Seite 10-12 Es hätte ein Vorzeige projekt werden können - Mieterverband

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Seite 10-12 Es hätte ein Vorzeige projekt werden können - Mieterverband
Mieten + Wohnen   Nr. 2, April 2021                    www.mieterverband.ch

                                         Es hätte ein Vorzeige­­
                                       projekt werden können.
                                                    Seite 10–12
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Editorial                                             Inhaltsverzeichnis

Liebe Leser*innen                                     Politik Steuergelder für
                                                       die Immobilienwirtschaft       3
                                                      Aktuell Mietende sind kaum
                                                       vom CO2-Gesetz betroffen       5
                                                      Mietrecht Bis in die 1960er
                                                       gab es Mietzinskontrollen      7
Wussten Sie, dass die Mieten in der Schweiz
während Jahrzehnten kontrolliert wurden?
                                                      Zürich Schon wieder wird
    Bis 1972 war eine Regulierung des Miet­            abgerissen statt saniert      10
marktes durch Bund und Kantone ganz normal:
Mietzinserhöhungen waren bewilligungspflichtig,       Gespräch Vivianne Berg
überhöhte Mieten wurden gesenkt. Das weiss
hierzulande leider kaum noch jemand. Mit dem
                                                       über Wohnungsräumungen 14
Überblickstext über das Mietrecht (Seite 7 – 9)       Haushalt Tipps zur Anschaffung
wollen wir die Erinnerung daran wieder zum
Leben erwecken. Denn angesichts der bevor­             eines Fernsehers              16
stehenden Revision des Mietrechts sollten wir
uns bewusst sein, was möglich wäre respektive
                                                      Verlosung Gewinnen Sie «Leute
was einmal ganz normal war.                            wie wir» von Noa Yedlin       17
    In der letzten Ausgabe berichtete ich an dieser
Stelle über einen Brief, den der MV Anfang Feb­       Miettipp Das sagt das Gesetz
ruar an Bundespräsident Guy Parmelin geschickt
hatte. Der für Mietangelegenheiten zuständige
                                                       zum Mietzinsdepot             18
Bundesrat wurde aufgefordert, angesichts der          Hotline Muss ich die «Mieter-
Pandemie und der zunehmenden finanziellen
Not vieler Mietender ein Räumungsmoratorium            App» nutzen und bezahlen? 21
zu erlassen und die Zahlungsfrist bei Mietrück­
ständen zu verlängern. In seiner Antwort zeigte
Bundesrat Parmelin sich zwar besorgt über die
Situation. Er lehnt aber unsere Forderungen
rundweg ab und ist überzeugt, dass «die ergrif­
fenen wirtschaftlichen und sozialen Massnahmen
von Bund und Kantonen am besten geeignet
sind, um diese Krise zu überwinden». Per News­
letter informierte der MV die Mitglieder über
                                                      Herausgeber                                Druck
diese Antwort und ermunterte sie, Bundesrat           Mieterinnen- und Mieterverband             Stämpfli AG, Bern
Parmelin ein Mail zu schreiben. Dem Aufruf sind       Deutschschweiz                             Beglaubigte Auflage
                                                                                                 126 564 Exemplare
bereits über 1500 Personen gefolgt und es dürften     Redaktion                                  Erscheinen
noch deutlich mehr werden. Das ist fantastisch –      Andrea Bauer                               6-mal pro Jahr
vielen Dank allen, die mitgemacht haben!              m+w@mieterverband.ch                       Abonnementspreis
                                                      Administration und ­Adressverwaltung       Fr. 40.–/Jahr
    Nun ja, der Bundesrat änderte seine Meinung       Mieterinnen- und Mieterverband             Inserate und Beilagen
zwar nicht. Die vielen Mails aus den Reihen der       Deutschschweiz                             Katanja Schwander
Mieterschaft sind aber ein starkes Zeichen.           Bäckerstrasse 52, 8004 Zürich              katanja.schwander@mieterverband.ch
                                                      T 043 243 40 40                            T 043 243 40 40
Gerade hinsichtlich der bevorstehenden Revision       info@mieterverband.ch
des Mietrechts, bei der sich Bundesrat Parmelin       www.mieterverband.ch
vermutlich kaum gross für die Mietenden ein­          Mitarbeit
                                                      Walter Angst, Esther Banz, Ernst Feurer,
setzen wird …                                         Urs Geiser, Fabian Gloor, Stefan
                                                      Hartmann, Ralph Hug, Natalie Imboden,
   Herzliche Grüsse                                   Patric Sandri, Reto Schlatter, Carlo
                                                      Sommaruga
   Andrea Bauer                                       Gestaltungskonzept
                                                      Hubertus Design GmbH, Zürich               www.facebook.com/Mieterverband
                                                      Layout
                                                      Atelier Bläuer, Joel Kaiser, Bern
                                                      Titelbild
                                                      Reto Schlatter, Zürich                     Gedruckt in der Schweiz

Mieten + Wohnen                  Nr. 2, April 2021                                                                                    2
Seite 10-12 Es hätte ein Vorzeige projekt werden können - Mieterverband
Politik                             Text von Andrea Bauer

                                                    Mit einem Grossteil der Härtefallgelder
                                                    zahlen Gewerbetreibende ausstehende
                                                    Mieten. Die Steuergelder fliessen so an
                                                    die Immobilienwirtschaft weiter.

Ihr Plan ist aufgegangen
Einen Grossteil der Härtefallgelder müssen die Gewerbetreibenden für ausstehende Mieten verwenden.

                                                                                                         Foto: Reto Schlatter

Mieten + Wohnen                     Nr. 2, April 2021                                                3
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«Man stelle sich vor, die SP hätte einen Vorstoss gemacht,         Kommentar
wonach der Staat die Mieten zu zahlen hätte. Ein Aufschrei wäre
durchs Land, die SP sei jetzt total durchgedreht. Jetzt ist es     Dialog. Wirklich?
aber genau so.»
   Das schrieb MV-Vorstandsmitglied und Nationalrätin
Jacqueline Badran kürzlich in den sozialen Medien. Was sie
damit meinte: Die zehn Milliarden Corona-Härtefallgelder,
die der Bund kürzlich gesprochen hat, damit Gewerbetrei­
bende ihre Fixkosten bezahlen können, fliessen zu einem
grossen Teil an die Immobilieneigentümer. Dies ganz einfach
deshalb, weil die ungedeckten Fixkosten des Gewerbes vor           Im Dezember 2020 hat der Ständerat eine
allem aus aufgeschobenen Mietzinsen bestehen. Wenn                 Motion angenommen, die den Bundesrat auf­
der Bundesrat also behauptet, mit den Härtefallgeldern werde       fordert, eine ausgewogene Revision der Regeln
                                                                   zur Mietzinsgestaltung vorzunehmen. Er vertrat
dem Gewerbe geholfen, so ist das zwar nicht falsch, er sagt        die Auffassung, eine Modernisierung des Miet­
damit aber nicht, wo das Geld – Steuergeld notabene – wirk­        rechts sei nur möglich, wenn sie auf einem Kon­
lich hinfliesst: in die Immobilien­wirtschaft.                     sens der Sozialpartner beruht. In der Tat ist
                                                                   sowohl die Vermieter- als auch die Mieterseite in
   Nur 31 Prozent kamen den Mietenden entgegen                     der Lage, ein Referendum gegen eine als unaus­
   Es war eigentlich absehbar. Und doch macht es sprachlos,        gewogen empfundene Vorlage zu gewinnen. Der
                                                                   MV Schweiz hat sein Referendum denn auch
jetzt, wo es eingetroffen ist. Der Plan der Immobilienwirt­        bereits angedroht.
schaft und ihrer Lobbyist*innen in SVP, FDP und der Mitte ist          Im März beschloss eine Mehrheit aus SVP,
voll aufgegangen:                                                  FDP und CVP in der Rechtskommission des
   Nach dem ersten Lockdown versuchten sie zu verhindern,          Nationalrats jedoch, die Motion abzulehnen.
dass das Parlament ein Gesetz ausarbeitete, mit dem die ange­      Stattdessen wählte sie den Weg der politischen
                                                                   Konfrontation, indem sie auf die Umsetzung
fallenen Geschäftsmieten zwischen der Vermieterschaft und          der parlamentarischen Initiativen zur Stärkung
den Mietenden aufgeteilt worden wären. Der Staat solle sich        der Marktmiete gegenüber der Kostenmiete
gefälligst aus privatrechtlichen Beziehungen raushalten, argu­     pochte. Der Nationalrat wird in der Juni-Ses­
mentierten sie. Die Vertragsparteien sollten sich an einen Tisch   sion endgültig über die Motion entscheiden.
setzen und individuell Lösungen finden. Das geschah aber nur           Gleichzeitig bereitet das Bundesamt für
in einer Minderheit der Fälle, wie ein Monitoring des Bundes       Wohnungswesen (BWO) unter der Leitung von
                                                                   Bundesrat Guy Parmelin einen Dialog zum
zeigt: Nur 31 Prozent der Vermieter*innen kamen den Mieten­        Mietrecht vor, der unmittelbar nach der Juni-
den überhaupt entgegen, und in einem Teil der Fälle bestand        Session beginnen soll. Man kann sich fragen,
dieses Entgegenkommen bloss in einem Aufschub der Zahlung.         wozu dieser Prozess überhaupt noch gut sein
   Nach Monaten der Hoffnung versenkte das Parlament Ende          soll, falls die Parlamentsmehrheit die Motion in
Jahr das Geschäftsmieten-Gesetz, weil die Mitte-Fraktion ihre      der Juni-Session ablehnt.
                                                                       Noch unklar ist, wen das BWO zum ge­
Meinung geändert hatte. Als das Parlament Mitte März Gelder        planten Dialog einladen will. Diese Frage muss
sprach, mit denen Gewerbetreibende ihre Fixkosten decken           aber klar beantwortet werden, denn es ist un­
können, standen die Immobilienfirmen auf der Matte und for­        denkbar, dass sich der MV Schweiz auf einen
derten die ausstehenden Mieten ein.                                Prozess einlässt, der die Sozialpartner nicht
   Das zeigt, welches Verständnis vom Staat die Immobilien­        einbezieht und bei dem die Mehrheit grund­
wirtschaft und ihre Lobbyist*innen im Parlament haben. Be­         sätzlich mieterfeindlich ist.
                                                                       Angesichts dieser Ungewissheiten über die
sonders stossend ist dabei, dass die grossen Immobilienfirmen      Motion und den Dialog müssen wir uns weiter
wie Swiss Prime Site, PSP Swiss Property, Mobimo oder Allreal      auf ein Referendum vorbereiten.
ihre Gewinne seit Jahren steigern und sogar im Krisenjahr 2020             Carlo Sommaruga, Präsident MV Schweiz
Gewinne verzeichneten und Dividenden ausbezahlten.
   Wer jetzt noch helfen kann, sind die Gerichte. Es bleibt zu
hoffen, dass es bald ein wegweisendes Urteil zu den Geschäfts­
mieten gibt und die Immobilienfirmen auf diesem Weg zur
Verantwortung gezogen werden.

