1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN

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1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
Ausgabe 4 | 2021

ÄTHIO PIEN:

1.000 Tage
entscheiden
über ein
ganzes Leben
AFGHANISTAN:

Unsere Arbeit geht weiter
„WO CHE DER WELTHUNGERHILFE“:
Klimakrise macht Hunger
1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
Wir sollten uns bewusst
machen, dass vieles von
dem, was wir hier tun,
in anderen Ländern für
Not und Hunger sorgt.
TV-Moderator Daniel Boschmann
war zu Gast beim Podcast
„Welthungerhilfe direkt“.
Dort spricht er über
seine Motivation für
soziales Engagement
und politische
Veränderung.
Zu hören unter
welthungerhilfe.de/
podcast.

                  magazin 4 | 2021
1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
EDITO RIA L | INH A LT

Liebe Freund*innen der Welthungerhilfe,
es ist schwer, dieser Tage nicht den Mut zu verlieren. Im
August bebte in Haiti die Erde, über zweitausend Men-
schen starben, viele Tausend wurden verletzt, verloren
ihr Hab und Gut und ihr Zuhause. Die Welthungerhilfe
steht Betroffenen zur Seite, unterstützt sie mit Trinkwas-
ser, Lebensmitteln und Bargeld (S. 9).

Und ein weiteres Ereignis erschütterte im August die
Welt: In unfassbarer Geschwindigkeit eroberten die Ta-
liban nach Abzug der internationalen Truppen ganz Af-
ghanistan. Die Bevölkerung ist verunsichert – ­ was wird
sich durch die neuen Machthaber verändern? Auch für

                                                              12
die Welthungerhilfe stellte sich diese Frage. Wir haben
sorgfältig abgewogen und uns entschieden: Wir werden
unsere Arbeit in Afghanistan fortsetzen. Über die Bedin-
gungen führen wir derzeit Gespräche mit den Gemeinden.
Beispielsweise dürfen die Frauen der Safran-Kooperati-         TITELTHEMA: ÄTHIOPIEN
ve in Herat ihre Tätigkeit weiterführen (S. 6). Doch der
                                                              1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben
Preis für Safran ist gefallen. Die sich ausweitende Wirt-
                                                              In der äthiopischen Amhara-Region leiden vor allem Säuglinge
schaftskrise in Verbindung mit einer schweren Dürre und
                                                              und Kleinkinder an chronischer Unter- und Mangelernährung –
den Folgen der Corona-Pandemie sind für viele im Land
                                                              mit schwerwiegenden Folgen.
bedrohlich. Deshalb leisten wir verstärkt Nothilfe, gera-
de vor den harten Wintermonaten.

Mut aber macht ein Projekt in der äthiopischen Amhara-               AKTUELL
Region. Hier leben die Menschen unter schwierigsten                  4       Wie aus Sonne Ernte wird
Bedingungen, wie die Familie der jungen Mutter Alemie.               6       Unsere Arbeit in Afghanistan geht weiter
Ihre Tochter leidet unter den Folgen frühkindlicher Man-             9       Haiti kommt nicht zur Ruhe
gelernährung. Für ihren kleinen Sohn jedoch kamen die                FÖRDERPARTNER*INNEN
Aktivitäten zu ausreichender und nährstoffreicher Er-
                                                                     10 Ein Job mit Schutzfaktor – für die Natur
nährung noch rechtzeitig, und innerhalb der so wichtigen
ersten 1.000 Lebenstage konnte er sich gesund entwickeln.            INTERVIEW
Mit Blick auf Äthiopien gilt unsere Sorge dem sich aus-              18	Léa Knust: „Die Dynamik meiner Arbeit
breitenden gewaltsamen Konflikt in der Region Tigray.                     schätze ich am meisten“

Mut macht auch das Ergebnis der diesjährigen „Woche                  HINTERGRUND
der Welthungerhilfe“. Unter dem Motto #Klimakrise-                   20 Welthunger-Index 2021
MachtHunger setzten sich Menschen jeden Alters dafür                 22 Wo ist der Hunger am größten?
ein, klimagerechter zu handeln und Familien im Globa-
                                                                     STIFTUNG WELTHUNGERHILFE
len Süden nicht mit den unverschuldeten Folgen der
                                                                     24 „Einen Beruf zu erlernen ist das Wichtigste“
Klimakrise alleinzulassen. Wir bedanken uns bei allen,
die mitgemacht und dieses wichtige Thema breit in die                AKTIONEN & KOOPERATIONEN
Öffentlichkeit getragen haben.                                       26 Klimakrise macht Hunger
                                                                     28	Skill Up! bietet Sicherheit in der Krise
                                                                     29	Post aus der Türkei

                                                                     PANORAMA
                                                                     30	Kompliziertes leicht erklärt I „Summer for
Herzlichst, Ihr                                                          friends“ I „Jeder Bissen zählt!“
                                                                     31	Mozart für Madagaskar I Steuerhinweis

                                                                         Zu „magazin“ 3/2021: Leider hatten wir die Bevölkerungs­
                                                                         zahl zu Peru auf S. 15 versehentlich aus der vorherigen
                                                                         ­Ausgabe zu Bangladesch übernommen. Zutreffend ist: Laut
                                                                          Weltbank lebten 2020 in Peru rund 33 Millionen Menschen.
                             Mathias Mogge, Generalsekretär

                                                                                    3    magazin 4 | 2021
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A K T UEL L : TA D S CHIKISTA N                                         RUBRIK-T HEM A

Wie aus Sonne Ernte wird
Von Zaro Kurbanbekova

Inmitten schroffer Felsen blitzen die Paneele der         thoden an, zudem kämpfen sie mit den Folgen des Klima-
Solaranlage von Rahmonov Hamza. Seine Anlage liefert      wandels. Große Waldflächen schwinden, weil die Men-
genug Energie, um den kleinbäuerlichen Familienbetrieb    schen darauf angewiesen sind, mit Holz zu heizen und zu
in der kargen und armen Gebirgsregion Tadschikistans      kochen. Nur ein Zehntel der Fläche Tadschikistans ist
mit Wasser zu versorgen. Nur vier Stunden braucht die     landwirtschaftlich nutzbar, umso wichtiger ist es, diese
von Solarkraft betriebene Pumpe, um das von der Fami-     bestmöglich zu bewirtschaften. Die Familien von Baljuvon
lie selbst ausgehobene große Reservoir mit Wasser aus     machen es vor: Zehn kleinbäuerliche Kooperativen haben
dem nahe gelegenen Fluss Surkhob zu füllen. Früher        ihre Betriebsführung auf effiziente und ressourcenscho-
baute Familie Hamza hier Weizen an, doch die Ernte war    nende Landwirtschaft umgestellt. Fünf Kleinwasserkraft-
ohne Bewässerungsmöglichkeiten mager und das Leben        werke und 20 Solaranlagen ersetzen inzwischen Holz,
entbehrungsreich. Heute gedeihen auf ihrem Feld Kar-      Kohle und teuren Diesel durch Energie aus erneuerbaren
toffeln, prächtige Wassermelonen und Kürbisse, die sich   Quellen. Für die Söhne der Hamzas sind dies gute Voraus-
zu guten Preisen verkaufen lassen.                        setzungen, um einmal in die Fußstapfen ihrer Eltern treten
        Gemeinsam mit den Bauernfamilien und der Orga-    zu können.
nisation Bargi Sabz arbeitet die Welthungerhilfe in der                     Zaro Kurbanbekova ist Projektleiterin der
Region Baljuvon daran, die Landwirtschaft ertragreicher                            Welthungerhilfe in Tadschikistan.
zu gestalten. Denn das Einkommen der Menschen reicht        Mehr über unsere Arbeit in Tadschikistan finden Sie unter
kaum zum Leben, viele bauen nach längst überholten Me-          welthungerhilfe.de/informieren/laender/tadschikistan

                                                                             4    magazin 4 | 2021
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1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
A K T UEL L : A FGH A NISTA N

Unsere Arbeit in Afghanistan
geht weiter
Zum Schutz der abgebildeten Personen haben wir
die Gesichter unkenntlich gemacht.

