8 Geographien Südasiens - Aktuelle Forschungsbeiträge zu Südasien - CrossAsia eBooks
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Geographien Südasiens 8 Ma�hias Schmidt, Alexander Follmann, Julia Poer�ng (Hrsg.) Aktuelle Forschungsbeiträge zu Südasien 7. Jahrestagung des AK Südasien, 27./28. Januar 2017, Augsburg Arbeitskreis S Ü DA S I E N
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Geographien Südasiens Schriftenreihe des Arbeitskreises Südasien in der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) Herausgegeben von Carsten Butsch, Köln Alexander Follmann, Köln Martin Franz, Osnabrück Markus Keck, Göttingen Julia Poerting, Heidelberg Arbeitskreis Südasien Der Arbeitskreis Südasien in der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) wurde im Januar 2011 gegründet. Hauptziel ist die Vernetzung von Geographinnen und Geographen, deren regionaler Arbeitsschwerpunkt in Südasien liegt. Hierzu gehört die Diskussion aktueller Forschungsergebnisse in der gesamten Bandbreite des Fachs, der Dialog zwischen Geographinnen und Geographen aus Praxis, Wissenschaft und Schule, der Austausch über die konkrete Ar- beit in Südasien sowie die gemeinsame Erörterung aktueller Entwicklungen in einer sich rapide wandelnden Region. Der Arbeitskreis richtet sich hierbei gleichermaßen an physische Geographen und Anthropogeographen. Auf diese Wiese bündelt der Arbeitskreis vorhandene Expertisen und verdeutlicht die Regionalkompetenz der Geographie, auch in der Außenwirkung. Zu den weiteren Zielen des Arbeitskreises gehören die Erstellung gemeinsamer Publikationen, die Vermittlung geo- graphischen Regionalwissens, die Förderung der Kooperation zwischen Universität und Praxis und gemeinsame For- schungsaktivitäten der Mitglieder. Ein besonderes Anliegen ist die Förderung des intradisziplinären Austauschs zwi- schen physischer und Anthropogeographie. Aktuelle Informationen zum Arbeitskreis und seinen Aktivitäten finden sich unter: www.geographien-suedasiens.de. Schriftenreihe: Geographien Südasien Die vorliegende Schriftenreihe wurde vom Arbeitskreis Südasien mit dem Zweck gegründet, Einblicke in aktuelle geo- graphische Forschung zu Südasien zu ermöglichen. Um einen möglichst großen Leserkreis zu erreichen, sind die Bei- träge über CrossAsia-eBooks kostenlos im Sinne des OpenAccess zugänglich. Die Schriftenreihe dient in erster Linie dazu, die vielfältigen Forschungsarbeiten der Arbeitskreismitglieder vorzustellen. Hierzu werden Beiträge der Mitglie- der auf den jährlichen Arbeitskreistreffen in Form von Extended Abstracts in einem jährlichen Sammelband zusam- mengefasst. Zusätzlich besteht darüber hinaus die Möglichkeit, neuere Beiträge zur Südasienforschung in zusätzlichen Bänden ausführlicher zu behandeln. Interessenten für Publikationen wenden sich bitte an: julia.poerting@asia- europe.uni-heidelberg.de. Die elektronische Open-Access Version dieses Werkes ist dauerhaft verfügbar auf der Webseite von CrossAsia-eBooks: http://crossasia-books.ub.uni-heidelberg.de/xasia DOI: 10.11588/xabooks.300.408 URN: urn:nbn:de:bsz:16-xabooks-300-4 ISBN: 978-3-946742-35-7
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Inhalt Andreas Benz Alle(s) in Bewegung? Migration und sozio-ökonomischer Wandel im pakistanischen Karakorum ........... 2 Raphael Schwegmann Wirtschaft und Recht im British Empire: Koloniale Geographien Südasiens ....................................................... 6 Carsten Butsch Pfade – Netzwerke – Identitäten indischer Migrant*innen in Deutschland ....................................................... 10 Annika Seitz The Establishment of Transnational Networks by Indian Students in Germany ............................................. 14 Tobias Aberle Entrepreneurship Training im ländlichen Bihar, Indien – Eine Zukunftsperspektive für sozial benachteiligte Jugendliche? .................................................................................................................................................... 18 Stephanie Leder Auswirkungen der Emigration auf die landwirtschaftlichen Strukturen in der östlichen Gangesebene.............................................................................................................................................................. 22 Michael Spies Multiple ‚Aktanten’ des landwirtschaftlichen Wandels im pakistanischen Karakorum: Das Beispiel Kartoffelanbau in Hopar, Nagar .................................................................................................................. 26 Raphael Pinheiro Machado Rehm & Christoph Bail Landnutzungsspezifische, kleinräumige Variabilität von Bodeneigenschaften in einem Kopfeinzugsgebiet der Indischen West Ghats ................................................................................................................. 30 Peter Dannenberg, Alexander Follmann & Gideon Hartmann Urbanisierung und peri-urbaner Wandel in und um Faridabad, Indien .............................................................. 34 Manisha Jain & Xiaoping Xie The rise of informal urbanization in the Global South: A breach of urban planning or bridging of the urban infrastructure supply gap? ......................................................................................................................................... 38 Mirka Erler Food transition of the middle class – A case study in the growing mega city of Bengaluru ........................ 42 1
