). Resiliente Kinder und Jugendliche sind in der Lage, trotz erfahrener Entwicklungs-
   risiken (z. B. häusliche Gewalt) besondere Bewältigungsmöglichkeiten auszubilden, die ihnen eine „gesunde“
   Persönlichkeitsausbildung ermöglicht. Durch äußere Schutzfaktoren (z. B. positive Rollenvorbilder, eine stimulie-
   rende Lernumgebung, feste Bezugspersonen und Möglichkeiten zu Weiterentwicklung und Bildung) können die
   inneren Schutzfaktoren/Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Optimismus, Selbstregulation/ Selbstwirksamkeit, Selbst-
   verantwortung, Beziehungsfähigkeit) gestärkt und damit auch neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten
   entwickelt werden.

                                                                                                                                  7
ZUR SITUATION VON JUGENDLICHEN UND JUNGEN FRAUEN IN FRAUENHÄUSERN UND/ODER IN DER BERATUNG
8

                      und produktiver Realitätsverarbeitung (vgl. Hur-          Daher ist es zu begrüßen, dass durch die vor-
                      relmann/Bauer 2015) unterstützen können und               liegende Dokumentation ein erster Anstoß zu
                      psychische Widerstandskraft ermöglichen.                  geben versucht wird, um für die Situation dieser
                                                                                Zielgruppe zu sensibilisieren. Eine Fokussierung
                      Ein erster Schritt hierfür ist, die spezifischen          auf die Situation von Jugendlichen und jungen
                      Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im               Frauen in Frauenhäusern und/oder in der Bera-
                      Kontext von häuslicher Gewalt wahrzunehmen,               tung erfolgte in einem zweitägigen Workshop,
                      wie dies zunehmend innerhalb der Arbeit der               der am 2. und 3. November 2020 digital statt-
                      Fachberatungsstellen und Frauenhäuser auch                fand und dessen Ergebnisse in der vorliegenden
                      ab den neunziger Jahren erfolgt (vgl. Henschel            Dokumentation dargestellt werden. Um für die
                      1993; Strasser 2001; Kavemann/Kreyssig 2006).             spezifischen Bedürfnisse der weiblichen und
                      Es gilt also nachzuvollziehen, anzuerkennen und           männlichen Jugendlichen und jungen Frauen zu
                      pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, die das              sensibilisieren, ist es hilfreich, sich noch einmal
                      Kindeswohl unterstützen und den Mädchen und               zu verdeutlichen, was die Lebensphase Jugend
                      Jungen die Ausbildung von Selbstwert, Selbstbe-           bedeutet und durch welche Bedürfnisse, Interes-
                      wusstsein und Selbstwirksamkeit ermöglichen;              sen, Entwicklungsaufgaben, Herausforderungen
                      durch Schutz-, Beratungs-, Förder- und Betreu-            und Chancen sie gekennzeichnet ist.
                      ungsangebote, durch vertrauensvolle soziale
                      Interaktionen und wertschätzende Beziehun-
                      gen können so Bindungserfahrungen ermöglicht              Lebensphase Jugend – Entwicklungsaufgaben,
                      werden, die die Handlungsfähigkeit und Per-               Herausforderungen und Chancen
                      sönlichkeitsbildung der Kinder und Jugendlichen
                      unterstützen, um die gewaltförmigen Erfahrun-             Die Lebensphase Jugend ist einerseits durch
                      gen be- und verarbeiten zu können.                        gesetzliche Vorgaben und Bestimmungen, z. B.
                                                                                aus dem KJHG (SGB VIII) und dem Jugendstraf-
                                                                                recht, definiert und sie wird andererseits in einer
                      Männliche und weibliche Jugendliche und                   zunehmend individualisierten und pluralisierten
                      junge Frauen im Kontext häuslicher Gewalt                 Gesellschaft zur sozialen Konstruktion, an der die
                                                                                gesellschaftlich geprägten Generationen- und
                      Im Zuge der Professionalisierung in der Frauen­           Geschlechterverhältnisse aktiv beteiligt sind (vgl.
                      hausarbeit wurde bald erkannt, dass die von               King 2002). Jugend meint somit also mehr als die
                      häuslicher Gewalt betroffenen Frauen in der               durch die Pubertät eingeläutete Geschlechtsreife
                      Regel nicht allein im Frauenhaus Schutz, Bera-            mit ihren hormonellen, körperlichen, kognitiven
                      tung und Unterstützung suchen, sondern als                und psychischen Veränderungen. Sie ist geprägt
                      Mütter auch ihre Kinder mitbringen. In der                von spezifischen Entwicklungsaufgaben, bei
                      konkreten praktischen Frauenhausarbeit muss-              denen Mädchen und Jungen der besonderen
                      ten daher bald pädagogische Antworten gefun-              Unterstützung durch die verschiedenen Soziali-
                      den werden und eine gezielte Übernahme von                sationsinstanzen (Familie, Jugendhilfe, Schule,
                      Verantwortung für die im Frauenhaus lebenden              Medien, etc.) und der Beziehungsangebote
                      Mädchen und Jungen erfolgen. Da zumeist vorü-             durch andere Jugendliche (Peers), aber auch der
                      bergehend mehr Kinder als Frauen wie auch mehr            Erwachsenen bedürfen.
                      Kinder als Jugendliche in den Frauenhäusern
                      leben6, zudem in vielen Frauenhäusern Jungen              Zu den Entwicklungsaufgaben, die auch als Her-
                      ab dem Alter von 14 Jahren aus konzeptionellen,           ausforderungen in dieser spezifischen Lebens­
                      räumlichen und mangelnden finanziellen Res-               phase verstanden werden können, da sie auf
                      sourcen keine Aufnahme finden, kann bis heute             eine fragile, störanfällige Phase der Persönlich­
                      festgestellt werden, dass sich die Situation der          keitsbildung treffen, gehören neben der Akzep-
                      männlichen und weiblichen Jugendlichen wie                tanz der körperlichen Veränderungen auch die
                      auch die der jungen Frauen (z. B. im Alter von            (Weiter)Entwicklung der Geschlechts­identität,
                      18-24 Jahren), die den Schutzort Frauenhaus mit           Rollenübernahmen sowie die Ausbildung von
                      und ohne Kinder aufsuchen, prekär gestaltet.              Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz. Der

