2.3 Gesundheitswesen - von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer
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2.3 Gesundheitswesen – von der Badestube zum modernen Spital Hans Maurer Im Mittelalter galten Seuchen als Strafe Gottes für ein sündiges Leben. Folglich bestand die Behandlung oft in Gebeten und Anrufung von Hei- ligen. Von da bis zur heutigen modernen Medizin mit hochspezialisier- ten Apparaten und Medikamenten war ein langer Weg. Bis ins 19. Jahrhundert waren unsere Vorfahren Naturheilpraxen im Dorf. Astrologie, Feng Shui, viel mehr auf Selbsthilfe angewiesen als wir das Kinesiologie, Float Gate, Shiatsu, TCM und vie- 1 heute sind. Vor allem auf dem Land entwickelte le weitere Angebote verheissen Stressabbau, Ge- sich eine vielfältige Volksmedizin auf der Grund- sundheit und Wohlbefinden. Mit dem Angebot lage von Rezeptbüchern, die über Generationen steigt auch die Nachfrage. vererbt, abgeschrieben und ergänzt wurden. Die- Was heisst das alles? Der Placeboeffekt se Rezepte enthielten vielfach Kräuter, die heute erklärt auch heute manches. Die positive Erwar- noch gebräuchlich sind und unter dem Begriff tung des Kranken und der Glaube an den Heiler Phytotherapie auf wissenschaftlicher Basis eine und an das vermeintliche Heilmittel sind ein Teil wahre Renaissance erleben. Als Beispiele seien der Wirkung. Gespräche und menschliche Zu- Johanniskraut, Baldrian und Salbei erwähnt. Auf wendung kommen in der technischen Medizin tierische Rezepte hingegen wie Hundefett, Regen- oft zu kurz und werden in der alternativen Szene würmer, Krebsblut oder Exkremente von Hunden gesucht und gefunden. und Katzen verzichten wir heute gerne. Hoch im Kurs waren magische Handlungen, die das Heil bringen oder Unheil wie Krankheit, Missernten Der Placeboeffekt und Feuersbrünste abwenden sollten. Beschwö- Placebo (lat. Ich werde gefallen) nach dem Roche rende Formeln oder Amulette dienten der Abwehr Lexikon Medizin ein «wirkstofffreies, äusserlich vom des «bösen Blicks» oder des Teufels.2 Aus heutiger Original nicht unterscheidbares Leer- oder Schein- medikament». Der Placeboeffekt wurde in vielen Stu- Sicht dürfte die Medizingeschichte bis ins 19. Jahr- dien nachgewiesen. Scheinmedikamente oder auch hundert grösstenteils eine Geschichte des Placebo- Scheineingriffe haben in bis zu 80 Prozent der Fälle die effektes sein. gleiche Wirkung gegen Schmerzen, Schlafstörungen Wo stehen wir heute? Die Erfolge der na- und viele andere Leiden wie das Original. Ein neuer Er- turwissenschaftlich begründeten sogenannten klärungsversuch dieses Effektes nimmt an, dass durch den psychischen Prozess der positiven Erwartung kör- Schulmedizin der letzten 150 Jahre sind offen- pereigene Hormone (Endorphine, sog. Glückshormo- sichtlich. Und doch: Die Magie erlebt eine neue ne) ausgeschüttet werden und so den Selbstheilungs- Blütezeit. Seit einigen Jahren sind in der katholi- prozess des Körpers verstärken. 3 schen Kirche Teufelsaustreibungen wieder salon- fähig, eine Methode, mit welcher im Mittelalter Geisteskranke «behandelt» wurden. «Magische Medizin» kommt bei Google 2009 auf 279’000 Tref- fer und «Medizin und Aberglaube» auf 102’000 ak- tuelle Beiträge. Alternativmedizin floriert auch in Münsingen, wie ein Blick in das Telefonbuch oder in Zeitungsinserate bestätigt. Es gibt drei 123
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Seuchen Bis weit ins 19. Jahrhundert waren die Bevölke- rung und die Ärzte den vielfältigen Epidemien hilflos ausgeliefert. Die Ursachen und Übertra- gungswege waren unbekannt und wirksame Heil- mittel fehlten. Nach mittelalterlichen Vorstel- lungen galten Seuchen als Strafe Gottes für das sündige Leben. Gebete, Busse und Einkehr und die Anrufung der Heiligen Rochus und Sebastian waren dringender als hygienische Massnahmen. Die Ärzte entwickelten gelehrte Theorien: «Tellu- Abb. 1 Pestarzt risch-magnetische oder elektrische Kräfte» oder beim Beulen- «Miasmen» (schädliche Ausdünstungen in der aufschneiden, Luft) unter dem Einfluss des Wetters und der Ge- Holzschnitt von stirne wurden beschuldigt.4 Entsprechend viel- 1482. fältig waren die Abwehr- und Behandlungsme- thoden. Seuchenpolizeiliche Massnahmen wie 4’700 Bernerinnen und Berner. Problematisch ist Quarantänen standen im Vordergrund. Märkte die Wandelbarkeit des Erregers, welche alljährli- wurden verboten, Bäder geschlossen, Häuser che Impfungen erfordert. ausgeräuchert oder gar verbrannt.5 Die Ärzte ver- Die Rote Ruhr war im 18. und 19. Jahr- ordneten Aderlässe, Brech- und Abführmittel und hundert so gefürchtet wie heute Krebs. Unwis- zahlreiche Medikamente, die aus heutiger Sicht senheit und Armut bei miserablen hygienischen mehr schadeten als nützten. Verhältnissen begünstigten die Ausbreitung der Die Pest, der schwarze Tod, war seit Krankheit. Die Fliegen hatten leichtes Spiel, den dem Mittelalter gefürchtet. Der 1894 entdeckte 1898 entdeckten Erreger von verseuchten Abor- Erreger wird durch Rattenflöhe von Nagern auf ten auf Lebensmittel zu übertragen. Im Juli 1750 die Menschen übertragen. Dem Seuchenzug von starben in Münsingen 40 Personen an der Ruhr, 1347 bis 1352 fiel ein Drittel der europäischen Be- meistens Kinder. Der Ruhrepidemie von 1836 /37 völkerung zum Opfer, in Bern gar die Hälfte.6 In erlag im Kanton Bern ein Drittel der Erkrankten, den Seuchenjahren 1611 /12 und 1628 /29 starben vier Fünftel davon Kinder.10 Einen deutlichen in der Kirchgemeinde Münsingen 549 und 605 Rückgang der Ruhrerkrankungen brachte ge- Personen bei einer geschätzten Bevölkerungs- gen Ende des 19. Jahrhunderts die Erstellung von zahl von 2’400. 7 Jauchegruben, wo auch die menschlichen Exkre- Pocken, die seit der Antike bekannte Vi- mente fliegensicher gelagert wurden. ruskrankheit, wird durch Tröpfchenübertragung Die heute heilbare Lepra (Aussatz) ist von Mensch zu Mensch verbreitet. Sie war bis ins schon im Buch Mose beschrieben und war im 19. Jahrhundert eine gefürchtete Kinderkrank- Mittelalter auch bei uns gefürchtet.11 Der schlei- heit, die immer wieder Todesopfer forderte, so chende Verlauf führt im Laufe von Jahren zu bei uns 1826 und 1830 /31. Noch 1922 /23 berichtete schweren Verstümmelungen von Gesicht und der Münsinger Arzt Dr. von Greyerz von mehre- Gliedmassen. Wer in der so genannten «Siechen- ren Pockenfällen.8 Die 1797 in England einge- schau» von einer ärztlichen Kommission als lep- führte Impfung mit Kuhpocken setzte sich bei rös befunden wurde, war lebenslänglich aus der uns nur langsam durch, wie unter anderem in Gesellschaft ausgeschlossen, wurde in einem Jeremias Gotthelfs «Annebäbi Jowäger» nachzu- Siechenhaus isoliert oder als «Feldsiech» zum lesen ist. Dank weltweiten Impfaktionen ist die Betteln gezwungen. Mit auffälligen Kleidern Krankheit seit 1978 ausgerottet. 9 und Lärminstrumenten musste er die Mitmen- Die Grippe (Influenza), einst Faulfieber schen warnen, um eine Ansteckung zu vermei- genannt, ist eine alte Viruskrankheit, die heute den. Nach dem spontanen Rückgang der Lepra in Form der Vogel- und Schweinegrippe erneut bei uns im 17. und 18. Jahrhundert nahmen die Schlagzeilen macht. Der «Spanischen Grippe» Siechenhäuser auch andere Chronischkranke fielen 1918 20’000 Schweizer zum Opfer, davon auf, beispielsweise Syphilispatienten.12 124