Die humanitäre Not in Afghanistan war bereits vor
der Machtübernahme der islamistischen Taliban
groß – nun ist sie dramatisch. Für die Welthungerhil-
fe steht deshalb fest: Wir werden unsere Arbeit im
Land fortsetzen. Wie aber steht es um die Projekte,
vor allem um jene, an denen Frauen beteiligt sind?
Im „magazin“ 1/21 berichteten wir über die Safran-
Kooperative im Westen des Landes. Wie geht es                              Im Westen Afghanistans, in einer Landschaft voller Staub
                                                                           und Trockenheit, liegt die Stadt Herat, umgeben von Wüste. Am
dort weiter? Die Journalistin Andrea Jeska reiste im
                                                                           Horizont erstrecken sich die flachen Berge der Dau Shakh Ket-
Oktober nach Herat und traf dort die Frauen der                            te, und durch das breite Flussbett des Heirut ziehen sich nur
Kooperative. In ihrer Reportage erzählt sie von der                        Rinnsale. Seit Jahren wartet man hier auf genug Regen, doch
Lage im Land, und was sich für die Menschen im                             in diesem Sommer fiel so wenig, dass der Weizen noch am Halm
Projektgebiet verändert hat.                                               vertrocknete. Schon immer konnten die Bauern hier ihre Fami-
                                                                           lien kaum ernähren, doch seit diesem Sommer sind die, die über
Von Andrea Jeska                                                           die Runden kamen, arm und die Armen bitterarm.
                                                                                  Merajudin Shahabi aus dem Dorf Gabighan kämpfte vie-
                                                                           le Jahre mit der Not, die aus der Trockenheit der Wüste ent-
                               Familien in Not         Gerade für Kinder
                           erhalten Feuerholz       bedeutet die Kälte     sprang. Der Bauer, ein großer Mann mit kräftigen Händen, bau-
                           für die harten Winter­   eine große Gefahr.     te Kartoffeln und Zwiebeln an, hielt einige Schafe und Kühe,
                           monate.                                         und schaffte es, in guten Jahren 3.000 Afghani, umgerechnet

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1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
30 Euro, im Monat zu verdienen. In schlechten Jahren waren es
nur 2.000 Afghani ­– weniger, als ein 25-Kilo-Sack Reis kostet.
Die gesamte Last des Geldverdienens lag allein auf seinen Schul-
tern, und wenn ein Hüne wie Merajudin sagt: „Ich fühlte mich
sehr allein“, dann lässt das die Größe dieser Last ahnen.
         Bibi Gul, Merajudins Ehefrau, hat ihren eigenen Kopf.
Das merkt man sofort, wenn man sie kennenlernt. Sie hat die
Hälfte der Last, wenn nicht mehr, vor zwei Jahren von ihrem
Mann genommen. Indem sie Teil einer Frauenkooperative wur-
de, die Safran anbaut, erntet, verarbeitet und vermarktet. Nicht
                                                                      Wir lassen die M
                                                                                     ­ enschen
irgendeinen Safran, sondern solchen, der zu den Weltbesten            nicht im Stich
zählt. Zwei Sätze bringen auf den Punkt, welchen Unterschied
                                                                      Thomas ten Boer ist Landesdirektor der Welthungerhilfe.
das für die Familie macht. „Ich bin jetzt sichtbar und werde re-
                                                                      Er berichtet über die nächsten Schritte der Welthungerhilfe
spektiert“, sagt Bibi Gul. „Ich bin nicht mehr allein“, sagt Me-
                                                                      unter den erschwerten Bedingungen.
rajudin.
         Der Safranverband „Socio-agricultural women of               Besonders in den ländlichen Regionen ist die Not erschre­
­Pash­toon Zarghoon District“ ist eine Initiative der Welthunger-     ckend. Unsere Erkundungsmissionen im Norden und Osten
 hilfe. Deren lokaler Partner RAADA (Rehabilitation Association       des Landes zeigen die verheerende Zerstörung und ein riesiges
                                                                      Ausmaß an Armut, Hunger und Verzweiflung in den Dörfern.
 and Agriculture Development for Afghanistan) hat seinen Sitz
                                                                      Die Menschen befinden sich in einem Teufelskreis: Aufgrund
 in Herat, einer alten Handelsstadt an der ehemaligen Seiden-
                                                                      internationaler Sanktionen ist das Bankensystem lahmgelegt,
 straße. Herat, das war das wohlhabende Zentrum der Dichter           es fehlt an Bargeld, die Preise für Nahrungsmittel schnellen
 und Musiker, der Sufi-Meister, der besten Teppichknüpfer, Sitz       in die Höhe und vor allem alleinstehende Frauen wissen
 der renommierten Balkh-Universität. Heute leben hier 600.000         kaum, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Sie dürfen ihrer
 Menschen. Am 12. August dieses Jahres wurde Herat nach ta-           Arbeit nicht mehr nachgehen, oftmals ihr Haus nicht ohne
 gelangen Kämpfen an die Taliban übergeben. Die Provinzregie-         männliche Begleitung verlassen.
 rung und die Sicherheitskräfte hatten sich zuvor in eine nahe-
                                                                      Zudem sind die wirtschaftlichen Schäden der Corona-Pande­
 gelegene Armeebasis abgesetzt, die Taliban marschierten unge-        mie enorm, anhaltende Dürre beeinträchtigt die Ernten und
 hindert ein.                                                         für die Wintersaison sind erneut unterdurchschnittliche Nie­
         Nach den ersten angstvollen Wochen, in denen sich kaum       derschläge vorhergesagt. Seit Jahren leben Binnenvertriebene
 ein Mensch auf die Straße wagte und vor allem die Frauen da-         in informellen Siedlungen rund um die Hauptstadt Kabul,
 heimblieben, hat sich die Lage normalisiert. Das bunte Treiben       ohne medizinische Versorgung, angemessene Unterkunft
 ist wieder erwacht, entlang der Straßen bieten Händler Kleidung      und Schulbildung für ihre Kinder. Im Winter wird sich diese
 und Gewürze an, es riecht nach Zimt und Kardamom. Das Büro           hoffnungslose Situation noch dramatisch verschlimmern,
 von Nazir Ghafoori, Direktor von RADAA, liegt in einem Hin-          wenn die Häuser kaum Schutz vor Temperaturen weit unter
 terhof mitten in Herat. Eigentlich ist der Mitfünfziger Veterinär,   Null bieten. Wir bereiten die Verteilung von Heizmaterial und
                                                                      einfachen Öfen an bedürftige Familien in ländlichen Gebieten
 seit vielen Jahrzehnten aber engagiert er sich für die Rechte und
                                                                      und in Kabul vor.
 die Stärkung der Frauen auf dem Land. Er hat ein halbes Dut-
 zend Initiativen auf den Weg gebracht, um diesen Frauen ein          Unsere Arbeitsmöglichkeiten sind derzeit noch unklar. Bei­
 eigenes Einkommen und minimale Freiheiten zu ermöglichen.            spielsweise wissen wir nicht für alle Projekte, ob Frauen ihre
 Aus der Kooperation mit der Welthungerhilfe entstand die Idee        Arbeit fortsetzen können und unter welchen Bedingungen. Ob
 des Safrananbaus.                                                    der ungehinderte Zugang zu den Bedürftigen, die Neutralität
                                                                      der humanitären Hilfe und die Sicherheit für unser Team von
         Kaum verlässt man die breiten Straßen von Herat auf
                                                                      der neuen Regierung garantiert werden können. Vorüberge­
 dem Weg in die umliegenden Dörfer, wird das Land öde. Ver-
                                                                      hend haben wir unsere Entwicklungsaktivitäten eingestellt
 kümmerte Vegetation, Bauern auf Eselskarren, Lehmhäuser mit
                                                                      und konzentrieren uns auf die Nothilfe. Beispielsweise erhal­
 abgerundeten Dächern. Die wenigen Läden, die es dort noch            ten seit Oktober 6.500 besonders bedürftige Familien in der
 gibt, verkaufen gerade mal die Grundnahrungsmittel und Plas-         Provinz Nangarhar Lebensmittel wie Mehl, Öl, Hülsenfrüchte
 tiksandalen in allen Farben. Wer hier lebt, muss widerstandsfä-      und Salz. Im November wurde die Hilfe auf 10.500 Familien
 hig und bescheiden sein. In das Safran-Projekt werden vor allem      ausgeweitet.
 jene Frauen aufgenommen, die mit großer Not zu kämpfen ha-
                                                                      Die Welthungerhilfe war auch während der ersten Taliban-
 ben. „Wir fahren in die Dörfer und schauen, welche Familien          Regierung in Afghanistan tätig. Damals wie heute sprechen wir
 am ärmsten sind. Voraussetzung ist, dass sie ein Stück Land          über unsere Projekte mit den jeweiligen Dorf- und Stadträten.
 besitzen, auf dem die Frauen anbauen können. Dann reden wir          Gemeinsam gehen wir für Verhandlungen auf die Taliban zu.
 mit den Dorfältesten und den Ehemännern. Wir erklären ihnen,         Für uns steht fest, dass wir im Land bleiben werden, um un­
 welche Vorteile es hat, wenn die Frauen Geld verdienen. Wir          sere humanitäre Aufgabe zu erfüllen. Wir dürfen und werden
 stoßen selten auf Schwierigkeiten, denn die Einsicht der Männer      die Menschen nicht im Stich lassen!