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Aktuell                             Text von Andrea Bauer

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Das neue CO2-Gesetz ist das wichtigste Schweizer Instrument zur Umsetzung des Klimaschutzes.

Kaum Auswirkungen
für Mietende

                                    Das neue CO2-Gesetz betrifft Mietende
                                    bloss beim Heizen und über die CO2-Abgabe.
                                    Und auch dort nur sehr geringfügig.

Mieten + Wohnen                     Nr. 2, April 2021                                          5
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Am 13. Juni können sich die Stimmbe­         aufschlag pro Haushalt kaum ins Ge­
                                                         rechtigten an der Urne zum revidierten       wicht. Umso mehr, als neue Heizsysteme
                                                         CO2-Gesetz äussern. Das Gesetz ist           in vielen Fällen zu tieferen Kosten für das
                                                         das wichtigste Schweizer Instrument zur      Heizmaterial führen und durch die bes­
                                                         Umsetzung des Klimaschutzes. Das             sere Wärmedämmung die Nebenkosten
                                                         aktuelle CO2-Gesetz deckte die zweite        sinken.
                                                         Periode des Kyoto-Protokolls ab und
                                                         lief Ende 2020 aus. Für die Periode nach        Selten Mehrkosten durch CO2-Abgabe
                                                         2020 gelten die Bedingungen des Pariser         Durch das neue CO2-Gesetz kann
                                                         Klimaabkommens, das die Schweiz             die CO2-Abgabe auf Brennstoffe wie
                                                         2017 ratifiziert hat. Die Schweiz hat sich  Heizöl und Erdgas von heute 96 auf bis
                                                         dazu verpflichtet, ihre Treibhausgas­       zu 210 Franken pro Tonne CO2 erhöht
                                                         emissionen bis 2030 um mindestens           werden. Dies gilt für den Fall, dass die
                                                         50 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren.    Schweiz bis 2030 ihre Zwischenziele zur
                                                         Das revidierte Gesetz soll die nationale    CO2-Reduktion verfehlt. Von der CO2-
                                                         Umsetzung dieser Verpflichtung sicher­      Abgabe werden jedoch zwei Drittel an die
                                                         stellen und per 2022 in Kraft treten.       Bevölkerung und die Wirtschaft rückver­
                                                              Gegen das Gesetz hat eine Allianz aus  teilt. Die Rückerstattung für die Bevöl­
                                                         rechten Parteien, der Auto- und der         kerung erfolgt via Krankenkassenprä­
                                                         Erdöl-Lobby sowie dem Hauseigentü­          mien, beim höchsten Abgabesatz beträgt
                                                         merverband das Referendum ergriffen.        sie pro Person und Jahr 75 Franken.
                                                         In ihrer Kampagne warnt sie insbeson­           Aufgrund der oben besprochenen
                                                         dere vor steigenden Mieten («Für Mieter     Massnahmen zur Förderung klima­
                                                         kann es so richtig teuer werden»). Diese    freundlicher Heizungen im CO2-Gesetz
                                                         Argumentation hält jedoch einer Über­       ist davon auszugehen, dass die Mehrheit
                                                         prüfung nicht stand. Abgesehen davon,       der Mietenden 2030 in einer Wohnung
                                                         dass der Absender nicht sehr glaubwürdig    mit einer fossilfreien Heizung oder
                                                         ist, ist die Aussage auch falsch. Denn das  in einer Wohnung mit tiefem Energie­
                                                         neue Gesetz hat – wenn überhaupt –          verbrauch lebt und keine oder bloss eine
                                                         nur marginale Auswirkungen auf die Mie­     niedrige CO2-Abgabe bezahlt. In ein­
Forderungen für die Umsetzung                            tenden. Treffen kann es sie, wenn etwa      zelnen Fällen sind jedoch zusätzliche
Bei einer Annahme des CO2-Geset­                         die fossile Heizung ihres Wohnhauses er­    Kosten für die Mietenden möglich,
zes stellt der Mieterinnen- und                          setzt wird oder wenn sie eine höhere        wie die Berechnungen einer Studie von
Mieterverband in zwei Bereichen                          CO2-Abgabe zahlen müssen, weil sie mit      Infras/Swisscleantech (2019) zeigt:
Forderungen für dessen Umsetzung.                        fossilen Brennstoffen wie Heizöl und            Für einen Familienhaushalt (2 Erwach­
Mietzinsaufschläge begrenzen: Miet­
                                                         Erdgas heizen.                              sene, 2 Kinder, Wohnung 80 Quadrat­
zinsaufschläge nach Sanierungen                                                                      meter, schlechter energetischer Zustand,
müssen allgemein stärker begrenzt                            Keine Mehrbelastung wegen Sanierungen   Einkommen brutto 85 000 Franken pro
werden. Bei umfassenden Sanierun­                            Seit 2010 fördern Bund und Kantone      Jahr), der fossil heizt, beträgt die CO2-
gen muss der Überwälzungssatz von                        Sanierungen an bestehenden Gebäuden,        Abgabe nach Abzug der Rückerstattung
heute 50 bis 70 Prozent auf 30 bis                       durch die der CO2-Ausstoss verringert       heute 140 Franken jährlich für Heizen
50 Prozent gesenkt werden. Bei
                                                         wird – etwa durch den Ersatz fossiler       und Warmwasser. Bei einer Annahme des
einer Auszahlung von Fördergel­
dern muss die Mietzinserhöhung                           Heizungen oder die Isolation der Gebäu­ CO2-Gesetzes würde die Abgabe für diese
ausserdem von amtlicher Seite                            dehülle. Pro Jahr wird zurzeit jedoch nur Familie nach Abzug der Rückerstattung
kontrolliert werden.                                     ein Prozent des Gebäudebestands saniert. auf maximal 520 Franken jährlich steigen.
                                                         Das ist zu wenig. Durch das neue CO2-       Das sind Mehrkosten von gut 30 Franken
Keine Kündigungen: Wer von För­                          Gesetz soll dieser Prozess deshalb be­      monatlich. Für einen vergleichbaren Fa­
dergeldern für energetische Sanie­
                                                         schleunigt werden, der Umstieg würde        milienhaushalt mit einem tiefen fossilen
rungen profitiert, soll keine Kün­di­
gungen aussprechen dürfen. So kann                       weiterhin mit Fördermitteln unterstützt. Energieverbrauch hingegen liegt die
verhindert werden, dass die Vermie­                          Ist der Ersatz durch eine nicht-fossile CO2-Abgabe bereits heute bei 0 Franken.
terschaft nebst den Fördergeldern                        Heizung teurer, als er es bei einer fos­-   Die Rückerstattung würde von heute
auch von höheren Mieteinnahmen                           silen Heizung gewesen wäre, können die      240 Franken auf 300 Franken jährlich im
profitiert. Liegenschaften sollen aus­                   Mehrkosten auf die Mietenden überwälzt Jahr 2030 steigen.
serdem wenn immer möglich saniert                        werden. Von diesen Kosten müssen aller­
statt abgerissen und neu gebaut wer­
den. Dies ermöglicht den Mieten­
                                                         dings die erhaltenen Fördergelder sowie
den, in ihren Wohnungen zu bleiben,                      der Teil, der nicht wertvermehrend ist,
erhält zahlbaren Wohnraum und                            abgezogen werden. Wie Berechnungen
wirkt der Verdrängung entgegen.                          zeigen, fällt der mögliche Mietzins­