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stand der Typhus (Nervenfieber) bei den Seuchen an vorderster Stelle. Die Ansteckung erfolgt durch verseuchte Lebensmittel oder Trinkwasser. In Münsingen forderte eine Typhusepidemie nach dem eidgenössischen Schwingfest 1873 neun Tote. Im Kappeli wurde deshalb ein Notspital mit 40 Betten eingerichtet. Infektionsquelle war ein verseuchter Sodbrunnen beim «Klösterli».13 Ab 1908 hatte auch die Irrenanstalt während Jahren mit Typhusfällen bei Patienten und Personal zu kämpfen.14 Heute ist der Typhus dank Impfun- Abb. 2 Badeszene mit Bewirtung am Nebentisch gen und Antibiotika unter Kontrolle. (anonymer Holzschnitt aus dem 16. Jh.). Wo stehen wir heute? Nach dem Sieges- zug der Antibiotika in der Mitte des 20. Jahrhun- Nach der vierjährigen Wanderschaft als Geselle derts und immer neuen Impfstoffen kam Eupho- entschied eine Prüfung vor den Doctoren (den rie auf. Viele Infektionskrankheiten schienen studierten Stadtärzten) und Meistern über die besiegt zu sein. Heute müssen wir ernüchtert Aufnahme in die Meisterschaft und die Zunft, feststellen, dass das nur bei den Pocken gelungen die 1502 gegründete Chirurgische Societät.18 Die- ist. Zunehmende Antibiotikaresistenzen berei- se Vorschriften dienten vor allem auch der Be- ten Sorge, so auch bei der wieder zunehmenden kämpfung der weit verbreiteten Quacksalberei. Tuberkulose. Aids, Sars, Schweinegrippe und Viele der patentierten Meister bildeten sich an- andere Krankheiten sind ungelöste Probleme schliessend in Basel, in Strassburg oder an einer und stellen gewaltige Herausforderungen an die andern ausländischen Universität weiter. Eine Medizin und die Pharmaindustrie. Vorwiegend Klasse für sich bildeten die nur für innere Krank- ideologisch begründete Impfgegnerschaft führte heiten zuständigen Stadtärzte. Sie hatten im von 2006 bis 2009 in der Schweiz zu einer Masern- Ausland studiert und doktoriert und verachteten epidemie mit über 4’000 Fällen. die Wundärzte oder Chirurgen – wohl zu Unrecht, wie Carl Müller feststellte: «Der Unterschied zwi- schen einem studierten Arzt und einem guten Ärztliche Berufe Schärer war überhaupt gering, denn auch den wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten standen Die Scherer und Bader damals wenig zuverlässige, objektive Untersu- Als Erste berufsmässig im Gesundheits- chungsmethoden zur Verfügung.» 19 wesen tätig waren die Bader wie zum Beispiel Peter Stucki im Mühletal, der 1412 sein Badstu- benrecht an Hans Frei verkaufte. 1671 musste Ni- klaus Studer für seine Badestube der Gemeinde Münsingen zwei Pfund Zins abliefern.15 Zu den Aufgaben der Bader gehörte neben dem Betrieb der Badestube auch das Schröpfen, das Haare- schneiden und der Aderlass. Damit gerieten sie in Konflikt mit den Scherern, den handwerklich ausgebildeten Wundärzten. So verbot der Rat 1471 den Badern die Wundbehandlung, das Aderlas- sen und das Zähnebrechen.16 Im Münsinger Herr- schaftsurbar von 1572 lesen wir: »Georg Mentzer, Scherer und Bader git jerlich der herschafft bo- den und herschafft Zins 2 Schilling, 6 Pfennig.» 17 Die Handwerksordnung von 1628 schrieb für das Handwerk der Scherer und Wundärz- te eine dreijährige Lehre bei einem Meister vor. Abb. 3 Amputation eines Unterschenkels in der Schlafkammer des Patienten. Holzschnitt von Wilhelm Traut 1652. 125
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Vom Handwerker zum studierten Arzt In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- derts kam Bewegung in die Ausbildung der Ärzte, unter anderem auch auf Grund eines Gutachtens des Arztes, Dichters und Magistraten Albrecht von Haller. 1797 entstand in Bern das private Medizinische Institut zur Ausbildung von Land- ärzten und zur Vorbereitung der Medizinstuden- ten auf ein Studium im Ausland.20 «Dabei ging Abb. 4 Das Doktorhaus an der Bernstrasse 10, man von der als selbstverständlich angenomme- wo die Ärzte Hans Ulrich Küpfer, Friedrich nen Voraussetzung aus, dass für Landärzte ein- von Ins, Walter von Greyerz, Eduard Baumann fache Kenntnisse genügten, da auch die Krank- und Pietro Eichenberger nacheinander praktiziert haben. Dr. Küpfer war nebenbei auch Landwirt. heiten der Landleute einfacher seien als jene der Städter.» 21 Aufnahmebedingungen waren Le- sen, Schreiben und Rechnen. Erst ab 1818 waren Lateinkenntnisse erforderlich. 1805 entstand aus dem Institut die Me- dizinische Fakultät der neugegründeten Aka- demie mit vorwiegend deutschen, nun auch hauptamtlichen Professoren. Die 1809 gegrün- dete Medizinisch-Chirurgische Gesellschaft des Kantons Bern, die Vorgängerin der heutigen Kantonalen Ärztegesellschaft, hatte zum Ziel, den Berufsstand durch ein einheitliches Erschei- nungsbild und durch eine normierte Ausbildung aufzuwerten.22 Ein wichtiger Schritt dazu war die in der Folge des politischen Umsturzes von 1831 erfolgte Gründung der Universität Bern. Die Medizinische Fakultät zählte damals acht Pro- fessoren, 43 Studenten und sieben Institute oder Kliniken. Damit war der Anfang zu einer bis in die heutigen Tage zunehmenden Spezialisierung gemacht. 2009 zählte die Fakultät 17 Institute, 41 Kliniken, 11 Professorinnen, 184 Professoren, 617 Studentinnen und 390 Studenten! Im kantonalen «Gesetz über die Aus- Abb. 5 Maltersack von Dr. Küpfer. übung der medizinischen Berufsarten» von 1865 wurde nur noch als Arzt anerkannt und zur Be- rufsausübung zugelassen, wer an einer Universi- Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab tät studiert hatte und in Medizin, Chirurgie und es in Münsingen zwei bis drei Ärzte, die neben Geburtshilfe ausgebildet war. Erst 1877 wurde die der Praxis auch das Spital betreuten. Im Tele- ärztliche Ausbildung im sogenannten Freizügig- fonbuch von 2008 finden sich 26 in Münsingen keitsgesetz durch den Bund geregelt. Dieses Ge- tätige Ärztinnen und Ärzte, die elf Fachgebiete setz blieb 130 Jahre lang in Kraft. 1901 entstand vertreten. 2003 haben sich zwölf Praktizieren- durch Zusammenschluss regionaler Gesellschaf- de aus Münsingen und Umgebung zum Verein ten die FMH (Foederatio medicorum helvetico- «Aarmed – Aaretaler Hausärzte» zusammenge- rum), die Verbindung der Schweizer Ärztinnen schlossen. Die regelmässigen Treffen dienen der und Ärzte, die heute rund 30’000 Mitglieder Fortbildung, der Qualitätskontrolle und der Or- zählt. Seit 1931 ist die FMH für die Erteilung der ganisation des Notfalldienstes, der seit 2008 in Spezialarzttitel, heute Facharzttitel, zuständig. Zusammenarbeit mit dem Spital geleistet wird.23 Seit 2002 tut sie dies in staatlichem Auftrag. 2008 In jüngster Zeit wird auch in Münsingen der gab es 44 verschiedene Facharzttitel. Mangel an Hausärzten spürbar. 126