                      6 Die Frauenhauskoordinierungsstelle weist in ihrer Statistik des Jahres 2019 auf folgende Daten von 180 Frauen-
                         häusern und Frauenschutzwohnungen aus dem Jahr 2018 hin: 7.172 Bewohner*innen und 7.945 Kinder (vgl.
                         https://www.frauenhauskoordinierung.de/arbeitsfelder/fhk-bewohner-innenstatistik/ [Zugriff: 23.11.2020]).

8
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen

Ambiguitätstoleranz (Ambiguität = Mehrdeu-           und Autonomie gekennzeichnet, wobei zugleich
tigkeit) kommt dabei besondere Bedeutung zu,         auch gesellschaftliche Integration in dieser Phase
da sie den Menschen dazu befähigt, sich aktiv        der Sozialisation in aktiver Aneignung und Ausei-
mit widersprüchlichen gesellschaftlichen und         nandersetzung mit der materiellen und sozialen
sozialen Erwartungshaltungen und mehrdeu-            Umwelt vollzogen werden muss. Hierzu bedarf
tigen Interaktionssituationen konstruktiv aus-       es psychosozialer Möglichkeitsräume (vgl. King
einanderzusetzen und dabei zu erkennen und           2002):
zu akzeptieren, dass sich eigene Bedürfnisse
und Interessen nicht mit den Erwartungen der         „… die Freiheit zur Ablösung und Aufnahme von
anderen decken müssen. Oder wie Krappmann            neuen Beziehungen zulassen, die (Geschlechts)
es formuliert:                                       Rollenübernahmen sowie die kritische Abgren-
                                                     zung zu traditionellen Geschlechtsstereotypen
„Das Individuum ist gezwungen, sich ständig          ermöglichen, die die eigene Zukunftsplanung
damit auseinanderzusetzen, daß Erwartungen           unterstützen, das Austesten von Grenzen und das
und Bedürfnisse sich nicht decken und daß zwi-       Überschreiten von Traditionen zugestehen sowie
schen persönlichen Erfahrungen und den für sie       die Ausbildung von Autonomie, (Geschlechts)
zur Verfügung stehenden allgemeinen Katego-          Identität und Selbstbewusstsein unterstützen“
rien eine Lücke klafft. Die Errichtung einer indi-
viduierten Ich-Identität lebt von Konflikten und     (Henschel 2006, S. 216f).
Ambiguitäten. Werden Handlungsalternativen,
Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten ver-           Diese vielfältigen Entwicklungsaufgaben, die
drängt oder geleugnet, fehlt dem Individuum die      zugleich Herausforderungen für die Jugendlichen
Möglichkeit, seine besondere Stellung angesichts     darstellen können, erfordern von den Jugend-
spezifischer Konflikte darzustellen“                 lichen eine Neuorganisation ihrer personalen
                                                     und sozialen Ressourcen, die zudem durch bio-
(Krappmann 1978, S. 167).                            logisch-körperliche und psychologische Verän-
                                                     derungen begleitet werden. Für männliche und
Die Ausbildung schulischer Leistungsfähigkeit        weibliche Jugendliche bedeutet dies, psychische
und die Gestaltung von Beziehungen zu Gleich-        Anpassungsleistungen zu erbringen, die eigen-
altrigen (Peers) prägen diese Sozialisationsphase    ständig und aktiv im Sinne der produktiven Rea-
ebenfalls. Zugleich ermöglichen die Kontakte und     litätsverarbeitung (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015,
Beziehungen zu den Peers auch die Ablösung vom       S. 106ff) bewältigt werden müssen.
Elternhaus, die Zunahme von Selbstbestimmung
und Autonomie sowie den Aufbau von intimen           Die Lebensphase Jugend wird zudem durch
Paarbeziehungen. Medien- und Konsumkompe-            unterschiedliche soziale Bedingungen und
tenzen, die in einer zunehmend digitalisierten       Machtverhältnisse, z. B. zwischen den Gene-
und durch Ökonomie bestimmten Welt ausgebil-         rationen und Geschlechtern beeinflusst, die
det werden müssen, um auch gesellschaftliche         je nach Lebenslage Entwicklungschancen oder
und soziale Erwartungen einerseits erfüllen zu       Entwicklungsrisiken bergen können (vgl. Hen-
können bzw. sich andererseits auch ggf. von die-     schel 2006, S. 217). Gewalterfahrungen wie
sen kritisch abzugrenzen, gehören zu den Ent-        Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung, die
wicklungsaufgaben ebenso wie die Ausbildung          Zeugenschaft von Partnerschaftsgewalt, mate-
eines Werte- und Normensystems, die Fähig-           rielle Armut und weitere multiple Problemla-
keit zur politischen Partizipation, die Fähigkeit    gen können zu Risikofaktoren in dieser fragilen
zur aktiven Beteiligung an der Gesellschaft, der     Entwicklungsphase werden, die die Persönlich-
Aufbau ethischer, politischer Orientierungen und     keitsbildung von männlichen und weiblichen
eigene Handlungsfähigkeit und Selbststeuerung.       Jugendlichen zu beeinträchtigen vermögen.
Die Aufnahme von einem Studium oder einer            Mangelnde Unterstützung durch Erwachsene und
Berufsausbildung stellen weitere Aufgaben in         Peers bzw. unzureichende oder fehlende psycho-
der Persönlichkeitsentwicklung dar, die bewältigt    soziale Möglichkeitsräume, können die produk-
und aktiv gestaltet werden müssen, um spä-           tive Realitätsverarbeitung sowie geschlechtlich
ter einmal auch finanzielle Unabhängigkeit zu        geprägte Ich-Identitätsbildung von Jugendlichen
erlangen (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015, S. 107ff).     beeinträchtigen (vgl. ebd., S. 217ff).