Mieten + Wohnen                          Nr. 2, April 2021                                                                                      6
Seite 10-12 Es hätte ein Vorzeige projekt werden können - Mieterverband
Mietrecht                             Text von Ralph Hug

                                                               Kontrolle ist besser
Noch bis Mitte der 1960er-Jahre gab es in
der Schweiz eine staatliche Mietzinskontrolle.
Dass und warum das so war, weiss heute
kaum noch jemand.
In den 1960er-Jahren setzte der Massenwohnungsbau ein. Plötzlich liessen sich im Wohnungsmarkt grosse Gewinne erwirtschaften.

                                                                                                                                    Foto: Siedlung Sonnhalde in Adlikon ZH, ETH-Bibliothek Zürich/Jules Vogt

Mieten + Wohnen                       Nr. 2, April 2021                                                                         7
Seite 10-12 Es hätte ein Vorzeige projekt werden können - Mieterverband
Die Anfänge des Schweizer Mietrechts              kein Gewerbe. Hauseigentümer*innen                               heute, sich dieser historischen Tatsachen
gehen auf das Ende des 19. Jahrhunderts           sollten mit ihrer Liegenschaft weder einen                       wieder bewusst zu werden, um wohn­
zurück: 1881 wurden erstmals Bestim­              Gewinn erzielen noch einen Verlust er­                           politisch voll handlungsfähig zu bleiben.
mungen zum Mietvertrag im Obligatio­              leiden. Für die Berechnung des zulässigen
nenrecht verankert. Doch sie waren nur            Mietzinses anerkannt waren daher einzig                             Die Deregulierung in den 1960er-Jahren
rudimentär und beschränkten sich auf              und allein Kosten wie Steuern und Ab­                                In der Hochkonjunktur der Nach­
Formvorschriften und einige Vertrags­             gaben, Versicherungsprämien, Betriebs-                           kriegszeit setzte mit der Entwicklung
pflichten. Dies widerspiegelt die vom             und Unterhaltskosten, Abschreibungen                             neuer Produktionsmethoden der Massen­
Liberalismus geprägten Machtverhält­              und Verwaltungskosten sowie eine ange­                           wohnungsbau ein. Es entstanden neue,
nisse dieser Zeit. Selbst als die Verstädte­      messene Verzinsung des investierten Kapi­                        komfortablere Wohnungen, die aber auch
rung zunahm und sich die Wohnprob­                tals. Daher der Begriff der «Kostenmiete».                       teurer als die bestehenden waren. Im in­
leme in den Ballungsgebieten durch                Im Zuge dieser Entwicklung entstanden                            dustrialisierten Wohnungsmarkt liessen
Spekulation, Mietzinswucher und man­              auch die ersten Bestimmungen zum Kün­                            sich plötzlich grosse Gewinne erwirt­
gelnde Hygiene verschärften, weigerte             digungsschutz. Ungerechtfertigte Kündi­                          schaften. Vor diesem Hintergrund erlebte
sich das Parlament, weiter gehende regu­          gungen konnten aufgehoben werden, oder                           die Ideologie vom «freien Wohnungs­
latorische Vorschriften zu erlassen. Es           es wurden Fristerstreckungen bei Not­                            markt» eine neue Hochblüte. Der Markt
gab weder Bestimmungen zum Mietzins               lagen ermöglicht.                                                könne die Versorgung der Bevölkerung
noch zum Kündigungsschutz, sondern                                                                                 besser gewährleisten als der Staat mit
lediglich einen Schutz vor krassen, die                                                                            seinen Vorschriften, lautete das Credo.
Gesundheit tangierenden Missständen.                                                                               Es war von der «Eingliederung des Woh­
So wurde etwa im Jahr 1911 ein Rücktritts­                                                                         nungswesens in die Marktwirtschaft» und
recht der Mietenden beim Mietvertrag                                                                               vom «Ziel eines freien, selbsttragenden
für Wohnungen statuiert, die gesund­                                                                               Wohnungsmarktes» die Rede. Unter dem
heitsgefährdende Mängel aufwiesen.                                                                                 Druck der neuen Marktdynamik setzte
                                                                                                                   die Immobilien- und Hauseigentümer­
   Notrecht statt Mietrecht                                                                                        lobby einen schrittweisen Abbau der
    Während Jahrzehnten fehlte dann in                                                                             Mietzinskontrolle durch. Diese hatte
der Schweiz zwar weiterhin ein ausge­                                                                              einst in allen Schweizer Gemeinden ge­
bautes Mietrecht. Stattdessen reagierte                                                                            golten. 1965 bestand sie nur noch in den
der Bund aber fallweise und periodisch                                                                             Städten Zürich, Basel, Bern, Lausanne
mit Mietnotrecht, um grassierende Aus­                                                                             und Genf.
wüchse des Marktes einzudämmen. In                                                                                     An ihre Stelle trat die Mietzinsüber­
den Jahrzehnten von 1918 bis 1971 war fast                                                                         wachung, sofern die Mieten nicht bereits
                                                                                              Foto: Sozialarchiv

immer Mietnotrecht in Kraft. Einzig von                                                                            gänzlich freigegeben waren. Zuvor hatte
1912 bis 1914 sowie von 1926 bis 1936, also                                                                        der Bundesrat regionale und örtliche
während insgesamt zwölf Jahren, galten                                                                             Lockerungen verfügt, stufenweise gene­
ausschliesslich die Bestimmungen des                  Die Initiative «Recht auf Wohnung»                           relle Mietzinserhöhungen ermöglicht und
Obligationenrechts. Es gab sehr weit ge­              wurde 1970 nur knapp abgelehnt.                              einzelne Wohnungskategorien gesamthaft
hende Regulierungen wie Mietpreiskont­                                                                             aus der Kontrolle entlassen, so zum Bei­
rollen und Mietpreisüberwachung durch                 Staatliche Mietregulierung war normal                        spiel «teure Wohnungen». Eine Zeit lang
den Bund und die Kantone. Die Miet­                   Bis 1972 war eine rigorose staatliche                        waren jährliche Mietzinserhöhungen von
preiskontrolle erlaubte es den Behörden,          Regulierung des Mietmarkts die Regel.                            bis zu fünf Prozent «einsprachefrei» er­
Höchstmieten festzulegen sowie Mieten             Wenn also heute behauptet wird, eine                             laubt. Im Dezember 1970 fielen schliess­
und Mietzinserhöhungen für bewilli­               solche sei dirigistisch und dem schweize­                        lich sämtliche mietnotrechtlichen Erlasse
gungspflichtig zu erklären. In den 1930er-        rischen Mietrecht fremd, so ist dies un­                         weg, auch die Mietzinsüberwachung.
Jahren oblag diese Aufgabe der Eidge­             zutreffend. Staatliche Mietregulierung
nössischen Mietpreiskontrolle, später             war normal. Charakteristisch für die Ent­                           Widerstand aus Verbänden und Parteien
wurde sie an die Kantone delegiert. Auch          wicklung war aber, dass notrechtliche Er­                            Die Abschaffung der Kontrolle und
waren die Instanzen befugt, unangemes­            lasse aufgrund des Drucks der Eigentü­                           Überwachung der Mietzinsen zeitigte
sene Mietzinse zu senken. Die Mieten              merlobby rasch wieder zurückgenommen                             bald negative Folgen. Die Energie- und
waren, im Unterschied zu heute, in die            wurden, sobald sich die Lage auf dem                             Wirtschaftskrise verschärfte die Probleme
allgemeine Preisüberwachung einge­                Wohnungsmarkt entspannte. So war das                             auf dem Wohnungsmarkt. Die zahlrei­
bunden. Damit sollte eine Explosion der           20. Jahrhundert durch ein Auf und Ab von                         chen Neubauten verursachten grosse
Lebenshaltungskosten und eine Verar­              notrechtlichen Regulierungen und Dere­                           Mietzinssteigerungen. Die Mieterver­
mung breiter Bevölkerungskreise verhin­           gulierungen geprägt. Die staatliche Miet­                        bände hatten schon früh vor dieser Ent­
dert werden.                                      preiskontrolle blieb bis Mitte der 1960er-                       wicklung gewarnt und sich organisiert.
    Zu dieser Zeit herrschte grundsätzlich        Jahre in Kraft. Die Erinnerung daran ist                         In der Deutschschweiz bildeten sie eine
die Auffassung vor, der Hausbesitz sei            jedoch weitgehend verblichen. Es gilt                            Allianz mit den Gewerkschaften und den