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Alle(s) in Bewegung? Migration und sozio-ökonomischer Wandel im pakistanischen Karakorum Andreas Benz Schlagworte: Migration, Entwicklung, Translokalität, Hochgebirge, Pakistan, Gojal Gesellschaften und Wirtschaftssysteme der Hochge- wirtschaftliche Nutzungen nur in den Tallagen mit birgsregionen des pakistanischen Karakorums sind Hilfe intensiver, Gletscher gespeister Bewässerung seit vielen Jahrzehnten geprägt durch ausgesprochen sowie eine saisonale Hochweidenutzung. hohe Migrationsraten und zumeist ins Tiefland gerich- tete temporäre oder dauerhafte Abwanderung. Häufig werden diese Migrationsphänomene als Problem und große Herausforderung für die Entwicklung der be- troffenen Gebirgsregionen gesehen, die unter Bevölke- rungsverlusten und einer stagnierenden Wirtschaft leiden. In den letzten Jahren setzte sich in der Ent- wicklungszusammenarbeit und der Migrationsfor- schung eine positivere Sicht auf Migration durch. Temporäre Migration und Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten wurden als wichtiger Faktor für die sozio-ökonomische Entwicklung gerade in peripheren und strukturell benachteiligten Räumen gesehen (Brønden 2012; De Haas 2012; UNDP 2009). Kritisch anknüpfend an diese Diskussion und unter Berück- sichtigung translokaler Perspektiven auf Migration und Entwicklung (Zoomers & van Westen 2011) zeigt der vorliegende Beitrag anhand empirischer For- schungen in der Region Gojal im pakistanischen Kara- Abb. 1: Karte von Gojal und Gilgit-Baltistan korum, wie komplex und von der Erfüllung bestimm- ter Voraussetzungen abhängig der Zusammenhang Gojal gilt als ausgesprochen positives Beispiel für eine zwischen Migration und Entwicklung ist. Die hier prä- gelungene sozio-ökonomische Entwicklung im peri- sentierten Analysen basieren im Wesentlichen auf pheren Hochgebirge (Wood & Malik 2006; ADB et al. zwei umfangreichen Fallstudien in den Dörfern 2011). In den Bereichen Bildung, Gesundheit, Ein- Hussaini und Passu aus den Jahren 2011 und 2012, in kommen, Beschäftigung und Geschlechtergerechtig- deren Rahmen standardisierte Vollerhebungen aller keit zählt Gojal zu den führenden ländlich-peripheren 184 Haushalte sowie etwa 80 leitfadengestützte Inter- Regionen Pakistans. Diese Entwicklungserfolge ge- views mit gegenwärtigen und ehemaligen Migranten winnen besonderes Gewicht angesichts der ungünsti- durchgeführt wurden. Angesichts der großen Bedeu- gen Ausgangslage bis Mitte des letzten Jahrhunderts, tung translokaler Verflechtungen in diesem Fallbei- die von extremer Armut, wiederkehrenden Hungers- spiel wird die bisherige bi-lokale Logik des Migrati- nöten, geringer Lebenserwartung und der völligen ons-Entwicklungs-Nexus hinterfragt und für ein trans- Abwesenheit formaler Bildung gekennzeichnet war. lokales Verständnis von Entwicklung plädiert. Gemessen anhand gängiger Standard-Indikatoren liegt Gojal als Vorreiterregion ländlicher Entwicklung im die Entwicklung in Gojal heute deutlich über dem Hochgebirge Pakistans Durchschnitt der ländlichen Gebiete Pakistans. Im Bereich der formalen Bildung beispielsweise wird in Gojal ist eine periphere Hochgebirgsregion im pakis- den Haushalten des Dorfes Passu eine Alphabetisie- tanischen Karakorum. Als Teil der administrativen rungsrate von knapp 96% bei den Männern und 76% Einheit Gilgit-Baltistan gehört sie zum pakistanisch bei den Frauen erreicht, während im pakistanischen verwalteten Bereich der völkerrechtlich umstrittenen Durchschnitt Werte von 67% bei Männern und 42% Kaschmir-Region. Die etwa 20.000 Einwohner Gojals, bei Frauen vorliegen (UNESCO 2015). Der Anteil der ganz überwiegend ismailitische Muslime, siedeln in Personen mit Hochschulabschluss liegt in den beiden verstreuten Dörfern in zahlreichen Bewässerungsoa- Untersuchungsdörfern drei- bis viermal so hoch wie sen, die entlang der Talsohlen in Höhen von über im pakistanischen Durchschnitt, und auch die schuli- 2400m angeordnet sind. Der Karakorum Highway sche und universitäre Ausbildungsdauer ist im Schnitt verbindet Gojal als einzige Verkehrsader mit dem um 66% (Männer) bzw. 100% (Frauen) länger. Sehr pakistanischen Tiefland und mit dem angrenzenden deutlich treten die Entwicklungsunterschiede auch Xinjiang im Westen Chinas. Die ariden klimatischen hinsichtlich der Prävalenz von multidimensionaler Bedingungen der Hochgebirgswüste erlauben land- Armut (gemäß der Definition von UNDP, vgl. Alkire & 2
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Santos 2010) zu Tage. Während im pakistanischen Bis in die 1940er Jahre hinein war die Mobilität der Durchschnitt etwa 44% der Bevölkerung als multidi- Bevölkerung Gojals als Teil des Bergfürstentums mensional arm gelten (OPHI 2015), weisen Hussaini Hunza stark eingeschränkt. Das Herrschaftsgebiet mit 3,7% und Passu mit 3,1% mehr als zehnmal gerin- durfte nur mit ausdrücklicher und selten vergebener gere Armutsraten auf. Genehmigung des lokalen Herrschers verlassen wer- den. In den 1940er Jahren eröffneten sich für die Go- Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Gojals jalis erste Migrationsmöglichkeiten im Rahmen von Entwicklungserfolg Söldner- und Militärdiensten, zumeist im regionalen Die eindrucksvollen Entwicklungserfolge in Gojal er- Zentrum Gilgit (Benz 2014). Diese Söldner konnten als scheinen umso überraschender angesichts der un- erste Gojalis monetäre Einkommen erzielen, die sie günstigen regionalen Voraussetzungen, die gekenn- unter anderem dafür nutzten, für sich selbst oder nahe zeichnet sind durch schwierige naturräumliche Bedin- männliche Verwandte Arbeitsmigration nach Karachi, gungen für die Landwirtschaft, allgemeine Ressour- die florierende Wirtschaftsmetropole des 1947 ge- cenknappheit, ausgeprägte wirtschaftliche Struktur- gründeten Pakistans, zu ermöglichen (vgl. Abb.2). In schwäche, eine geringe Wirtschaftsleistung und weni- Karachi profitierten die Migranten aus Gojal zudem ge Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten von der Unterstützung der dort ansässigen Khoja, (ADB et al. 2011). einer Gruppe von sehr wohlhabenden und wirtschaft- lich erfolgreichen Ismailiten, die ihren Glaubensgenos- Die Tatsache, dass die Entwicklungserfolge in Gojal sen aus dem Karakorum Unterstützung gewährten. trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen erreicht Zudem bauten die Gojalis und andere ismailitische werden konnten, drängt die Frage nach den zentralen Migranten aus dem Karakorum sehr effektive Diaspo- ermöglichenden Faktoren geradezu auf. In den vorlie- ra-Netzwerke in Karachi