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital Dr. Johann Lory und seine private Nervenklinik Hans Maurer In Konolfingen-Stalden steht heute aus gutem Hause und männlichen Ge- noch das 1777 erbaute und denkmalge- schlechts (…) Nähere Auskunft erteilt schützte Bauernhaus, in dem Johann mit Vergnügen Dr. Lory in Münsingen Lory 1807 auf die Welt kam. Der Bau- bei Bern.» 25 So gab es also in Münsin- ernbub wurde Arzt und Wundarzt mit gen eine private psychiatrische Klinik 15 kantonalem Patent und eröffnete 1830 Jahre vor der Eröffnung der Waldau und in der hintern Schmiede an der Bern- 55 Jahre vor der Inbetriebnahme der strasse in Münsingen (heute Central- Kantonalen Irrenanstalt, dem heutigen garage Moser) eine Arztpraxis. 1836 PZM, allerdings nur für zahlungskräfti- konnte er die Liegenschaft mit Wohn- ge Männer! haus, Schmiedeeinrichtung, Sodbrun- Der Öffentlichkeit diente Dr. Lory nen sowie einem Drittel Anteil an einem als Gemeinderat und Amtsverweser Ofenhaus und Land dem Hufschmied (Stellvertreter des Regierungsstatt- Johann Bürki abkaufen. halters). Er war 1867 Mitinitiant und Mitbenützer des Ofenhauses wa- erster Präsident der Sekundarschu- ren sein Nachbar und Kollege Dr. Hans le, die bis zur Übernahme durch die Ulrich Küpfer sowie Christian Maurer. Gemeinde während 20 Jahren durch Im gleichen Jahr schloss Lory mit dem einen privaten Verein betrieben und damaligen Münsinger Schlossherrn Alf- finanziert wurde. Lory hatte aus zwei red de Rougemont einen Tauschvertrag Ehen zehn Kinder. Ein Sohn prakti- ab: Lory überliess ihm ein Heimwesen zierte als Arzt in Tägertschi und Bern. gegenüber dem Gasthof «Ochsen» und Der berühmteste war Carl Ludwig erhielt dafür das «untere Schloss zum Lory, der Stifter des Loryspitals in Bern Abtragen». 24 Das Abbruchmaterial (→ Kurzbeitrag in diesem Kapitel). diente vermutlich 1839 /40 zum Neu- bau eines Doktorhauses an der Thun- strasse, dem heutigen Jugendheim Lory. In diesem Haus betrieb Dr. Lory bis zu seinem Tod eine private Nervenheilan- stalt mit zwölf Plätzen, die er in einem Zeitungsinserat wie folgt ankündigte: «Aufgenommen werden hypochondri- sche, melancholische und auch solche Kranke, welche, wenn sie auch von Zeit Abb. 6 Die «hintere Schmiede» Abb. 7 Die private Nervenheilanstalt zu Zeit etwas aufgeregt werden mit ih- an der Bernstrasse beherbergte des Dr. Lory im 1840 neu erbauten ren Ideen behaftet sind, überdies noch ab 1830 die Praxis von Dr. Lory. Lorystock. alle Arten mit Verstimmtheit verbun- dener Nervenkrankheiten, jedoch nur Abb. 8 Dr. Johann Lory. 127
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Das Siechenhaus der Kirchhöre wählte die Kirchgemeindeversammlung folgen- de fünf «wohlgesinnte» Männer in eine Grün- Das Siechenhaus Münsingen wird im Berner Rats- dungskommission für eine Krankenstube: Kom- manual 1471 erstmals erwähnt und stand an der mandant von Wattenwyl in Rubigen, der spätere Bernstrasse zwischen Dorf und Schwand. Dazu ge- Präsident der Krankenhausdirektion, Oberst von hörte eine dem Heiligen Antonius, dem Schutzpa- Erlach im Schwand, Grossrat Gäumann in Tägert- tron der Kranken, geweihte Kapelle. Der «Lotzen- schi, Gemeindepräsident Schindler in Tonisbach brunnen», die nahe gelegene, nach dem Heiligen und Pfarrer Hiss in Münsingen.28 Kirchgemein- Luzius benannte Quelle, versorgte die Bewohner de und private Spender legten 25’000 Franken mit Wasser. Diese Quelle fliesst heute noch in die zusammen. Der Staat Bern vermietete im 1877 Wasserversorgung des PZM. Eine weitere in der erworbenen Blumenhaus beim Schloss zwei Zim- Nähe gelegene Wasserfassung, die heute noch Sie- mer für 500 Franken jährlich und bewilligte ein chenquelle heisst, gehört heute der Baumschule Staatsbett. Ein Frauenkomitee beschaffte den Daepp (→ Kap. 5.4). Das Siechenhaus diente anfäng- bescheidenen Hausrat, der Dorfarzt Dr. Friedrich lich der Isolierung und Betreuung der Aussätzigen, von Ins die medizinischen Geräte und zusammen später auch andern Chronischkranken. Wer Geld mit dem Präsidenten den Wein. Dabei hatten hatte, musste sich einen Platz kaufen, für die sie sich an die kantonalen Reglemente für die Armen zahlte das Siechengut der Gemeinde, das Einrichtung und den Betrieb der Notfallstuben durch Vergabungen geäufnet wurde. zu halten: «Nur Notfälle im engeren Sinn durf- Im 18. Jahrhundert genügte das Haus ten aufgenommen werden wie z.B. Scheintod, den Ansprüchen nicht mehr. Die Münsinger Blutungen aus inneren Ursachen, Schlagflüsse, Gutsbesitzer lehnten jedoch 1811 den Vorschlag schwere Verletzungen, eingeklemmte Brüche, für den Bau eines neuen Krankenhauses aus fi- Urinverhaltung und schwere hitzige Krankhei- nanziellen Gründen ab. So diente das baufällige ten.» Der Arzt war verpflichtet, «die Behandlung Gebäude fortan armen Familien als Unterkunft, nach bestem Wissen und Gewissen zu leiten, die bis am 10. Dezember 1845 ein Brand das Ende Kranken in möglichst kurzer Frist zu heilen und brachte und das Land schliesslich verkauft wur- sich dabei der grössten Sparsamkeit zu befleissen, de. Übrig blieb einzig der Opferstock, der heute wie es einer Armenanstalt angemessen ist».29 noch mit der Inschrift «Steuret den Armen» in Im Gegensatz dazu war die Verpflegung reich- 26 der Kirchhofmauer steht. lich bemessen: Die ganze Kost bestand morgens, mittags und abends aus einer Suppe. Dazu gab es mittags eine ganze Portion Gemüse und 12 Lot Von der Krankenstube im Blumenhaus (entspricht 195 Gramm) Fleisch und abends eine zur Spital Netz Bern AG ganze Portion Gemüse. Pro Tag erhielt zudem jeder Patient ein Pfund Brot, ausserdem Obst-, 1835 beschloss der Bernische Grosse Rat die Errich- Mehl- und Milchspeisen sowie Nudeln. tung von Notfallstuben in peripheren Regionen Am 1. Januar 1879 wurde die Kranken- des Kantons (Oberland, Emmental, Oberaargau, stube mit acht Betten eröffnet. Betreut wurden Jura und Schwarzenburg), um damit die weit die Patienten von der Wärterin Marie Balsiger, verbreitete Armut zu bekämpfen und zu mildern. unterstützt von einer Magd und von Dr. von Ins. Von den wohlhabenden Leuten wurde erwartet, Im ersten Jahr wurden 21 Kranke während 518 Ta- dass sie sich zu Hause ärztlich behandeln und gen gepflegt bei einem Kostgeld von 1.25 Franken. pflegen liessen. Mit diesen Notfallstuben waren Nach zehn Jahren waren es 72 Patienten mit 1’930 die Standorte der späteren Spitäler nach länge- Pflegetagen und das Kostgeld war auf 70 Rappen ren Diskussionen gegeben. 1847 wurde mit dem gesenkt worden. Weil die zwei Zimmer ohne Armengesetz die rechtliche Grundlage zur staat- Nebenräume und mit miserablen sanitären Ein- lichen Finanzierung der Krankenstuben geschaf- richtungen immer weniger genügten, beschloss fen, die sich in der Folge zu Bezirks- und Regional- die Kirchgemeindeversammlung im März 1890 27 spitälern entwickelten. einen Krankenhausneubau am Sauerbrunnen- In Münsingen gab es keine Notfallstube. gässli (heute Krankenhausweg 6).30 Die Initiative zur Schaffung einer Krankenstube ging von der Kirchgemeinde aus. Im August 1877 128