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Linksparteien und setzten politischen            Ertrag oder einem offensichtlich über­       verbände in der Folge, mithilfe einer Initi­
Druck auf. In der Westschweiz war schon          setzten Kaufpreis beruhten. Eine ge­         ative Verbesserungen des Mietrechts her­
länger das «Mouvement populaire des              nauere Definition der Missbräuchlichkeit     beizuführen. Die erste Initiative scheiterte
familles» unter Jean Queloz aktiv. Nach          überliess der Gesetzgeber der Gerichts­      – mit einem beachtlichen Ja-Stimmen-
französischem Vorbild propagierte es             praxis. An sich sollte das Konzept der       Anteil von 42 Prozent – an der Urne.
einen griffigen Schutz für die Familien          Kostenmiete gelten: Die Vermieterschaft      Die zweite wurde zugunsten einer eher
und damit auch einen Wohnschutz als so­          sollte ihre Kosten gedeckt sowie eine        allgemein gehaltenen Verankerung des
ziales Recht. Mitte der 1960er-Jahre bil­        angemessene Rendite garantiert haben.        Schutzes der Mietenden in der Verfassung
dete das «Mouvement» zusammen mit                Doch das Parlament baute zusätzlich          zurückgezogen.
den welschen Mieterverbänden das                 auch Marktelemente ein: Orts- und quar­
«Aktionskomitee für das Recht auf Woh­           tierübliche Mieten sollten nicht als miss­      Entstehung des heutigen Mietrechts
nung», dem bald auch einige Mieter­              bräuchlich gelten.                           Der Bundesbeschluss von 1972 war
verbände aus der deutschen Schweiz                   Der Bundesbeschluss brachte den Mie­ ursprünglich auf fünf Jahre begrenzt, er
angehörten. 1967 reichte man gemeinsam           tenden zudem die Möglichkeit, Anfangs­   wurde jedoch insgesamt drei Mal verlän­
die Volksinitiative «Recht auf Wohnung           mieten innert 30 Tagen als missbräuchlichgert, bis er von der Mietrechtsrevision
und Ausbau des Familienschutzes» ein.            anzufechten. Für Mietzinserhöhungen      von 1990 abgelöst wurde.
Sie forderte die Verankerung des Wohn­           wurde eine Formular- und Begründungs­        In den Jahren von 1987 bis 1989 ent­
schutzes in der Verfassung.                      pflicht eingeführt. Die Revision sah auchstand das Mietrecht in seiner heutigen
    In der Volksabstimmung vom 27. Sep­                                                   Ausgestaltung. Die bisherigen mietrecht­
                                                 die Einführung von Schlichtungsstellen als
tember 1970 erreichte das Volksbegehren          erster Instanz in einem Streitverfahren  lichen Bestimmungen des Obligationen­
einen sehr hohen Ja-Anteil von fast              vor, wie wir sie heute kennen.           rechts und diejenigen des Bundesbe­
49 Prozent. Ein Warnschuss an den Bund,                                                   schlusses sollten zusammengefasst und
wohnpolitisch endlich wieder aktiv zu              Bundesbeschluss mit Mängeln            ins ordentliche Recht übernommen
werden. Der Bundesrat musste einen                 Im Parlament wurde um die Details      werden. Im Parlament setzte es ein wei­
starken Anstieg der Mieten einräumen.          hart gerungen, am Ende setzte sich je­     teres Mal kontroverse Diskussionen über
Im Zeitraum von 1945 bis 1968 hatten           weils die Kompromisslinie des Bundes­      die Ausgestaltung des Mieterschutzes ab.
sich die Mietpreise praktisch verdoppelt.      rats durch. Ein besserer Kündigungs­       Am 1. Juli 1990 konnte das neue Miet-
                                               schutz scheiterte am entschiedenen         und Pachtrecht in Kraft treten. Die wich­
    Abwehrrechte für Mietende                  Widerstand der Rechten. In der Schluss­ tigsten Neuerungen für die Mietenden
    Eine Revision des Mietrechts schien        abstimmung enthielt sich ein unzufrie­     waren ein etwas besserer Kündigungs­
unumgänglich, und ein dringlicher Bun­         dener Teil der Linken der Stimme. Am       schutz, die Möglichkeit, Anfangsmiet­
desbeschluss über das Wohnungswesen            1. Juli 1972 lautete die frohe Kunde der   zinse anzufechten (auch bei Geschäfts­
und den Mieterschutz war nur noch eine Medien an die Bevölkerung so: «Ab 1. Juli räumen) und das Recht, bei gravierenden
Frage der Zeit. Zuerst sollte der Bund         sind Mietzinsmissbräuche einklagbar.»      Mängeln die Mietzinse zu hinterlegen
aber eine ordentliche Regelungskompe­              Dies sollte allerdings nur beschränkt  und so den Anspruch auf korrekte Ver­
tenz in Sachen Mieterschutz erhalten,          der Fall sein, denn der Bundesbeschluss    tragserfüllung durchzusetzen.
eine solche hatte bisher gefehlt. Dies         galt lediglich in Gemeinden mit knappem        Erhalten blieb in dieser Revision da­
führte zu einem neuen Mieterschutz­            Wohnraum.                                  gegen zum einen der Widerspruch zwi­
artikel in der Verfassung (BV Art. 34septies).     Die Mängel des Bundesbeschlusses       schen Kostenmiete und Marktelementen:
Er war weitgehend unbestritten und er­         waren aus Sicht der Mieter*innenbe­        Zwar galt der Grundsatz der Kosten­
zielte in der Volksabstimmung vom              wegung offensichtlich: Es gab keine staat­ miete, doch wurde die Orts- und Quar­
5. März 1972 einen eindrücklichen Ja-          liche Kontrolle und keine Überwachung      tierüblichkeit und damit das Einfallstor
Anteil von über 84 Prozent.                    der Mieten mehr. Der Kampf gegen           für die Marktdynamik ebenfalls vom
    Im Sommer 1972 folgte der «Bundes­         Wucher und überrissene Mieten wurde        Bundesbeschluss ins neue Recht über­
beschluss über Massnahmen gegen Miss­ fortan den Mietenden selber überbunden. nommen. Zum andern blieb auch der
bräuche im Mietwesen» als Ausführungs­ Mit beschränkten Rechten sollten sie sich Begriff der Missbräuchlichkeit unverän­
gesetz zum neuen Verfassungsartikel.           gegen die sich ausbreitende Profitmaxi­    dert: Als Regel sollte gelten, dass ein
Damit wurden die Grundlagen für das            mierung im Wohnungs- und Mietmarkt         Mietzins dann missbräuchlich ist, wenn
noch heute geltende Mietrecht gelegt.          zur Wehr setzen. Der Bundesbeschluss       damit ein übersetzter Ertrag erzielt wird
Wie der Name schon sagt, wollte das Par­ beruhte zwar auf dem Prinzip der Kosten­ oder er auf einem offensichtlich über­
lament nach wie vor kein umfassendes           miete. Doch dieses Prinzip wurde gleich­ setzten Kaufpreis beruht. Die Bestim­
Mietrecht, sondern lediglich die Mög­          zeitig durch die Orts- und Quartier­       mung des missbräuchlichen Ertrags blieb
lichkeit, Missbräuche zu bekämpfen. An         üblichkeit durch­löchert. Dadurch konnte der Rechtsprechung überlassen.
die Stelle der staatlichen Kontrolle und       die Markt­dynamik ins Mietrecht ein­           Bis heute änderte sich an der gel­
Überwachung der Mieten traten Abwehr­ fliessen und sich ohne weitere regulatori­ tenden Rechtslage nur wenig, das Miet­
rechte für Mietende gegen missbräuch­          sche Hindernisse entfalten. Zwei Mal –     recht blieb im Wesentlichen dasjenige
liche Mieten. Als «missbräuchlich» sollten 1973 und 1982 – versuchten die sprach­-        von 1990 – womit auch seine Mängel be­
Mieten gelten, die auf einem übersetzten regionalen Mieterinnen- und Mieter­              stehen blieben.