Die Sozialisationsphase Jugend ist durch kogni-      Deutlich wird, wie entscheidend es ist, den
tive, emotionale und soziale Entwicklungspro-        weiblichen und männlichen Jugendlichen in
zesse hinsichtlich der Zunahme von Individuation     dieser Sozialisations- und Persönlichkeitsent-

                                                                                                                        9
ZUR SITUATION VON JUGENDLICHEN UND JUNGEN FRAUEN IN FRAUENHÄUSERN UND/ODER IN DER BERATUNG
10

                      wicklungsphase insbesondere dann psychoso-             So neigen besonders weibliche Jugendliche und
                      ziale Möglichkeitsräume zu eröffnen und Unter-         auch junge Frauen mitunter dazu, die Bewäl-
                      stützungsangebote zu unterbreiten, wenn sie in         tigung der Entwicklungsaufgaben und die Ver-
                      ihren Familien mit häuslicher Gewalt konfron-          arbeitung der Gewalterfahrungen zu internali-
                      tiert sind, um sie im Sinne von Resilienz durch        sieren. Sie versuchen, ihre Probleme selbst zu
                      äußere Schutzfaktoren bei der Bewältigung der          lösen, gehen diesen mitunter auch aus dem Weg,
                      Gewalterfahrungen und in ihrer Persönlichkeits-        oder aber sie versuchen durch autoaggressives
                      bildung zu unterstützen (vgl. Henschel 2019,           Verhalten (z. B. Essstörungen, Süchte, etc.) ihre
                      S. 47ff). Frauenhäuser und Fachberatungsstellen        Ängste und Ohnmachtsgefühle, ihre psychischen
                      im Gewaltkontext könnten hier als vorüberge-           Verletzungen zu bewältigen. Männliche Jugend-
                      hende Sozialisationsinstanzen, wenn sie für die        liche neigen hingegen eher dazu, ihre psychi-
                      spezifischen Bedürfnisse der weiblichen und            schen Verletzungen zu leugnen oder aber durch
                      männlichen Jugendlichen und jungen Frauen              destruktiv-aggressives Gewalthandeln, entspre-
                      sensibilisiert sind, wichtige Unterstützungsarbeit     chend der gesellschaftlich auch zugeschriebenen
                      leisten, sofern vorhandene räumliche, personelle       Rollenvorstellungen zu kompensieren, zu über-
                      und finanzielle Ressourcen dies ermöglichen.           spielen und zu externalisieren (vgl. Hurrelmann/
                      Daher scheint es hilfreich, sich mit den spezifi-      Bauer 2015, S. 113; Henschel 2006, S. 217ff).
                      schen Erfahrungen, Bedürfnissen und Nöten von
                      weiblichen und männlichen Jugendlichen und             Die kulturell und gesellschaftlich geprägten
                      jungen Frauen, die im Rahmen der Frauenhaus-           Geschlechter- und Generationenordnungen
                      arbeit oder in Fachberatungsstellen identifiziert      beeinflussen das Verhaltensrepertoire von
                      werden können, auseinanderzusetzen.                    männlichen und weiblichen Jugendlichen und
                                                                             können einen unterschiedlichen Umgang mit
                                                                             Aggressionen bzw. einen unterschiedlichen
                      Nöte und Bedürfnisse von weiblichen und                Zugang zur Gewalt bedingen (vgl. Henschel 1993).
                      männlichen Jugendlichen und jungen Frauen              So gilt offensiv destruktives, gewalttätiges Ver-
                      in Frauenhäusern und in der Beratung7                  halten von Mädchen und Frauen auch heute noch
                                                                             eher als Kontrollverlust und „unweiblich“, wird
                      Deutlich dürfte geworden sein, dass sich weibli-       als deviantes Verhalten stärker skandalisiert,
                      che und männliche Jugendliche beim Eintritt in         als dies für eben solches männliches Verhal-
                      ein Frauenhaus oder in eine Fachberatungsstelle        ten gilt. Männliche Gewalttätigkeit wird häufig
                      in einer besonderen Lebensphase mit spezifi-           mit Durchsetzungskraft gleichgesetzt, wird als
                      schen Entwicklungsaufgaben und Herausforde-            Kontrollmöglichkeit und als mehr oder minder
                      rungen befinden, auf die die Professionellen           legitimes Mittel der Machtausübung bewertet.
                      reagieren müssen, wenn sie die Jugendlichen,           Männlichkeit und Gewalt gehen gemäß dieser
                      die unterschiedliche, individuelle, konstruktive       Vorstellung eine enge Verbindung ein und kön-
                      Lösungs- oder aber auch Risikowege bei der             nen insbesondere auf männliche Jugendliche, die
                      Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und den           ihre Männlichkeit in der verunsichernden Zeit der
                      Gewalterfahrungen beschreiten werden, ange-            Adoleszenz unter Beweis stellen müssen, Gewalt
                      messen unterstützen wollen. So kann es hilfreich       legitimierend oder gar verstärkend wirken. Der
                      sein, sich bewusst zu machen, dass es neben            „entwicklungsbedingte Widerspruch zwischen
                      der je individuellen Be- und Verarbeitung der          Autonomiebedürfnis und seiner Realisierbar-
                      Entwicklungsaufgaben und der Gewalterfahrun-           keit“ (Enzmann 2002, S. 35) kann dann auch zu
                      gen auch geschlechtsbezogene Muster und Ver-           Frustrationen, zur Überforderung und in Folge
                      haltensweisen in der Jugendphase geben kann,           zu kompensatorischem gewalttätigen Ausagie-
                      auf die differenziert und professionell reagiert       ren bei männlichen Jugendlichen führen, deren
                      werden sollte.                                         männliche Identität sich als besonders labil
                                                                             erweist. Aber auch Marginalisierungserfahrun-
                                                                             gen, gepaart mit tradierten Männlichkeitsnormen
                                                                             von Dominanz und Herrschaft, wie sie z. B. mit-