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital Der erste Spitalneubau von 1891 Das von Architekt Könitzer aus Worb geplante Krankenhaus mit 20 Betten konnte am 28. Oktober 1891 bezogen werden. Die Baukosten beliefen sich auf 37’700 Franken. Die bisherigen Wärterinnen wurden durch Krankenschwestern ersetzt, welche das Diakonissenhaus Riehen bis 1942 ununterbrochen zur Verfügung stellte. Trägerschaft des Spitals blieb bis 1911 die Kirch- gemeinde. Die Kirchgemeindeversammlung ge- nehmigte Budget und Rechnung und legte das Kostgeld fest. Der Kanton bewilligte 1895 ein viertes Staatsbett. Das Defizit zahlte die Kirchge- meinde. Erst mit der Verselbständigung der obe- ren Bezirke zur Kirchgemeinde Stalden (→ Kap. 3.1) drängte sich eine neue Lösung auf und das Kran- kenhaus wurde fortan durch einen Verein getra- gen, der erst 1977 durch einen Gemeindeverband abgelöst wurde. Das Haus und die Einrichtungen wur- den laufend erneuert: 1899 wurde das elektri- sche Licht installiert. 1903 brachte der neue Arzt Dr. Walter von Greyerz den ersten Operations- tisch ins Haus, 1921 folgte der erste Röntgenap- parat und 1931 der erste Radioapparat. 1931 wurde auch der erste gedruckte Jahresbericht veröffent- licht. Dieser erwähnte als schwieriges Problem die vielen Verkehrsunfälle, die früher viel selte- ner gewesen seien. Abb. 9 Blumenhaus: Das 1790 als Orangerie erbaute Blumenhaus beherbergte von 1879 bis 1891 die Kranken- oder Notfallstube der Kirch- gemeinde. Abb. 10 Das Krankenhaus nach dem Laubeneinbau von 1900. Es wurde 1933 an den Altersheimverein ver- kauft und dient heute der Gemeinde der Evangelisch Taufgesinnten als Alters- heim. Abb. 11 Das Krankenhaus von 1891. 129
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Carl Ludwig Lory, der Stifter des Loryspitals Hans Maurer Fruchtbares Wirken in der Heimat Der 40-jährige Jungrentner betä- tigte sich fortan als begeisterter Berg- steiger. Er regte den Bau der Gaulihütte an, die er auch finanzierte und dann dem SAC schenkte. 33 Mehrmals reiste er nach Italien und betätigte sich als eifriger Kunstsammler. Der Junggesel- le stellte sich an die Spitze der grossen Familie und übernahm die Leitung der Erziehung von zehn Nichten und Neffen und mehr als einem Dutzend entfernter Verwandter unter dem Motto «Arbeit- samkeit und Rechtschaffenheit». 1885 wurde er in die Sekundar- schulkommission Münsingen gewählt. Die Sekundarschule war damals noch eine private Institution. Sein Vater war 1867 einer der Initianten und der ers- te Präsident dieser Schule gewesen. 1888 schenkte Lory zusammen mit vier weiteren Bürgern der Gemeinde den Bauplatz zum Bau eines neuen Schulhauses, des heutigen Mittelweg- schulhauses, und ab 1890 spendete er Abb. 12 Das Loryspital 1929, erbaut vom international tätigen Berner Architekten der Schule während 17 Jahren jährlich Otto Rudolf Salvisberg. 700 bis 800 Franken zur Verbilligung der Schulgelder. 34 1889 wurde er vom Kirchgemeinderat auch in die Baukom- Carl Ludwig Lory wurde am 21. Oktober Auskommen kämpfen. Die Wende mission für den Erwerb oder Neubau ei- 1838 in Münsingen geboren, wo sein brachte die Übernahme der Vertre- nes Krankenhauses gewählt. Nach der Vater Johann Lory, der Erbauer des Lory- tung der Basler Chemiefirma Geigy für Eröffnung des neuen Krankenhauses heims, seit 1830 eine Arztpraxis führte.31 Russland. Lory und seine Mitarbeiter 1891 ermöglichte Lory aus eigenen Mit- Den ersten Schulunterricht bekam Carl wurden wichtige Pioniere des schwei- teln die Verbilligung der Pflegetaxe für Ludwig durch einen Hauslehrer, dann zerischen Exporthandels im Zarenreich. alle Patienten von 70 auf 50 Rappen. 35 besuchte er die Lateinschule in Bern. «Sie haben dem Heimatland im fernen Fürsprecher Paul Keller, der zeit- Nach dem Wunsch des Vaters hätte er Osten einen ehrenvollen Namen ver- lebens in Münsingen wohnte und Va- Theologie studieren sollen, er wollte schafft.» Die Erfolge der Firma sprachen ter der berühmten Puppenspielerin aber Kaufmann werden. Nach einem sich auch in der Schweiz herum. 1874 Therese Keller war, hat als Zeitzeuge Welschlandaufenthalt in Payerne ab- wollte Bundespräsident Schenk Carl unter anderem Folgendes festgestellt: solvierte er eine kaufmännische Lehre Ludwig Lory zum Schweizerkonsul in «Der hervorragendste Dorfgenosse war in einer Eisenhandlung in Basel. Moskau ernennen, doch dieser lehnte C. L. Lory, der Millionär und Stifter des ab, weil er andere Pläne hatte. Loryspitals. Er und das Dorf verstanden Lehr- und Wanderjahre 1877 übergab Lory das Geschäft sich nicht. Er hatte etwas von der Welt Carl Ludwig Lory wollte in die seinem Mitarbeiter und Freund Billo gesehen, war aufgeschlossen und welt- Fremde. Schon mit 19 Jahren reiste er und kehrte nach 20 erfolgreichen Ge- erfahren. Er stiess sich an der Enge des nach Moskau, wo er vorerst bei einem schäftsjahren zurück in sein Elternhaus Dorfes und die Dörfler betrachteten Popen Russisch lernen musste. Er fand in Münsingen (das heutige Loryheim), ihn als Wundertier. Von beiden Seiten dann eine Stelle in einer grossen Firma. das er schon 1872 nach dem Tode des versuchte man sich zu nähern, doch Mit der Übernahme eines bankrotten Vaters seinen Geschwistern abgekauft vergeblich. Einmal wurde der Frauen- Chemikaliengeschäfts machte er sich hatte. 32 Als einzigen Luxus liess er schö- chor zum Lory-Stock gesandt, um selbständig und musste hart um sein ne Gartenanlagen errichten. den grossen Mann zu versöhnen. Die 130