Mieten + Wohnen                  Nr. 2, April 2021                                                                                       9
Seite 10-12 Es hätte ein Vorzeige projekt werden können - Mieterverband
Zürich                                Text von Esther Banz

                        Beim Abwägen
                    die Menschen vergessen

Der Stadtrat will, dass Zürichs Verdichtung sozial-
verträglich geschieht. Doch auch dort, wo die
Behörden Einfluss nehmen könnten, tun sie es
nicht mit dem nötigen Nachdruck – das zeigt unser
Beispiel aus Zürich-Affoltern.
Erika (89) und Albert (90) Frei wohnen seit sechzig Jahren im Quartier. Vor zwei Jahren kündigte die Verwaltung den Abriss ihres Wohnhauses an.

                                                                                                                                                       Foto: Reto Schlatter

Mieten + Wohnen                       Nr. 2, April 2021                                                                                           10
Fotos: Reto Schlatter
Franziska Kümin war gerade eingezogen, als die Nachricht kam. Franco   Seit dem Schreiben von 2019 hat Viktor Bürki wie alle andern nichts mehr
Schneeberger wohnt seit zwanzig Jahren in der Lerchenhalde.            von der Verwaltung gehört.

Das neunstöckige Wohnhaus an der Lerchenhalde 20 soll abge-            wurde sie mit dem Argument, die Lage sei nicht ideal für Alters-
rissen werden. Wann, weiss niemand genau. Am 7. Mai 2019               wohnungen, da Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe fehlten.
fischten alle Mietenden der 48 Wohnungen ein Schreiben der
Genossenschaft Turicum aus ihrem Briefkasten. Es fing an mit:             Perfekte Alterswohnungen
«Es ist für uns nicht angenehm, die nachfolgende Mitteilung                In den 1,5- und 2,5-Zimmer-Wohnungen der Lerchenhalde
machen zu müssen …». Seither schweigt die Vermieterschaft.             leben viele Menschen schon lange, inzwischen sind sie über 70,
    Franco Schneeberger wohnt seit zwanzig Jahren in der Ler-          80, ja sogar über 90 Jahre alt. Sie alle wohnten in der vermeint­
chenhalde. Franziska Kümin war erst gerade eingezogen, als die         lichen Gewissheit hier, bis ans Lebensende bleiben zu können.
Baugenossenschaft ihr den geplanten Abriss ankündigte. Auf             Eine perfektere Alterswohnung können sie sich nicht vorstellen,
«mindestens Mitte 2022». Die Genossenschaft wusste also be-            sagen alle, mit denen wir an einem Nachmittag im Spätwinter
reits, dass die neue Mieterin schon bald wieder würde ausziehen        sprechen. Es hat zwei Fahrstühle, im Haus kennt man sich und
müssen – und sagte nichts.                                             schaut zueinander, der Kontakt ist quer über die Stockwerke
    Die Menschen im Haus, unter ihnen viele ältere, fragen sich        eng und fürsorglich.
mehrmals am Tag, wie lange sie noch hier leben können – auch               Max Zuber wird dieses Jahr 92 Jahre alt. Bis seine Frau Mar-
Franco Schneeberger und Franziska Kümin. Sie können nicht              grit starb, wohnten sie zu zweit in der 2,5-Zimmer-Wohnung,
verstehen, dass die Baugenossenschaft mit städtischer Ver­             seither ist er alleine. Die Spitex kommt mehrmals am Tag vorbei
tretung im Vorstand das Haus in den bald fünfzig Jahren seines         – und ebenso regelmässig schauen Franco Schneeberger oder
Bestehens nie renoviert hat: «Die Fenster sind undicht. Der            Franziska Kümin nach ihm, richten ihn im Sessel auf, wenn er
Fahrstuhl bleibt immer wieder stecken. Dass es Renovations­            zur Seite geknickt ist, reichen ihm den Trinkbecher. Der Radius
arbeiten braucht, sagen wir schon lange. Aber abreissen?»              des einst begeisterten Sportlers hat sich auf wenige Quadrat-
                                                                       meter verkleinert. Aber er ist zufrieden, macht Scherze. «Ich
   Stadt mit grösstem Anteil am Kapital                                habe ihn noch nie klagen gehört», sagt Franco Schneeberger.
    Die Lerchenhalde 20 ist eine von mehreren Siedlungen der           Max Zuber soll verpflanzt werden? Allein der Gedanke daran
Baugenossenschaft Turicum. Bei den meisten Zürcher Bauge-              schmerzt.
nossenschaften sind die Mietenden Mitglieder und haben Mit-                Auch Viktor Bürki lebt seit bereits 25 Jahren in der Lerchen-
spracherechte. Nicht so bei der Turicum – ihre Mitglieder sind         halde. «Ich mache nicht mehr viel, aber solange ich selbständig
Gewerbebetriebe, KMU oder deren Pensionskassen, Versicherer,           wohnen kann, ist es gut.» Er hatte bereits auf eigene Faust
eine Bank und eben auch die Stadt Zürich. Sie hält mit 374 600         eine Alterswohnung gefunden, die hätte er aber innerhalb eines
Franken sogar den grössten Anteil am Genossenschaftskapital,           Monats beziehen müssen, «so schnell kann ich nicht mehr».
was mit dem ursprünglichen Zweck der Genossenschaft zu tun             Von der Verwaltung habe er seit dem Schreiben von 2019 nie
hat: Es herrschte bereits in der Zeit der Gründung (Ende der           wieder etwas gehört, wie alle andern: «Man erfährt nichts.»
1950er-Jahre) akute Wohnungsnot. 1972/73 baute die Genossen-
schaft Turicum die Lerchenhalde 20 – auf Land, das die Stadt ihr          Kindergarten statt Alterswohnungen
zuvor günstig verkauft hatte; ein aus heutiger Sicht nicht nach-          Das Wohnhaus, das vom renommierten Architekten Theo
vollziehbarer Schritt. Immerhin: Die Genossenschaft wurde ver-         Hotz erstellt wurde, steht hinter der ETH Hönggerberg harmo-
pflichtet, 23 der 48 günstigen Wohnungen an ältere Menschen            nisch in der Landschaft. Zusätzliche hindernisfreie, günstige, gut
zu vermieten. Aber jetzt verzichtet die Stadt auch noch auf diese      erschlossene Wohnungen für ältere Menschen braucht die Stadt
Auflage – eine Grundbuchänderung auf Antrag der Genossen-              heute noch immer dringend – Tausende davon. Man würde
schaft wurde über den städtischen Vertreter im Vorstand einge-         denken: Wo sich Chancen bieten, ergreift die Stadt diese auch.
fädelt und vom Stadtrat diskussionslos bewilligt. Begründet            Aber mit der Lerchenhalde 20 machte sie genau das Gegenteil,