                                                                                 7    m a g a z ii nn 4 | 2 0 2 1
1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
A K T UEL L : A FGH A NISTA N

ist groß“, sagt Nazir Ghafoori. Die ausgewählten Frauen, 100 sind   verstünden. „Viele Männer sind arbeitslos oder verdienen nur
es zurzeit, erhalten je 400 Safranzwiebeln von der Welthunger-      wenig Geld. Mindestens ein Viertel aller afghanischen Familien
hilfe und ein Training über den Anbau. Um in der Kooperative        wird komplett von Müttern oder Töchtern ernährt, ein weiteres
ihre Waren selbstständig vermarkten zu können, gibt es auch         Viertel mit deren Hilfe. Ihnen die Mitarbeit zu verwehren, wür-
Alphabetisierungs- und Buchhaltungskurse. Bei allen Fragen          de zu katastrophaler Not führen.“
und Problemen werden die Frauen von RADAA beraten und                      Wirtschaftlich gesehen ist die neue Lage dennoch eine
engmaschig betreut.                                                 existenzielle Bedrohung. Die Talibanregierung hat kein Geld,
        Für Bibi Gul und die Frauen der Initiative hat sich durch   mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sind nun ohne Arbeit. Die
die Machtübernahme der Taliban politisch wenig geändert. Schon      Vereinten Nationen warnen vor einer Hungersnot, wenn nicht
davor waren die meisten Dörfer in der Steppe um Herat unter         weiterhin in großem Format humanitäre Hilfe ins Land kommt.
der Kontrolle der Islamisten, und diese ließen sie gewähren, weil   Zudem steht der Winter vor der Tür, zum Heizen fehlt den Men-
sie die Unterstützung der Hilfsorganisationen zur Versorgung        schen das Geld, in manchen Gebieten fällt für viele Stunden am
der Bevölkerung brauchten. Denn während des sogenannten             Tag der Strom aus. Die Kosten für Grundnahrungsmittel wie Reis,
Anti-Terror-Krieges der Amerikaner und der NATO verstärkte          Mehl und Öl sind um 30 bis 50 Prozent gestiegen. Bereits jetzt
sich die Armut in Afghanistan mit jedem Jahr. Die Gründe da-        liegen in den Krankenhäusern unterernährte Kinder, hat sich die
für sind nicht allein die Dürren, sondern unter anderem auch        Zahl der Bettelnden in den Städten vervielfacht. Der britische
die vielen Kämpfe, vor denen die Menschen flohen, und die           Sender BBC berichtete kürzlich von Familien, die eines ihrer
Marginalisierung der Landbevölkerung. In Armutsbekämpfung,          Kinder verkaufen, um die anderen Kinder ernähren zu können.
das Gesundheitssystem und die Infrastruktur wurde von afgha-               Auch die Frauenkooperative leidet unter der wirtschaft-
nischer Seite so gut wie nicht investiert, diese Aufgaben blieben   lichen Talfahrt. Schon mit Beginn der Corona-Pandemie fiel der
den Hilfsorganisationen überlassen.                                 Preis für Safran um 50 Prozent, nun fällt er weiter. Auch des-
                                                                    halb, weil Afghanistan jetzt isoliert ist, das Bankensystem noch
Mit der Machtübernahme der Islamisten in Afghanistan                immer nicht funktioniert und der Export ins Ausland schwierig
und deren Ankündigung einer rigiden islamischen Staatsfüh-          bis unmöglich geworden ist. Wie die Zukunft für den Safranan-
rung, die Frauen das Recht auf Arbeit und Bildung verwehrt,         bau und für die Frauen in seinem Land aussieht, weiß auch Na-
kam jedoch die bange Frage auf, wie es mit der Kooperative          zir Ghafoori nicht einzuschätzen. „Es sind dunkle Zeiten“, sagt
weitergehen würde. Dass die Frauenorganisation ihre Arbeit          er, „und wir können nur hoffen, dass sie wieder heller werden.“
bislang fortsetzen darf, verdankt sie den Verhandlungen der
Welthungerhilfe mit den Gemeinderäten und der engagierten                     Die freie Journalistin Andrea Jeska besuchte Afghanistan
Vermittlungsarbeit von RAADA. Denn jene Taliban, die in den                       über die Jahre regelmäßig, zuletzt im Oktober 2021.

Dörfern um Herat das Sagen haben, so erklärt Ghafoori, seien                  Mehr über unsere Arbeit in Afghanistan finden Sie unter:
Einheimische, die die prekäre Lebenssituation der Menschen                         welthungerhilfe.de/informieren/laender/afghanistan

                                                      Ich bin jetzt
                                                  sichtbar und werde
                                                      respektiert.

                      magazin 4 | 2021        8
1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
A K T UEL L : H AITI

Haiti kommt
nicht zur Ruhe
Am Morgen des 14. August 2021 erschütterte
ein E
    ­ rdbeben der Stärke 7,2 auf der Richterskala
den Süden Haitis. Zehntausende Häuser wurden
zerstört, mehr als 2.000 Menschen starben.
Nur wenige Tage später fegte Tropensturm
„Grace“ über das betroffene Gebiet hinweg.
Viele Tausend Menschen sind seither auf Hilfe
angewiesen. Die Welthungerhilfe und ihre
Partner unterstützen Familien mit dem Nötigsten.
Von Tanja Heimann

Die Bilder weckten schreckliche Erinnerungen an das
schwere Erdbeben von 2010, und diesmal waren die Erdstöße
sogar noch stärker. Wieder verloren zehntausende Menschen ihr                                                               Familien, die
Dach über dem Kopf, die Krankenhäuser waren überlastet mit                                                              ­ esonders schwer vom
                                                                                                                        b
                                                                                                                        Erdbeben betroffen
Verletzten und es fehlte an medizinischer Ausrüstung, vielerorts
                                                                                                                        sind, erhalten finan­
hatten die Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.                                                              zielle Unterstützung.
Das Erdbeben traf vor allem die südliche Halbinsel, ein Gebiet,
das zu den ärmsten des Landes mit einer schlechten Infrastruk-                                                             Dank der Wasser­
tur gehört. Die einzige Straße aus der Hauptstadt Port-au-Prince                                                        aufbereitungsanlagen
führt durch Gegenden, die seit Juni unter der Kontrolle von be-                                                         bekommen viele
waffneten Gruppen stehen. Denn die Katastrophe trifft den Ka-                                                           Tausend Menschen
                                                                                                                        sauberes Trinkwasser.
ribikstaat zu einer Zeit, die ohnehin von politischer Instabilität,
wirtschaftlicher Misere und großer Not geprägt ist. Im Juli wur-
de der damalige Präsident Jovenel Moïse ermordet. Gleichzeitig
leidet Haiti schwer unter den wirtschaftlichen Folgen der Coro-
na-Pandemie.
       Gleich nach dem Beben verteilte das Team der Welthun-
gerhilfe Hygieneartikel sowie Planen und Decken. Gemeinsam
mit der französischen Organisation ACTED, einem unserer Part-
ner im europäischen Netzwerk Alliance2015, versorgt die Welt­
hungerhilfe zudem drei schwer betroffene Gemeinden der Dépar-                Nur wenige Tage nach dem Erdbeben wurden die Men-
tements Grand-Anse und Sud mit Trinkwasser. 15.000 Menschen           schen im Süden des Landes von Tropensturm „Grace“ heimge-
erhalten mit Tanklastwagen Wasser für einen Monat. Darüber            sucht. Dieser brachte Starkregen und löste neben Schlammla-
hinaus erhalten 300 Familien direkte finanzielle Unterstützung        winen auch Erdrutsche aus, die das Leid der Bevölkerung weiter
über unseren lokalen Partner FODES-5 im Département Nippes.           verschlimmerten. Denn die provisorischen Unterkünfte konnten
So können sie ihren Bedarf an Lebensmitteln oder Dingen, die          den Fluten nicht standhalten, viele Menschen mussten ohne je-
sie durch die Katastrophe verloren haben, individuell selbst de-      den Schutz im Freien ausharren. Es wird noch lange dauern, bis
cken. Haiti zählte schon vor dem Beben zu den ärmsten Ländern         sich die Menschen von den Folgen der Katastrophe erholt haben
der Welt, etwa die Hälfte der Bevölkerung muss mit weniger als        und ihren Alltag wieder aus eigener Kraft bestreiten können.
einem US-Dollar am Tag auskommen. Für viele Familien sind             Wir bleiben vor Ort und werden weiterhin diejenigen unterstüt-
aufgrund der enorm steigenden Preise sogar Grundnahrungs-             zen, die dringend Hilfe benötigen.
mittel fast unerschwinglich geworden: Ein Brot kostet derzeit
umgerechnet 1,60 Dollar, ein Liter Speiseöl einen Dollar. Infol-           Tanja Heimann arbeitet im Team der Welthungerhilfe in Haiti.
gedessen sind mehr als zwei Drittel der Kinder unter fünf Jahren                       Mehr über unsere Arbeit in Haiti finden Sie unter:
unterernährt.                                                                               welthungerhilfe.de/informieren/laender/haiti

