2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer

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2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
2.3      Gesundheitswesen – von der Badestube
         zum modernen Spital Hans Maurer

        Im Mittelalter galten Seuchen als Strafe Gottes für ein sündiges Leben.
        Folglich bestand die Behandlung oft in Gebeten und Anrufung von Hei-
        ligen. Von da bis zur heutigen modernen Medizin mit hochspezialisier-
        ten Apparaten und Medikamenten war ein langer Weg.

Bis ins 19. Jahrhundert waren unsere Vorfahren             Naturheilpraxen im Dorf. Astrologie, Feng Shui,
viel mehr auf Selbsthilfe angewiesen als wir das           Kinesiologie, Float Gate, Shiatsu, TCM und vie-
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heute sind. Vor allem auf dem Land entwickelte             le weitere Angebote verheissen Stressabbau, Ge-
sich eine vielfältige Volksmedizin auf der Grund-          sundheit und Wohlbefinden. Mit dem Angebot
lage von Rezeptbüchern, die über Generationen              steigt auch die Nachfrage.
vererbt, abgeschrieben und ergänzt wurden. Die-                     Was heisst das alles? Der Placeboeffekt
se Rezepte enthielten vielfach Kräuter, die heute          erklärt auch heute manches. Die positive Erwar-
noch gebräuchlich sind und unter dem Begriff               tung des Kranken und der Glaube an den Heiler
Phytotherapie auf wissenschaftlicher Basis eine            und an das vermeintliche Heilmittel sind ein Teil
wahre Renaissance erleben. Als Beispiele seien             der Wirkung. Gespräche und menschliche Zu-
Johanniskraut, Baldrian und Salbei erwähnt. Auf            wendung kommen in der technischen Medizin
tierische Rezepte hingegen wie Hundefett, Regen-           oft zu kurz und werden in der alternativen Szene
würmer, Krebsblut oder Exkremente von Hunden               gesucht und gefunden.
und Katzen verzichten wir heute gerne. Hoch im
Kurs waren magische Handlungen, die das Heil
bringen oder Unheil wie Krankheit, Missernten
                                                             Der Placeboeffekt
und Feuersbrünste abwenden sollten. Beschwö-                    Placebo (lat. Ich werde gefallen) nach dem Roche
rende Formeln oder Amulette dienten der Abwehr               Lexikon Medizin ein «wirkstofffreies, äusserlich vom
des «bösen Blicks» oder des Teufels.2 Aus heutiger           Original nicht unterscheidbares Leer- oder Schein-
                                                             medikament». Der Placeboeffekt wurde in vielen Stu-
Sicht dürfte die Medizingeschichte bis ins 19. Jahr-
                                                             dien nachgewiesen. Scheinmedikamente oder auch
hundert grösstenteils eine Geschichte des Placebo-
                                                             Scheineingriffe haben in bis zu 80 Prozent der Fälle die
effektes sein.                                               gleiche Wirkung gegen Schmerzen, Schlafstörungen
        Wo stehen wir heute? Die Erfolge der na-             und viele andere Leiden wie das Original. Ein neuer Er-
turwissenschaftlich begründeten sogenannten                  klärungsversuch dieses Effektes nimmt an, dass durch
                                                             den psychischen Prozess der positiven Erwartung kör-
Schulmedizin der letzten 150 Jahre sind offen-
                                                             pereigene Hormone (Endorphine, sog. Glückshormo-
sichtlich. Und doch: Die Magie erlebt eine neue
                                                             ne) ausgeschüttet werden und so den Selbstheilungs-
Blütezeit. Seit einigen Jahren sind in der katholi-          prozess des Körpers verstärken. 3
schen Kirche Teufelsaustreibungen wieder salon-
fähig, eine Methode, mit welcher im Mittelalter
Geisteskranke «behandelt» wurden. «Magische
Medizin» kommt bei Google 2009 auf 279’000 Tref-
fer und «Medizin und Aberglaube» auf 102’000 ak-
tuelle Beiträge. Alternativmedizin floriert auch
in Münsingen, wie ein Blick in das Telefonbuch
oder in Zeitungsinserate bestätigt. Es gibt drei

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2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Seuchen

Bis weit ins 19. Jahrhundert waren die Bevölke-
rung und die Ärzte den vielfältigen Epidemien
hilflos ausgeliefert. Die Ursachen und Übertra-
gungswege waren unbekannt und wirksame Heil-
mittel fehlten. Nach mittelalterlichen Vorstel-
lungen galten Seuchen als Strafe Gottes für das
sündige Leben. Gebete, Busse und Einkehr und
die Anrufung der Heiligen Rochus und Sebastian
waren dringender als hygienische Massnahmen.
Die Ärzte entwickelten gelehrte Theorien: «Tellu-
                                                                                              Abb. 1 Pestarzt
risch-magnetische oder elektrische Kräfte» oder
                                                                                              beim Beulen-
«Miasmen» (schädliche Ausdünstungen in der                                                    aufschneiden,
Luft) unter dem Einfluss des Wetters und der Ge-                                              Holzschnitt von
stirne wurden beschuldigt.4 Entsprechend viel-                                                1482.
fältig waren die Abwehr- und Behandlungsme-
thoden. Seuchenpolizeiliche Massnahmen wie                  4’700 Bernerinnen und Berner. Problematisch ist
Quarantänen standen im Vordergrund. Märkte                  die Wandelbarkeit des Erregers, welche alljährli-
wurden verboten, Bäder geschlossen, Häuser                  che Impfungen erfordert.
ausgeräuchert oder gar verbrannt.5 Die Ärzte ver-                   Die Rote Ruhr war im 18. und 19. Jahr-
ordneten Aderlässe, Brech- und Abführmittel und             hundert so gefürchtet wie heute Krebs. Unwis-
zahlreiche Medikamente, die aus heutiger Sicht              senheit und Armut bei miserablen hygienischen
mehr schadeten als nützten.                             Verhältnissen begünstigten die Ausbreitung der
          Die Pest, der schwarze Tod, war seit              Krankheit. Die Fliegen hatten leichtes Spiel, den
dem Mittelalter gefürchtet. Der 1894 entdeckte              1898 entdeckten Erreger von verseuchten Abor-
Erreger wird durch Rattenflöhe von Nagern auf               ten auf Lebensmittel zu übertragen. Im Juli 1750
die Menschen übertragen. Dem Seuchenzug von                 starben in Münsingen 40 Personen an der Ruhr,
1347 bis 1352 fiel ein Drittel der europäischen Be-         meistens Kinder. Der Ruhrepidemie von 1836 /37
völkerung zum Opfer, in Bern gar die Hälfte.6 In            erlag im Kanton Bern ein Drittel der Erkrankten,
den Seuchenjahren 1611 /12 und 1628 /29 starben             vier Fünftel davon Kinder.10 Einen deutlichen
in der Kirchgemeinde Münsingen 549 und 605                  Rückgang der Ruhrerkrankungen brachte ge-
Personen bei einer geschätzten Bevölkerungs-                gen Ende des 19. Jahrhunderts die Erstellung von
zahl von 2’400. 7                                           Jauchegruben, wo auch die menschlichen Exkre-
          Pocken, die seit der Antike bekannte Vi-          mente fliegensicher gelagert wurden.
ruskrankheit, wird durch Tröpfchenübertragung                       Die heute heilbare Lepra (Aussatz) ist
von Mensch zu Mensch verbreitet. Sie war bis ins            schon im Buch Mose beschrieben und war im
19. Jahrhundert eine gefürchtete Kinderkrank-               Mittelalter auch bei uns gefürchtet.11 Der schlei-
heit, die immer wieder Todesopfer forderte, so              chende Verlauf führt im Laufe von Jahren zu
bei uns 1826 und 1830 /31. Noch 1922 /23 berichtete         schweren Verstümmelungen von Gesicht und
der Münsinger Arzt Dr. von Greyerz von mehre-               Gliedmassen. Wer in der so genannten «Siechen-
ren Pockenfällen.8 Die 1797 in England einge-               schau» von einer ärztlichen Kommission als lep-
führte Impfung mit Kuhpocken setzte sich bei                rös befunden wurde, war lebenslänglich aus der
uns nur langsam durch, wie unter anderem in                 Gesellschaft ausgeschlossen, wurde in einem
Jeremias Gotthelfs «Annebäbi Jowäger» nachzu-               Siechenhaus isoliert oder als «Feldsiech» zum
lesen ist. Dank weltweiten Impfaktionen ist die             Betteln gezwungen. Mit auffälligen Kleidern
Krankheit seit 1978 ausgerottet. 9                          und Lärminstrumenten musste er die Mitmen-
          Die Grippe (Influenza), einst Faulfieber          schen warnen, um eine Ansteckung zu vermei-
genannt, ist eine alte Viruskrankheit, die heute            den. Nach dem spontanen Rückgang der Lepra
in Form der Vogel- und Schweinegrippe erneut                bei uns im 17. und 18. Jahrhundert nahmen die
Schlagzeilen macht. Der «Spanischen Grippe»                 Siechenhäuser auch andere Chronischkranke
fielen 1918 20’000 Schweizer zum Opfer, davon               auf, beispielsweise Syphilispatienten.12