auf, die Schutz und gegensei- genden Analysen aus Entwicklungspraxis und Wissen- tige Unterstützung boten. schaft werden hauptsächlich vier zentrale Faktoren genannt, die hier nur stark verkürzt dargestellt wer- Aufgrund einer stark ausgeprägten gemeinsamen den können (ADB et al. 2011; Kreutzmann 1993; regionalen und religiösen (ismailitischen) Identität Wood et al. 2006). Dazu zählen erstens die verkehrs- erlangten diese Netzwerke einen hohen Grad an Stabi- technische und infrastrukturelle Erschließung der lität und Institutionalisierung, wodurch weitreichende Region. Allem voran ist hier der Bau des Karakorum Unterstützungsleistungen vor Ort angeboten werden Highways zu nennen, der seit Ende der 1970er Jahre konnten, was wiederum Hürden für nachfolgende die Lebensader der Region darstellt (Kreutzmann Migranten verringerte und zu einer raschen Intensi- 1991). Zweitens haben die Entwicklungsprogramme vierung der Migration führte. Nicht zuletzt inspiriert des Pakistanischen Staates in der Region vor allem in durch das Vorbild der hoch gebildeten und kultivier- den Bereichen Bildung, Gesundheit und Landwirt- ten Khoja begannen Arbeitsmigranten aus Gojal damit, schaft wichtigen Einfluss ausgeübt (ADB et al. 2011). in Abendschulen oder an Wochenenden Bildungsgän- Diese waren ebenso wie der Infrastrukturausbau auch ge zu besuchen und nach und nach höhere Schulab- durch die hohe geostrategische Bedeutung der schlüsse zu erwerben. Die Arbeitsmigranten ermög- Kaschmir-Region motiviert (Kreutzmann 2013). Drit- lichten mit ihrem Einkommen zudem anderen männli- tens hat das intensive Engagement internationaler chen Verwandten, in Karachi formale Schulbildung zu Geber und Organisationen der bi- und multilateralen erwerben. Bald erlangten die ersten Migranten aus Entwicklungszusammenarbeit wichtige Projekte ange- Gojal Universitätsabschlüsse, auf denen sie oft erfolg- stoßen. Viertens sind schließlich die intensiven Aktivi- reiche berufliche Karrieren aufbauen konnten, die sie täten von internationalen und regionalen Entwick- in verschiedene Städte des pakistanischen Tieflands lungs-NGOs (Non-Governmental Organizations) zu führten. Auf diese Weise erweiterte sich das Gojali- nennen. Für Gojal und andere Siedlungsgebiete erlang- Migrationsnetzwerk auf immer neue Orte, an denen ten insbesondere die Aktivitäten des Aga Khan- die nun hochqualifizierten Arbeitsmigranten anderen Entwicklungsnetzwerks bereits seit den späten Mitgliedern ihrer Verwandtschaftsnetzwerke Bil- 1940er Jahren große Bedeutung mit ihren Program- dungsmigration ermöglichten. Dank einer stark aus- men in den Bereichen Bildung, Gesundheit und ländli- geprägten sozialen Norm der Gewährung gegenseiti- che Entwicklung (Wood et al. 2006). ger Unterstützung innerhalb der Gojali-Gemeinschaft und insbesondere innerhalb patrilinearer Verwandt- In dieser Aufzählung der ermöglichenden Faktoren schaftsnetzwerke, wurde der Erfolg eines Migranten fehlen jedoch zwei zentrale Aspekte: die Bedeutung durch Gewährung von Unterstützungsleistungen in- von Migrationsprozessen und die als Folge sich her- nerhalb dieser Netzwerke sozialisiert und kam einer ausbildende Translokalität der sozialen und ökonomi- Vielzahl weiterer Personen zu Gute. Auf diese Weise schen Verflechtungsbeziehungen. Im Folgenden soll erhöhten sich mit jedem erfolgreichen Migranten die anhand der Migrationsprozesse seit den 1940er Jah- Migrations-, Bildungs- und damit letztlich Karriere- ren der Dörfer Hussaini und Passu aufgezeigt werden, und Einkommenschancen vieler weiterer Gojalis. Dies welche zentrale Rolle Migration und translokale Un- setzte eine Art sich selbst verstärkende Aufwärtsspira- terstützungsnetzwerke für die Entwicklung der Regi- le in Gang, bei der der Bildungs- und Karriereerfolg on gespielt haben. früher Migranten mittels höherer Einkommen und Migration und Entwicklung in Gojal Gewährung von Unterstützung zu besseren Bildung- 3
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien und Karrierechancen der nächsten Generation von Die vor Ort verbliebenen Personen sorgen für die Fort- Migranten führte. führung der lokalen Landwirtschaft und den Erhalt von Gebäuden und Grundstücken, sorgen für ältere Familienmitglieder und die Kinder. Im Gegenzug profi- tieren sie von Rimessen der meist hochqualifizierten Arbeitsmigranten, deren Migration, Ausbildung und Karrieren erst durch andere Mitglieder der Verwandt- schaftsnetzwerke und durch die vor Ort Verbliebenen ermöglicht wurden. Diese Phänomene werden weitge- hend von den bekannten Konzepten der Migrations- netzwerke (vgl. Hillmann 2016) und dem Ansatz der New Economics of Labour Migration (Stark 1991) beschrieben. Darüber hinaus lässt sich am Beispiel von Gojal aber ein Muster translokaler Rimessen beobachten, das quer liegt zu den vorherrschenden bi-lokalen Vorstell- lungen von Rimessen. Unterstützungsleistungen wer- den in den translokalen Netzwerken der Gojalis häufig zwischen Personen gewährt, die sich an ‚dritten‘ Orten außerhalb Gojals aufhalten. In dem in Abb. 3 exempla- risch dargestellten translokalen Unterstützungsnetz- werk eines Haushaltes aus Hussaini sind translokale Unterstützungsleistungen beispielsweise von Perso- nen im Ausland an Personen in Städten des pakistani- schen Tieflands zu beobachten sowie Transfers zwi- schen Tieflandstädtern und Personen in Gilgit. Abb. 2: Phasen der Migration aus dem Dorf Hussaini Aufgrund der steigenden Einkommen der Gojalis wur- de ab den 1990er Jahren verstärkt auch Bildungsmig- ration für Frauen ermöglicht, die sich aufgrund gesell- schaftlicher Normen, die u.a. Teilzeitarbeit neben dem Studium ausschließen und oft die Unterbringung in Studentenwohnheimen erfordern, deutlich kostspieli- ger gestaltet. Bedeutung der translokalen Netzwerke In Folge der über viele Jahrzehnte fortdauernden Mig- rationsprozesse haben die Haushalte, Verwandt- schaftsnetzwerke und Dorfgemeinschaften Gojals stark translokal geprägte Strukturen angenommen. In Abb. 3: Translokale Unterstützungsleistungen vier