                                                                                       9     magazin 4 | 2021
1.000 Tage entscheiden über ein ganzes Leben - Unsere Arbeit geht weiter AFGHANISTAN
FÖ RD ERPA RT NER*INNEN

                 Ein Job mit Schutzfaktor –
                 für die Natur                            Für Patricie Mukunzi ist ihr neuer Ofen, den sie
                                                          selbst gebaut hat, ein Segen. „Ich brauche nur noch
                                                          halb so viel Brennstoff wir früher“, sagt die junge
                                                          Mutter. „Manchmal kann ich mit der gleichen Menge
Gerade junge Menschen sehen sich in Burundi großen        sogar noch länger kochen.“ In einem Dorf wie Ma-
Problemen gegenüber. Es herrscht hohe Arbeitslosigkeit,   rangara im Norden Burundis ist Feuerholz so kostbar
der Klimawandel und eine rasch wachsende Bevölke-         wie für andere Menschen Gold. Die kleinbäuerlichen
rung haben zur Folge, dass immer mehr Bauernfamilien      Familien kochen und heizen mit Holz, sie bauen da-
immer w ­ eniger fruchtbares Land zur Verfügung steht.    mit ihre Häuser, Ställe und Lagerräume und produ-
In der nördlichen Provinz Ngozi können sich viele kaum    zieren Holzkohle für den eigenen Bedarf oder zum
                                                          Verkauf. Andere Einkommensmöglichkeiten sind sel-
mehr ausreichend ernähren. Ein Projekt der Welthunger­
                                                          ten in der verarmten Region. Fast alle Familien leben
hilfe bildet deshalb gezielt junge Menschen aus – für     hier vom Ertrag ihrer kargen Felder oder der einfachen
ein sicheres E­ inkommen und die Fähigkeit, ihre Heimat   Verkohlung von Holz. Wald und Ackerfläche aber
durch nachhaltiges ­Wirtschaften zu schützen.             schrumpfen zunehmend, denn die Bevölkerung wächst

Von Amédée Nkurunziza

                  magazin 4 | 2021   10
FÖ RD ERPA RT NER*INNEN

                                                      FÖR D E R P A R T N E R * I N N E N
schnell und der Klimawandel vernich-                                                             es unterstützt vom Bundesministerium
tet ganze Landstriche durch Starkre-                Gemeinsam                                      für wirtschaftliche Zusammenarbeit
gen oder Extremdürren. Also schla-
gen die Menschen die verbliebenen
                                               verändern wir die Welt                               und Entwicklung.
                                                                                                             „Bisher habe ich keine Pers-
Bäume, um neue Äcker anzulegen                    Als Förderpartner*in geben Sie jungen               pektiven für mich und meinen Sohn
oder Brennmaterial zu sammeln.                ­Menschen wie Patricie Mukunzi die C  ­ hance,          in unserem Dorf gesehen“, sagt Em-
Die Folge ist eine permanente Ab-                sich und ihren Kindern ein gutes Leben               manuella Uwizerimana. Nun
wärtsspirale: mehr Erosion, ausge-                ­aufzubauen. Dank Ihrer Unterstützung              schöpft sie wieder Hoffnung: „Das
laugte Böden, weniger Produktivität            bilden sie sich in einem zukunftsweisenden           Projekt gibt mir die Möglichkeit zu
in der Landwirtschaft, größere Schä-                Beruf fort. So nehmen sie ihr Leben           einer Ausbildung in der Landwirt-
                                                             selbst in die Hand.
den durch klimabedingte Extremwetter                                                            schaft. Von dem Geld, das ich damit
und wachsender Hunger.                                                                        erwirtschafte, möchte ich mir ein kleines
        „Wir wollen Zerstörtes in unserer Hei-                                             Gewerbe aufbauen und Ziegen halten. Damit
mat wieder aufbauen“, sagt Patricie Mukunzi. Sie                                        kann ich meinem Sohn eine bessere Zukunft er-
gehört zu den 1.200 jungen Menschen in der Provinz                               möglichen.“ Das Umwelt- und Wirtschaftsprojekt der
Ngozi, die arbeits- und mittellos waren und im Ausbildungs- Welthungerhilfe setzt auf mehreren Ebenen an. Neben dem
projekt der Welthungerhilfe eine Chance bekommen. Gemeinsam nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen erwerben die
wollen sie ihre eigene und die Zukunft ihrer Kinder aktiv in die jungen Menschen wichtige Kenntnisse für zukunftsweisende
Hand nehmen. „Wir pflanzen neue Bäume und stellen energie- Berufe, wie angepasste Landwirtschaft, Tierhaltung, Aufzucht
sparende Öfen her“, erläutert Patricie das Projekt. Der Fortschritt von Nutzholz- und Fruchtbäumen, Ofenbau oder umweltbe-
kann sich in Marangara schon sehen lassen: Innerhalb eines wusste Waldnutzung. Auch die Produktion von Holzkohle mit
halben Jahres hat Patricie Mukunzi mit ihren Kolleg*innen mehr verbesserten Verkohlungstechniken ist in Burundi eine Ausbil-
als 92 Hektar des Gikomero-Hügels aufgeforstet. 2.500 Famili- dung mit ­Zukunft.
  en kochen inzwischen mit energieeffizienten Lehmöfen, und
   immer mehr Menschen nutzen verbesserte Verkohlungstech- Begleitet werden alle Maßnahmen von Informationskam-
     niken zur Gewinnung von Holzkohle. Viele Schulen im Pro- pagnen über die Vorteile der neuen Herde oder die Auswirkun-
      jektgebiet haben ebenfalls neue Kochstellen erhalten, mas- gen der Übernutzung natürlicher Ressourcen. Darüber hinaus
       siver als die handlichen Lehmöfen für den Privatgebrauch. organisieren sich Emmanuella Uwizerimana und Patricie Mu-
        Insgesamt sollen bis Ende des Jahres 24.000 Öfen entste- kunzi mit ihren Mitstreiter*innen in Spar- und Kreditgruppen.
        hen. Für das Projekt arbeitet die Welthungerhilfe mit den „Dadurch bekomme ich die Möglichkeit, das Startkapital für
        Partnerorganisationen „Reseau Burundi 2000 Plus“ und meine Ziegenzucht zu erhalten“, sagt Emmanuella Uwizerimana.
         „Burundi Business Incubator“ zusammen. Finanziell wird Bis sie genug Geld angespart hat, forstet sie weiter Hügel auf
                                                                         und töpfert Lehmöfen, damit noch mehr Familien dazu beitra-
                                                                         gen können, ihre Heimat zu schützen.

                                                                                                           Amédée Nkurunziza arbeitet im Team
                                                                                                               der Welthungerhilfe in Burundi.

                                                                                            Mehr über unsere Arbeit in Burundi finden Sie unter:
                                                                                                 welthungerhilfe.de/informieren/laender/burundi

                                           Junge Menschen                                             Sie möchten mehr über
                                       erlernen das Töpfern                                           Förderpartnerschaften erfahren:
                                       holzsparender Öfen.
                                                                                                       Pia Vadera
                                       Das bietet ihnen gute
                                       Perspektiven und                                                Förderpartner*innenbetreuung
                                       schützt zugleich die                                            Tel. 0228 2288-278
                                       nur noch spärlich                                               foerderpartner@welthungerhilfe.de
                                       bewaldeten Hänge.

                                                                                              11     magazin 4 | 2021
RUBRIK-T HEM A
TITELTHEMA: ÄTHIOPIEN

1.000 Tage
entscheiden
über ein
ganzes Leben

   Nimmt ein Kind bis zu
seinem zweiten Geburts­
tag zu wenig Nährstoffe
zu sich, besteht ein hohes
Risiko für bleibende
gesundheitliche Schäden.

    In Schulungen lernen
Mütter, gesunde Nah­
rungsmittel anzubauen
und ausgewogene Mahl­
zeiten zuzubereiten.