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2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

        Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
stand der Typhus (Nervenfieber) bei den Seuchen
an vorderster Stelle. Die Ansteckung erfolgt durch
verseuchte Lebensmittel oder Trinkwasser. In
Münsingen forderte eine Typhusepidemie nach
dem eidgenössischen Schwingfest 1873 neun
Tote. Im Kappeli wurde deshalb ein Notspital mit
40 Betten eingerichtet. Infektionsquelle war ein
verseuchter Sodbrunnen beim «Klösterli».13 Ab
1908 hatte auch die Irrenanstalt während Jahren
mit Typhusfällen bei Patienten und Personal zu
kämpfen.14 Heute ist der Typhus dank Impfun-                Abb. 2 Badeszene mit Bewirtung am Nebentisch
gen und Antibiotika unter Kontrolle.                        (anonymer Holzschnitt aus dem 16. Jh.).

        Wo stehen wir heute? Nach dem Sieges-
zug der Antibiotika in der Mitte des 20. Jahrhun-           Nach der vierjährigen Wanderschaft als Geselle
derts und immer neuen Impfstoffen kam Eupho-                entschied eine Prüfung vor den Doctoren (den
rie auf. Viele Infektionskrankheiten schienen               studierten Stadtärzten) und Meistern über die
besiegt zu sein. Heute müssen wir ernüchtert            Aufnahme in die Meisterschaft und die Zunft,
feststellen, dass das nur bei den Pocken gelungen           die 1502 gegründete Chirurgische Societät.18 Die-
ist. Zunehmende Antibiotikaresistenzen berei-               se Vorschriften dienten vor allem auch der Be-
ten Sorge, so auch bei der wieder zunehmenden               kämpfung der weit verbreiteten Quacksalberei.
Tuberkulose. Aids, Sars, Schweinegrippe und             Viele der patentierten Meister bildeten sich an-
andere Krankheiten sind ungelöste Probleme                  schliessend in Basel, in Strassburg oder an einer
und stellen gewaltige Herausforderungen an die              andern ausländischen Universität weiter. Eine
Medizin und die Pharmaindustrie. Vorwiegend                 Klasse für sich bildeten die nur für innere Krank-
ideologisch begründete Impfgegnerschaft führte              heiten zuständigen Stadtärzte. Sie hatten im
von 2006 bis 2009 in der Schweiz zu einer Masern-       Ausland studiert und doktoriert und verachteten
epidemie mit über 4’000 Fällen.                             die Wundärzte oder Chirurgen – wohl zu Unrecht,
                                                            wie Carl Müller feststellte: «Der Unterschied zwi-
                                                            schen einem studierten Arzt und einem guten
Ärztliche Berufe                                            Schärer war überhaupt gering, denn auch den
                                                            wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten standen
Die Scherer und Bader                                       damals wenig zuverlässige, objektive Untersu-
        Als Erste berufsmässig im Gesundheits-              chungsmethoden zur Verfügung.» 19
wesen tätig waren die Bader wie zum Beispiel
Peter Stucki im Mühletal, der 1412 sein Badstu-
benrecht an Hans Frei verkaufte. 1671 musste Ni-
klaus Studer für seine Badestube der Gemeinde
Münsingen zwei Pfund Zins abliefern.15 Zu den
Aufgaben der Bader gehörte neben dem Betrieb
der Badestube auch das Schröpfen, das Haare-
schneiden und der Aderlass. Damit gerieten sie
in Konflikt mit den Scherern, den handwerklich
ausgebildeten Wundärzten. So verbot der Rat 1471
den Badern die Wundbehandlung, das Aderlas-
sen und das Zähnebrechen.16 Im Münsinger Herr-
schaftsurbar von 1572 lesen wir: »Georg Mentzer,
Scherer und Bader git jerlich der herschafft bo-
den und herschafft Zins 2 Schilling, 6 Pfennig.» 17
        Die Handwerksordnung von 1628 schrieb
für das Handwerk der Scherer und Wundärz-
te eine dreijährige Lehre bei einem Meister vor.

                                                            Abb. 3 Amputation eines Unterschenkels in der Schlafkammer
                                                            des Patienten. Holzschnitt von Wilhelm Traut 1652.

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2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Vom Handwerker zum studierten Arzt
          In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts kam Bewegung in die Ausbildung der Ärzte,
unter anderem auch auf Grund eines Gutachtens
des Arztes, Dichters und Magistraten Albrecht
von Haller. 1797 entstand in Bern das private
Medizinische Institut zur Ausbildung von Land-
ärzten und zur Vorbereitung der Medizinstuden-
ten auf ein Studium im Ausland.20 «Dabei ging
                                                            Abb. 4 Das Doktorhaus an der Bernstrasse 10,
man von der als selbstverständlich angenomme-               wo die Ärzte Hans Ulrich Küpfer, Friedrich
nen Voraussetzung aus, dass für Landärzte ein-              von Ins, Walter von Greyerz, Eduard Baumann
fache Kenntnisse genügten, da auch die Krank-               und Pietro Eichenberger nacheinander praktiziert
                                                            haben. Dr. Küpfer war nebenbei auch Landwirt.
heiten der Landleute einfacher seien als jene der
Städter.» 21 Aufnahmebedingungen waren Le-
sen, Schreiben und Rechnen. Erst ab 1818 waren
Lateinkenntnisse erforderlich.
          1805 entstand aus dem Institut die Me-
dizinische Fakultät der neugegründeten Aka-
demie mit vorwiegend deutschen, nun auch
hauptamtlichen Professoren. Die 1809 gegrün-
dete Medizinisch-Chirurgische Gesellschaft des
Kantons Bern, die Vorgängerin der heutigen
Kantonalen Ärztegesellschaft, hatte zum Ziel,
den Berufsstand durch ein einheitliches Erschei-
nungsbild und durch eine normierte Ausbildung
aufzuwerten.22 Ein wichtiger Schritt dazu war
die in der Folge des politischen Umsturzes von
1831 erfolgte Gründung der Universität Bern. Die
Medizinische Fakultät zählte damals acht Pro-
fessoren, 43 Studenten und sieben Institute oder
Kliniken. Damit war der Anfang zu einer bis in
die heutigen Tage zunehmenden Spezialisierung
gemacht. 2009 zählte die Fakultät 17 Institute, 41
Kliniken, 11 Professorinnen, 184 Professoren, 617
Studentinnen und 390 Studenten!
          Im kantonalen «Gesetz über die Aus-
                                                            Abb. 5 Maltersack von Dr. Küpfer.
übung der medizinischen Berufsarten» von 1865
wurde nur noch als Arzt anerkannt und zur Be-
rufsausübung zugelassen, wer an einer Universi-                       Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab
tät studiert hatte und in Medizin, Chirurgie und            es in Münsingen zwei bis drei Ärzte, die neben
Geburtshilfe ausgebildet war. Erst 1877 wurde die           der Praxis auch das Spital betreuten. Im Tele-
ärztliche Ausbildung im sogenannten Freizügig-              fonbuch von 2008 finden sich 26 in Münsingen
keitsgesetz durch den Bund geregelt. Dieses Ge-             tätige Ärztinnen und Ärzte, die elf Fachgebiete
setz blieb 130 Jahre lang in Kraft. 1901 entstand           vertreten. 2003 haben sich zwölf Praktizieren-
durch Zusammenschluss regionaler Gesellschaf-               de aus Münsingen und Umgebung zum Verein
ten die FMH (Foederatio medicorum helvetico- «Aarmed – Aaretaler Hausärzte» zusammenge-
rum), die Verbindung der Schweizer Ärztinnen                schlossen. Die regelmässigen Treffen dienen der
und Ärzte, die heute rund 30’000 Mitglieder                 Fortbildung, der Qualitätskontrolle und der Or-
zählt. Seit 1931 ist die FMH für die Erteilung der          ganisation des Notfalldienstes, der seit 2008 in
Spezialarzttitel, heute Facharzttitel, zuständig.           Zusammenarbeit mit dem Spital geleistet wird.23
Seit 2002 tut sie dies in staatlichem Auftrag. 2008         In jüngster Zeit wird auch in Münsingen der
gab es 44 verschiedene Facharzttitel.                       Mangel an Hausärzten spürbar.