                      7 Die vorliegenden Ausführungen greifen die von Prof. Dr. Angelika Henschel entwickelten 33 Thesen zu den
                         besonderen Bedürfnissen von männlichen und weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern
                         und in der Beratung auf, welche online unter https://www.awo.org/jugendliche-und-junge-frauen-mit-haeus-
                         licher-gewalterfahrung [Zugriff: 04.01.2021] zur Verfügung stehen.

10
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen

unter von männlichen migrantischen Jugendli-              was das Sprechen über die Gewaltvorkommnisse
chen erlebt werden, können gewalt­t ätige Ver-            und die damit verbundenen Gefühle erschwe-
haltensweisen begünstigen (vgl. H
                                ­ enschel 2004,           ren kann. Erschwert wird das Sprechen über die
S. 161-166).                                              Gewalterfahrungen mitunter zusätzlich auch
                                                          dadurch, dass sich die Jugendlichen selbst schul-
Weibliche und männliche Jugendliche haben                 dig oder mitunter sogar als Auslöser der Gewalt
zudem häufig bereits langjährige Gewalt­                  in der Familie begreifen, da es ihnen z. B. nicht
erfahrungen, bevor sie in ein Frauenhaus einzie-          gelungen ist, der Gewalt Einhalt zu bieten, oder
hen oder aber eine Beratungsstelle (i. d. R. dann         aber denken, dass ihr eigenes Fehlverhalten
mit ihren Müttern)8 aufsuchen. Da sie mitunter            zum Auslöser der Gewalt gegenüber der Mutter
seit Kindertagen die Gewalt zwischen den Eltern           geführt habe.
erleben mussten, die zudem durch unterschied-
liche Gewaltformen, eine unterschiedliche Häu-            Wie bereits verdeutlich wurde, stellen für
figkeit, Intensität und Schwere gekennzeichnet            Jugendliche auch der sich in der Pubertät ver-
sein kann, benötigen sie in der herausfordernden          ändernde Körper sowie die eigene Sexualität eine
Sozialisationsphase Jugend mit ihren spezifischen         herausfordernde Entwicklungsaufgabe dar, die
Entwicklungsaufgaben besondere Unterstützung              es konstruktiv zu bewältigen gilt. Daher können
zur Bewältigung dieser Gewalterfahrungen (vgl.            weibliche und männliche Jugendliche es auch als
Henschel 2019). Da das Risiko für Kinder und              beeinträchtigend empfinden, wenn sie sich in
Jugendliche steigt, zusätzlich Kindesmisshand-            ihrer verändernden Körperlichkeit und im Erwa-
lungen und Kindesvernachlässigung zu erfahren,            chen der eigenen Sexualität der Enge des Frau-
je länger die Mütter in der Misshandlungsbe-              enhauses ausgesetzt sehen und mit den Blicken
ziehung bleiben, können zusätzliche Gewalter-             und Kommentaren der B      ­ ewohner*innen kon-
fahrungen das Kindeswohl, die körperliche und             frontiert sind. Sie fühlen sich in ihrer Intimsphäre
psychische Unversehrtheit und die Möglichkeit             beeinträchtigt und unwohl, was durch die i. d. R.
zur Bewältigung der Geschehnisse erschweren               räumliche Enge im Frauenhaus noch gesteigert
und auch dazu beitragen, dass weibliche und               werden kann. Verstärkt werden diese Emp-
männliche Jugendliche aufgrund der Gescheh-               findungen zusätzlich dadurch, dass sich die
nisse gesundheitliche Einschränkungen zeigen              Jugendlichen aufgrund der räumlichen Enge in
(z. B. häufiger Infekte aufweisen, etc.).                 vielen Frauenhäusern mit ihren Müttern und ggf.
                                                          Geschwistern ein Zimmer teilen müssen, was sie
Deutlich wird, dass weibliche und männliche               in ihren Augen zugleich wieder zu Kindern statt
Jugendliche die Gewalt in der Familie und/oder            angehenden Erwachsenen werden lässt.
Partnerschaft als starken und bedrohlichen
Stressor erleben können, auch wenn sie dies               Zu den Entwicklungsaufgaben der männlichen
mitunter nicht zeigen möchten oder nicht dazu             und weiblichen Jugendlichen gehört es auch, die
in der Lage sind, dies aufgrund von „jugendli-            an sie gestellten geschlechtlich geprägten Rol-
cher Coolness“ zu äußern. Dennoch erleben die             lenerwartungen erfüllen zu müssen, oder aber
Jugendlichen wie auch Kinder die beobachtete              im Sinne von Rollendistanz diese sozialen und
Partnerschaftsgewalt, die Gewalt gegen die                gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abzu-
Mütter i. d. R. durchaus als bedrohlich. Sie sind         wehren. Die Beeinflussung durch Mitbewoh-
verängstigt, fühlen sich hilflos und ohnmächtig,          ner*innen und Mitarbeiter*innen in den Frau-
selbst wenn sie dies so nicht immer zum Aus-              enhäusern, aber auch durch andere Jugendliche
druck bringen können und ihnen dies von ande-             und weitere Sozialisationsinstanzen, wie z. B. die
ren Personen (z. B. Frauenhaus­bewohner*innen)            Schule, sowie das Fehlen von männlichen Rollen-
auch mitunter aufgrund ihres Jugendalters nicht           modellen in den Frauenhäusern und Beratungs-
(mehr) zugestanden wird. Darüber hinaus sind              stellen, können diesen Prozess daher erschwe-
die Gewalterfahrungen für die Jugendlichen (wie           ren. Auch fühlen sich männliche Jugendliche
für viele Mütter auch) mit hoher Scham besetzt,           vereinzelt von der „Übermacht des Weiblichen“