von fünf Haushalten der Dörfer Hussaini und Pas- Viele dieser Rimessen und Unterstützungsleistungen su sind die Haushaltsmitglieder über mindestens zwei erreichen nicht die Heimatregion, in der der Haushalt verschiedene Orte verteilt. Jedes dritte Haushaltsmit- lokalisiert ist, und fallen damit durch das konzeptio- glied der beiden Dörfer war zum Erhebungszeitpunkt nelle Raster der vorherrschenden Auffassung von als Migrant seit mindestens drei Monaten dauerhaft Rimessen. Doch sie stellen die zentralen Vorausset- abwesend vom Dorf. Die Mitglieder der Dorfgemein- zungen für die Erweiterung der Bildungs- und Karrie- schaft sind über eine Vielzahl von Orten verteilt, die rechancen der Gojalis dar und bilden damit das ‚Rück- vom regionalen Zentrum Gilgit über eine Reihe von grat‘ der erfolgreichen Entwicklung in Gojal (Benz Städten im pakistanischen Tiefland – allen voran Ka- 2016). rachi und Islamabad/Rawalpindi – bis zu Orten im Ausland reichen. Entscheidend ist jedoch, dass zwi- Konzeptionelle Implikationen: Plädoyer für ein trans- schen den migrierten und den im Dorf zurückgeblie- lokales Entwicklungs-Verständnis benen Mitgliedern der Haushalte und Verwandt- Das Beispiel Gojal macht deutlich, dass die noch im- schaftsnetze enge und intensive soziale Kontakte und mer vorherrschende territoriale Konzeption von Ent- Interaktionsbeziehungen auch über lange Migrations- wicklung und das daraus abgeleitet bi-lokale Ver- zeiträume und weite Distanzen hinweg, aufrechterhal- ständnis von Rimessen und dem Migrations- ten werden. Entwicklungs-Nexus angesichts der empirisch aufge- fundenen translokalen Lebenswirklichkeiten der Go- 4
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien jalis zu kurz greifen. Ein bi-lokales Verständnis von vanten, alltagspraktisch gelebten translokalen sozialen Rimessen verkennt die Unterstützungsleistungen zwi- Einheiten darstellen. Um den translokalisierten Le- schen Personen an ‚dritten‘ Orten. Ein territoriales benswirklichkeiten im Kontext von Globalisierung und Entwicklungsverständnis blendet zudem die zahllosen zunehmender Migration gerecht zu werden, bedarf es territoriale Grenzen überschreitenden Verflechtungs- der konzeptionellen Abkehr von territorialen Entwick- beziehungen innerhalb translokalisierter Gemein- lungsvorstellungen zugunsten eines translokalen Ver- schaften aus und schafft künstliche territorialisierte ständnisses von Entwicklung, wie es beispielsweise und lokalisierte ‚Rest-Gemeinschaften‘, die nur einen von Zoomers und van Westen (2011) in die Diskussion Teil der sozial und entwicklungskonzeptionell rele- eingebracht wurde. Literaturverzeichnis ADB (Asian Development Bank), World Bank & Gov- OPHI (Oxford Poverty & Human Development Initia- ernment of Pakistan (2011): Gilgit-Baltistan Economic tive) (2015): OPHI Country Briefing June 2015: Paki- Report. Broadening the Transformation. Islamabad. stan. Oxford Poverty & Human Development Initiative (OPHI). Oxford. Alkire, S. & Santos, M. E. (2010): Acute Multidimen- sional Poverty: A New Index for Developing Countries Stark, O. (1991) (ed.): The Migration of Labor. Oxford. (= OPHI Working Paper 38). Oxford Poverty & Human UNDP (United Nations Development Program) (2009): Development Initiative (OPHI), Oxford Department for Human Development Report 2009: Overcoming Barri- International Development. Oxford. ers: Human Mobility and Development, UNDP, New Benz, A. (2014): Mobility, Multilocality and Translocal York. Development: Changing Livelihoods in the Karakoram. UNESCO (United Nations Educational, Scientific and In: Geographica Helvetica 69(4): 259-270. Cultural Organization) (2015): UIS Online Database. Benz, A. (2016): Framing Modernisation Interven- data.uis.unesco.org (04.06. 2015). tions: Re-assessing the Role of Migration and Translo- Wood, G. & Malik, A. (2006): Sustaining Livelihoods cality in Sustainable Mountain Development in Gilgit- and Overcoming Insecurity. In: Wood, G., Malik, A. & Baltistan, Pakistan. In: Mountain Research and Devel- Sagheer, S. (eds.): Valleys in Transition. Twenty Years opment 36(2): 141-152. of AKRSP's Experience in Northern Pakistan. Karachi, Brønden, B. M. (2012): Migration and Development: 54-119. The Flavour of the 2000s. In: International Migration Wood, G., Malik, A. & Sagheer, S. (eds.) (2006): Valleys 50(3): 2-7. in Transition. Twenty Years of AKRSP's Experience in De Haas, H. (2012): The Migration and Development Northern Pakistan. Karachi. Pendulum: A Critical View on Research and Policy. In: Zoomers, A. & van Westen, G. (2011): Introduction: International Migration 50(3): 8-25. Translocal Development, Development Corridors and Hillmann, F. (2016): Migration. Eine Einführung aus Development Chains. In: International Development sozialgeographischer Perspektive. Stuttgart. Planning Review 33(4): 377-388. Kreutzmann, H. (1991): The Karakoram Highway - Impact of Road Construction on Mountain Societies. Danksagung In: Modern Asian Studies 25(4): 711-736. Die vorliegende Arbeit wurde dankenswerterweise im Kreutzmann, H. (1993): Challenge and Response in the Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Crossroads Asia“ Karakoram: Socioeconomic Transformation in Hunza, (Ref.Nr.: 01UC1103E) vom Bundesministerium für Northern Areas, Pakistan. In: Mountain Research and Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der För- Development 13(1): 19-39. derlinie zur Stärkung der Regionalstudien in den Jah- Kreutzmann, H. (2013): The Significance of Geopoliti- ren 2011-16 gefördert. Das zugehörige Teilprojekt cal Issues for Internal Development and Intervention wurde unter Leitung von Prof. Dr. Hermann Kreutz- in Mountainous Areas of Crossroads Asia (= Cross- mann am Centre for Development Studies (ZELF) der roads Asia Working Paper Series 7). Crossroads Asia. Freien Universität Berlin durchgeführt. Bonn. Kontakt Andreas Benz (Dr.) Institut für Geographie Universität Augsburg Alter Postweg 118 86159 Augsburg andreas.benz@geo.uni-augsburg.de 5