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Dr. Johann Lory und seine private Nervenklinik
Hans Maurer

In Konolfingen-Stalden steht heute         aus gutem Hause und männlichen Ge-
noch das 1777 erbaute und denkmalge-       schlechts (…) Nähere Auskunft erteilt
schützte Bauernhaus, in dem Johann         mit Vergnügen Dr. Lory in Münsingen
Lory 1807 auf die Welt kam. Der Bau-       bei Bern.» 25 So gab es also in Münsin-
ernbub wurde Arzt und Wundarzt mit         gen eine private psychiatrische Klinik 15
kantonalem Patent und eröffnete 1830       Jahre vor der Eröffnung der Waldau und
in der hintern Schmiede an der Bern-       55 Jahre vor der Inbetriebnahme der
strasse in Münsingen (heute Central-       Kantonalen Irrenanstalt, dem heutigen
garage Moser) eine Arztpraxis. 1836        PZM, allerdings nur für zahlungskräfti-
konnte er die Liegenschaft mit Wohn-       ge Männer!
haus, Schmiedeeinrichtung, Sodbrun-              Der Öffentlichkeit diente Dr. Lory
nen sowie einem Drittel Anteil an einem    als Gemeinderat und Amtsverweser
Ofenhaus und Land dem Hufschmied           (Stellvertreter des Regierungsstatt-
Johann Bürki abkaufen.                     halters). Er war 1867 Mitinitiant und
      Mitbenützer des Ofenhauses wa-       erster Präsident der Sekundarschu-
ren sein Nachbar und Kollege Dr. Hans      le, die bis zur Übernahme durch die
Ulrich Küpfer sowie Christian Maurer.      Gemeinde während 20 Jahren durch
Im gleichen Jahr schloss Lory mit dem      einen privaten Verein betrieben und
damaligen Münsinger Schlossherrn Alf-      finanziert wurde. Lory hatte aus zwei
red de Rougemont einen Tauschvertrag       Ehen zehn Kinder. Ein Sohn prakti-
ab: Lory überliess ihm ein Heimwesen       zierte als Arzt in Tägertschi und Bern.
gegenüber dem Gasthof «Ochsen» und         Der berühmteste war Carl Ludwig
erhielt dafür das «untere Schloss zum      Lory, der Stifter des Loryspitals in Bern
Abtragen». 24 Das Abbruchmaterial          (→ Kurzbeitrag in diesem Kapitel).
diente vermutlich 1839 /40 zum Neu-
bau eines Doktorhauses an der Thun-
strasse, dem heutigen Jugendheim Lory.
In diesem Haus betrieb Dr. Lory bis zu
seinem Tod eine private Nervenheilan-
stalt mit zwölf Plätzen, die er in einem
Zeitungsinserat wie folgt ankündigte:
«Aufgenommen werden hypochondri-
sche, melancholische und auch solche
Kranke, welche, wenn sie auch von Zeit     Abb. 6  Die «hintere Schmiede»              Abb. 7   Die private Nervenheilanstalt
zu Zeit etwas aufgeregt werden mit ih-     an der Bernstrasse beherbergte              des Dr. Lory im 1840 neu erbauten
ren Ideen behaftet sind, überdies noch     ab 1830 die Praxis von Dr. Lory.            Lorystock.
alle Arten mit Verstimmtheit verbun-
dener Nervenkrankheiten, jedoch nur                                                    Abb. 8   Dr. Johann Lory.

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2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Das Siechenhaus der Kirchhöre                              wählte die Kirchgemeindeversammlung folgen-
                                                           de fünf «wohlgesinnte» Männer in eine Grün-
Das Siechenhaus Münsingen wird im Berner Rats-             dungskommission für eine Krankenstube: Kom-
manual 1471 erstmals erwähnt und stand an der              mandant von Wattenwyl in Rubigen, der spätere
Bernstrasse zwischen Dorf und Schwand. Dazu ge-            Präsident der Krankenhausdirektion, Oberst von
hörte eine dem Heiligen Antonius, dem Schutzpa-            Erlach im Schwand, Grossrat Gäumann in Tägert-
tron der Kranken, geweihte Kapelle. Der «Lotzen-           schi, Gemeindepräsident Schindler in Tonisbach
brunnen», die nahe gelegene, nach dem Heiligen             und Pfarrer Hiss in Münsingen.28 Kirchgemein-
Luzius benannte Quelle, versorgte die Bewohner             de und private Spender legten 25’000 Franken
mit Wasser. Diese Quelle fliesst heute noch in die         zusammen. Der Staat Bern vermietete im 1877
Wasserversorgung des PZM. Eine weitere in der              erworbenen Blumenhaus beim Schloss zwei Zim-
Nähe gelegene Wasserfassung, die heute noch Sie-           mer für 500 Franken jährlich und bewilligte ein
chenquelle heisst, gehört heute der Baumschule             Staatsbett. Ein Frauenkomitee beschaffte den
Daepp (→ Kap. 5.4). Das Siechenhaus diente anfäng-         bescheidenen Hausrat, der Dorfarzt Dr. Friedrich
lich der Isolierung und Betreuung der Aussätzigen,         von Ins die medizinischen Geräte und zusammen
später auch andern Chronischkranken. Wer Geld              mit dem Präsidenten den Wein. Dabei hatten
hatte, musste sich einen Platz kaufen, für die             sie sich an die kantonalen Reglemente für die
Armen zahlte das Siechengut der Gemeinde, das              Einrichtung und den Betrieb der Notfallstuben
durch Vergabungen geäufnet wurde.                          zu halten: «Nur Notfälle im engeren Sinn durf-
          Im 18. Jahrhundert genügte das Haus              ten aufgenommen werden wie z.B. Scheintod,
den Ansprüchen nicht mehr. Die Münsinger                   Blutungen aus inneren Ursachen, Schlagflüsse,
Gutsbesitzer lehnten jedoch 1811 den Vorschlag             schwere Verletzungen, eingeklemmte Brüche,
für den Bau eines neuen Krankenhauses aus fi-              Urinverhaltung und schwere hitzige Krankhei-
nanziellen Gründen ab. So diente das baufällige            ten.» Der Arzt war verpflichtet, «die Behandlung
Gebäude fortan armen Familien als Unterkunft,              nach bestem Wissen und Gewissen zu leiten, die
bis am 10. Dezember 1845 ein Brand das Ende                Kranken in möglichst kurzer Frist zu heilen und
brachte und das Land schliesslich verkauft wur-            sich dabei der grössten Sparsamkeit zu befleissen,
de. Übrig blieb einzig der Opferstock, der heute           wie es einer Armenanstalt angemessen ist».29
noch mit der Inschrift «Steuret den Armen» in              Im Gegensatz dazu war die Verpflegung reich-
                                26
der Kirchhofmauer steht.                                   lich bemessen: Die ganze Kost bestand morgens,
                                                           mittags und abends aus einer Suppe. Dazu gab
                                                           es mittags eine ganze Portion Gemüse und 12 Lot
Von der Krankenstube im Blumenhaus                         (entspricht 195 Gramm) Fleisch und abends eine
zur Spital Netz Bern AG                                    ganze Portion Gemüse. Pro Tag erhielt zudem
                                                           jeder Patient ein Pfund Brot, ausserdem Obst-,
1835 beschloss der Bernische Grosse Rat die Errich-        Mehl- und Milchspeisen sowie Nudeln.
tung von Notfallstuben in peripheren Regionen                      Am 1. Januar 1879 wurde die Kranken-
des Kantons (Oberland, Emmental, Oberaargau,               stube mit acht Betten eröffnet. Betreut wurden
Jura und Schwarzenburg), um damit die weit                 die Patienten von der Wärterin Marie Balsiger,
verbreitete Armut zu bekämpfen und zu mildern.             unterstützt von einer Magd und von Dr. von Ins.
Von den wohlhabenden Leuten wurde erwartet,                Im ersten Jahr wurden 21 Kranke während 518 Ta-
dass sie sich zu Hause ärztlich behandeln und              gen gepflegt bei einem Kostgeld von 1.25 Franken.
pflegen liessen. Mit diesen Notfallstuben waren            Nach zehn Jahren waren es 72 Patienten mit 1’930
die Standorte der späteren Spitäler nach länge-            Pflegetagen und das Kostgeld war auf 70 Rappen
ren Diskussionen gegeben. 1847 wurde mit dem               gesenkt worden. Weil die zwei Zimmer ohne
Armengesetz die rechtliche Grundlage zur staat-            Nebenräume und mit miserablen sanitären Ein-
lichen Finanzierung der Krankenstuben geschaf-             richtungen immer weniger genügten, beschloss
fen, die sich in der Folge zu Bezirks- und Regional-       die Kirchgemeindeversammlung im März 1890
                           27
spitälern entwickelten.                                    einen Krankenhausneubau am Sauerbrunnen-
          In Münsingen gab es keine Notfallstube.          gässli (heute Krankenhausweg 6).30
Die Initiative zur Schaffung einer Krankenstube
ging von der Kirchgemeinde aus. Im August 1877