8 Jugendliche suchen gemeinhin von sich aus in Gewaltsituationen aus unterschiedlichen Gründen keine Bera-
   tungsstellen auf, was ein Hinweis dafür sein könnte, sich die Settings, die Ansprache und Konzepte, etc. der
   Interventions- und Beratungsstellen noch einmal genauer dahingehend anzuschauen, inwieweit die Beratungs-
   angebote tatsächlich niedrigschwellig und an den Bedürfnissen, wie sie hier für die Lebensphase Jugend geschil-
   dert werden, orientiert sind und sie dahingehend zu überdenken und ggf. anzupassen (z. B. Gruppenangebote,
   soziale Medien, Online-Sprechstunden, etc.).

                                                                                                                               11
ZUR SITUATION VON JUGENDLICHEN UND JUNGEN FRAUEN IN FRAUENHÄUSERN UND/ODER IN DER BERATUNG
12

                      in den Frauenhäusern und in den Beratungsstel-      sind und i. d. R. für die Persönlichkeitsbildung
                      len überfordert. Mitunter werden von den weib-      stabilisierend wirken, sind häufig in den Frau-
                      lichen und männlichen Jugendlichen traditionelle    enhäusern nicht möglich, was die Situation für
                      Geschlechterrollen übernommen, die z. B. durch      die Jugendlichen zusätzlich erschwert. Auch Kon-
                      andere Bewohner*innen oder Mitarbeiter*innen        takte über die sozialen Medien können mitunter
                      beeinflusst und verstärkt werden können.            nicht nur aufgrund des Fehlens von Internetver-
                                                                          bindungen in den Frauenhäusern versagt blei-
                      Männliche Jugendliche, sofern sie überhaupt         ben, sondern müssen häufig zudem aus Sicher-
                      in einem Frauenhaus mit ihren Müttern und           heitsgründen unterbleiben.
                      Geschwistern Unterkunft und Schutz finden
                      können, sind hier vor besondere Herausforde-        Werden diese Nöte der weiblichen und männli-
                      rungen gestellt, hat sich doch der eigene Vater     chen Jugendlichen ernst genommen, so weisen
                      oder aber der Partner der Mutter aufgrund seiner    sie auf wichtige Bedarfe und Handlungsmaß-
                      Gewalttätigkeit als Identifikationsobjekt dis-      nahmen für die Professionellen hin. Es müssen
                      qualifiziert, oder aber im Gegenteil als ein ver-   Wege und Möglichkeiten gefunden werden, um
                      meintlich durchsetzungsstarkes und besonders        den Jugendlichen die für ihre Persönlichkeits-
                      männliches Rollenmodell angeboten. Männliche        bildung wichtigen sozialen Interaktionen und
                      Jugendliche suchen unterschiedliche Wege, um        Kontakte zu Gleichaltrigen zu ermöglichen, da
                      mit diesen Herausforderungen umzugehen. So          sich in den Frauenhäusern zudem nur verein-
                      äußern sich die mit den Gewalterfahrungen und       zelt andere Jugendliche befinden, die diesen
                      mit dem Frauenhaus verbundenen Herausforde-         Kontaktmangel ausgleichen könnten. Bezüglich
                      rungen und Unsicherheiten für einzelne Jungen       der Beratungsstellen ergeben sich hier ebenfalls
                      auch dahingehend, dass sie sich weitgehend aus      Anknüpfungspunkte, ließe sich doch das Bedürf-
                      dem Frauenhausalltag zurückziehen, in ihrem         nis der jungen Menschen nach Kontakten mit
                      Zimmer verbleiben oder außer Haus die Zeit mit      Gleichaltrigen auch für PeerBeratungsangebote