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als sie die Genossenschaft Turicum vor zwei Jahren aus ihrer Al-    Tochter wohnt ganz in der Nähe. Der Hausarzt ist auch in der
terswohnungs-Verpflichtung entliess. Die Stadt stellte damit eine   Umgebung, ebenso der Zahnarzt. «Einmal hat die Verwalterin
Weiche für den Ersatzneubau, den die Genossenschaft Turicum         unsere Tochter angerufen und gesagt, sie mache sich Sorgen
zusammen mit der Baugenossenschaft Hagenbrünneli auf dem            um uns. Aber sie macht sich nicht Sorgen um uns. Sie sorgt sich
Areal plant: drei komplett neue Häuser mit insgesamt 150 Woh-       einfach, dass sie uns nicht rauskriegt.» Als Erika und Albert
nungen. Anstelle der 23 Turicum-Alterswohnungen soll es einen       Frei hören, dass die Baugenossenschaft Turicum der Meinung
Kindergarten geben, so der Deal. Gleichzeitig entstehen im          ist, ihre Wohnungen seien nicht für ältere Menschen geeignet,
Hagenbrünneli-Haus 48 Wohnungen – für ältere Menschen               entfährt beiden ein spontanes «Also nein!». Albert Frei sagt:
(interessant: die Genossenschaft preist explizit die nahen Ein-     «Unsere Wohnung ist wunderschön. Wir sind mehr als zu-
kaufsmöglichkeiten an). In diesen könnten die älteren Menschen,     frieden.» Turicum-Präsident Urs Frei sagt, er habe Verständnis
die jetzt in den Turicum-Alterswohnungen leben, ein neues Zu-       «für die älteren Menschen, die das Gefühl haben, diese Wohn­
hause finden, an Ort und Stelle. Immerhin. Aber – das ist nicht     situation stimme für sie. Sie haben jahrelang in dieser Situation
vor­gesehen. Bei der Planung des Gemeinschaftsprojekts Turi­        gewohnt und für sie passt das wahrscheinlich.»
cum-Hagenbrünneli wurden die Turicum-Mietenden ausge-                    Urs Frei ist überzeugt, dass seine Baugenossenschaft richtig
blendet und es wurde Stillschweigen vereinbart. Ein städtischer     handelt. Von der Stadt wird er darin bestätigt, das zeigen die
Vertreter sass zum Zeitpunkt der Planung bei der Genossenschaft     Antworten des Stadtrats auf die schriftlichen Anfragen aus dem
Turicum im Vorstand, eine Vertreterin des Amtes für Städtebau       Gemeinderat in Sachen Lerchenhalde 20. Der Stadtrat gesteht
war in den Studienwettbewerb involviert.                            damit die Mängel der flankierenden Massnahmen ein, die er
                                                                    sich für eine sozialverträgliche Entwicklung ausgedacht hat.
   Eine verpasste Chance
    Das Amt für Städtebau wusste bereits 2018, dass das Haus an        Kommt es doch noch zum Dialog?
der Lerchenhalde 20 abgerissen werden soll. «Und sie haben ein-         Die Baugenossenschaft Turicum will dieser Tage ihr Bau­
fach alles durchgewinkt», sagt AL-Gemeinderat Walter Angst          gesuch einreichen. Einsprachen braucht sie nicht zu befürchten
vom MV Zürich: «Dabei hätte dies ein Vorzeigeprojekt werden         – die Nachbarn der Lerchenhalde 20 sind die Stadt mit einer
können. Man hätte das bestehende Hochhaus für weitere dreissig      eigenen Siedlung, Tennisplätzen, einem Schulhaus, die Projekt-
Jahre fit machen und daneben neu bauen können, es hätte ein         partnerin Genossenschaft Hagenbrünneli und zwei weitere
Mix aus Alt und Neu werden können. Und auch die Vorausset-          Genossenschaften.
zungen fürs etappierte Bauen wären perfekt gewesen mit den 268          Wenige Tage vor der Einreichung des Baugesuchs schickt
bestehenden Wohnungen der Baugenossenschaft Hagenbrünneli           Präsident Urs Frei M+W auf Nachfrage die Korrespondenz mit
in den direkt daneben liegenden Häusern. Kurz: Man hätte            der ETH betreffend Fernwärmeversorgung. Daraus wird er-
zeigen können, wie sozial nachhaltiges Erneuern geht.»              sichtlich, dass die ETH die Fernwärme nicht schon 2021 oder
    In ihrem Leitfaden «Erfolgsfaktoren nachhaltiger Ersatz­        2022 kappt, wie es im Schreiben an die Mietenden vor zwei
neubauten und Sanierungen» empfiehlt die Stadt den Einbezug         Jahren hiess, sondern dass sich die Pläne verzögern. Und dass
der Mieterschaft in Ersatzneubau- und Sanierungsprojekte,           die Genossenschaft auf Wunsch auch Anschluss an die neue
denn so liessen sich «Mängel erkennen, Bedürfnisse abholen,         Wärmeversorgung der ETH Hönggerberg erhalten wird. Beides
Fragen beantworten und Feedbacks zum Umsetzungsprojekt              erfuhr die Genossenschaft bereits 2019 – wenige Monate
sammeln». Die existenziell betroffenen Menschen miteinzube-         nachdem sie die Mietenden über den geplanten Abriss infor-
ziehen, wäre verantwortungsvoll und sollte selbstverständlich       miert hatte.
sein. Urs Frei, Präsident der Baugenossenschaft Turicum, sagt:          Bis dato konnte die Genossenschaft Turicum keinen nach-
«Das machen wir nicht.» Auf die Frage nach dem Warum erklärt        vollziehbaren Grund dafür nennen, warum das Haus schon so
er: «Unsere Mietenden haben kein Stimmrecht. Es war ein Ab-         bald abgebrochen werden muss. Derweil stellte die Stadt kürz-
wägen im Vorstand – und wir haben uns dafür entschieden, den        lich ihre Altersstrategie 2035 vor: «Die Einwohnerinnen und
Ersatzneubau zu machen. Der Beizug der Mietenden würde              Einwohner der Stadt Zürich sollen im Alter solange wie ge-
das Projekt in die Länge ziehen und verteuern.» Man habe sehr       wünscht und möglich im angestammten Umfeld und möglichst
sorgfältig abgewogen. Die Abwägungen berücksichtigen aber           selbstbestimmt leben können.»
die existenziellen Interessen der betroffenen Menschen nicht.           Genossenschaftspräsident Urs Frei räumt rückblickend ein,
    Man muss Turicum zugute halten, dass sie den Mietenden          dass es ein Fehler war, die Betroffenen nicht besser informiert
Angebote für neue Wohnungen macht, in vierzehn Fällen be-           zu haben. Er versichert, dass niemand Angst haben müsse,
reits erfolgreich: In der benachbarten Genossenschaft Hagen-        schon nächstes Jahr auf Strom und Wasser verzichten zu
brünneli erhalten Turicum-Mietende bevorzugt eine Wohnung.          müssen. Und dass man sicher nicht vor Januar 2022 anfangen
Aber mehrere Betroffene berichten von Wohnungsangeboten in          werde zu bauen. Und im Winter die Leute umzusiedeln sei auch
anderen Stadtgebieten respektive sogar ausserhalb der Stadt –       keine gute Idee. Er sagt: «Wir haben keinen hohen Druck. Wenn
wo doch gerade für ältere Menschen die bestehenden nach­            die Heizung stehen bleiben kann, können wir auch noch etwas
barschaftlichen Strukturen so wichtig sind.                         länger Rücksicht nehmen auf die jetzigen Mieter. Das wäre
                                                                    durchaus möglich.» Vielleicht nimmt die Genossenschaft ja
   «Unsere Wohnung ist wunderschön»                                 sogar noch den Dialog mit den Mietenden auf, um nach guten
   Albert und Erika Frei sind 90 und 89 Jahre alt, seit sechzig     Lösungen zu suchen – hier böte sich nach all den verpassten
Jahren wohnen sie im Quartier, 15 davon in diesem Haus. Eine        Chancen noch einmal eine richtig gute.