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Wirtschaft und Recht im British Empire: Koloniale Geographien Südasiens Raphael Schwegmann Schlagworte: Macht, Zivilisierung, Gouvernementalität, Indien Einleitung subcontinent transformed many of these earlier pat- terns” (Chatterji & Washbrook 2013: 2). Zentrale poli- Als Beispiel für die umfassenden raum-zeitlichen tische Rahmung dieser insbesondere durch den Indi- Wirkweisen von kapitalistischen Wirtschafts- und schen Ozean geprägten Region im 19. sowie in der Rechtsordnungen versucht dieser Beitrag in Form ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in diesem Sin- eines Werkstattberichts einen historisch und geogra- ne die britische Herrschaft (vgl. Bose 2006: 73ff.; Os- phisch informierten Blick auf Herrschaft im British terhammel 2009a: 159; Pearson 2003: 191), die sich Empire werfen. Dabei reflektiert der vorliegende Arti- aus mehreren, gleichsam oftmals miteinander ver- kel, wie Machtasymmetrien in der Kolonialzeit, konk- schränkten Bausteinen zusammensetzte: aus einer ret in Britisch-Indien, alltäglich internalisiert wurden: wirtschaftlich-kommerziellen, einer maritim- „...kolonialistisches Denken ist ebensowenig auf kontrollierenden und einer kriegerisch-expansiven die Kolonisierer beschränkt geblieben, wie Praxis (vgl. Jackson 2011). Der Indische Ozean jener umgekehrt alle Kolonialismuskritik von den Zeit kann dementsprechend als regulierter Raum ge- Opfern des Systems ausging. Die Stereotype, die dacht und damit gedeutet werden, der u. a. durch die die Europäer von den Menschen anderer britische Hegemonie in Form eines „maritimen Re- Zivilisationen schufen, fanden durch Erziehung, gimes” beherrschbar gemacht wurde (Gupta 2010). Gewohnheit, Mangel an Alternativen und eine Dieser Machtapparatus umfasste unterschiedlichste Art von Identifikation mit dem Aggressor oft Sphären einer „Ocean Governance” (Gupta 2010: 29f.). Eingang in deren eigenen psychischen Habitus“ Tatsächlich waren es die britischen Machthaber, die (Osterhammel 2009b: 117). tiefgreifende Veränderungen mit sich brachten. Sie Dieses kolonialistische Denken äußerte sich auch in trugen maßgeblich zur Entstehung einer neuen Quali- einer generellen Identifikation mit der kolonialen tät von (ökonomisch motivierter) Mobilität und Migra- rechtlichen und ökonomischen Ordnung. Denn „ein tion bei: „British rule created a novel kind of state in Gefühl des Ungenügens gehört zur mentalen Grundbe- India, which tried to curtail certain forms of mobility findlichkeit eines jeden kolonisierten Volkes“ (Oster- while enabling others – […] perhaps the most pro- hammel 2009b: 118), das sich im Bestreben des Sich- nounced change during the imperial period was in the Einfügens in diese Ordnungen Anerkennung und Ak- role of the state in migration” (Chatterji & Washbrook zeptanz versprach. Mit Bezug zu Foucaults Konzept 2013: 2f.). Dies wiederum hatte tiefgreifende ökono- der Gouvernementalität (2004a; b) ließe sich diese mische Restrukturierungen zufolge (vgl. Washbrook lokale Wirkung und alltägliche Realisierung von Recht 2013: 17) – die britische Herrschaft war schließlich zu und Wirtschaft, immer in Wechselwirkung mit koloni- großen Teilen ökonomischer Natur. So schreiben Os- alen Diskursen sowie materiellen Ausprägungen briti- terhammel und Petersson zur „Entstehung der Welt- scher Herrschaft, als internalisierte Subjektivierung wirtschaft“ (2007: 60ff.) im 19. Jahrhundert: „Die sich vor dem Hintergrund einer ‚Kolonisation des Unbe- industrialisierenden Länder, an erster Stelle Großbri- wusstseins‘ (be)greifen. Im Folgenden wird dieser tannien, waren die Herren und Organisatoren der Ansatz anhand der Vorstellung der Wirkkraft von neuen Phase weltwirtschaftlicher Integration“ (Oster- westlich-europäischen Wirtschafts- und Rechtsord- hammel und Petersson 2007: 61). Im Kontext briti- nungen exemplarisch verdeutlicht. scher Kolonialherrschaft entwickelte sich beispiels- weise ein spezifischer maritimer Arbeitsmarkt, der Koloniale Geographien I: Wirtschaftswirkungen durch regen Austausch geprägt war. Südasien und seine Küsten, so auch das Gebiet des Diesbezüglich sind u.a. die materiellen bzw. sich mate- heutigen Indien, wurden seit je her vom Menschen rialisierenden Auswirkungen britischer Hegemonie zu genutzt, etwa im Zuge vielerlei Handelsbeziehungen berücksichtigen. Wie Osterhammel verdeutlicht: und insbesondere für umfangreichen Fischfang (Jid- „Handel und Migration, beides durch die Einführung dawi & Öhman 2002: 518). Seit den Anfängen mensch- der Dampfschifffahrt und die Öffnung des Suezkanals licher Besiedlung wurde auf verschiedenen Maßstabs- unterstützt, wurden zu den wichtigsten Integrations- ebenen gehandelt, ausgetauscht und somit Wirtschaft kräften“ (Osterhammel 2009a: 159). – Menschen und Materialitäten, Ideen und Identitäten – mehr oder minder expansiv mobilisiert (Pearce & Neben derartigen materiellen Ausprägungen von briti- Pearce 2010; Washbrook 2013: 13). Viele dieser histo- scher Ökonomieherrschaft sind aber auch gerade die – rischen Prozesse sollen uns im Rahmen dieses Bei- damit oft untrennbar verbundenen, ja: oft aus ihnen trags aber nicht im Detail interessieren. Festzuhalten resultierenden, sie aber auch anleitenden und repro- gilt in jedem Fall: „The rise of British power in the duzierenden – ideen- bzw. mentalitätsgeschichtlichen 6