                      anderen Jugendlichen verbringen, da diese aus       nutzen, die daraufhin zu überdenken und zu
                      Sicherheits- und Anonymitätsgründen keinen          konzipieren wären.
                      Zugang ins Frauenhaus haben (vgl. Henschel
                      2006, S. 219ff; Henschel 2019, S. 59ff). Aber       Die Gewalterfahrungen, die die weiblichen und
                      auch ein weiteres Problem, das mit der Sexua-       männlichen Jugendlichen durch entsprechende
                      litätsentwicklung der männlichen Jugendlichen       pädagogische Maßnahmen in den Frauenhäusern
                      einhergeht, sollte nicht übersehen werden, denn     oder in der Beratung durch ihnen angemessene
                      männliche Jugendliche erleben mitunter weib-        Schutz-, Förder- und Unterstützungsangebote
                      liches „Begehren“ von Bewohnerinnen in den          versuchen können zu bewältigen, sind mitunter
                      Frauenhäusern und müssen damit klarkommen,          auch dadurch gekennzeichnet, dass sie sich selbst
                      wie sie auch mitunter selbst sexuelle und intime    nicht in ihrer „Jugendlichkeit“ erleben können
                      Beziehungen mit anderen Frauenhausbewoh-            und dürfen, da sie bereits in ihren gewaltbelas-
                      nerinnen eingehen, die für zahlreiche Konflikte     teten Familien Elternrollen (Parentifizierung) für
                      innerhalb des Frauenhauses und in der alltägli-     ihre Mütter, Väter und Geschwister übernehmen
                      chen Arbeit sorgen können.                          mussten. Diese Rollenumkehr zwischen Eltern
                                                                          und Kindern findet sich auch in gewaltbelaste-
                      Dem Kontakt und den Beziehungen zu anderen          ten Familien und sie trägt dazu bei, dass explizit
                      Jugendlichen kommt, so wurde deutlich, in der       oder implizit die Verantwortungsübernahme an
                      Jugendphase besondere Bedeutung zu; sind es         die Kinder oder Jugendlichen durch die Erwach-
                      doch die anderen Peers, die einen wichtigen         senen delegiert wird (vgl. Henschel 2019, S. 101).
                      Beitrag zur Stabilisierung der Persönlichkeit und   Sich von dieser Rollenumkehr zu verabschieden,
                      zur Abgrenzung zu Herkunftsfamilie, Eltern und      fällt mitunter nicht nur schwer, weil die Erwar-
                      Geschwistern sowie eine Zunahme von Selbst-         tungshaltungen, Forderungen, aber auch die
                      bestimmung und Autonomie ermöglichen. Daher         Nöte der Mütter dies erschweren, sondern weil
                      leiden weibliche wie männliche Jugendliche vor      hieran auch Lob und Anerkennungserfahrungen
                      allem darunter, dass sie über ihren vorüberge-      geknüpft sind, die das Selbstbewusstsein der
                      henden Aufenthaltsort aus Sicherheitsgründen,       Jugendlichen zu stärken vermögen.
                      auch aus Scham, nicht sprechen können oder dies
                      nicht wollen und zudem ihre gewohnte Umge-          Vor allem Jugendliche mit Migrationsgeschichte,
                      bung, mitunter auch die Schule verlassen oder       die häufig der deutschen Sprache eher mäch-
                      aber ihre Ausbildung abbrechen müssen. Treffen      tig sind als ihre Mütter, werden dann z. B. in
                      mit den Freund*innen, die in dieser Lebensphase     Frauenhäusern oder Beratungsstellen nicht sel-
                      und vor allem in dieser schweren Zeit so wichtig    ten für Übersetzungstätigkeiten eingesetzt, bei