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital Abb. 13 Carl Ludwig Lory in den Abb. 14 Das Loryhaus zu Zeiten des C.L. Lory, 1890er-Jahren. Gemälde, signiert «E. Hodel 1881». Sängerinnen hatten aber Pech bei der ge und Angestellte, an die Waldau, das weiht werden konnte. 38 Es blieb sogar Auswahl ihrer Lieder. Sie sangen dem Sanatorium Heiligenschwendi, das Kin- noch Geld übrig, welches 1954 den Bau Krösus ‹Umsonst suchst du des Guten derspital und das Kunstmuseum stan- des Anna-Seiler-Hauses (so genanntes Quelle›, was er natürlich auf sich bezog den dem Inselspital schliesslich fast 3.5 Loryspital II) und 1955 die Renovati- und sauer reagierte.» 36 Millionen Franken zur Verfügung. 37 on des Loryspitals finanzieren half. So Mit 60 Jahren musste sich Lory Sämtliche Steuern und Abgaben wurde der Wille des grosszügigen Stif- einer schweren Operation unterziehen, auf allen Vergabungen waren durch die ters nach 20 und mehr Jahren endlich die Prof. Theodor Kocher mit bestem Inselkorporation zu bezahlen. Die An- umgesetzt. 39 Erfolg durchführte. Carl Ludwig Lory gehörigen wurden mit der Aufsicht über starb am 5. Dezember 1909 nach einem den Testamentsvollzug beauftragt und Schlaganfall. erhielten das Recht, das Erbe heraus zu verlangen, wenn die Anordnungen Das Erbe des Stifters nicht befolgt würden. Das Im Testament vom 9. April 1904 führte denn auch noch zu einer Ausei- mit späteren Nachträgen setzte Lory nandersetzung bis vor das Obergericht, die Insel- und Ausserkrankenhauskor- wo die Insel Recht bekam. poration des Kantons Bern als Haupt- Da der Staat die Betriebskosten erbin seines Vermögens von fast fünf der dringend nötigen Neubauten nicht Millionen Franken ein. Die Verwendung übernehmen konnte oder wollte, ge- des Geldes war an präzise Bedingungen schah vorerst ausser gehässigen Brief- geknüpft: Es sollte zur Erweiterung des wechseln und Pressekampagnen nichts. Inselspitals verwendet werden, damit Erst 1919 konnte mit Lory-Geld auf dem nicht mehr so viele Kranke abgewie- «Engländerhubel» günstiges Bauland sen werden mussten. Die Neubauten gekauft werden. Ab 1923 ermöglichte sollten «zur Pflege meiner leidenden das neue Inselhilfsgesetz mit Kopfbei- Mitmenschen dienen, nicht zur Lehre» trägen von Kanton und Gemeinden die und durften nur erstellt werden, wenn Finanzierung des Spitalbetriebs. Damit der Staat die Betriebskosten übernahm. war der Weg endlich frei zum Bau des Nach Ausrichtung zahlreicher bedeu- Loryspitals, das am 21. Oktober 1929, Abb. 15 Die Gedenktafel in der tender Legate und Renten an Angehöri- dem Geburtstag des Stifters, einge- Eingangshalle des Loryspitals. 131
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Das Spital von 1935 unglück von Kiesen erwähnt. Ein schwerverletz- Mit den Jahren stiegen die Patienten- ter Postbeamter starb im Spital. 1943 wurde das zahlen, die Ansprüche und die Kosten, und «Stöckli» als Personalhaus eingeweiht, was im schon bald stellte sich erneut die Frage eines Spital mehr Platz schuf und eine Erweiterung auf Neubaus. 1935 entstand im «Herrenbäumli» zwi- 54 Betten erlaubte. 1945 wurde mit dem Penicil- schen Krankenhaus- und Lerchenweg das von lin das erste Antibiotikum eingeführt und 1946 den Architekten Dubach und Gloor geplante Spi- die Kohle- durch eine Ölheizung ersetzt. tal mit 34 Betten für 469’000 Franken. Beiträge 1949 wurde die Existenzberechtigung der fünf damaligen Spitalgemeinden Münsin- eines Kleinspitals heftig diskutiert und bei der gen, Rubigen, Tägertschi, Häutligen und Konol- Finanzierung wurden der Wohltätigkeit und fingen (für die Schulgemeinde Gysenstein), des freiwilligen Spenden eine grosse Bedeutung Kantons, der Erlös des Verkaufs des alten Spitals beigemessen. Der langjährige Direktionspräsi- und eines Basars und freiwillige Spenden deck- dent Pfarrer Rudolf Müller verteidigte das Spital ten die Kosten. Das neue Spital wurde im April Münsingen mit folgenden Worten: «Was uns 1935 eröffnet.40 aber kein Spitalgrossbetrieb jemals geben kann In der ärztlichen Betreuung der Spital- und unser Dasein berechtigt, ist der persönliche patienten spiegeln sich der Fortschritt der Me- Einsatz der Spitalgemeinde für ihr Werk und das dizin und die zunehmende Spezialisierung: Bis Wohlergehen ihrer Kranken, das gemeinsame 1930 war immer nur ein Arzt, der zugleich im Tragen von Freud und Leid und die gemeinsame Dorfe eine Allgemeinpraxis führte, für das Spital Verantwortung.»41 Der Umfang der in den Jah- zuständig: Von 1879 bis 1903 war das Dr. Friedrich resberichten über Jahre aufgelisteten Bar- und von Ins, anschliessend Dr. Walter von Greyerz, Naturalspenden ist aus heutiger Sicht in der Tat von 1920 an in jährlichem Wechsel mit Dr. Willi erstaunlich und auch erheiternd. Sogar Jauche Pfister. 1931 kam mit Dr. Ernst Schreiber der wurde gespendet! Noch 1959 trug das Frauen- erste Spezialarzt für Chirurgie ins Haus. Neben komitee bei der jährlichen «Eiersammlung» 5’512 chirurgischen und gynäkologischen Fällen und Eier und zahlreiche weitere Lebensmittel und Geburten war er als erster Chefarzt auch für die 11’900 Franken in bar zusammen. administrative Leitung zuständig. Internistische 1961 nahm die erste Hausbeamtin die Ar- Patienten konnten zwischen den drei Spitalärz- beit auf und Peter Lüthi wurde Verwalter erst im ten Walter Fischer (seit 1932), Walter von Greyerz Nebenamt, ab 1974 im Hauptamt. Vorher hatte und Ernst Schreiber wählen. Lehrer Karl Burkhalter Kasse und Buchhaltung Die Kriegsjahre brachten besondere Pro- in der Freizeit geführt. 1963 übernahm der In- bleme. Einerseits waren zeitweise alle Ärzte im ternist Dr. Peter Burri die Verantwortung für die Militärdienst und wurden durch den Psychia- medizinische und die Röntgenabteilung und 1973 ter Dr. Doepfner von der Heil- und Pflegeanstalt trat Dr. Hans Ulrich Funk als erster Chefarzt für vertreten. Andererseits beanspruchten Soldaten innere Medizin sein Amt an. und französische Internierte zusätzliche Betten. 1966 geriet der Schwesternhausba- 1941 wird als besonderes Ereignis das Eisenbahn- sar zum grossen Dorffest und zwei Jahre später konnte das Haus auf dem Land der ehemaligen Gärtnerei Balsiger am Lerchenweg eingeweiht werden. 1970 trat der erste Assistenzarzt sein Amt an. Vorher hatten die einweisenden Ärzte bei den Operationen ihrer Patienten assistiert. 30 Jahre lang war der Personalmangel ein grosses Problem. In den 1960er-Jahren wurde zudem der Platzmangel akut, besonders für chronisch Kran- ke, was erneut eine Neubauplanung auslöste: Am Höheacker wurden über 15’000 Quadratme- ter Land gekauft und ein Projekt mit 100 Betten entworfen, das 1975 hätte realisiert sein sollen. Wegen der Finanzmisere des Kantons wurde das Projekt jedoch 1973 abgebrochen und als Ersatz Abb. 16 Naturalgaben 1935 (Ausschnitt aus Jahresbericht). 132