Mieten + Wohnen                  Nr. 2, April 2021                                                                                  12
Zürich                            Text von Walter Angst

So geht es immer
Die Mietenden der Bertastrasse 4 in Zürich sind in ihre
sanierten Wohnungen zurückgezogen. Eine engagierte
Mieterschaft und das Mietrecht machten es möglich.
Am 22. Mai 1991 kaufte die gemeinnüt­             Erst als sich der Stiftungsrat und dessen         Ersatzwohnung ziehen. Elf Monate später
zige «Stiftung zur Erhaltung von preis­           Ausschuss einschalteten, kam Bewegung             konnten sie an die Bertastrasse zurück –
günstigen Wohn- und Gewerberäumen»                in die Sache. In der Planung nicht berück­        zunächst zu denselben Konditionen. Die
(PWG) ihr erstes Haus. Der Kauf von               sichtigte Einwände der Mietenden zur              aufgrund der wertvermehrenden Inves­
Liegenschaften ist ihre Strategie. Weil sie       Anpassung der Grundrisse wurden teil­             titionen anstehende Mietzinserhöhung
keine Gewinnabsichten verfolgt und                weise aufgenommen. Ihr Wunsch, das                – die sie mietrechtlich überprüfen lassen
die langfristige Übernahme der beste­             Haus möge strangweise saniert werden              können – soll ihnen Mitte Jahr zugestellt
henden Mietverhältnisse garantieren soll,         und ein Teil der Mietenden in den Woh­            werden.
gibt es auch heute noch Eigentümer*in­            nungen bleiben können, wurde aber ab­                 Nach dem Wiedereinzug gibt es von
­nen, die ihre Häuser zu einem vertret­           gelehnt. Hingegen wurde vereinbart, dass          beiden Seiten kritische Bemerkungen.
 baren Preis an sie verkaufen.                    die Mietenden während der Bauzeit auf             Die Mietenden sind enttäuscht, dass sie
     Dreissig Jahre nach dem ersten Kauf          eigene Kosten aus ihren Wohnungen aus­            von der PWG nicht stärker in die Planung
 umfasst das PWG-Portfolio rund 1900              ziehen und die PWG auf die Kündigung              der Sanierung einbezogen wurden. PWG-
 Wohnungen und 300 Gewerbeobjekte. In             der Mietverträge verzichtet. Grundlage            Sprecher Kornel Ringli weist darauf hin,
 den Jahresberichten halten sich mittler­         der Vereinbarung ist die bundesgericht­           dass die Stiftung mit der «für beide Seiten
 weile die Nachrichten über Käufe und Sa­         liche Rechtsprechung, wonach eine Kün­            aufwändigen Lösung … gezielt auf die
 nierungen die Waage. Damit stellt sich die       digung wegen Sanierung gegen Treu und             Bedürfnisse der Mietenden» eingegangen
 Frage, wie umfassende Sanierungen abge­          Glauben verstösst, wenn die Mietenden             sei und dennoch einzelne Mietende «auf
 wickelt werden. Deshalb horchten Insider         ihre Wohnung auf eigene Kosten räumen             ihr Rückkehrrecht verzichtet» hätten.
 auf, als im Frühling 2018 die Nachricht          und während das Umbaus ausziehen.                     Trotzdem kann festgehalten werden,
 die Runde machte, den Mietenden des                                                                dass die Hausgemeinschaft nicht ausein­
 1992 gekauften PWG-Hauses Schreiner­                 Hausgemeinschaft bleibt erhalten              andergerissen wurde. Eingehalten werden
 strasse 42 sei wegen Sanierung die Kündi­           Ende März 2020 gaben die Mietenden             konnte auch das dem ehemaligen Eigen­
 gung zugestellt worden.                          ihre Mietobjekte ab, einzelne konnten in          tümer gegebene Versprechen, die Miet­
                                                  eine von der PWG zur Verfügung gestellte          verhältnisse weiterlaufen zu lassen.
   Verzicht auf Kündigungen
    Das Haus an der Bertastrasse 4 mit                Am 1. März konnten die Mietenden der Bertastrasse 4 (Mitte) wieder in ihre Wohnungen einziehen.
neun Wohnungen und zwei Ladenlokalen
erwarb die PWG 2002. Im Frühling 2017
wurde den Mietenden mitgeteilt, eine
Sanierung werde geplant. Die Haus­
gemeinschaft gab in ihrer sofort ver­
fassten Antwort dem Wunsch Ausdruck,
diese solle so sanft wie möglich und ohne
Grundrissänderungen geplant werden.
    Im Juni 2018 teilte die PWG mit, die
Wohnungen würden per 31. Mai 2019 ge­
kündigt, weil im Zug der Sanierung as­
besthaltige Schadstoffe entsorgt werden
müssten. Für die Mietenden war das ein
Schock. Sie schickten Briefe an die PWG,
führten Gespräche und holten beim MV
fachlichen Rat ein. Im August bot die
Geschäftsstelle der PWG Unterstützung
                                                                                                                                                        Foto: Reto Schlatter

bei der Wohnungssuche und ein Vormiet­
recht für die umgebauten Wohnungen an.
An der Kündigung wollte sie festhalten.

Mieten + Wohnen                   Nr. 2, April 2021                                                                                                13
Wohnungsräumung   Interview von Esther Banz

Wenn man                                      M+W: Vivianne Berg, nach dem Tod Ihrer
                                              Mutter mussten Sie deren Wohnung räumen.
                                              Warum haben Sie jetzt – Jahre später – ein

in die Intimsphäre
                                              Buch zu diesem Thema geschrieben?
                                                 Vivianne Berg: Weil ich diese Aufgabe
                                              organisatorisch und emotional als Kno­
                                              chenarbeit erlebte und weil mir viele

eindringen muss                               andere in Gesprächen Ähnliches berich­
                                              teten. Erstaunlicherweise fand ich in
                                              der Fachliteratur keine Hilfestellungen,
                                              sodass die Buchidee entstand.

                                              Worauf sollte man sich gefasst machen,
                                              wenn man die Wohnung einer soeben ver-
                                              storbenen Person betritt?
                                                  Dass einem alles chaotisch vorkommt.
                                              Tatsächlich ist unwahrscheinlich, dass,
                                              wer plötzlich gestorben ist, kurz davor
                                              aufgeräumt hat. Abgesehen davon hat
                                              man den verstorbenen Menschen zu Leb­
                                              zeiten vielleicht gar nicht gemocht.
Erwachsene können irgendwann mit der
Situation konfrontiert sein, eine Wohnung     Was taten Sie als Erstes in der Wohnung
                                              Ihrer verstorbenen Mutter – und wie
räumen zu müssen. Vivianne Berg hat ein       fühlten Sie sich dabei?
                                                 Ich war wahnsinnig aufgeregt und
Buch dazu geschrieben.                        hatte keine Ahnung, was mich erwartete.