12
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Thesen

 Behörden mit in die Verantwortung genommen,             Jugendlichen ihre Beziehung zur Mutter überden-
 hinsichtlich ihrer besseren Medienkompeten-             ken können und ggf. neugestalten lernen. Häufig
 zen gefordert und werden dadurch weiterhin in           erleben die Jugendlichen ihre Mutter im Verlauf
 ihrer dominanten Rolle bestärkt. Es gilt daher          des Frauenhausaufenthaltes auch neu und ver-
 auch, die weiblichen und männlichen Jugend-             ändert, sie erkennen, dass sie sich aus der Opfer-
 lichen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen,          rolle zu lösen beginnt, sofern sie sich weiterhin
 die aufgrund sozialer, kultureller, sprachlicher        vom Gewalttäter trennt. Dass sie zunehmend
 und rechtlicher Probleme darüberhinausge-               an Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit
 hende Bedürfnisse und Unterstützungsbedarfe             gewinnt, indem sie sich aktiv im Frauenhau-
 haben, die eventuell nicht nur durch einen              salltag und in der dortigen Gemeinschaft ein-
 Frauen­haus­aufenthalt befriedigt werden kön-           bringt, behördliche Herausforderungen meistert,
 nen, sondern erweiterter Kooperationen mit              den Lebensunterhalt für sich und die Kinder (z. B.
 anderen Institutionen bedürfen, besonders in            auch über Transferleistungen) bestreitet, Sorge-,
 den Blick zu nehmen (z. B. Migrationssozialar-          Umgangs- und unterhaltsrechtliche Ansprüche
 beit, Soziale Arbeit mit Geflüchteten, Terre des        durchzusetzen erreicht und wieder stärker die
­Femmes, etc.)9. Hierzu gehört auch, anzuerken-          eigenen sowie die Bedürfnisse der eigenen Kin-
 nen, dass es vor allem jungen Frauen, die aus der       der und Jugendlichen wahrnehmen kann. All dies
 Gewalt in der Familie in ein Frauenhaus fliehen         kann dazu führen, dass sich ein neues Verhältnis
 müssen, schwerfallen kann, sich aufgrund von            und eine veränderte Beziehung zur Mutter und
 Loyalitätskonflikten, traditionellen Vorstellungen      den Geschwistern zu entwickeln vermag (vgl.
 und kulturell-religiös bedingten Anschauungen           Henschel 2019, S. 181ff). Aber auch gegenläu-
 zu trennen und die familiären Bande zu kappen.          fige Tendenzen in der Beziehung lassen sich
                                                         beobachten, wenn sich die Mutter entscheidet,
Loyalitätskonflikte gegenüber Familienangehö-            zum Partner zurückzukehren oder sich erneut
rigen, auch gegenüber dem gewalttätigen Vater            in eine gewalttätige Beziehung begibt. Weibli-
oder Partner der Mutter, lassen sich jedoch auch         che wie männliche Jugendliche benötigen dann
bei den in Frauenhäusern vorübergehend leben-            zusätzliche Unterstützungsangebote (z. B. Auf-
den deutschen Kindern und Jugendlichen identi-           nahme in einer stationären Einrichtung), wenn
fizieren. So sehnen sich weibliche und männliche         sie die Entscheidung der Mutter nicht akzeptieren
Jugendliche mitunter nach dem Vater oder Part-           können und sich dann vorzeitig von der Familie
ner und wünschen sich weiterhin eine Bezie-              trennen möchten (vgl. Henschel 2019, S. 181ff).
hung zu ihm, was sie wiederum in emotionale              Kooperationen mit der Jugend- und Schulsozial-
Ambivalenz und Loyalitätskonflikte gegenüber             arbeit, wie auch mit den Jugendämtern können
der Mutter bringen kann (vgl. Henschel 2019,             hier helfen, die Angebote an den Bedürfnissen
S. 185ff). Häufig lässt sich diese Ambivalenz dann       der Jugendlichen zu orientieren und sie auf ihrem
jedoch mit der emotional betroffenen eigenen             weiteren Lebensweg konstruktiv zu begleiten.
Mutter nicht besprechen und klären, weshalb
es hilfreich und wichtig sein kann, dass andere          Die Situation für junge Frauen mit Gewalterfah-
Gesprächspartner*innen diese Klärungs- und               rungen (mit und ohne Kinder) gestaltet sich für
Beratungsangebote sowie Unterstützungsaufga-             diese in besonderer Weise, da sie häufig auch
ben im Frauenhaus oder in einer Beratungsstelle          aus anderen Angeboten der Jugendhilfe her-
übernehmen.                                              ausfallen und ihre spezifischen Bedürfnisse in
                                                         der Sozialen Arbeit und in der Frauenhausarbeit
Ein Frauenhausaufenthalt oder aber eine unter-           bisher unzureichend wahrgenommen werden
stützende Beratungsmöglichkeit außerhalb des             und entsprechende Unterstützungsangebote sich
Frauenhauses könnten darüber hinaus auch dazu            bisher als unzureichend herausgestellt haben,
beitragen, dass die weiblichen und männlichen            bzw. sich als ausbaufähig erweisen. So erleben

9 Die Aufmerksamkeit sollte sich jedoch nicht nur auf jugendliche Migrant*innen oder Jugendliche mit Flucht­
   erfahrungen und auf ihre spezifischen Bedürfnisse und Bedarfe fokussieren, sondern sich im Sinne von Inklu-
   sion auch mit den Lebenslagen und Bedürfnissen von Jugendlichen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen
   auseinandersetzen. Vor allem für weibliche und männliche Jugendliche mit Beeinträchtigungen zeigt sich, dass
   aufgrund von materiellen und räumlichen Barrieren häufig kein Zugang ins Frauenhaus für diese Jugendlichen
   besteht. Aber auch in Bezug auf die Barrieren in den Köpfen muss hier wichtige Arbeit geleistet werden, denn
   mitunter wird der Kontakt zu den Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen durch spezifische Einstellungen und
   Haltungen erschwert.