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital das alte Spital renoviert und durch einen Anbau erweitert. Während diesen Arbeiten war das Spi- tal im Herbst 1974 fünf Wochen lang geschlossen und die Patienten wurden in die umliegenden Spitäler ausgelagert. Die Spitalanlage von 1987/89 Mit dem Segen des Kantons begann 1979 erneut eine Neubauplanung, diesmal auf dem bisherigen Spitalareal. 1983 bewilligte das Ber- nervolk das Neubauprojekt des Büros Iten und Brechbühl mit 67 Prozent Ja-Stimmen. Im April 1987 wurde das neue Spital bezogen und zwei Jah- re später auch die Abteilung für Langzeitpflege im alten Spital von 1935. Noch im alten Spital nahm 1985 mit Dr. Ro- ger Rauch der erste Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe seine Tätigkeit auf. 1987 stiessen mit Dr. Jürgen Mahlich und Dr. Israel Gechter ein An- ästhesist und ein Radiologe neu zur Ärzteequipe. 1996 wurde Dr. Marc Dubler Chefarzt für Anästhe- sie. Er übernahm auch die Verantwortung für den Rettungsdienst, der 2008 zwei Ambulanzen und neun ausgebildete Rettungssanitäter umfasste. Ab 1994 kam mit der anhaltenden Kos- tensteigerung Bewegung in die Spitalplanung. Im November 1997 wurde in einer Volksabstim- mung das Modell Partnerschaft angenommen und damit der Weg zum Abbau von Überkapa- zitäten frei gemacht. 1997 eröffneten die ortho- pädischen Chirurgen Dr. Markus Michel und Dr. Pierre Witschger im ehemaligen Stöckli ihre Privatpraxis, das Orthopädische Zentrum Münsingen OZM, und operierten fortan als Be- Abb. 17 Südansicht des Spitals von 1935. legärzte im Spital. Ab 2003 versahen sie im Wech- Abb. 18 Die Spitalanlage von 1987. sel den Posten als Chefarzt für Orthopädie. Abb. 19 Das alte Spital von 1935 nach der Renovation 1989. Der nächste Schritt im Kampf ums Über- leben war 1999 die Fusion der Bezirksspitäler Münsingen und Oberdiessbach zum Regionalen Spitalzentrum (RSZ) Aare- und Kiesental, ein Spital an zwei Standorten mit Konzentration der akuten stationären Behandlung in Münsingen. Das Modell funktionierte jedoch nicht. Die Ta- gesklinik Oberdiessbach musste nach einem Jahr geschlossen werden, da sie nicht auf der neuen kantonalen Spitalliste stand und nicht genügend ausgelastet war. Damit wurde das ehemalige Be- zirksspital Oberdiessbach mit 60 Betten zum rei- nen Pflegezentrum, aufgewertet durch die Über- nahme der Langzeitpatienten des inzwischen geschlossenen Spitals Grosshöchstetten und der- jenigen von Münsingen. 133
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Betten Erwachsene: 80 Säuglinge: 10 Tab. 1 Kennzahlen 2008 Patienten stationär / teilstationär: 4’191 ambulant: 10’962 Spital Münsingen. Durchschnittliche stationär: 6.1 Tage Aufenthaltsdauer Personal total 150 Stellen davon 24 Ärzte und 63 Pflegende Beschäftigte durchschnittlich 279 Personen 600 400 200 0 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 Geburten Kaiserschnitte Abb. 21 Geburtsstatistik des Spitals. Für die Zunahme der Kaiserschnitte sind neben medizinischen immer mehr auch Life-Style-Gründe verantwortlich. Abb. 20 Die Spitalanlage im Überblick (von rechts): Das neue Spital, das renovierte alte Spital und das zum orthopädischen Zentrum umgebaute «Stöckli». Vom Freiwilligen Krankenhilfsverein zur Spitex Aare-Gürbetal Das Akutspital Münsingen entwickelte Die Früchte der tätigen Nächstenliebe sich mit einem kantonalen Leistungsauftrag ad- Wie schon bei der Krankenstube 1877 ministrativ und medizinisch weiter, konnte sei- ging die Initiative zur Gründung eines Kran- nen Marktanteil ausbauen und schloss sich 2002 kenhilfsvereins von der Kirchgemeinde aus. Im zusammen mit den Berner Spitälern Ziegler und ersten Jahresbericht steht dazu: «Schon längere Tiefenau der Spitalgruppe Neue Horizonte (beste- Zeit hegten einige Kirchgemeindemitglieder den hend aus Aarberg, Belp und Lindenhof) an. Das Wunsch, es möchte sich in der Kirchgemeinde Spital Münsingen wurde 2007 vom Kanton über- Münsingen ein Krankenhilfsverein bilden. (…) nommen und zusammen mit den Spitälern Aar- Zu diesem Zweck wurden vor allem Frauen ein- berg, Belp, Riggisberg, Tiefenau und Ziegler und geladen, sich am 21. Juni 1896 im Kappeli zu ver- dem Pflegezentrum Elfenau in die Spital Netz sammeln.» 44 Mit 64 Mitgliedern wurde der Ver- Bern AG integriert. Damit hatte das Konstrukt ein an diesem Tag nach Vorbildern in Worb und 42 RSZ bereits nach acht Jahren ausgedient. Im Münchenbuchsee gegründet. Jahr 2009 war das Spital Münsingen eine erfolg- Zu Beginn bestand die Hilfe für die Be- reiche Klinik auf Wachstumskurs und verfügte dürftigen vor allem aus Naturalgaben. So wur- über die Abteilungen Medizin, Chirurgie, Ortho- den im ersten Jahr 830 Liter Milch, 450 Eier, für pädie, Gynäkologie, Geburtshilfe und Radiologie 43 Franken Brot und für 45 Franken Fleisch, Sup- (seit 2008 mit einem Computer-Tomografen). penrollen und Wein abgegeben. In den folgenden Das Pflegezentrum Oberdiessbach mit Jahren stieg die Milchmenge auf 2’500 Liter und 93 Betten wurde durch den bisherigen Gemeinde- über 1’000 Eier wurden verschenkt. Ab 1915 wurde verband aus 23 Gemeinden mit rund 43’000 Ein- die Ovomaltine zum bevorzugten Stärkungsmit- wohnern, darunter Münsingen, weitergeführt tel. Nachdem sich gezeigt hatte, dass die Abgabe und hiess jetzt Regionalverband für Pflege und von Lebensmitteln allein nicht genügte, wurden Betreuung (PBZ) Aare-Kiesental.43 Das Akutspital 1904 mit Frau Schmid eine erste und 1906 mit He- Belp wurde 2008 geschlossen und in ein Zentrum lene Jenny eine zweite Pflegerin angestellt. Die für Rehabilitation umgewandelt. Frauen waren für die Pflege und das Besorgen des 134
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital Haushalts zuständig und zwar in erster Linie un- Zunehmende Professionalisierung entgeltlich für arme Leute. Vermögende konnten und Reglementierung die Dienste gegen Bezahlung in Anspruch neh- Ab den 1980er-Jahren wehte ein anderer men. Nach gehässigen Auseinandersetzungen Wind: Der 20-köpfige Vorstand war zu schwerfäl- um die Finanzen spaltete sich 1907 der obere Be- lig geworden. Der Kanton schaltete sich zuneh- zirk der Kirchgemeinde noch vor deren Aufspal- mend ein und definierte zu erbringende Leistun- tung (→ Kap. 3.1) zu einem eigenen Verein ab. gen und Tarife. In den revidierten Statuten von Von Anfang an wurde Geld für einen 1983 hiess der Verein neu «Kranken- und Haus- Krankenwagen gesammelt. Im Mai 1898 be- pflegeverein der Kirchgemeinde Münsingen» schloss die Hauptversammlung die Anschaffung. und ab 1995 «Spitex-Verein Münsingen». Er wur- Im ersten Jahr wurde er dreimal, später durch- de geleitet vom Vorstand, der Betriebskommissi- schnittlich zehnmal jährlich benutzt, je nach on und der Geschäftsstelle und war Teil der