                                                     128
2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

Der erste Spitalneubau von 1891
        Das von Architekt Könitzer aus Worb
geplante Krankenhaus mit 20 Betten konnte am
28. Oktober 1891 bezogen werden. Die Baukosten
beliefen sich auf 37’700 Franken. Die bisherigen
Wärterinnen wurden durch Krankenschwestern
ersetzt, welche das Diakonissenhaus Riehen
bis 1942 ununterbrochen zur Verfügung stellte.
Trägerschaft des Spitals blieb bis 1911 die Kirch-
gemeinde. Die Kirchgemeindeversammlung ge-
nehmigte Budget und Rechnung und legte das
Kostgeld fest. Der Kanton bewilligte 1895 ein
viertes Staatsbett. Das Defizit zahlte die Kirchge-
meinde. Erst mit der Verselbständigung der obe-
ren Bezirke zur Kirchgemeinde Stalden (→ Kap. 3.1)
drängte sich eine neue Lösung auf und das Kran-
kenhaus wurde fortan durch einen Verein getra-
gen, der erst 1977 durch einen Gemeindeverband
abgelöst wurde.
        Das Haus und die Einrichtungen wur-
den laufend erneuert: 1899 wurde das elektri-
sche Licht installiert. 1903 brachte der neue Arzt
Dr. Walter von Greyerz den ersten Operations-
tisch ins Haus, 1921 folgte der erste Röntgenap-
parat und 1931 der erste Radioapparat. 1931 wurde
auch der erste gedruckte Jahresbericht veröffent-
licht. Dieser erwähnte als schwieriges Problem
die vielen Verkehrsunfälle, die früher viel selte-
ner gewesen seien.

                                                                                                    Abb. 9 Blumenhaus:
                                                                                                    Das 1790 als Orangerie
                                                                                                    erbaute Blumenhaus
                                                                                                    beherbergte von 1879
                                                                                                    bis 1891 die Kranken- oder
                                                                                                    Notfallstube der Kirch-
                                                                                                    gemeinde.

                                                                                                    Abb. 10 Das Krankenhaus
                                                                                                    nach dem Laubeneinbau
                                                                                                    von 1900. Es wurde 1933 an
                                                                                                    den Altersheimverein ver-
                                                                                                    kauft und dient heute der
                                                                                                    Gemeinde der Evangelisch
                                                                                                    Taufgesinnten als Alters-
                                                                                                    heim.

                                                                                                    Abb. 11 Das Krankenhaus
                                                                                                    von 1891.

                                                     129
2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Carl Ludwig Lory, der Stifter des Loryspitals
Hans Maurer

                                                                                           Fruchtbares Wirken in der Heimat
                                                                                                 Der 40-jährige Jungrentner betä-
                                                                                           tigte sich fortan als begeisterter Berg-
                                                                                           steiger. Er regte den Bau der Gaulihütte
                                                                                           an, die er auch finanzierte und dann
                                                                                           dem SAC schenkte. 33 Mehrmals reiste
                                                                                           er nach Italien und betätigte sich als
                                                                                           eifriger Kunstsammler. Der Junggesel-
                                                                                           le stellte sich an die Spitze der grossen
                                                                                           Familie und übernahm die Leitung der
                                                                                           Erziehung von zehn Nichten und Neffen
                                                                                           und mehr als einem Dutzend entfernter
                                                                                           Verwandter unter dem Motto «Arbeit-
                                                                                           samkeit und Rechtschaffenheit».
                                                                                                 1885 wurde er in die Sekundar-
                                                                                           schulkommission Münsingen gewählt.
                                                                                           Die Sekundarschule war damals noch
                                                                                           eine private Institution. Sein Vater war
                                                                                           1867 einer der Initianten und der ers-
                                                                                           te Präsident dieser Schule gewesen.
                                                                                           1888 schenkte Lory zusammen mit
                                                                                           vier weiteren Bürgern der Gemeinde
                                                                                           den Bauplatz zum Bau eines neuen
                                                                                           Schulhauses, des heutigen Mittelweg-
                                                                                           schulhauses, und ab 1890 spendete er
Abb. 12 Das Loryspital 1929, erbaut vom international tätigen Berner Architekten           der Schule während 17 Jahren jährlich
Otto Rudolf Salvisberg.                                                                    700 bis 800 Franken zur Verbilligung
                                                                                           der Schulgelder. 34 1889 wurde er vom
                                                                                           Kirchgemeinderat auch in die Baukom-
Carl Ludwig Lory wurde am 21. Oktober        Auskommen kämpfen. Die Wende                  mission für den Erwerb oder Neubau ei-
1838 in Münsingen geboren, wo sein           brachte die Übernahme der Vertre-             nes Krankenhauses gewählt. Nach der
Vater Johann Lory, der Erbauer des Lory-     tung der Basler Chemiefirma Geigy für         Eröffnung des neuen Krankenhauses
heims, seit 1830 eine Arztpraxis führte.31   Russland. Lory und seine Mitarbeiter          1891 ermöglichte Lory aus eigenen Mit-
Den ersten Schulunterricht bekam Carl        wurden wichtige Pioniere des schwei-          teln die Verbilligung der Pflegetaxe für
Ludwig durch einen Hauslehrer, dann          zerischen Exporthandels im Zarenreich.        alle Patienten von 70 auf 50 Rappen. 35
besuchte er die Lateinschule in Bern.        «Sie haben dem Heimatland im fernen                 Fürsprecher Paul Keller, der zeit-
Nach dem Wunsch des Vaters hätte er          Osten einen ehrenvollen Namen ver-            lebens in Münsingen wohnte und Va-
Theologie studieren sollen, er wollte        schafft.» Die Erfolge der Firma sprachen      ter der berühmten Puppenspielerin
aber Kaufmann werden. Nach einem             sich auch in der Schweiz herum. 1874          Therese Keller war, hat als Zeitzeuge
Welschlandaufenthalt in Payerne ab-          wollte Bundespräsident Schenk Carl            unter anderem Folgendes festgestellt:
solvierte er eine kaufmännische Lehre        Ludwig Lory zum Schweizerkonsul in            «Der hervorragendste Dorfgenosse war
in einer Eisenhandlung in Basel.             Moskau ernennen, doch dieser lehnte           C. L. Lory, der Millionär und Stifter des
                                             ab, weil er andere Pläne hatte.               Loryspitals. Er und das Dorf verstanden
Lehr- und Wanderjahre                              1877 übergab Lory das Geschäft          sich nicht. Er hatte etwas von der Welt
     Carl Ludwig Lory wollte in die          seinem Mitarbeiter und Freund Billo           gesehen, war aufgeschlossen und welt-
Fremde. Schon mit 19 Jahren reiste er        und kehrte nach 20 erfolgreichen Ge-          erfahren. Er stiess sich an der Enge des
nach Moskau, wo er vorerst bei einem         schäftsjahren zurück in sein Elternhaus       Dorfes und die Dörfler betrachteten
Popen Russisch lernen musste. Er fand        in Münsingen (das heutige Loryheim),          ihn als Wundertier. Von beiden Seiten
dann eine Stelle in einer grossen Firma.     das er schon 1872 nach dem Tode des           versuchte man sich zu nähern, doch
Mit der Übernahme eines bankrotten           Vaters seinen Geschwistern abgekauft          vergeblich. Einmal wurde der Frauen-
Chemikaliengeschäfts machte er sich          hatte. 32 Als einzigen Luxus liess er schö-   chor zum Lory-Stock gesandt, um
selbständig und musste hart um sein          ne Gartenanlagen errichten.                   den grossen Mann zu versöhnen. Die

                                                                130
2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

Abb. 13 Carl Ludwig Lory in den            Abb. 14 Das Loryhaus zu Zeiten des C.L. Lory,
1890er-Jahren.                             Gemälde, signiert «E. Hodel 1881».