                             Die Amhara-Region im Norden Äthiopiens ist eines
                             der ärmsten Gebiete am Horn von Afrika. Im trockenen
                             Hochland reichen die Ernten kaum für das Lebens-
                             notwendigste. Vor allem Säuglinge und Kleinkinder
                             leiden an chronischer Unter- und Mangelernährung –
                             mit schwerwiegenden Folgen. Die Welthungerhilfe för-
                             dert hier einen ertragreicheren, hochwertigeren und
                             nährstoffreicheren Anbau, gesündere Ernährung und
                             damit bessere Zukunftschancen für junge Familien.
                             Von Yohannes Belay 

                                          13    magazin 4 | 2021
TI TELTHEM A: ÄTHI OPI EN

Manchmal kann es Alemie Dawit* kaum fassen, wie sich
die Dinge in ihrem Leben entwickelt haben. Im Schatten ihres
Holzhauses erzählt die junge Frau, wie oft sie und ihr Mann
kurz davor waren aufzugeben, weil die Not zu groß wurde, wenn
                                                                      Die Chance der ersten
                                                                                       Ixxxxxxxxxxxxxxxxx
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alle Reserven aufgebraucht waren. Wie sie aber dann aus 50
Kilogramm Getreidesaatgut einen kleinen Holzhandel und eine
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Mühle für das Dorf aufgebaut haben. Und was noch viel wich-           Während der ersten 1.000 Lebenstage, also von Beginn
                                                                                    xxxxxxxxxxxxxxxx.
tiger ist und so selbstverständlich erscheint: dass ihr einjähriger   der Schwangerschaft bis zum zweiten Geburtstag, ist
Sohn Dereje kerngesund ist. „Sehen Sie, wie gut sich mein Baby        Unterernährung besonders     lebensbedrohlich. Nimmt
                                                                                        Fxxxxxxxxxxxxxxxxx
entwickelt“, sagt die Äthiopierin froh. Als jedoch ihr Blick auf      ein Kind in dieser  Zeit zu wenig Nährstoffe wie Vita­
                                                                                     xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
ihre siebenjährige Tochter fällt, erlischt ihr Lächeln. Ayana hockt                  xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
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                                                                                     xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
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zu ihren Füßen und kritzelt mit einem Stöckchen Figuren auf
                                                                                     xxxxxxxxxxxxxxxxxxx.
                                                                      Entwicklung stark   darunter leiden. Die Folgen sind
die trockene Erde. Das Mädchen ist schmal und zart, viel zu
                                                                      bleibende gesundheitliche Schäden, Konzentrations­
klein für ihr Alter.
                                                                      schwäche oder geringere körperliche Leistungsfähig­
        „Für meine Tochter kam das Pro-
                                                                      keit, die später wirtschaftliche Chancen schmälern
jekt zu spät“, sagt Alemie bedrückt.
                                                                      und bis hin zu einer kürzeren Lebenserwartung füh­
„Sie verlor immer mehr Gewicht,                                       ren können. Bei dauerhaftem Vitaminmangel besteht
war oft krank und wir wussten                                                 zudem die Gefahr zu erblinden. Vom Tag
nicht warum.“ Das Schicksal von                                                   der Empfängnis an spielt die Ernährung
Ayana teilen viele Mädchen und                                                      Schwangerer und stillender Mütter eine
Jungen in der Amhara Region:                                                         entscheidende Rolle für die Zukunft
97 Prozent der Kinder unter zwei                                                     ihrer Kinder.
Jahren bekommen weder genug
noch ausreichend Nahrhaftes zu
essen. Fast die Hälfte der Kinder un-                                                       Alemie ist froh, dass
ter fünf Jahren ist aufgrund von                                                        sich ihr Sohn gesund
Unterernährung körperlich                                                               entwickelt. Für ihre
nicht altersgerecht entwi-                                                              Tochter kam das Projekt
ckelt. Kein Wunder, denn                                                                leider zu spät.

Armut und Not bestim-
men den Alltag der Men-
                                                                                      schen, die zumeist vom Ackerbau und
                                                                                      von der Tierhaltung leben. Doch die Vo-
                                                                                      raussetzungen für Landwirtschaft sind
                                                                                         denkbar schlecht, traditionelle Metho-
                                                                                          den in der Tierhaltung und beim An-
                                                                                          bau werden zunehmenden Dürren
                                                                                          nicht gerecht und es fehlen Bewässe-
                                                                                          rungsmöglichkeiten.
                                                                                                  „Unser Leben war sehr schwer“,
                                                                                        erzählt Alemie, während der Wind die
                                                                                    staubtrockene Erde ihres Dorfes Shikurtie
                                                                                     aufwirbelt. „Wir hatten einen Ochsen, mit
                                                                                      dem wir unser kleines Feld bestellten. Wir
                                                                                        haben hart gearbeitet und so angebaut
                                                                                         wie schon unsere Eltern und davor deren
                                                                                         Eltern. Aber die Ernte reichte kaum zum
                                                                                      Überleben. Wir hatten keine Reserven, oft
                                                                                 fehlte uns Saatgut, wenn wir eigentlich hätten
                                                                                 säen müssen.“ Jeden Morgen kochte Alemie
                                                                                  auf offenem Feuer Shiro, einen äthiopischen
                                                                                  Erbseneintopf. Abends gab es für die Familie
                                                                                   im besten Falle einen Rest vom Frühstück,
                                                                                   wenn nichts mehr übrig war, gingen sie
                                                                                    hungrig zu Bett. Lebensmittel wie nährstoff-
                                                                                    reiches Gemüse, Obst, Fleisch oder Milch-

                       magazin 4 | 2021       14
TITELTHEMA: ÄTHIOPIEN

    Ayana schaut zu,
wie Vater Tarko das Getreide
der Familien aus den um­
liegenden Dörfern mahlt.
                                                      Das Wichtigste war, dass die Leute von ORDA
                                                      uns immer wieder motiviert haben, nicht aufzugeben.
                                                      Sie haben uns nicht nur Saatgut und Tiere zur
produkte waren für sie unerschwinglich. Ihre          Verfügung gestellt, sondern unseren gesamten
Ernährung änderte sich auch nicht, als Alemie
                                                      Alltag um­gestellt und unsere eigenen Fähigkeiten
mit Ayana schwanger wurde. „Ich wusste doch
damals nicht, wie wichtig eine gesunde Ernäh-         gestärkt. Das ist unbezahlbar.
rung für mich und mein Kind ist“, sagt Alemie.
       Auch den Älteren im Dorf war nicht klar,
dass Schwangere und stillende Mütter besonders auf ihre Er-        aus den umliegenden Dörfern zusammen. Auch Tarko nahm teil
nährung achten müssen. Woher auch? Niemand in der abgele-          und registrierte sich. „Kurze Zeit später erhielten wir 50 Kilo-
genen Region hatte jemals von dem entscheidenden Zeitfenster       gramm Weizen, Malzgerste und Hirse“, erzählt Alemie. Die Fach-
gehört. Die ersten 1.000 Lebenstage beeinflussen die Entwicklung   kräfte von ORDA schulten die Teilnehmenden in verbesserten
des gesamten Lebens. Also litt Ayana wie so viele andere Kinder    landwirtschaftlichen Techniken. „Wir lernten, das Korn in Reihen
im Dorf an chronischer Unterernährung. In der abgelegenen          auszusäen und zu düngen“, berichtet Alemie. „Mein Mann pflüg-
Gegend gab es zudem kaum Möglichkeiten Geld zu verdienen,          te das Feld mit unserem Ochsen, ich ging hinter ihm her und
um Lebensmittel zusätzlich zum Geernteten zu kaufen. Die jun-      brachte die Saat aus.“ Und die ging auf: Gleich die erste Ernte
gen Männer wie Alemies Mann Tarko betäubten ihre Verzweif-         brachte dem jungen Paar 900 Kilo Ertrag. „Davon konnten wir
lung mit billigem Hirsebier und Selbstgebranntem. „Wir hatten      uns gut ernähren, jetzt gab es auch nachmittags regelmäßig Es-
damals einfach keine Perspektive“, sagt Tarko, „das Projekt der    sen, und wir konnten noch etwas auf dem Markt verkaufen.“
Welthungerhilfe hat unser Leben komplett verändert.“               Von den Einnahmen erwarben sie ein größeres Stück Land direkt
                                                                   an der Straße und bauten ein Haus aus Holzlatten, Ästen, Lehm­
Alles begann anders zu werden, als das Team von ORDA               verputz und Wellblechdach, wovon sie vorher nur träumen
(Organization for Rehabilitation and Development in Amhara)        konnten, während sie in ihrer zugigen kleinen Hütte froren.
in der Gemeinde aktiv wurde. Die äthiopische Partnerorganisa-             Und so ging es weiter. Alemie lernte alles Wichtige über
tion der Welthungerhilfe stellte das Projekt zur nachhaltigen      Hühnerhaltung, Eierproduktion und Schafzucht. Sie erhielt
Nahrungs- und Ernährungssicherheit im Hochland von Amha-           Küken und Futter vom Projekt, außerdem einen Schafbock der
ra vor. Dafür trommelte die Gemeindeverwaltung die Menschen        widerstandsfähigen Washera-Rasse, mit dem sie eine kleine