kan- Wegverhältnissen gezogen von einem oder zwei tonalen und schweizerischen Dachorganisation. Pferden. In den 1920er-Jahren ging der Betrieb 1996 feierte der Verein den 100. Geburtstag un- des Wagens von der Kirchgemeinde aufs Kran- ter anderem mit einer Ausstellung im Museum kenhaus über, das dafür eine eigene Remise bau- Schloss Münsingen.45 te. Gleichzeitig mit der Vereinsgründung hatte Einen weiteren Meilenstein brachte das die Kirchgemeinde auch ein Krankenmobilien- Jahr 2007: Auf Druck des Kantons fusionierten die magazin errichtet, das im Pfarrhaus unterge- drei Vereine Belp-Toffen, Münsingen sowie Wich- bracht und durch den Pfarrer verwaltet wurde. trach und Umgebung zur «Spitex Aare-Gürbetal» Später befand sich das Magazin im Rebacker- mit Sitz in Münsingen. Das Einsatzgebiet um- schulhaus. Seit 1979 ist das Altersheim Schloss- fasste neu 15 Gemeinden mit rund 35’000 Einwoh- gut dafür zuständig. nern rund um den Belpberg. Damit sollten Syner- Von 1896 bis 1982 präsidierte immer ein gien genutzt, das Angebot erweitert und Effizienz Pfarrer den vorwiegend aus Frauen bestehenden und Qualität gesteigert werden. Im Jahre 2008 Vorstand. Das schlägt sich auch in den Jahresbe- beschäftigte die Spitex Aare-Gürbetal rund 80 Per- richten nieder, die sich über Jahrzehnte hinweg sonen, dazu kamen vier Lehrstellen für Fachan- wie Predigten lasen. Tätige Nächstenliebe war gestellte Gesundheit und drei Praktikumsplätze. das Motto, Mitgliederbeiträge, Kollekten, Spen- Im Stützpunkt Münsingen teilten sich den und Legate bildeten die finanzielle Grund- 28 Personen in 13.5 Stellen, vorwiegend in der lage der Vereinstätigkeit. Ab 1910 finanzierte der Pflege. Daneben umfasste das Angebot Hilfe im Verein auch Ferien im Oberland für geschwächte Haushalt, einen Dienst, der warme Mahlzeiten Kinder, bevor dann einige Jahre später der neu aus der Spitalküche nach Hause lieferte, einen gegründete Frauenverein regelmässige Ferien- Rotkreuzfahrdienst und einen vereinseigenen kolonien organisierte. Rollstuhlbus. Zusätzliche vom Kanton verlang- te Leistungen waren gemeindepsychiatrische Pflege und Palliativpflege für Schwerstkranke. Finanziert wurden die Leistungen zu rund 40 Prozent durch den Kanton sowie durch die Kran- kenkassen und die Kunden, die je nach Kasse und Versicherungsart einen mehr oder weniger hohen Selbstbehalt tragen mussten.46 Abb. 22 Der im Oktober 1900 in Betrieb genommene Krankenwagen, erbaut für 2’000 Franken von Wagenbauer Bieri in Bern. 135
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Das Parkbad – Wellness-Oase an der Aare Hans Maurer Abb. 23 Das Parkbad 1936. Das Schwimmerbassin wurde bis 1948 von Aarewasser durchströmt, hatte einen Naturboden mit Wasser- pflanzen und Fische tummelten sich im kalten Wasser. Abb. 24 Die alte Badi an der äusseren Giesse, in Betrieb von 1909 bis 1935. 136
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital «Als im Jahre 1859 der Arzt und Gemein- und 85’000 Franken. Am 19. November derat Johann Lory der Gemeinde den 1934 beschloss die Gemeindeversamm- Antrag stellte, zur Förderung der Ge- lung, das Projekt Stock aufzugeben sundheit in der Au eine Badanstalt zu und beauftragte den Gemeinderat, das errichten, will die Gemeinde vorderhand Projekt Schüpbach an der Aare weiter darauf nicht eintreten», schrieb Jakob zu bearbeiten. Dieser Beschluss führte Lüdi 1928. 47 Eine erste Badegelegenheit zum Rücktritt der zweiten Badbaukom- für die Münsinger richtete Briefträger mission. Ihre Nachfolgerin unter dem Rolli an der Giesse bei der Walke ein. Die Vorsitz von Elektriker Otto Grossglauser 1909 «nach mehrmaligen Anläufen des nahm Ende Januar 1935 die Arbeit auf. Gewerbevereins und der Lehrerschaft» Die Diskussionen gingen weiter. Un- für 4’000 Franken bei der ehemaligen einig war man sich weiterhin über die Rossschwemme erstellte Badanstalt Finanzierung, über den Standort (!) und (später die alte Badi genannt) bestand über den künftigen Projektverfasser. aus einem Bretterverschlag mit einigen Am 29. Juli 1935 betraute der Gemein- Kabinen an der gestauten äusseren Gies- derat Ingenieur Max Keller aus Brugg se unterhalb der Brücke an der alten Belp- mit dem Ausarbeiten des Projekts. 52 Er bergstrasse. In den 1920er-Jahren ver- hatte bisher als Gutachter der verschie- mochte sie allerdings den gestiegenen denen Projekte gewirkt. Im September Ansprüchen nicht mehr zu genügen. 48 1935 tauchte mit dem Rossboden unten am Pfarrstutz eine weitere Standort- Schwierige Evaluation variante auf. Im November 1928 reichten 115 Stimmbürger mit Fürsprecher Paul Kel- Vom bescheidenen Bad … ler an der Spitze eine Initiative ein, die Sieben Jahre nach Einreichung der den Bau «einer der Ortschaft würdigen Petition beschloss die Gemeindever- Badanstalt» verlangte.49 Damit begann sammlung am 18. November 1935, das eine mehrjährige Planungsphase. Nach Aareprojekt auszuführen, und bewil- zwei Jahren lagen zwei Projekte vor: ligte den Kredit von total rund 110’000 Der Ausbau der alten Badanstalt oder Franken, wovon 85’000 Franken für ein Neubau an der innern Giesse in der die erste Etappe. 53 Die Arbeiten an der Erlenau im Bereich der heutigen Liegen- ersten Etappe im Frühjahr 1936 (Tiefbau, schaften Zimmer/Fitnesszentrum High- Bassins) dienten gleichzeitig als Be- light. 50 Mit Diskussionen über Mach- schäftigungsprogramm für Arbeitslose. barkeit, Finanzierung und Ablösung von Sie waren im Juli abgeschlossen und bestehenden Wasserrechten vergingen der Badebetrieb konnte aufgenommen weitere drei Jahre. Am 11. Dezember werden. 1933 beschloss die Gemeindeversamm- Die Kostenüberschreitung um Abb. 25 Das Titelblatt des Parkbad- lung unter Präsident Ernst Fischer, das 25’000 Franken löste erneut gehässige Epos von Notar und Gemeinde- Projekt Erlenau auszuführen. Acht Mo- Diskussionen aus. Zur Geldbeschaffung schreiber Christian Zbinden zum Basar nate später, am 20. August 1934, kam ging vom 28. bis 30. August 1936 ein im Sommer 1936. die Gemeindeversammlung auf ihren grosser Parkbadbazar mit drei Abend- Beschluss zurück und entschied, das programmen und Festumzug über die Abb. 26 Der erste Bademeister Projekt Erlenau aufzugeben und statt Bühne, dazu wurden Darlehen beim Hermann Otz. Linolschnitt von dessen ein anderes, inzwischen von Schulgut und bei Privaten von total Hans Eggenberg. Gemeinderat und Baumeister Johann 41’000 Franken aufgenommen. Die Thomi vorgeschlagenes Projekt an der Freude über das endlich gelungene äussern Giesse im Stock (heute steht Werk war gross, obschon die Anlage dort die ehemalige Villa Heinrich Roh- nach heutigen Begriffen recht beschei- rer) weiter zu verfolgen. Dies führte den war: In der Mitte des Schwimmer- zum Rücktritt der Badbaukommission; beckens war ein Floss verankert, es gab sie wurde durch eine neue ersetzt. 51 ein Sprungbrett, aber keinen Sprung- Am 1. November 1934 lagen dem turm und kein Sprungbecken, und die Gemeinderat drei Projekte vor: Erstens Rasenflächen waren viel kleiner als jenes im Stock, zweitens der wieder her- heute. Noch fehlten die Hochbauten, vorgeholte Ausbau der alten Badanstalt, die erst 1937 für 25’000 Franken erstellt und drittens die von Landwirtschafts- wurden. Am 13. Juni 1937 fand die Ein- lehrer Karl Schüpbach ins Spiel gebrach- weihung des Parkbades Münsingen, te neue Variante an der Aare. Die Kos- wie es fortan genannt wurde, unter tenschätzungen lagen zwischen 63’000 Mitwirkung vieler Vereine statt. 137