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Transformationen der Menschen in Britisch-Indien in Inkorporierung durch die sich nicht intentional, aber (unbewusst) kapitalistisch bzw. marktförmig agieren- dennoch gleichsam durch ihr ‚bloßes Sein‘, ihre schie- de Subjekte von hoher Bedeutung. Denn Südasien ist re sozio-kulturelle Existenz aktiv selbst beherrschen- weit mehr als eine Handelszone; bereits eine Handels- den Subjekte gewann. Diesen Prozess gouvernementa- zone ist mehr als die quantifizierbaren Ströme von ler Selbstbeherrschung im schieren systemkonformen Menschen, Gütern und Kapital. Ökonomische Ordnun- Selbst-Existieren könnte man als ‚Unbewusst-Sein‘ gen sind und waren identitätsstiftend. Speziell die definieren. (post)kolonialen Verflechtungen von imaginierten und materialisierten Ökonomien lassen sich mit diesem Allgemein ließ sich nach dem Beginn der britischen Verständnis von Wirtschaft im Rahmen dieser Gedan- Herrschaft schnell eine Europäisierung der indischen kenfragmente vorstellen, denn Rechtskultur bemerken (vgl. Osterhammel 2009b: 65ff.). Diese produzierte spezifische Rechtsgeogra- „the dominance in material and military matters phien: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterschied often flowed over into a belief in cultural and man im britischen Kolonialrecht mehr als vierzig Sta- moral superiority. English writers were quite tusarten überseeischer Gebiete, deren Kontrolle sich open in their expressions of superiority over, auf drei Ministerien verteilte: Colonial Office, India and, as the inverse, contempt for the natives, of- Office und Foreign Office“ (Osterhammel 2009b: 55). ten coupled with a desire to uplift them” (Pear- Schon dieser Umstand verweist auf die herausragende son 2003: 191). Stellung Indiens im British Empire. Dabei war Britisch- Britisch-Indien nahm für das Empire eine zentrale Indien kein durchgängiges, kohärentes Territorium: geostrategische Rolle in politischer und wirtschaftli- „Die etwa 40 großen und über 500 kleinen cher Hinsicht im Indischen Ozean ein (Bose 2006: ‚Princely States‘ der Maharajas, Nizame und wie 73ff.) und war damit auch ausgesprochen wichtig für sie immer heißen mochten, waren in das Terri- das nationale Selbstverständnis Englands. Oster- torium Britisch-Indiens eingesprengselt. Es hammel spricht in diesem Kontext z.B. von einer „Zivi- handelte sich um wirtschaftlich für die Koloni- lisierung durch Markt und Gewalt“ (Osterhammel almacht wenig interessante Gebiete. Sie durften 2009a: 1182f.), denn „Marktwirtschaft, Recht und keine eigene Außenpolitik betreiben und sogar Religion waren die drei Säulen, auf denen die weltweit untereinander keine Beziehungen unterhalten. wirkungsvollste Variante des mächtigsten Projekts der Über jedem von ihnen schwebte die permanente Zivilisierungsmission ruhte, die britische“ (Oster- Interventionsdrohung der Indischen Armee“ hammel 2009a: 1183). Insbesondere die Idee eines (Osterhammel 2009b: 55f.). ‚natürlichen‘ Marktes rührt aus dieser Zeit. Diese wirk- te dabei auch bis tief in kleinteilige Strukturen und Bestimmte Verständnisse von Recht wurden dabei von unmittelbar handlungsanleitend; sie realisierte und der Bevölkerung im Zusammenspiel mit materiellen reproduzierte beständig kapitalistische Wirtschaft Arrangements, öffentlich wirksamen (Zivilisie- durch die kolonisierten Menschen, z.B. in Form von rungs)Diskursen und (unbewusst?) systemkonformen Konsum, Erwerbsarbeit sowie Mobilität (vgl. Schweg- Imaginationen wie konkreten Praktiken (re)pro- mann 2016). duziert, was der britischen Herrschaft ihre gewaltige Macht verlieh: „Im 19. Jahrhundert war die britische Koloniale Geographien II: Rechtsrealisierungen Herrschaft über Südasien der kardinale politische „Indien wurde im 19. Jahrhundert erstmals in Tatbestand in der Region. Indien war der Mittelpunkt seiner Geschichte einer den ganzen Subkonti- eines politisch-militärischen […] Kraftfeldes von weit- nent erfassenden Zentralgewalt unterworfen. räumiger Wirkung“ (Osterhammel 2009a: 159). Sogar das Mogulreich in seiner größten Ausdeh- Derartig(e) gouvernementale Konglomerate der Reali- nung um 1700 hatte den äußersten Süden nicht täts(re)produktion wirkten gleichwohl nicht nur im eingeschlossen, der britischer Kontrolle nicht 19. Jahrhundert, mit dem sich Osterhammel in seinem entrann“ (Osterhammel 2009a: 604). Klassiker „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte Diese Kontrolle speiste sich aus vielerlei Ordnungsme- des 19. Jahrhunderts“ (2009a) beschäftigt hat. Sie chanismen, die oftmals aufgrund ihrer subtilen Wirk- wirkten insbesondere im postkolonialen Kontext weise von den subjektivierten Einwohnern der be- (be)deutungsschwer nach, so sie nämlich – mit Bezug herrschten Gebiete unbewusst internalisiert wurden. zu Foucault (1981) – als „Archive“ (Reuber 2012: Eine dieser normativen Ordnungen war neben einer 188ff.) gesellschaftlich machtvolle Prozesshaftigkeit umfassenden Wirkweise kapitalistischer Ökonomie über große Zeiträume entfalten konnten. ein spezifisches Verständnis von Recht, das über das Eine umfassende „Zivilisierung durch Recht“ (Oster- Zusammenspiel praktischer und diskursiver, mensch- hammel 2009a: 1180ff.) war in diesem Kontext erklär- licher und nicht-menschlicher Elemente bzw. Akteure tes Ziel wie Ergebnis britischer Kolonialpolitik: realitätskonstituierend, ja: -anleitend, wirkte. Auch hierin zeigte sich ein Merkmal der Macht des British „Als ‚moderne‘ Imperien galten im ‚Club der Im- Empire, jenes „erfolgreichste[n] Reich[es] der Epoche“ perialisten‘ solche, die ihre Verwaltung rationa- (Osterhammel 2009a: 657), das seine Wirkkraft gera- lisierten und zentralisierten, die Ausbeutung de aus der unbewussten Responsibilisierung bzw. wirtschaftlicher Ressourcen effektiver und ren- 7