Sängerinnen hatten aber Pech bei der       ge und Angestellte, an die Waldau, das      weiht werden konnte. 38 Es blieb sogar
Auswahl ihrer Lieder. Sie sangen dem       Sanatorium Heiligenschwendi, das Kin-       noch Geld übrig, welches 1954 den Bau
Krösus ‹Umsonst suchst du des Guten        derspital und das Kunstmuseum stan-         des Anna-Seiler-Hauses (so genanntes
Quelle›, was er natürlich auf sich bezog   den dem Inselspital schliesslich fast 3.5   Loryspital II) und 1955 die Renovati-
und sauer reagierte.» 36                   Millionen Franken zur Verfügung. 37         on des Loryspitals finanzieren half. So
     Mit 60 Jahren musste sich Lory              Sämtliche Steuern und Abgaben         wurde der Wille des grosszügigen Stif-
einer schweren Operation unterziehen,      auf allen Vergabungen waren durch die       ters nach 20 und mehr Jahren endlich
die Prof. Theodor Kocher mit bestem        Inselkorporation zu bezahlen. Die An-       umgesetzt. 39
Erfolg durchführte. Carl Ludwig Lory       gehörigen wurden mit der Aufsicht über
starb am 5. Dezember 1909 nach einem       den Testamentsvollzug beauftragt und
Schlaganfall.                              erhielten das Recht, das Erbe heraus
                                           zu verlangen, wenn die Anordnungen
Das Erbe                                   des Stifters nicht befolgt würden. Das
      Im Testament vom 9. April 1904       führte denn auch noch zu einer Ausei-
mit späteren Nachträgen setzte Lory        nandersetzung bis vor das Obergericht,
die Insel- und Ausserkrankenhauskor-       wo die Insel Recht bekam.
poration des Kantons Bern als Haupt-             Da der Staat die Betriebskosten
erbin seines Vermögens von fast fünf       der dringend nötigen Neubauten nicht
Millionen Franken ein. Die Verwendung      übernehmen konnte oder wollte, ge-
des Geldes war an präzise Bedingungen      schah vorerst ausser gehässigen Brief-
geknüpft: Es sollte zur Erweiterung des    wechseln und Pressekampagnen nichts.
Inselspitals verwendet werden, damit       Erst 1919 konnte mit Lory-Geld auf dem
nicht mehr so viele Kranke abgewie-        «Engländerhubel» günstiges Bauland
sen werden mussten. Die Neubauten          gekauft werden. Ab 1923 ermöglichte
sollten «zur Pflege meiner leidenden       das neue Inselhilfsgesetz mit Kopfbei-
Mitmenschen dienen, nicht zur Lehre»       trägen von Kanton und Gemeinden die
und durften nur erstellt werden, wenn      Finanzierung des Spitalbetriebs. Damit
der Staat die Betriebskosten übernahm.     war der Weg endlich frei zum Bau des
Nach Ausrichtung zahlreicher bedeu-        Loryspitals, das am 21. Oktober 1929,       Abb. 15 Die Gedenktafel in der
tender Legate und Renten an Angehöri-      dem Geburtstag des Stifters, einge-         Eingangshalle des Loryspitals.

                                                             131
2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Das Spital von 1935                                               unglück von Kiesen erwähnt. Ein schwerverletz-
          Mit den Jahren stiegen die Patienten-                   ter Postbeamter starb im Spital. 1943 wurde das
zahlen, die Ansprüche und die Kosten, und                     «Stöckli» als Personalhaus eingeweiht, was im
schon bald stellte sich erneut die Frage eines                    Spital mehr Platz schuf und eine Erweiterung auf
Neubaus. 1935 entstand im «Herrenbäumli» zwi-                     54 Betten erlaubte. 1945 wurde mit dem Penicil-
schen Krankenhaus- und Lerchenweg das von                         lin das erste Antibiotikum eingeführt und 1946
den Architekten Dubach und Gloor geplante Spi-                    die Kohle- durch eine Ölheizung ersetzt.
tal mit 34 Betten für 469’000 Franken. Beiträge                           1949 wurde die Existenzberechtigung
der fünf damaligen Spitalgemeinden Münsin-                        eines Kleinspitals heftig diskutiert und bei der
gen, Rubigen, Tägertschi, Häutligen und Konol-                    Finanzierung wurden der Wohltätigkeit und
fingen (für die Schulgemeinde Gysenstein), des                    freiwilligen Spenden eine grosse Bedeutung
Kantons, der Erlös des Verkaufs des alten Spitals                 beigemessen. Der langjährige Direktionspräsi-
und eines Basars und freiwillige Spenden deck-                    dent Pfarrer Rudolf Müller verteidigte das Spital
ten die Kosten. Das neue Spital wurde im April                    Münsingen mit folgenden Worten: «Was uns
1935 eröffnet.40                                                  aber kein Spitalgrossbetrieb jemals geben kann
          In der ärztlichen Betreuung der Spital-                 und unser Dasein berechtigt, ist der persönliche
patienten spiegeln sich der Fortschritt der Me-                   Einsatz der Spitalgemeinde für ihr Werk und das
dizin und die zunehmende Spezialisierung: Bis                     Wohlergehen ihrer Kranken, das gemeinsame
1930 war immer nur ein Arzt, der zugleich im                      Tragen von Freud und Leid und die gemeinsame
Dorfe eine Allgemeinpraxis führte, für das Spital             Verantwortung.»41 Der Umfang der in den Jah-
zuständig: Von 1879 bis 1903 war das Dr. Friedrich                resberichten über Jahre aufgelisteten Bar- und
von Ins, anschliessend Dr. Walter von Greyerz,                    Naturalspenden ist aus heutiger Sicht in der Tat
von 1920 an in jährlichem Wechsel mit Dr. Willi                   erstaunlich und auch erheiternd. Sogar Jauche
Pfister. 1931 kam mit Dr. Ernst Schreiber der                     wurde gespendet! Noch 1959 trug das Frauen-
erste Spezialarzt für Chirurgie ins Haus. Neben                   komitee bei der jährlichen «Eiersammlung» 5’512
chirurgischen und gynäkologischen Fällen und                      Eier und zahlreiche weitere Lebensmittel und
Geburten war er als erster Chefarzt auch für die                  11’900 Franken in bar zusammen.
administrative Leitung zuständig. Internistische                          1961 nahm die erste Hausbeamtin die Ar-
Patienten konnten zwischen den drei Spitalärz-                    beit auf und Peter Lüthi wurde Verwalter erst im
ten Walter Fischer (seit 1932), Walter von Greyerz                Nebenamt, ab 1974 im Hauptamt. Vorher hatte
und Ernst Schreiber wählen.                                       Lehrer Karl Burkhalter Kasse und Buchhaltung
          Die Kriegsjahre brachten besondere Pro-                 in der Freizeit geführt. 1963 übernahm der In-
bleme. Einerseits waren zeitweise alle Ärzte im                   ternist Dr. Peter Burri die Verantwortung für die
Militärdienst und wurden durch den Psychia-                       medizinische und die Röntgenabteilung und 1973
ter Dr. Doepfner von der Heil- und Pflegeanstalt                  trat Dr. Hans Ulrich Funk als erster Chefarzt für
vertreten. Andererseits beanspruchten Soldaten                    innere Medizin sein Amt an.
und französische Internierte zusätzliche Betten.                          1966   geriet   der   Schwesternhausba-
1941 wird als besonderes Ereignis das Eisenbahn-                  sar zum grossen Dorffest und zwei Jahre später
                                                                  konnte das Haus auf dem Land der ehemaligen
                                                                  Gärtnerei Balsiger am Lerchenweg eingeweiht
                                                                  werden. 1970 trat der erste Assistenzarzt sein
                                                                  Amt an. Vorher hatten die einweisenden Ärzte
                                                                  bei den Operationen ihrer Patienten assistiert.
                                                              30 Jahre lang war der Personalmangel ein grosses
                                                                  Problem. In den 1960er-Jahren wurde zudem der
                                                                  Platzmangel akut, besonders für chronisch Kran-
                                                                  ke, was erneut eine Neubauplanung auslöste:
                                                                  Am Höheacker wurden über 15’000 Quadratme-
                                                                  ter Land gekauft und ein Projekt mit 100 Betten
                                                                  entworfen, das 1975 hätte realisiert sein sollen.
                                                                  Wegen der Finanzmisere des Kantons wurde das
                                                                  Projekt jedoch 1973 abgebrochen und als Ersatz

Abb. 16 Naturalgaben 1935 (Ausschnitt aus Jahresbericht).

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2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

                                                                   das alte Spital renoviert und durch einen Anbau
                                                                   erweitert. Während diesen Arbeiten war das Spi-
                                                                   tal im Herbst 1974 fünf Wochen lang geschlossen
                                                                   und die Patienten wurden in die umliegenden
                                                                   Spitäler ausgelagert.