2 Die Menschen und ihre Gesellschaft Der erste Sommer 1937 brachte Eintritte und Einnahmen Eintritte Spitzentag rund 18’000 Eintritte. Als erster Bade- 350’000 1 2 3 4 5 6 7 8 5’000 meister wirkte Hermann Otz von der 300’000 Eröffnung bis zu seinem Unfalltod. Er 4’000 betrieb auch den Kiosk und konnte 250’000 nach übereinstimmenden Angaben von Zeitgenossen nicht schwimmen. Seine 3’000 200’000 Nachfolger waren Walter Haueter von 1948 bis 1964, Paul Friedli von 1965 bis 150’000 2’000 1997 und Martin Brechbühler seit 1998. 100’000 … zur modernen Anlage 1’000 Im Verlauf der Jahre wurde das 50’000 Parkbad mit dem Segen der Stimmbür- 0 0 gerinnen und Stimmbürger für meh- 1950 1960 1970 1980 1990 2000 rere Millionen Franken immer wieder ausgebaut und erneuert. Das geschah Einnahmen Eintritte Spitzentag allerdings nicht immer ohne Nebenge- Eintritte total räusche: 1981 wurde ein 1.6 Millionen Franken teures Projekt für den Neubau der Garderoben und Betriebsgebäude Abb. 27 Besucherzahlen, Jahreseinnahmen und Spitzenfrequenzen. mit Flachdach vor allem aus ästheti- 1 Schwimmerbassin betoniert, gegen Aare abgedichtet schen Gründen an der Urne knapp ab- 2 Neubau Filteranlage, Sprungturm und -becken gelehnt, was teure Provisorien nötig 3 Einbau Wärmepumpe machte. Erst 1991 /92 konnte ein Nach- 4 Neubau Garderoben an der Urne abgelehnt folgeprojekt für gut 3 Millionen Franken 5 Neubau Garderoben, Kiosk und Kasse realisiert werden. Wie sich die einzelnen 6 Neubau Planschbecken, Nichtschwimmer und Spielplatz Ausbauschritte auf die Besucherzahlen 7 Sanierung Schwimmerbecken 2003 –2005, Rekordsommer 2003 ausgewirkt haben, ist aus → Abb. 27 er- 8 nasser Sommer 2007 sichtlich. Eine Pioniertat war 1976 der Einbau einer Wärmepumpe, welche mit Wärme aus der Aare die Bassintempe- Abb. 28 Das ratur konstant auf 23 Grad hält. Parkbad in den Das Jahrhunderthochwasser vom 1950er-Jahren. Mai 1999 überstand das Bad unbescha- det. Allerdings mussten Sandsäcke die braunen, mit Holz durchsetzten Aare- fluten am Eindringen ins Schwimmer- bassin hindern. Auch das Hochwasser vom August 2005 verursachte dank der zwischenzeitlich erhöhten Ufermauer keinen Schaden. Heute sorgt ein hoch motiviertes, gut ausgebildetes und aus- gerüstetes Bademeisterteam – sogar ein Defibrillator zur Behandlung von Herzstillständen steht zur Verfügung – für die Sicherheit der Gäste und einen Abb. 29 Das einwandfreien Zustand der Anlage. Parkbad 2008 mit Aare- schwimmern. 138
2.3 Gesundheitswesen – Von der Badestube zum modernen Spital Alterspolitik und Alterseinrichtungen Bewohner. Ein Neubau als Ersatz für den bau- fälligen Trakt aus den 1950er-Jahren ist für 2010 Die Alters- und Pflegeheime geplant. Armut im Alter war vor der Einführung Etliche Münsinger fanden und finden der AHV und der Pensionskassen weit verbreitet. immer wieder in den Alters- und Pflegeheimen Als 1917 in Winterthur die Stiftung für das Alter Riedacker Heimberg und Wydenhof Rubigen (heute Pro Senectute) gegründet wurde, ging es Aufnahme. In Münsingen selber wurde, ange- darum, etwas für die «bedürftigen Greise» zu tun regt vom Frauenverein, ab 1960 über den Bau ei- und den «Betagten in den trostlosen Asylen bei- nes Altersheims diskutiert.57 Als Standort stand 54 zustehen». das Schlossgutareal immer im Vordergrund, aber Wo verbrachten und verbringen alte weil sich der Kanton mit dem Verkauf viel Zeit Münsinger ihren Lebensabend, wenn sie zu Hau- liess, musste Münsingen warten. 1973 gründeten se nicht mehr zurecht kommen? Für bedürftige die Einwohnergemeinde sowie die reformierte Alte gab es seit 1881 die Armenanstalt Riggisberg, und die katholische Kirchgemeinde die Stiftung nach Jakob Lüdi eine «liebreiche Stätte», und ab für Betagte. Architekt Fritz Friedli begann 1974 1924 das vom Verein für das Alter eröffnete Alters- mit der Planung, 1976 konnte der Kaufvertrag heim Herbligen, «ein freundliches Heim für die mit dem Kanton abgeschlossen und im folgenden gesunden Alten, wo sie in freundlichem Geplau- Jahr mit dem Bau begonnen werden. Im März 1979 der den Lebensabend verträumen können».55 wurde das Heim mit einem Wohnteil mit vermie- Das Asyl Gottesgnad im ehemaligen teten Einzimmerwohnungen und einem Heim- Landsitz der Familie von Wurstemberger in Bei- teil eröffnet. 1983 verkaufte die Kirchgemeinde tenwil bei Rubigen nahm ab 1886 unheilbar ihre 1976 errichtete Alterssiedlung Sonnhalde mit Kranke auf, die sonst nirgends Platz fanden. 14 Wohnungen der Stiftung für Betagte. Heute befindet sich dort die anthroposophisch Das Altersheim Schlossgut, mitten im geführte sozialtherapeutische Werk- und Le- Dorf und doch ruhig im Grünen gelegen, bietet bensgemeinschaft Humanus-Haus für geistig Platz für 61 Pensionärinnen und Pensionäre. Es behinderte Erwachsene. Unweit davon steht seit wurde im Verlauf der Jahre mehrmals ausgebaut 1950 das Altersheim des Vereins Pro Senectute und auf den neusten Stand gebracht, zuletzt 2008. Amt Konolfingen, das 2005 umfassend renoviert Seit 2009 ist es als Alterszentrum Koordinations- und auf 41 Plätze erweitert wurde. Ende 2007 leb- und Schaltstelle mit drei Standorten: Im Schloss- ten sieben Münsinger in diesem Heim.56 gut werden immer mehr Pflegefälle betreut, in der Der 1725 von Georg Steiger erbaute Land- Sonnhalde stehen 15 Wohnungen für selbständige sitz Neuhaus zwischen Münsingen und Wich- Senioren zur Verfügung und die Bärenmattepark trach diente von 1905 bis 2002 der Stadt Bern als AG bietet in 38 Mietwohnungen bedarfsgerechte, Alters- und Pflegeheim. Seit 2003 führen sechs flexible Dienstleistungen an, die vom Schlossgut Aaretaler Gemeinden die Alterssitz Neuhaus AG aus erbracht werden. Eine Demenzabteilung und und bieten Platz für 40 betagte oder behinderte eine Tagesstätte sind in Planung. Abb. 30 Das Hauptgebäude Abb. 31 Das Altersheim Schlossgut im Sommer 1979. des Alterssitzes Neuhaus. 139
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