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien tabler gestalteten und sich die Mühe machten, „Im Mittelpunkt der Kulturgeschichte des die ‚Zivilisation‘ zu verbreiten“ (Osterhammel Imperialismus steht die Kolonisation des 2009a: 672). Bewusstseins (colonization of consciousness), die Internalisierung des Imperialismus, aber eben Hierzu zählt auch die Durchsetzung einer kohärenten nicht nur bei den Untertanen der Imperien – das Rechtsordnung. Britisch konzipiertes Recht hatte im wäre nichts Neues –, sondern auch bei den kolonialen Kontext eines größeren Zivilisierungsdis- Reichsvölkern selbst. Dabei handelte es sich kurses dabei vor allem die Funktion der Herrschaftssi- aber auf beiden Seiten nicht nur um cherung inne, wie etwa Mann (2012: 190) mit Blick Beeinflussung oder sogar Manipulation seitens auf die Sklaverei und deren Limitierungen erklärt. der imperialistischen Eliten und ihrer Vertreter, Die multiplen altindischen Rechtsgewohnheiten ver- sondern ebenso um willige Selbstkolonisation schwanden nach Ankunft der Europäer bzw. insbe- der betroffenen Massen, um Akzeptanz als sondere der Briten nicht (immer) unverzüglich, son- Selbstläufer“ (Reinhard 2016: 871f.). dern wurden stattdessen oft neu verhandelt und bri- Doch die Frage lautet: „War und ist denn jede Ak- tisch rekonzeptualisiert, d.h. in Abstimmung mit briti- teurshandlung ‚bewusste‘ Konstruktion” (Schulze schen Rechtsverständnissen so abgewandelt, dass 2016: 283) von Realität? Wer „alles Handeln als inten- britische Herrschaft und Macht gesichert werden tional begreift, alles Handeln auf ein Ergebnis rück- konnten. Denn nicht selten trafen in Südasien „altindi- bindet” (Schulze 2016: 283), macht es sich sicher zu sche Rechtsvorstellungen und neuzeitliche Rechtspra- leicht – vielerlei Realitäten entstehen gerade nicht- xis“ (Mann 2012: 78ff.) aufeinander. intentional, nicht selten zufällig, im Zusammenspiel Recht wurde dabei schnell von den Menschen Südasi- von Mensch und Materialität, Diskurs und Praxis. ens als wichtig empfunden. Der Glaube an britisches Reinhard geht daher fälschlicherweise immer von Recht hatte im kolonialen Indien sowie in postkolonia- „williger“, d.h. offenbar bewusster Selbstkolonisation len Diasporagruppen des 20. Jahrhunderts somit be- aus. reits eine längere Tradition und konnte mit Blick auf Dieser Beitrag plädiert dagegen für eine verstärkte das Rechtsverständnis der Einheimischen große Wir- Beschäftigung mit der Kolonisation des Unbewusst- kung in mentalen Zuschreibungen sowie handlungsan- seins. Denn bestimmte Wirklichkeitsvorstellungen leitend in Praktiken entfalten. Denn wenn wir „den sind erstaunlich kohärent – als ob ein stark wirkender, Indischen Ozean als einen Raum [...] begreifen, der sich gesellschaftlicher Konsens hierüber bestünde. Die im durch die Bewegung von Menschen, Gütern und Ideen Rahmen dieses Beitrags betrachteten Teilordnungen auszeichnet“ (Mann 2012: 24), dann lässt sich nach- Wirtschaft und Recht stehen zudem nicht im Wider- vollziehen, dass ein britisches Rechtsverständnis im spruch zueinander, sondern reproduzieren sich dis- kolonialen Kontext von Machtasymmetrien gouver- kursiv gegenseitig in der Interaktion mit sie ‚wert- nemental schnell Wirkung entfalten konnte, denn die schätzenden‘ Menschen. Es darf allerdings angenom- „Bewegungen und Austauschbeziehungen über den men werden, trotz aller prozessorientierten Gouver- Ozean hinweg haben die Lebens-, Denk- und Hand- nementalitäts-Archiv-Perspektive in diesen Zeilen, lungsweisen der in sie involvierten Menschen nachhal- dass normative Ordnungen (sich) mit der Zeit auch tig beeinflusst“ (Mann 2012: 24). verändern können (vgl. Reuber 2012: 201f.) – je nach Um in diesem hierarchisch-dualen kolonialen System Stärke und Richtung der unbewussten und/oder be- Anerkennung zu finden oder auch einfach ‚nur‘ hand- wussten Bedeutungszuschreibung. lungsfähig zu sein, mussten die Südasiaten wiederum Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass normati- selbst das britische Recht – und damit seine Grundla- ve Ordnungen – wie die hier vorgestellten wild wu- gen, die Rechtsordnung bzw. das Rechtssystem per se, chernden „Rhizome“ (Deleuze & Guattari 1977) Recht seine Auswirkungen, Institutionen und Akteure – und Ökonomie – kraftvolle, meist unbewusst wirkende (an)erkennen. Diese Art der Rechtsrealisierung von Machtkonglomerate unter dem Einfluss von Zivilisie- Seiten der subjektivierten Südasiaten setzte selbstver- rungsdiskursen sind (vgl. auch Scott 1998). Sie er- ständlich einen umfassenden, indoktrinierenden Dis- scheinen dabei als nur schwerlich greifbare „Rechtfer- kurs voraus, der von britischer Seite formuliert wurde tigungsnarrative“ (Fahrmeir 2013), die durch subtile und vielfältige Formen annehmen konnte. Subjektivierungsprozesse entstehen. Fazit: Kolonisation des Unbewusstseins Damit nähern wir uns zusammenfassend der unbe- wussten Reproduktion von Macht, wie als Weiterent- wicklung eines schon etablierten Ansatzes betont werden soll: 8
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Literaturverzeichnis Bose, S. (2006): A Hundred Horizons. The Indian Osterhammel, J. & Petersson, N. P. (2007 [2003]): Ocean in the Age of Global Empire. Cam- Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, bridge/London,. Prozesse, Epochen. München. Chatterji, J. & Washbrook. D. (2013): Introduction: Pearce, C. E. M. & Pearce, F. M. (2010): Oceanic Mi- Concepts and Questions. In: Chatterji, J. & Wash- gration. Paths, Sequence, Timing and Range of Pre- brook, D. (eds.): Routledge Handbook of the South historic Migration in the Pacific and Indian Oceans. Asian Diaspora. London/New York, 1-9. Heidelberg. Deleuze, G. & Guattari, F. (1977): Rhizom. Berlin. Pearson, M. N. (2003): The Indian Ocean. Lon- don/New York. Fahrmeir, A. (ed.) (2013): Rechtfertigungsnarrative. Zur Begründung normativer Ordnungen durch Er- Reinhard, W. (2016): Die Unterwerfung der Welt. zählungen. Frankfurt a.M. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415- 2015. München. Foucault, M (1981): Archäologie des Wissens. Suhr- kamp. Frankfurt a.M. Reuber, P. (2012): Politische Geographie. Paderborn. Foucault, M. (2004a): Naissance de la biopolitique. Schulze, F. (2016): ANT und Globalgeschichte: Ein Cours au Collège de France (1978-1979). Paris. erster Eindruck. In: Gerstenberger, D. & Glasman, J. (eds.): Techniken der Globalisierung. Globalgeschich- Foucault, M. (2004b): Sécurité, Territoire, Popula- te meets Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, 281- tion. Cours au Collège de France (1977-1978). Paris. 