                                                                                  15    magazin 4 | 2021
TIT ELT HEM A : ÄTHI OPI EN

Schafherde aufgezogen hat. Die Eier verkauft sie                                          Ihr Gespartes investierten Alemie und Tarko
ebenso an der Straße wie Holz zum Kochen                                              in eine Getreidemühle. „Die Mühle gibt uns ein
und Heizen. Das Holz gibt es mittlerweile                                                Einkommen, aber sie ist auch für die Gemein-
aus den drei gemeinschaftlichen Forstflä-                                                  schaft wichtig, weil die Leute nicht mehr
chen des Projektes, auf denen arbeitslose                                                   bis in die Stadt müssen“, sagt Tarko Dawit.
junge Menschen ihren Lebensunterhalt                                                         Es läuft so gut, dass sie zehn junge Män-
verdienen und gleichzeitig die Umwelt                                                        ner für die schweren Arbeiten wie das
schützen.                                                                                    Schleppen der Säcke und einen Wach-
        In der äthiopischen Savannenland-                                                    mann beschäftigen. Einige von ihnen ge-
schaft wird besonders deutlich, wie eng                                                     hörten früher zum Kreis derer, mit denen
Hunger und Armut mit den Folgen des Kli-                                                  Tarko zusammen trank. „Ich möchte den
mawandels verknüpft sind: Wetterextreme                                                 jungen Menschen im Dorf ein Vorbild sein“,
wie langanhaltende Dürren oder plötzliche Star-                                      sagt Tarko. „Wenn sie sehen, dass selbst ich mich
kregen und Überschwemmungen werden seit Jahren                                    verändert habe, wissen sie, dass sie es auch schaffen
häufiger und heftiger. Die Ernten gehen zurück, die Men-                   können.“ Alkohol fasst der junge Familienvater nicht mehr
schen fällen immer mehr Bäume für neue Ackerflächen oder             an. Vielmehr möchte das Paar seine Chancen weiter nutzen.
Brennholz. Dadurch verarmen die Böden, Wind und Wasser               „Wir wollen unseren Hof ausbauen und ein kleines Geschäft
tragen die fruchtbare Bodenkrume ab, die Erträge brechen er-         eröffnen“, sagt Alemie. Aber das Wichtigste für die Eltern ist,
neut ein. Hinzu kommt der akute Wassermangel. Das Projekt            dass ihre Kinder gesund aufwachsen. Dafür haben sie den Grund-
von Welthungerhilfe und ORDA geht diese Probleme an und              stein gelegt. Selbst Ayana wird ihren Weg jetzt leichter gehen.
findet Lösungen. Rund 60.000 Menschen profitieren von den
Aktivitäten: Obst- und Gemüsegärten werden angelegt, Flächen
                                                                       *Die Namen der Familienmitglieder haben wir durch Pseudonyme ersetzt.
aufgeforstet, Brunnen gebaut und nachhaltige Anbaumethoden
eingeführt.
                                                                            Yohannes Belay ist Senior-Programmberater für Landwirtschaft
        „Das Wichtigste war, dass die Leute von ORDA uns immer              und Ressourcenmanagement der Welthungerhilfe in Äthiopien.
wieder motiviert haben, nicht aufzugeben“, sagt Alemie. „Sie
haben uns nicht nur Saatgut und Tiere zur Verfügung gestellt,                       Mehr über unsere Arbeit in Äthiopien finden Sie unter:
sondern unseren gesamten Alltag umgestellt und unsere eigenen                           welthungerhilfe.de/informieren/laender/aethiopien
Fähigkeiten gestärkt. Das ist unbezahlbar.“ Alemie nahm an
Ernährungsberatungen und einer praktischen Schulung zu ge-                Der anhaltende bewaffnete Konflikt zwischen der Volksbefreiungsfront
sundem Kochen teil. Gemeinsam mit den anderen Frauen des                  von Tigray und dem äthiopischen Militär spitzt sich derzeit zu und weitet
Dorfes hat sie Karotten, Zwiebeln und Kohl angebaut, nährstoff-           sich auf die Regionen Amhara und Afar aus. Nach Redaktionsschluss
                                                                          erreichte uns die Nachricht, dass auch das Gebiet in der Amhara-
reichen Babybrei gekocht, die Vorzüge des Stillens und Hygie-             Region, in dem Alemie und ihre Familie leben, kurzzeitig betroffen
neregeln kennengelernt. Die junge Mutter ist froh: „Dereje hat-           war. Wir stehen mit den Kolleg*innen vor Ort in ständigem Austausch,
te so viel mehr Glück als seine große Schwester, von Anfang an            passen unsere Arbeit im Land den aktuellen Entwicklungen an und
                                                                          unterstützen die betroffenen Menschen.
mangelte es ihm an nichts.“

                                                                     In der Praxis lernt sich das
                                                                  Zubereiten ­gesunder Mahlzeiten viel
                                                                  einpräg­samer als in der Theorie.
TIT ELT HEM A : ÄT HIO PIEN

                                   Wird die Saat in
                                Reihen ausgebracht,
                                bringt dies einen deutlich
                                höheren Ertrag.

                                                                               SUDAN

                                                                              SÜD-
                                                                              SUDAN
                                                                                                      IA
                                                                                                    AL
                                                                                                   M
                                                                                                 SO
                                                                                       KENIA

                                                                                                       Amhara-Region

Äthiopien            In dem ostafrikanischen Land verursachen
die Folgen des Klimawandels massive Missernten, immer wie­
der wird das Land von schweren Dürren heimgesucht. Zudem
gefährdet eine Heuschreckenplage die Ernährung großer Teile
der Bevölkerung. Aktuell weitet sich ein von der Region Tigray
ausgehender gewaltsamer Konflikt aus. Tausende Menschen wur­
den getötet, über zwei Millionen sind vor der Gewalt geflüchtet.
Vor allem in den Regionen Amhara und Afar unterstützen die
Welthungerhilfe und ihre Partner Familien mit Grundnahrungs­
mitteln, Zusatznahrung für stillende Frauen und Kleinkinder,
sauberem Trinkwasser, Hygieneartikeln, Decken, Kochutensilien
und Bargeld.

                                                                   17     magazin 4 | 2021
IN T ERVIE W

                      „Die Dynamik meiner
                      Arbeit schätze ich
                                am meisten“
                                                                    Léa Knust (28) absolviert bei der Welthunger-
                                                                    hilfe ein „Junior-Expert“-Programm im B    ­ ereich
                                                                    ­Humanitäre ­Hilfe. Aktuell ist ihr Einsatzort
                                                                     das Bürgerkriegsland Mali. Im Interview erzählt
                                                                     sie, was sie an Logistik fasziniert, warum sie
                                                                     Heilig­abend im Flüchtlingscamp verbracht hat
                                                                     und wie sie mit ihrer Angst umgeht.

Wie kam es, dass Sie an ­einen ­Bachelor in Anglistik               kommen an und dann gibt es dort ein fertiges Camp. Aber das
und Päda­gogik noch ein Studium der ­Humanitären H ­ ilfe           ist natürlich nicht so. Gemeinsam mit unseren Kolleg*innen vor
anschlossen?                                                        Ort und mit Unterstützung der Zentrale in Bonn mussten wir
Etwas, das ich nur schwer verstehen und tolerieren kann, ist        den Bedarf, unsere Kapazitäten und unsere Aktivitäten vor Ort
Ungleichheit. Ich selbst hatte das Glück, in einer privilegierten   festlegen, Anträge schreiben, um die Finanzierung zu sichern.
Umgebung, wie Deutschland sie bietet, aufwachsen zu dürfen.         Als ich dann mit einem Kollegen des Nothilfeteams im Sudan
Weshalb aber müssen Menschen leiden, die nicht so viel Glück        eintraf, war ich irritiert und dachte: „Oh, hier fehlt aber noch
haben? Ich hatte einfach das Gefühl, etwas dagegen tun zu müs-      ganz schön viel.“ Unter riesigem Zeitdruck und mit vielen an-
sen. Während meines Studiums habe ich in Kolumbien mit Kin-         deren Hilfs- und UN-Organisationen musste das Camp aufgebaut
dern gearbeitet, deren Familien vor der Gewalt im eigenen Land      werden. Dabei habe ich erfahren, dass nicht alles so laufen kann,
auf der Flucht waren. Das war der Beginn meines beruflichen         wie man es im Studium gelernt hat.
Weges in die Humanitäre Hilfe.
                                                                    Zum Beispiel?
Was bedeutet Ihre Position als Junior Expert genau?                 Es gibt festgelegte Standards, darunter, dass jeder Mensch min-
Die Ausbildung zum Junior Expert bei der Welthungerhilfe um-        destens 15 Liter Wasser am Tag haben muss, zum Trinken, Ko-
fasst ein Jahr in der Bonner Zentrale und ein Jahr im Ausland.      chen, Waschen, Geschirr spülen und für Körperhygiene. Schon
Das „Humanitarian Directorate“ besteht aus einem internatio-        das ist nicht viel, doch in Notsituationen kann man oft nur sie-
nalen Team, das in Nothilfesituationen vor Ort aktiv wird. Und      ben Liter am Tag pro Person berechnen. Wie aber soll man selbst
einem Team, das in der Bonner Zentrale die Planung übernimmt,       sieben Liter aufbringen, wenn man eigentlich keinen Zugang
neue Ansätze entwickelt und koordiniert. Ich unterstütze die        zu sauberem Wasser hat und auf einmal 25.000 Leute versorgen
Kolleg*innen bei ihren jeweiligen Aufgaben, seit Anfang 2021        muss? Das zu berechnen und den Bedarf dann zu decken ist
bin ich in Mali.                                                    äußerst schwierig. Und das ist für mich so spannend an Logistik,
                                                                    wie mit Herausforderungen gekämpft und eine Lösung gefunden
Ist dies Ihr erster Auslandseinsatz                                 wird. Unser Arbeitsfeld ist unglaublich dynamisch, es gibt im-
für die Welthungerhilfe?                                            mer neue Ideen und Wege, Dinge zu vereinfachen oder noch
Nein, meine erste Nothilfesituation habe ich im vergangenen         besser zu machen für Menschen in Not.
Jahr im Sudan erlebt. Tausende Menschen waren infolge des
Konfliktes in der äthiopischen Region Tigray über die Grenze
geflüchtet. Von außen denkt man vielleicht: Die Geflüchteten