                                                                   Die Spitalanlage von 1987/89
                                                                             Mit dem Segen des Kantons begann 1979
                                                                   erneut eine Neubauplanung, diesmal auf dem
                                                                   bisherigen Spitalareal. 1983 bewilligte das Ber-
                                                                   nervolk das Neubauprojekt des Büros Iten und
                                                                   Brechbühl mit 67 Prozent Ja-Stimmen. Im April
                                                                   1987 wurde das neue Spital bezogen und zwei Jah-
                                                                   re später auch die Abteilung für Langzeitpflege
                                                                   im alten Spital von 1935.
                                                                             Noch im alten Spital nahm 1985 mit Dr. Ro-
                                                                   ger Rauch der erste Chefarzt für Gynäkologie und
                                                                   Geburtshilfe seine Tätigkeit auf. 1987 stiessen mit
                                                                   Dr. Jürgen Mahlich und Dr. Israel Gechter ein An-
                                                                   ästhesist und ein Radiologe neu zur Ärzteequipe.
                                                                   1996 wurde Dr. Marc Dubler Chefarzt für Anästhe-
                                                                   sie. Er übernahm auch die Verantwortung für den
                                                                   Rettungsdienst, der 2008 zwei Ambulanzen und
                                                                   neun ausgebildete Rettungssanitäter umfasste.
                                                                            Ab 1994 kam mit der anhaltenden Kos-
                                                                   tensteigerung Bewegung in die Spitalplanung.
                                                                   Im November 1997 wurde in einer Volksabstim-
                                                                   mung das Modell Partnerschaft angenommen
                                                                   und damit der Weg zum Abbau von Überkapa-
                                                                   zitäten frei gemacht. 1997 eröffneten die ortho-
                                                                   pädischen Chirurgen Dr. Markus Michel und
                                                                   Dr. Pierre Witschger im ehemaligen Stöckli
                                                                   ihre Privatpraxis, das Orthopädische Zentrum
                                                                   Münsingen OZM, und operierten fortan als Be-
Abb. 17 Südansicht des Spitals von 1935.
                                                                   legärzte im Spital. Ab 2003 versahen sie im Wech-
Abb. 18 Die Spitalanlage von 1987.
                                                                   sel den Posten als Chefarzt für Orthopädie.
Abb. 19 Das alte Spital von 1935 nach der Renovation 1989.                   Der nächste Schritt im Kampf ums Über-
                                                                   leben war 1999 die Fusion der Bezirksspitäler
                                                                   Münsingen und Oberdiessbach zum Regionalen
                                                                   Spitalzentrum (RSZ) Aare- und Kiesental, ein
                                                                   Spital an zwei Standorten mit Konzentration der
                                                                   akuten stationären Behandlung in Münsingen.
                                                                   Das Modell funktionierte jedoch nicht. Die Ta-
                                                                   gesklinik Oberdiessbach musste nach einem Jahr
                                                                   geschlossen werden, da sie nicht auf der neuen
                                                                   kantonalen Spitalliste stand und nicht genügend
                                                                   ausgelastet war. Damit wurde das ehemalige Be-
                                                                   zirksspital Oberdiessbach mit 60 Betten zum rei-
                                                                   nen Pflegezentrum, aufgewertet durch die Über-
                                                                   nahme der Langzeitpatienten des inzwischen
                                                                   geschlossenen Spitals Grosshöchstetten und der-
                                                                   jenigen von Münsingen.

                                                             133
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Betten                   Erwachsene: 80                                Säuglinge: 10                              Tab. 1 Kennzahlen 2008
Patienten                stationär / teilstationär: 4’191              ambulant: 10’962                           Spital Münsingen.
Durchschnittliche        stationär: 6.1 Tage
Aufenthaltsdauer
Personal                 total 150 Stellen                             davon 24 Ärzte und 63 Pflegende
Beschäftigte             durchschnittlich 279 Personen

                                                                       600

                                                                       400

                                                                       200

                                                                         0
                                                                                1940   1950   1960    1970     1980   1990   2000

                                                                               Geburten       Kaiserschnitte

                                                                       Abb. 21 Geburtsstatistik des Spitals. Für die Zunahme
                                                                       der Kaiserschnitte sind neben medizinischen
                                                                       immer mehr auch Life-Style-Gründe verantwortlich.

Abb. 20 Die Spitalanlage im Überblick (von rechts):
Das neue Spital, das renovierte alte Spital und
das zum orthopädischen Zentrum umgebaute «Stöckli».                Vom Freiwilligen Krankenhilfsverein
                                                                   zur Spitex Aare-Gürbetal

            Das Akutspital Münsingen entwickelte                       Die Früchte der tätigen Nächstenliebe
sich mit einem kantonalen Leistungsauftrag ad-                                   Wie schon bei der Krankenstube 1877
ministrativ und medizinisch weiter, konnte sei-                        ging die Initiative zur Gründung eines Kran-
nen Marktanteil ausbauen und schloss sich 2002                         kenhilfsvereins von der Kirchgemeinde aus. Im
zusammen mit den Berner Spitälern Ziegler und                          ersten Jahresbericht steht dazu: «Schon längere
Tiefenau der Spitalgruppe Neue Horizonte (beste-                       Zeit hegten einige Kirchgemeindemitglieder den
hend aus Aarberg, Belp und Lindenhof) an. Das                      Wunsch, es möchte sich in der Kirchgemeinde
Spital Münsingen wurde 2007 vom Kanton über-                           Münsingen ein Krankenhilfsverein bilden. (…)
nommen und zusammen mit den Spitälern Aar-                             Zu diesem Zweck wurden vor allem Frauen ein-
berg, Belp, Riggisberg, Tiefenau und Ziegler und                       geladen, sich am 21. Juni 1896 im Kappeli zu ver-
dem Pflegezentrum Elfenau in die Spital Netz                           sammeln.» 44 Mit 64 Mitgliedern wurde der Ver-
Bern AG integriert. Damit hatte das Konstrukt                          ein an diesem Tag nach Vorbildern in Worb und
                                                      42
RSZ bereits nach acht Jahren ausgedient.                    Im         Münchenbuchsee gegründet.
Jahr 2009 war das Spital Münsingen eine erfolg-                                  Zu Beginn bestand die Hilfe für die Be-
reiche Klinik auf Wachstumskurs und verfügte                           dürftigen vor allem aus Naturalgaben. So wur-
über die Abteilungen Medizin, Chirurgie, Ortho-                        den im ersten Jahr 830 Liter Milch, 450 Eier, für
pädie, Gynäkologie, Geburtshilfe und Radiologie                    43 Franken Brot und für 45 Franken Fleisch, Sup-
(seit 2008 mit einem Computer-Tomografen).                             penrollen und Wein abgegeben. In den folgenden
            Das Pflegezentrum Oberdiessbach mit                        Jahren stieg die Milchmenge auf 2’500 Liter und
93 Betten wurde durch den bisherigen Gemeinde-                         über 1’000 Eier wurden verschenkt. Ab 1915 wurde
verband aus 23 Gemeinden mit rund 43’000 Ein-                          die Ovomaltine zum bevorzugten Stärkungsmit-
wohnern, darunter Münsingen, weitergeführt                             tel. Nachdem sich gezeigt hatte, dass die Abgabe
und hiess jetzt Regionalverband für Pflege und                         von Lebensmitteln allein nicht genügte, wurden
Betreuung (PBZ) Aare-Kiesental.43 Das Akutspital                       1904 mit Frau Schmid eine erste und 1906 mit He-
Belp wurde 2008 geschlossen und in ein Zentrum                         lene Jenny eine zweite Pflegerin angestellt. Die
für Rehabilitation umgewandelt.                                        Frauen waren für die Pflege und das Besorgen des