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ZUR SITUATION VON JUGENDLICHEN UND JUNGEN FRAUEN IN FRAUENHÄUSERN UND/ODER IN DER BERATUNG
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                      junge Frauen, obwohl sie i. d. R. ein Frauenhaus           Ressourcen10 nicht in dem Ausmaß gewähr-
                      freiwillig aufgrund ihrer Gewalterfahrungen                leistet werden kann, wie es die jungen Frauen
                      aufsuchen – mitunter werden sie jedoch auch                eigentlich bedürfen. Kooperationen wären auch
                      von anderen Institutionen wie dem Jugendamt                aus diesen Gründen zukünftig auszubauen (z. B.
                      oder durch Mädchenhäuser oder andere statio­               Kooperationen mit Mutter/Vater/Kind-Einrich-
                      näre Einrichtungen geschickt –, dieses Schutz­             tungen, § 19 SGB VIII)11.
                      angebot zugleich als Freiheitseinschränkung in
                      vielfacher Hinsicht. Wie bei den männlichen                Schule und Ausbildung, die häufig aufgrund
                      Jugendlichen auch, erleben die jungen Frauen               der Gewaltvorkommnisse und/oder aufgrund
                      eine Beschneidung ihrer Freiräume. Sie können              der frühen Übernahme der Elternfunktion und
                      sich nicht jederzeit aus dem Haus entfernen                Mutterrolle aufgegeben oder verändert werden
                      und z. B. Treffen mit Freund*innen nachgehen,              müssen, bilden weitere Aspekte hinsichtlich der
                      diese nicht im Haus empfangen und dürfen den               Lebenslagen von jungen Frauen mit Gewalterfah-
                      Frauenhausort nicht bekannt geben, auch wenn               rungen, auf die mit den vorhandenen Ressourcen
                      sie dies aus Scham häufig gar nicht wünschen.              in den Frauenhäusern nur begrenzt eingegangen
                      Auch ist ihnen der Austausch mit Kontakten                 werden kann, weshalb auch hier ein Ausbau von
                      und Freundschaften in den Sozialen Medien                  Kooperationen mit der Jugendhilfe sinnvoll sein
                      erschwert, weil sie entweder im Frauenhaus nur             könnte (§13 SGB VIII)12.
                      über unzureichende Internetverbindung verfü-
                      gen oder aber aus Gefährdungsgründen so nicht              Auch wenn Frauenhäuser zwar als notwendige
                      kommuniziert werden darf.                                  und wichtige Schutzeinrichtung angesehen wer-
                                                                                 den können, sie zudem als vorübergehende Sozi-
                      Zudem fühlen sie sich mitunter durch die älte-             alisationsinstanz für die weiblichen und männli-
                      ren Bewohner*innen bemitleidet, übermäßig                  chen Jugendlichen und die jungen Frauen einen
                      um­sorgt und bemuttert, aber auch gegängelt,               Resilienz fördernden, wichtigen Schutz- und
                      oder sie erfahren Erziehungsmaßnahmen, denen               Möglichkeitsraum zur Persönlichkeitsentwicklung
                      sie sich selbst entwachsen fühlen, was den                 und zur Verarbeitung der Gewalterfahrungen
                      Zugang und die Beziehungen zu den Frauenhaus­              für diese Zielgruppe darstellen, dürfen auch die
                      bewohner*innen erschweren kann.                            Belastungen, die mit einem Frauenhausaufent-
                                                                                 halt einhergehen können, nicht verschwiegen
                      In Bezug auf eventuell vorhandene eigene Kinder            werden. Neben der bereits beschriebenen räum-
                      sehen sie sich häufig sozialer Kontrolle durch             lichen Enge und den häufig fehlenden perso-
                      andere Bewohner*innen oder Mitarbeiter*innen               nellen und finanziellen Ressourcen, mit denen
                      im Frauenhaus ausgesetzt und auch hier mehr                die Frauenhausarbeit belastet ist, weshalb die
                      oder minder aus ihrer Wahrnehmung heraus                   Jugendlichen mitunter aus dem Blick geraten,
                      dominiert und kontrolliert. Zugleich fühlen sie            können weitere Faktoren den vorübergehenden
                      sich vereinzelt in Bezug auf ihre lebens- und              Aufenthalt für die Jugendlichen erschweren. So
                      alltagspraktischen Kompetenzen zu wenig auf ein            werden von ihnen durchaus auch die Erzählun-
                      Leben mit einem Kind vorbereitet und bräuch-               gen der anderen Frauenhausbewohner*innen als
                      ten hier mehr Unterstützung, die im Rahmen der             zusätzlich psychisch belastend erlebt.
                      Frauenhausarbeit häufig aufgrund der Arbeits-
                      zeiten der Mitarbeiterinnen und mangelnder

                      10 Auch ein Mangel an räumlichen Ressourcen kann hier als Problem angesehen werden, denn häufig ist eine
                          Appartementstruktur in den Frauenhäusern (noch) nicht gegeben, die dazu beitragen könnte, dass den Bedürf-
                          nissen der jungen Frauenhausbewohner*innen eher Rechnung getragen werden kann. Männliche Jugendliche
                          hätten dann auch eher die Möglichkeit, mit ihren Müttern aufgenommen zu werden und das Frauenhaus als
                          gemeinsamen Schutzort zu erfahren.
                      11 Nach § 19 SGB VIII haben Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, Anspruch
                          auf Betreuung und Unterkunft, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form zur
                          Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
                      12 Auch wenn die Jugendsozialarbeit bisher nur unzureichend die Gewalt, denen junge Menschen in ihren Fami-
                          lien ausgesetzt sind, als solche benennt und als soziale Benachteiligung versteht, so ist es doch Aufgabe der
                          Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII, sich insbesondere der Jugendlichen anzunehmen, die durch soziale
                          Benachteiligungen betroffen und daher in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind. Für sie sollen
                          sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, „die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in
                          die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern“ (§ 13, [1] SGB VIII).

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