                      magazin 4 | 2021       18
IN T ERVIE W

                              Heiligabend 2020:
                          Léa Knust verteilt mit
                          ihrem Team Hilfsgüter
                          im Flüchtlingscamp
                          Um Rakuba im Sudan.                                                                                  Die Welthunger­
                                                                                                                           hilfe fördert unter
                                                                                                                           anderem Ernährungs­
                                                                                                                           beratungen und
                                                                                                                           landwirtschaftliche
                                                                                                                           Schulungen in Mali.

                                                  Tausende Familien
                                               haben infolge bewaff­
                                               neter Konflikte ihre
                                               Dörfer verlassen und
                                               sind innerhalb Malis
                                               auf der Flucht.

Gab es für Sie einen besonderen Moment
im Flüchtlingscamp?
Am Ende einer Verteilung von Hilfsgütern, es war Heiligabend,
kam eine alte Dame auf mich zu. Wir hatten keine gemeinsame
Sprache, aber sie machte mir irgendwie deutlich, dass sie drin-        ger Sicherheitswarnungen. Ich bin mir der Gefahr bewusst,
gend Kleidung benötigte. Als ich ihr ein Kleid geben konnte,           grüble aber auch nicht ständig darüber. Die Welthungerhilfe
begann sie vor Erleichterung zu weinen, das hat mich unglaub-          nimmt die Sicherheit aller Mitarbeiter*innen sehr ernst. Vor
lich berührt.                                                          meiner Ausreise habe ich ein Sicherheitstraining absolviert.
                                                                       Das hat mich sensibilisiert und auf kritische Situationen vor-
Mittlerweile sind Sie in der malischen Hauptstadt                      bereitet. Um das Risiko eines Überfalles zu minimieren, ände-
Bamako im Einsatz. Was sind Ihre Aufgaben?                             re ich die Zeiten und die Strecken, die ich mit dem Auto zu-
Die Welthungerhilfe arbeitet hier mit Familien, um die Land-           rücklege, damit keine Muster zu erkennen sind.
wirtschaft nachhaltig zu verbessern, sie kümmert sich um Men-
schen, die innerhalb des Landes aus ihrer Heimat vertrieben            Hätten Sie die Wahl, würden Sie sich noch einmal
wurden, und ein Straßenbauprojekt gibt arbeitslosen jungen             für Mali entscheiden?
Menschen eine Perspektive, sodass sie sich nicht aus Not extre-        Ja, unbedingt! Ich bin begeistert, wie bunt dieses Land ist, sei-
mistischen Gruppierungen anschließen. Ich unterstütze das Lan-         ne Kultur. Ich habe das Glück, sehr viele sehr nette Menschen
desbüro beim Planen und Umsetzen der Projekte und lerne da-            kennenlernen zu dürfen. Unser Team ist wahnsinnig freundlich,
bei selbst unheimlich viel.                                            offen und ja, sehr fröhlich. Wir lachen viel. Vor allem beein-
                                                                       druckt mich zutiefst, wie die Bevölkerung mit der Situation
Im Norden Malis kämpfen bewaffnete Islamisten                          umgeht. Wenn man fragt: Was glaubt ihr, wie wird sich Mali
gegen die Regierung, in der Hauptstadt Bamako                          entwickeln? Dann ist da trotz aller Rückschläge noch immer so
gab es seit 2012 drei Putsche. Wie lebt und arbeitet                   viel Hoffnung zu spüren und zu hören. Das finde ich unglaub-
es sich in einem Kriegsland?                                           lich bemerkenswert.
Es stimmt, die Sicherheitslage in Mali ist prekär und spitzt sich
wohl weiter zu. Der Norden ist für ausländische und lokale               Das Interview führte Philipp Hedemann, freier Journalist in Berlin.
Mitarbeiter*innen deshalb mittlerweile aus Sicherheitsgründen
eine sehr schwer zugängliche Gegend. Ich darf zum Beispiel                                   Einen Podcast mit Léa Knust finden Sie unter
Bamako nicht verlassen, aber selbst hier gibt es immer häufi-             welthungerhilfe.de/podcast und auf anderen Podcast-Plattformen

                                                                                        19      magazin 4 | 2021
HIN T ERG RUND

Welthunger-Index
2021
Wie steht es um die Hungersituation weltweit?
Wurden Fortschritte erzielt oder sind Rückschläge
zu verzeichnen? Welche Länder sind besonders
stark betroffen? Antworten auf diese Fragen gibt
der Welthunger-Index (WHI), den die Welthunger-
hilfe und die irische Organisation Concern World-
wide jährlich im Oktober herausgeben. Finden Sie
hier einige E
            ­ rgebnisse des aktuellen Berichtes.

Der Welthunger-Index misst und vergleicht die Ausprägung
von Hunger und Unterernährung auf globaler, regionaler und
nationaler Ebene. Anhand von vier Indikatoren wird die Situa-
tion in den untersuchten Ländern als gravierend, sehr ernst,
ernst, mäßig oder niedrig eingestuft. Je höher der Wert, desto
stärker der Hunger im jeweiligen Land. Im aktuellen Bericht wird
deutlich, dass sich in vielen Ländern der positive Trend der letz-
ten beiden Jahrzehnte umgekehrt und die Situation wieder ver-
schlechtert hat. Bei gleichbleibendem Trend wird die Weltge-
meinschaft das Ziel Zero Hunger bis 2030 deutlich verfehlen.
Im Jahr 2020 litten etwa 811 Millionen Menschen unter chro-
nischem Hunger, das sind 161 Millionen mehr als noch im Vor-
jahr. Gerade Menschen, die sich schon zuvor nicht regelmäßig
ausreichend ernähren konnten, sind nun infolge der Corona-           Die Grundlage der WHI-Werte
Pandemie, zunehmender gewaltsamer Konflikte sowie der Kli-
makrise weiter in Not geraten.
                                                                     ­bilden vier Indikatoren:
        In neun Ländern wird die Hungersituation als sehr ernst
eingestuft, darunter Madagaskar, Burundi, die Zentralafrika-         •   Unterernährung: der Anteil der Menschen, die ihren
nische Republik und die Demokratische Republik Kongo. In                 Kalorienbedarf nicht decken können.
Somalia ist die Situation sogar gravierend. In einigen anderen
Ländern könnte der Hunger ebenso besorgniserregend sein,             •   Auszehrung bei Kindern: der Anteil von Kindern unter
ihre Einstufung ist jedoch aufgrund fehlender Daten nicht                fünf Jahren, die ein zu niedriges Gewicht in Bezug
möglich.                                                                 auf die jeweilige Größe haben.
        Zu den stärksten Treibern von Hunger gehören weiterhin
                                                                     •   Wachstumsverzögerung bei Kindern: der Anteil
gewaltsame Konflikte: Ernten werden vernichtet oder geraubt,
                                                                         der Kinder unter fünf Jahren, die eine zu geringe
Betriebsmittel zerstört, der Zugang zu Feldern verwehrt und es
                                                                         Körpergröße in Bezug auf das jeweilige Alter haben.
fehlen Arbeitskräfte. Konflikte zwingen Menschen, aus ihrer
Heimat zu fliehen, was sie einem erhöhten Risiko von Hunger          •   Kindersterblichkeit: die Sterblichkeitsrate von
und Unterernährung aussetzt. Eine unsichere Ernährung wie-               Kindern unter fünf Jahren, die zum Teil das fatale
derum kann neue Konflikte verursachen oder bestehende                    Zusammenwirken von mangelnder Nährstoffversor-
­befeuern. Frieden und eine sichere Ernährung bedingen also              gung und einem ungesunden Umfeld widerspiegelt.
 einander, und um den weltweiten Hunger zu beenden, müssen
 internationale Anstrengungen gerade diese Problemfelder ver-        In die WHI-Werte 2021 sind Daten des Zeitraums 2016
 stärkt adressieren. Die Welthungerhilfe trägt mit ihrer Arbeit      bis 2020 eingeflossen.
 dazu bei – vor Ort in den Gemeinden, aber auch auf politischer
 Ebene, um die Widerstandsfähigkeit von Menschen angesichts                                   	Gewaltsame Konflikte wie hier
 der großen Herausforderungen zu stärken und ihre Lebensbe-                                     in Syrien sind die Hauptursache
 dingungen gerechter zu gestalten.                                                              für Ernährungskrisen.