                                                                 134
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

Haushalts zuständig und zwar in erster Linie un-           Zunehmende Professionalisierung
entgeltlich für arme Leute. Vermögende konnten             und Reglementierung
die Dienste gegen Bezahlung in Anspruch neh-                        Ab den 1980er-Jahren wehte ein anderer
men. Nach gehässigen Auseinandersetzungen              Wind: Der 20-köpfige Vorstand war zu schwerfäl-
um die Finanzen spaltete sich 1907 der obere Be-           lig geworden. Der Kanton schaltete sich zuneh-
zirk der Kirchgemeinde noch vor deren Aufspal-             mend ein und definierte zu erbringende Leistun-
tung (→ Kap. 3.1) zu einem eigenen Verein ab.              gen und Tarife. In den revidierten Statuten von
        Von Anfang an wurde Geld für einen                 1983 hiess der Verein neu «Kranken- und Haus-
Krankenwagen gesammelt. Im Mai 1898 be-                    pflegeverein der Kirchgemeinde Münsingen»
schloss die Hauptversammlung die Anschaffung.              und ab 1995 «Spitex-Verein Münsingen». Er wur-
Im ersten Jahr wurde er dreimal, später durch-             de geleitet vom Vorstand, der Betriebskommissi-
schnittlich zehnmal jährlich benutzt, je nach              on und der Geschäftsstelle und war Teil der kan-
Wegverhältnissen gezogen von einem oder zwei               tonalen und schweizerischen Dachorganisation.
Pferden. In den 1920er-Jahren ging der Betrieb             1996 feierte der Verein den 100. Geburtstag un-
des Wagens von der Kirchgemeinde aufs Kran-                ter anderem mit einer Ausstellung im Museum
kenhaus über, das dafür eine eigene Remise bau-            Schloss Münsingen.45
te. Gleichzeitig mit der Vereinsgründung hatte                       Einen weiteren Meilenstein brachte das
die Kirchgemeinde auch ein Krankenmobilien-                Jahr 2007: Auf Druck des Kantons fusionierten die
magazin errichtet, das im Pfarrhaus unterge-               drei Vereine Belp-Toffen, Münsingen sowie Wich-
bracht und durch den Pfarrer verwaltet wurde.              trach und Umgebung zur «Spitex Aare-Gürbetal»
Später befand sich das Magazin im Rebacker-                mit Sitz in Münsingen. Das Einsatzgebiet um-
schulhaus. Seit 1979 ist das Altersheim Schloss-           fasste neu 15 Gemeinden mit rund 35’000 Einwoh-
gut dafür zuständig.                                       nern rund um den Belpberg. Damit sollten Syner-
        Von 1896 bis 1982 präsidierte immer ein            gien genutzt, das Angebot erweitert und Effizienz
Pfarrer den vorwiegend aus Frauen bestehenden              und Qualität gesteigert werden. Im Jahre 2008
Vorstand. Das schlägt sich auch in den Jahresbe-           beschäftigte die Spitex Aare-Gürbetal rund 80 Per-
richten nieder, die sich über Jahrzehnte hinweg            sonen, dazu kamen vier Lehrstellen für Fachan-
wie Predigten lasen. Tätige Nächstenliebe war              gestellte Gesundheit und drei Praktikumsplätze.
das Motto, Mitgliederbeiträge, Kollekten, Spen-                      Im Stützpunkt Münsingen teilten sich
den und Legate bildeten die finanzielle Grund-             28 Personen in 13.5 Stellen, vorwiegend in der
lage der Vereinstätigkeit. Ab 1910 finanzierte der         Pflege. Daneben umfasste das Angebot Hilfe im
Verein auch Ferien im Oberland für geschwächte             Haushalt, einen Dienst, der warme Mahlzeiten
Kinder, bevor dann einige Jahre später der neu             aus der Spitalküche nach Hause lieferte, einen
gegründete Frauenverein regelmässige Ferien-               Rotkreuzfahrdienst und einen vereinseigenen
kolonien organisierte.                                     Rollstuhlbus. Zusätzliche vom Kanton verlang-
                                                           te Leistungen waren gemeindepsychiatrische
                                                           Pflege und Palliativpflege für Schwerstkranke.
                                                           Finanziert wurden die Leistungen zu rund 40
                                                           Prozent durch den Kanton sowie durch die Kran-
                                                           kenkassen und die Kunden, die je nach Kasse
                                                           und Versicherungsart einen mehr oder weniger
                                                           hohen Selbstbehalt tragen mussten.46

                                                           Abb. 22 Der im Oktober 1900
                                                           in Betrieb genommene Krankenwagen,
                                                           erbaut für 2’000 Franken
                                                           von Wagenbauer Bieri in Bern.

                                                     135
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

Das Parkbad – Wellness-Oase an der Aare
Hans Maurer

                                             Abb. 23 Das Parkbad 1936.
                                             Das Schwimmerbassin wurde bis 1948
                                             von Aarewasser durchströmt,
                                             hatte einen Naturboden mit Wasser-
                                             pflanzen und Fische tummelten
                                             sich im kalten Wasser.

                                             Abb. 24 Die alte Badi an der äusseren
                                             Giesse, in Betrieb von 1909 bis 1935.

                                       136
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

«Als im Jahre 1859 der Arzt und Gemein-      und 85’000 Franken. Am 19. November
derat Johann Lory der Gemeinde den           1934 beschloss die Gemeindeversamm-
Antrag stellte, zur Förderung der Ge-        lung, das Projekt Stock aufzugeben
sundheit in der Au eine Badanstalt zu        und beauftragte den Gemeinderat, das
errichten, will die Gemeinde vorderhand      Projekt Schüpbach an der Aare weiter
darauf nicht eintreten», schrieb Jakob       zu bearbeiten. Dieser Beschluss führte
Lüdi 1928. 47 Eine erste Badegelegenheit     zum Rücktritt der zweiten Badbaukom-
für die Münsinger richtete Briefträger       mission. Ihre Nachfolgerin unter dem
Rolli an der Giesse bei der Walke ein. Die   Vorsitz von Elektriker Otto Grossglauser
1909 «nach mehrmaligen Anläufen des          nahm Ende Januar 1935 die Arbeit auf.
Gewerbevereins und der Lehrerschaft»         Die Diskussionen gingen weiter. Un-
für 4’000 Franken bei der ehemaligen         einig war man sich weiterhin über die
Rossschwemme erstellte Badanstalt            Finanzierung, über den Standort (!) und
(später die alte Badi genannt) bestand       über den künftigen Projektverfasser.
aus einem Bretterverschlag mit einigen       Am 29. Juli 1935 betraute der Gemein-
Kabinen an der gestauten äusseren Gies-      derat Ingenieur Max Keller aus Brugg
se unterhalb der Brücke an der alten Belp-   mit dem Ausarbeiten des Projekts. 52 Er
bergstrasse. In den 1920er-Jahren ver-       hatte bisher als Gutachter der verschie-
mochte sie allerdings den gestiegenen        denen Projekte gewirkt. Im September
Ansprüchen nicht mehr zu genügen. 48         1935 tauchte mit dem Rossboden unten
                                             am Pfarrstutz eine weitere Standort-
Schwierige Evaluation                        variante auf.
      Im November 1928 reichten 115
Stimmbürger mit Fürsprecher Paul Kel-        Vom bescheidenen Bad …
ler an der Spitze eine Initiative ein, die         Sieben Jahre nach Einreichung der
den Bau «einer der Ortschaft würdigen        Petition beschloss die Gemeindever-
Badanstalt» verlangte.49 Damit begann        sammlung am 18. November 1935, das
eine mehrjährige Planungsphase. Nach         Aareprojekt auszuführen, und bewil-
zwei Jahren lagen zwei Projekte vor:         ligte den Kredit von total rund 110’000
Der Ausbau der alten Badanstalt oder         Franken, wovon 85’000 Franken für
ein Neubau an der innern Giesse in der       die erste Etappe. 53 Die Arbeiten an der
Erlenau im Bereich der heutigen Liegen-      ersten Etappe im Frühjahr 1936 (Tiefbau,
schaften Zimmer/Fitnesszentrum High-         Bassins) dienten gleichzeitig als Be-
light. 50 Mit Diskussionen über Mach-        schäftigungsprogramm für Arbeitslose.
barkeit, Finanzierung und Ablösung von       Sie waren im Juli abgeschlossen und
bestehenden Wasserrechten vergingen          der Badebetrieb konnte aufgenommen
weitere drei Jahre. Am 11. Dezember          werden.
1933 beschloss die Gemeindeversamm-                Die Kostenüberschreitung um           Abb. 25 Das Titelblatt des Parkbad-
lung unter Präsident Ernst Fischer, das      25’000 Franken löste erneut gehässige       Epos von Notar und Gemeinde-
Projekt Erlenau auszuführen. Acht Mo-        Diskussionen aus. Zur Geldbeschaffung       schreiber Christian Zbinden zum Basar
nate später, am 20. August 1934, kam         ging vom 28. bis 30. August 1936 ein        im Sommer 1936.
die Gemeindeversammlung auf ihren            grosser Parkbadbazar mit drei Abend-
Beschluss zurück und entschied, das          programmen und Festumzug über die           Abb. 26 Der erste Bademeister
Projekt Erlenau aufzugeben und statt         Bühne, dazu wurden Darlehen beim            Hermann Otz. Linolschnitt von
dessen ein anderes, inzwischen von           Schulgut und bei Privaten von total         Hans Eggenberg.
Gemeinderat und Baumeister Johann            41’000 Franken aufgenommen. Die
Thomi vorgeschlagenes Projekt an der         Freude über das endlich gelungene
äussern Giesse im Stock (heute steht         Werk war gross, obschon die Anlage
dort die ehemalige Villa Heinrich Roh-       nach heutigen Begriffen recht beschei-
rer) weiter zu verfolgen. Dies führte        den war: In der Mitte des Schwimmer-
zum Rücktritt der Badbaukommission;          beckens war ein Floss verankert, es gab
sie wurde durch eine neue ersetzt. 51        ein Sprungbrett, aber keinen Sprung-
      Am 1. November 1934 lagen dem          turm und kein Sprungbecken, und die
Gemeinderat drei Projekte vor: Erstens       Rasenflächen waren viel kleiner als
jenes im Stock, zweitens der wieder her-     heute. Noch fehlten die Hochbauten,
vorgeholte Ausbau der alten Badanstalt,      die erst 1937 für 25’000 Franken erstellt
und drittens die von Landwirtschafts-        wurden. Am 13. Juni 1937 fand die Ein-
lehrer Karl Schüpbach ins Spiel gebrach-     weihung des Parkbades Münsingen,
te neue Variante an der Aare. Die Kos-       wie es fortan genannt wurde, unter
tenschätzungen lagen zwischen 63’000         Mitwirkung vieler Vereine statt.