                                                                                           Foto: Reto Schlatter

Mieten + Wohnen   Nr. 2, April 2021                                                   14
Vor mir betraten zwei Polizisten die Woh­        tiert man beides, egal, wie nah man          Wenn sich jemand mit der Lebensge-
nung. Sie fanden meine Mutter tot auf            diesem Menschen steht. Sogar in der          schichte des verstorbenen Menschen be-
dem Bett. Nun eilte nichts mehr. Naja,           Wohnung, in der man einst selber aufge­      schäftigen möchte: Worauf achtet man
wenigstens so lange, bis geklärt war, dass       wachsen ist, bewegt man sich einiger­        beim Räumen der Wohnung, um nichts,
die Wohnung Ende Monat besenrein                 massen respektvoll. Mit dem Tod der Be­      was wertvolle Hinweise geben könnte,
abgegeben werden muss.                           wohnerin und der Aufgabe, ihr Zuhause        zu übersehen?
                                                 räumen zu müssen, ändert das schlag­             Man kann erst mal aufmerksam durch
Den eigenen Umzug kann man planen,               artig: Nun muss man in die Intimsphäre       die Wohnung gehen, um ein Gespür
das Räumen der elterlichen Wohnung               eindringen.                                  für diesen Menschen zu bekommen. Viel­
hingegen nicht …                                                                              leicht fallen einem dann Dinge wie die
    Absolut. Generell, und keineswegs            Die Hemmung ist wohl immer noch da –         besagten Eulen auf. Sie können, nebst
nur für die elterliche Wohnung, gilt: Die        das stelle ich mir unangenehm vor.           Briefen und anderen persönlichen
Räumung ist nicht zuletzt deshalb derart            Allerdings! Vermutlich war das ein        Schriftstücken, Hinweise geben. Noch
kräftezehrend, weil man selber das eigene        gravierender Teil der Belastung bei          was: Der Absender von Briefen, die die
Leben, vielleicht mit Kindern, Krankheit         meiner Mutter damals, ohne dass ich es       verstorbene Person erhalten hat, könnte
oder vielseitigen weiteren Verpflichtun­         so hätte einordnen können.                   auch ein Interesse daran haben. Nur
­gen, bewältigen muss.                                                                        schon die Geste, sie diesem Menschen
                                                 Verschwindet die Hemmung mit der Zeit,       anzubieten, dürfte die betreffende Person
Manche ältere Menschen fangen schon              während des Räumens?                         berühren.
mal selber an zu räumen …                           Bei mir war das so, ja. Manchen
    Es gibt alle Varianten. Die einen            Leuten macht das ohnehin weniger aus.        Gibt es etwas, von dem Sie bereuen, dass
verdrängen den Tod oder finden halt ein­                                                      Sie es weggeworfen haben?
fach: Ich lebe, basta! Andere fangen vor­        Freie Tage für das Räumen einer fremden          Nein. Leider konnte ich in meiner
zeitig an auszusortieren.                        Wohnung sieht das Arbeitsrecht nicht vor.    kleinen Wohnung weder die Vitrine noch
                                                 Wie macht man das organisatorisch?           den grossen Spiegel behalten. Die Papier­
Wo anfangen, was empfehlen Sie?                      Als freischaffende Journalistin konnte   unterlagen ging ich aufmerksam durch,
   Je nach Persönlichkeit und Anzahl der         ich mir die Zeit selber einteilen. Meine     ich transportierte sie in grossen Taschen
Räumenden, je nachdem, wie viel oder             Mutter wohnte zum Glück in Zürich, wie       nach Hause. Die Schlaflosigkeit der
wie wenig Zeit zur Verfügung steht, kann         ich. Grosse Distanzen bilden einen er­       ersten Nächte nutzte ich, um das alles
man mit einem ersten Raum beginnen.              schwerenden Faktor. Weil so vieles           durchzuschauen. Das war sehr stimmig.
Und sich für eine Strategie entscheiden.         zusammenkommt – an Entscheiden, an
                                                 Organisation, Administration sowie an        Welche Wirkung hat der Prozess des
Was kann eine Strategie sein?                    widersprüchlichen Gefühlen, erachte ich      Räumens auf die Trauer?
   Viele Leute sammeln irgend etwas:             es als sinnvoll, die Aufgabe entsprechend        Das Räumen aktiviert die Auseinan­
Korkenzieher, Eulen … Das Gesammelte             aufmerksam anzugehen.                        dersetzung mit dem Menschen, den man
steht nicht unbedingt an einem einzigen                                                       mochte oder eben weniger. Deshalb halte
Ort. Das heisst, man könnte die Eulen aus        Oft sind mehrere verantwortlich für das      ich die Fokussierung auf die Trauer für
der ganzen Wohnung zusammentragen.               Räumen – Geschwister, Cousinen. Was ist      viel zu eindimensional, da viele andere
Eine andere Strategie für den Einstieg           da wichtig?                                  Emotionen aufkommen können.
wäre: Aus jedem Zimmer entfernen, was               Die Tempi und Bedürfnisse sind ver­
eindeutig weggeworfen werden soll. Zeit          schieden. Dies zu respektieren und nach    Wut, Enttäuschung …?
erfordern üblicherweise die Zweifelsfälle.       Kompromissen zu suchen, ist anstren­            Genau. Oder wenn man froh darüber
                                                 gend, aber lohnenswert. Ein Bekannter      ist, dass der Mensch nach langer Krank­
Manche Leute machen kurzen Prozess und           von mir bedauert heute sehr, seine         heit starb. Solche Gefühle können einem
stellen Mulden unter die Fenster.                Schwester zur Eile gedrängt zu haben.      aber sogleich unangenehm sein. Das Hirn
    Das hängt von der Persönlichkeit der                                                    muss die verschiedenen, teils gegensätz­
Räumenden ab. Wer das Hab und Gut                Das gemeinsame Räumen bietet die Chance, lichen Emotionen und Gedanken gewiss­
der Eltern, einer Bekannten oder eines           sich gegenseitig zu erzählen, von Erinne-  ermassen verdauen können. Der Räum-
Nachbars aussortieren muss, mag dabei            rungen und Erlebnissen aus der Kindheit    Prozess kann diese Auseinandersetzung
zuweilen über das eigene Leben nach­-            etwa – ausgehend von Gegenständen, die     unterstützen.
denken.                                          man findet. Haben Sie das so erlebt?
                                                     Kaum, weil ich fast alleine geräumt    Wie fühlten Sie sich, als Sie am Monats-
Wie fühlt es sich an, über Möbel und Ge-         habe. Dennoch kamen Erinnerungen auf. ende den Schlüssel abgaben?
genstände zu richten, die einem andern           Beispielsweise stiess ich auf meinen roten      Puhhh: Erleichtert!
Menschen gehört haben?                           Schulthek. Meine Mutter war mehrmals
    Diese Frage tangiert einen ganz zent­        umgezogen. Ich habe keine Ahnung, ob            Vivianne Berg «Das Hinterbliebene.
ralen Punkt: Eine Wohnung enthält Pri­           sie ihn bewusst aufbewahrt oder zufällig        Der Nachlass – Anregungen zur Triage».
vates und Intimes. Als Besucherin respek­        nicht weggeworfen hatte.                        Verlag Zocher & Peter 2020.

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Haushalt                          Text von Stefan Hartmann, Topten

Effizientes
Heimkino
Der Fernseher hat im letzten
Jahr eine neue Bedeutung
bekommen. Bei der Anschaf­
fung sollte man sich einige
Überlegungen machen.

Die Grösse des Fernsehers lässt beim Kauf eine erste Frage auf­      Verfügen die gesendeten Bildinhalte über HDR, können das
kommen: Will man sich fürs Heimkino wirklich eine riesige            Bild besser interpretiert und Kontraste besser dargestellt
schwarze Wand mit einem 70-Zoll-Bildschirm (178 cm Diago­            werden. Noch ist das Angebot an HDR-fähigem Inhalt über­
nale) ins Wohnzimmer stellen? Der Trend zeigt heute in Rich­         schaubar, aber in der Tendenz nimmt es klar zu.
tung grösserer Fernseher. Grundsätzlich gilt jedoch: Je grösser
die Bildschirmdiagonale, desto grösser der Stromverbrauch.              Je grösser, desto mehr Energie
    Heute ist Ultra HD (UHD), namentlich 4K, zunehmend der               Angaben zum Energieverbrauch eines Fernsehgerätes finden
Standard; weniger als Full HD gibt es kaum noch bei neuen            sich auf der Energieetikette. Diese wurde überarbeitet und ist
Geräten. 4K steht für die Auflösung, das sind 3840 x 2160 Pixel      seit dem 1. März 2021 gültig. Die unabhängige Preisvergleich-
(Bildpunkte). Je mehr Bildpunkte, desto schärfer und plasti­         Plattform Topten listet eine Reihe von 22 sehr effizienten Fern­
scher wirkt das Bild. Je höher die Auflösung eines Fernsehers ist,   sehern auf. Während der Übergangsfrist findet man allerdings
desto geringer kann der Mindestabstand beim Betrachten sein.         in den Geschäften auch noch Geräte mit den alten Energie­
Bei modernen Geräten ist selbst auf kurze Distanz kein Bild­         etiketten (Hinweise wie A+++ kommen auf der neuen Etikette
punkt mehr zu erkennen. Da Filme von Streaming-Diensten wie          nicht mehr vor). Aber nur weil die Etikette veraltet ist, bedeutet
Netflix heute hochauflösend ins Wohnzimmer kommen, sind              es nicht, dass das Gerät automatisch schlechter ist. Ein direkter
solche Geräte immer gefragter.                                       Vergleich der neuen mit der alten Energieetikette ist jedoch
                                                                     nicht möglich.
   OLED ist teuer
    Die beste Qualität liefern aktuell OLED-Fernseher. Hier             Standby vermeiden
leuchtet im Vergleich zu LCD-Fernsehern jeder einzelne Bild­             So gehört etwa das Panasonic-Modell TX-65HXW904, ein
punkt, die Hintergrundbeleuchtung fällt weg. OLED ist teuer,         Gerät mit grosser Bildschirmdiagonale und 4K-Auflösung, zur
liefert aber tolle Farbtiefe und Kontrastumfang. Einen Nachteil      Energieeffizienzklasse E. Nach der neuen Energieetikette ist es
gibt es: Sie sind weniger langlebig und man muss aufpassen,          aktuell eines der effizientesten Geräte in seiner Grösse. Das
dass sich keine Bilder einbrennen (wenn das Bild auf «Pause»         Modell verursacht bei 10 Jahren Nutzungsdauer und einem
steht). Hier empfiehlt es sich, einen Bildschirmschoner einzu­       Strompreis von 20 Rappen pro Kilowattstunde Stromkosten
richten oder das Gerät auszuschalten.                                von 300 Franken. Der vermeintlich geringe Stromverbrauch
    Ein weiterer Begriff aus der TV-Welt ist HDR (High               sollte aber nicht dazu verleiten, das Gerät dauernd im Standby-
Dynamic Range). Dies bezieht sich auf den Bildlesemodus.             Modus zu halten. Wenn man davon ausgeht, dass in jedem

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