                       magazin 4 | 2021       20
HIN T ERG RUND

Was versteht man unter „Hunger“?
                                                                                                                 Jährlich zur „Woche
Im Allgemeinen bezeichnet Hunger das Leid,           Auslöser, darunter Ernährungsunsicherheit auf
                                                                                                             der ­Welthungerhilfe“,
das durch einen Mangel an Kalorien entsteht, die     Haushaltsebene, mangelnde Gesundheitsversor-
                                                                                                             die rund um den Welter­
jeder Mensch abhängig von Geschlecht, Alter,         gung für Mütter und inadäquate Kinderfürsorge-          nährungstag stattfindet,
Statur und körperlicher Aktivität für ein gesundes   praktiken sowie ein eingeschränkter Zugang zu           erscheint der Welthunger-
und produktives Leben benötigt.                      Gesundheits-, Wasser- und Sanitärversorgung.            Index. Den ­Bericht
                                                                                                             finden Sie unter www.
Unterernährung geht über die Kalorienauf­            Der weiter gefasste Begriff Fehlernährung               globalhungerindex.­org/de.
nahme hinaus und bezeichnet einen Mangel an          bezieht sich sowohl auf Unterernährung in Folge         Bestellen können Sie ihn
Energie, Proteinen und/oder lebenswichtigen          von Mangel als auch auf die zunehmend verbreitete       unter info@welthunger­
Vitaminen und Mineralstoffen. Unterernährung ist     Überernährung durch unausgewogene Ernährung,            hilfe.de oder ­telefonisch
                                                                                                             unter 0228 2288-127.
das Ergebnis einer unzureichenden Nahrungsauf-       etwa durch die Aufnahme zu vieler Kalorien. Der
nahme – entweder hinsichtlich der Menge oder der     WHI konzentriert sich auf Probleme, die durch
Qualität – oder einer mangelhaften Nährstoffver-     Unterernährung entstehen. Der Begriff „Hunger“
wertung aufgrund von Infektionen oder anderen        bezieht sich dabei auf die Auswertung der vier
Krankheiten beziehungsweise einer Kombination        Indikatoren, die Kaloriendefizite sowie Mangel an
dieser Ursachen. Diese haben verschiedene            Mikronährstoffen erfassen.

                                                                                   21     magazin 4 | 2021
HIN T ERG RUND

                                                                                        Grönland

                       Wo ist der Hunger
  Kanada
                       am größten?                                                                  Island               Schweden
                                                                                                                    Norwegen
                                                                                                                                     Finnland

                                                                                                                                           Estland
                       Der Welthunger-Index lenkt die Aufmerksamkeit                                   Großbritannien Dänemark
                                                                                                                                      Lettland
                                                                                                                                      Litauen
                       auf jene Weltregionen, in denen dringend zusätzliche                                           Nied.         Polen Belarus
                                                                                                       Irland
                       Anstrengungen benötigt werden, um den Hunger                                                 Bel.
                                                                                                                         Deutschland
                                                                                                                         Lux. Tschech. Rep. Ukraine
                       zu beenden. Der diesjährige Bericht zeigt: Die Welt                                     Frankreich              Slowakei
                                                                                                                               Österr. Ungarn Rep. Moldau*
                                                                                                                     Schweiz Slow.
                       ist weit entfernt von ihrem Ziel Zero Hunger bis 2030.                                            Italien
                                                                                                                                      Kroatien Rumänien
                                                                                                                                 Bos.& Serbien
                                                                                                                                 Herz. Mont. Bulgarien
                                                                                                             Spanien                        Nordmaz.
                                                                                                    Portugal                       Albanien
 Vereinigte Staaten                                                                                                                                 Türkei
    von Amerika                                                                                                                      Griechenland
                                                                                                                                                  Zypern
                                                                                                                          Tunesien                 Libanon
                                                                                                          Marokko                                    Israel/
                                                                                                                                  Palästinensische Gebiete
                                                                                                                Algerien
                               Bahamas                                                                                             Libyen       Ägypten
Mexiko
                            Kuba                                                       Westsahara

                      Jamaika         Dominikanische Rep.                                       Mauretanien
                  Belize      Haiti
                                                                                                                 Mali       Niger*
                    Honduras                                               Kap Verde                                                            Sudan
 Guatemala                                                                              Senegal                                     Tschad
    El Salvador       Nicaragua                                                         Gambia
                                                Trinidad & Tobago                Guinea-Bissau* Guinea* Burkina Faso
         Costa Rica    Panama                                                                                      Benin Nigeria
                                                                                                          Côte Ghana
                                    Venezuela Guyana                                    Sierra Leone
                                                                                                         d'Ivoire
                                                                                                                                      Zentral-    Süd-
                                                  Suriname                                                        Togo              afrikanische sudan*
                                                     Französisch-Guayana                          Liberia                             Republik
                             Kolumbien                                                                                 Kamerun
                                                                                                              Äquatorialguinea     Rep.          Uganda*
                  Ecuador                                                                                                    Gabun Kongo        Ruanda
                                                                                                                                         Dem.
                                                                                                                                          Rep. Burundi*
                                                                                                                                         Kongo

                            Peru
                                                           Brasilien
                                                                                                                                    Angola
                                                                                                                                                  Malawi
                                                                                                                                             Sambia*
                                           Bolivien
                                                                                                                                                Simbabwe*
                                                                                                                                  Namibia
                                                                                                                                         Botsuana
                                                 Paraguay
                                   Chile
                                                                                                                                             Eswatini
                                                                                                                                                   Lesotho
                                                                                                                                       Südafrika
                                                      Uruguay

                                             Argentinien

                            magazin 4 | 2021          22
HIN T ERG RUND

                                 Russische Föderation

                          Kasachstan                              Mongolei
*
                                                                                                     Dem.
     Georgien     Usbekistan Kirgisistan                                                             Volksrep. Korea
           Aserb.                                                                                                Japan
     Armenien Turkmenistan Tadschikistan*                                                             Rep.
                                                                     China                            Korea
      Arabische
     Rep. Syrien*
                              Afghanistan
       Irak         Iran
    Jordanien Kuwait                   Pakistan
                                                         Nepal Bhutan
                Bahrain
         Saudi-   Katar                                                                             Taiwan
                                                              Bangladesch
        Arabien    V. A. E.                         Indien                                   Hongkong
                                                                         Myanmar
                                                                                    Dem. Volksrep.
                               Oman
                                                                                    Laos
                                                                                                       Philippinen
      Eritrea Jemen                                                               Thailand
                                                                                     Kambodscha
              Dschibuti
                                                                                             Vietnam

       Äthiopien      Somalia                                Sri Lanka
                                                                                               Brunei Darussalam
                                                      Malediven                               Malaysia
                                                                                       Singapur
                                                                                                  Indonesien
      Kenia                                                                                                                            Papua-
                                                                                                                                      Neuguinea
    Vereinigte Rep.
       Tansania                                                                                                                                   Salomonen
                                                                                                               Timor-Leste
              Komoren*
    Mosambik

                                                                                                                                                       Vanuatu
                              Mauritius

                                                                                                                                                       Fidschi
               Madagaskar

                                                                                                                 Australien

                                            Gravierend

                                            Sehr ernst

                                            Ernst

                                            Mäßig

                                            Niedrig
                                                                                                                                Neuseeland
                                            Nicht erfasst oder nicht eingestuft

                                        Quelle: Welthunger-Index 2021
                                        (s. Magazin S. 21)

                                                                                                                23       magazin 4 | 2021
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