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2 Die Menschen und ihre Gesellschaft

     Der erste Sommer 1937 brachte          Eintritte und Einnahmen                                        Eintritte Spitzentag
rund 18’000 Eintritte. Als erster Bade-     350’000           1                     2    3     4      5    6      7   8   5’000
meister wirkte Hermann Otz von der
                                            300’000
Eröffnung bis zu seinem Unfalltod. Er                                                                                     4’000
betrieb auch den Kiosk und konnte
                                            250’000
nach übereinstimmenden Angaben von
Zeitgenossen nicht schwimmen. Seine                                                                                       3’000
                                            200’000
Nachfolger waren Walter Haueter von
1948 bis 1964, Paul Friedli von 1965 bis    150’000
                                                                                                                          2’000
1997 und Martin Brechbühler seit 1998.
                                            100’000
… zur modernen Anlage                                                                                                     1’000
      Im Verlauf der Jahre wurde das            50’000

Parkbad mit dem Segen der Stimmbür-
                                                    0                                                                     0
gerinnen und Stimmbürger für meh-                             1950         1960   1970       1980   1990   2000
rere Millionen Franken immer wieder
ausgebaut und erneuert. Das geschah         Einnahmen                                                      Eintritte Spitzentag
allerdings nicht immer ohne Nebenge-        Eintritte total
räusche: 1981 wurde ein 1.6 Millionen
Franken teures Projekt für den Neubau
der Garderoben und Betriebsgebäude          Abb. 27 Besucherzahlen, Jahreseinnahmen und Spitzenfrequenzen.
mit Flachdach vor allem aus ästheti-        1   Schwimmerbassin betoniert, gegen Aare abgedichtet
schen Gründen an der Urne knapp ab-         2   Neubau Filteranlage, Sprungturm und -becken
gelehnt, was teure Provisorien nötig        3   Einbau Wärmepumpe
machte. Erst 1991 /92 konnte ein Nach-      4   Neubau Garderoben an der Urne abgelehnt
folgeprojekt für gut 3 Millionen Franken    5   Neubau Garderoben, Kiosk und Kasse
realisiert werden. Wie sich die einzelnen   6   Neubau Planschbecken, Nichtschwimmer und Spielplatz
Ausbauschritte auf die Besucherzahlen       7   Sanierung Schwimmerbecken 2003 –2005, Rekordsommer 2003
ausgewirkt haben, ist aus → Abb. 27 er-     8   nasser Sommer 2007
sichtlich. Eine Pioniertat war 1976 der
Einbau einer Wärmepumpe, welche mit
Wärme aus der Aare die Bassintempe-                                                                        Abb. 28 Das
ratur konstant auf 23 Grad hält.                                                                           Parkbad in den
      Das Jahrhunderthochwasser vom                                                                        1950er-Jahren.
Mai 1999 überstand das Bad unbescha-
det. Allerdings mussten Sandsäcke die
braunen, mit Holz durchsetzten Aare-
fluten am Eindringen ins Schwimmer-
bassin hindern. Auch das Hochwasser
vom August 2005 verursachte dank der
zwischenzeitlich erhöhten Ufermauer
keinen Schaden. Heute sorgt ein hoch
motiviertes, gut ausgebildetes und aus-
gerüstetes Bademeisterteam – sogar
ein Defibrillator zur Behandlung von
Herzstillständen steht zur Verfügung –
für die Sicherheit der Gäste und einen                                                                     Abb. 29 Das
einwandfreien Zustand der Anlage.                                                                          Parkbad 2008
                                                                                                           mit Aare-
                                                                                                           schwimmern.

                                                                     138
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital

Alterspolitik und Alterseinrichtungen                     Bewohner. Ein Neubau als Ersatz für den bau-
                                                          fälligen Trakt aus den 1950er-Jahren ist für 2010
Die Alters- und Pflegeheime                               geplant.
         Armut im Alter war vor der Einführung                       Etliche Münsinger fanden und finden
der AHV und der Pensionskassen weit verbreitet.           immer wieder in den Alters- und Pflegeheimen
Als 1917 in Winterthur die Stiftung für das Alter         Riedacker Heimberg und Wydenhof Rubigen
(heute Pro Senectute) gegründet wurde, ging es        Aufnahme. In Münsingen selber wurde, ange-
darum, etwas für die «bedürftigen Greise» zu tun          regt vom Frauenverein, ab 1960 über den Bau ei-
und den «Betagten in den trostlosen Asylen bei-           nes Altersheims diskutiert.57 Als Standort stand
             54
zustehen».                                                das Schlossgutareal immer im Vordergrund, aber
         Wo verbrachten und verbringen alte               weil sich der Kanton mit dem Verkauf viel Zeit
Münsinger ihren Lebensabend, wenn sie zu Hau-             liess, musste Münsingen warten. 1973 gründeten
se nicht mehr zurecht kommen? Für bedürftige              die Einwohnergemeinde sowie die reformierte
Alte gab es seit 1881 die Armenanstalt Riggisberg,        und die katholische Kirchgemeinde die Stiftung
nach Jakob Lüdi eine «liebreiche Stätte», und ab          für Betagte. Architekt Fritz Friedli begann 1974
1924 das vom Verein für das Alter eröffnete Alters-       mit der Planung, 1976 konnte der Kaufvertrag
heim Herbligen, «ein freundliches Heim für die            mit dem Kanton abgeschlossen und im folgenden
gesunden Alten, wo sie in freundlichem Geplau-            Jahr mit dem Bau begonnen werden. Im März 1979
der den Lebensabend verträumen können».55                 wurde das Heim mit einem Wohnteil mit vermie-
         Das Asyl Gottesgnad im ehemaligen                teten Einzimmerwohnungen und einem Heim-
Landsitz der Familie von Wurstemberger in Bei-            teil eröffnet. 1983 verkaufte die Kirchgemeinde
tenwil bei Rubigen nahm ab 1886 unheilbar                 ihre 1976 errichtete Alterssiedlung Sonnhalde mit
Kranke auf, die sonst nirgends Platz fanden.              14 Wohnungen der Stiftung für Betagte.
Heute befindet sich dort die anthroposophisch                        Das Altersheim Schlossgut, mitten im
geführte sozialtherapeutische Werk- und Le-               Dorf und doch ruhig im Grünen gelegen, bietet
bensgemeinschaft Humanus-Haus für geistig                 Platz für 61 Pensionärinnen und Pensionäre. Es
behinderte Erwachsene. Unweit davon steht seit            wurde im Verlauf der Jahre mehrmals ausgebaut
1950 das Altersheim des Vereins Pro Senectute             und auf den neusten Stand gebracht, zuletzt 2008.
Amt Konolfingen, das 2005 umfassend renoviert             Seit 2009 ist es als Alterszentrum Koordinations-
und auf 41 Plätze erweitert wurde. Ende 2007 leb-         und Schaltstelle mit drei Standorten: Im Schloss-
ten sieben Münsinger in diesem Heim.56                    gut werden immer mehr Pflegefälle betreut, in der
         Der 1725 von Georg Steiger erbaute Land-         Sonnhalde stehen 15 Wohnungen für selbständige
sitz Neuhaus zwischen Münsingen und Wich-                 Senioren zur Verfügung und die Bärenmattepark
trach diente von 1905 bis 2002 der Stadt Bern als     AG bietet in 38 Mietwohnungen bedarfsgerechte,
Alters- und Pflegeheim. Seit 2003 führen sechs            flexible Dienstleistungen an, die vom Schlossgut
Aaretaler Gemeinden die Alterssitz Neuhaus AG             aus erbracht werden. Eine Demenzabteilung und
und bieten Platz für 40 betagte oder behinderte           eine Tagesstätte sind in Planung.

Abb. 30 Das Hauptgebäude                                  Abb. 31 Das Altersheim Schlossgut im Sommer 1979.
des Alterssitzes Neuhaus.

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