290. Gupta, M. (2010): Indian Ocean Region. Maritime Schwegmann, R. (2016): (Post)Koloniale Politikpro- Regimes for Regional Cooperation. New York. duktion. Historische Geographien der Macht in süd- Jackson, A. (2011): Britain in the Indian Ocean Re- asiatischen Migrationsgeschichten. In: Schlitz, N. & gion. In: Journal of the Indian Ocean Region 7(2): Poerting, J. (eds.): Aktuelle Forschungsbeiträge zu 145-160. Südasien: 6. Jahrestagung des AK Südasien, 22./23. Januar 2016, Osnabrück. Heidelberg/Berlin, 37-39. Jiddawi, N. S. & Öhman, M. C. (2002): Marine Fisher- ies in Tanzania. In: Ambio 31(7-8): 518-527. Scott, J. C. (1998): Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Mann, M. (2012): Sahibs, Sklaven und Soldaten. Ge- Failed. New Haven/London. schichte des Menschenhandels rund um den Indi- schen Ozean. Darmstadt. Washbrook, D. (2013): The World of the Indian Ocean. In: Chatterji, J. & Washbrook, D. (eds.): Osterhammel, J. (2009a): Die Verwandlung der Welt: Routledge Handbook of the South Asian Diaspora. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München. London/New York, 13-22. Osterhammel, J. (2009b [1995]): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München. Kontakt Raphael Schwegmann (Dr.) Institut für Geographie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Heisenbergstraße 2, 48149 Münster raphael.schwegmann@uni-muenster.de 9
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien Pfade – Netzwerke – Identitäten indischer Migrant*innen in Deutschland Carsten Butsch Migration; Transnationalismus; Identität; Rimessen Einleitung tionspfade indischer Migrant*innen vorgestellt, dann die Netzwerke, die sie zwischen Indien und Deutsch- Die indisch-deutsche Migration hat in den letzten land geknüpft haben und schließlich wird die Spanne eineinhalb Dekaden an Umfang und Bedeutung ge- migrantischer Identitäten erörtert. Die Darstellung wonnen (Butsch 2015a, b; 2016a). Lebten am beruht auf Tiefeninterviews mit Migrant*innen und 31.12.2000 gerade einmal 35.183 indische Staats- Expert*innen (Vorsitzende indischer Vereine, Bot- bürger in Deutschland, waren es am 31.12.2015 schaftsmitarbeiter etc.) und einer Online-Umfrage bereits 86.324 (DeStatis 2005: 20, 2016a: 39). Der (Zwischenauswertung: 253 Teilnehmer*innen, Er- Mikrozensus 2014 schätzt, dass in Deutschland hebung nicht abgeschlossen). 100.000 (Daten von DeStatis auf Anfrage) Personen mit indischem Migrationshintergrund (vgl. DeStatis Pfade 2015) leben. Die indisch-deutsche Migration nach Eine Auffälligkeit hinsichtlich der Migration nach 1945 lässt sich vereinfachend in vier Phasen eintei- Deutschland ist, dass viele Migrant*innen beschrei- len (Butsch 2016 b): In den 1950er und den frühen ben, dass die Migration nach Deutschland letztend- 1960er Jahren kamen vor allem Studierende und lich das Produkt verschiedener Zufälle ist und oft- Hochqualifizierte nach Deutschland; in den späten mals vor allem durch weitläufige Kontakte („weak 1960er und den frühen 1970er dominierten jungen ties“ im Sinne Granovetters 1973) initiiert wurde. Frauen aus Kerala das Migrationsgeschehen, die Akzentuiert wird dieser Umstand in folgendem Aus- nach Deutschland kamen, um als Krankenschwes- schnitt aus einem Experteninterview zusammenge- tern zu arbeiten. Dieser Migrationsstrom wurde im fasst: Wesentlichen durch die katholische Kirche initiiert und ebbte ab, als sich die Personalsituation in den Interviewer: „In Ihrem Umfeld, gibt da viele, die sa- deutschen Krankenhäusern Mitte der 1970er Jahre gen Deutschland ist interessant wegen der guten entspannte. Ab Ende der 1970er Jahre wurde die Arbeitsumgebung? Oder haben Sie schon einmal Migration durch nordindische Migrant*innen ge- gehört „ich bin bewusst nach Deutschland gekom- prägt, die als Geflüchtete nach Deutschland kamen. men“?“ Befragter: „Nee, direkt kenn ich das so nicht. Grund für diese Migration der Konflikt um ein unab- Ich kenn‘ einige […] die gezielt eine Doktorarbeit hängiges Khalistan (vgl. Khan Banerji/Schmidt gemacht haben, die sind nach Deutschland gekom- 2015). Ab dem Jahr 2000 änderte sich das deutsch- men und haben dann später hier ‘nen Job bekom- indische Migrationsgeschehen abermals. Durch die men. Oder viele die versetzt worden sind, nach sog. Greencard-Initiative der Bundesregierung und Deutschland. Die das Ziel hatten nach Deutschland die Änderungen des Zuwanderungsgesetzes 2005 zu kommen, das sind wenig.“ und 2008 wurde Deutschland für hochqualifizierte In der online Befragung nannten Personen, die selbst Migrant*innen aus dem IT-Sektor zum Zielland. Zu- nach Deutschland migriert sind, die Aufnahme eines dem führt die Internationalisierung deutscher Hoch- Studiums in Deutschland als primären Migrations- schulen dazu, dass die Zahl indischer Studierender grund (59%), 29% gaben an, aufgrund ihres Berufs rasch steigt: nahmen im Wintersemester 2000/01 nach Deutschland migriert zu sein, 10% nannten 539 indische Studierende ein Studium in Deutsch- familiäre Gründe. Befragte der zweiten Generation land auf (BAMF 2015: 202), waren es im Winterse- nannten als Gründe der Migration ihrer Eltern den mester 2015/16 bereits 3.739 (DeStatis 2016b: 57). Beruf als wichtigsten Grund (52%), 34% nannten die Vor diesem Hintergrund wird in dem DFG- Aufnahme eines Studiums als Hauptgrund und 8% geförderten Projekt „Transnationales Handeln indi- nannten familiäre Gründe. Fünf Prozent nannten scher Migranten“ untersucht, welche Verbindungen politische Verfolgung als Grund für die Migration zwischen Deutschland und Indien durch die Mig- nach Deutschland. rant*innen geschaffen werden. Die transnationale Bei der Analyse der Tiefeninterviews ließen sich drei Perspektive stellt die Verbindungen, die Mig- Hauptkategorien von Migrationspfaden nach rant*innen in einer globalisierten Welt schaffen, in Deutschland identifizieren, nämlich Migration in das Zentrum des Erkenntnisinteresses. Hierzu gehö- institutionellen Kontexten, abhängige Migration und ren soziale, sozio-kulturelle, politische, finanzielle individuelle Migration. Zu der erstgenannten Kate- und religiöse Verbindungen (Glick Schiller et al. gorie gehören Personen, die nach Deutschland mig- 1992; Vertovec 2009). In diesem Beitrag werden riert sind, weil sie von einem Unternehmen, einer Ergebnisse der ersten drei Projektphasen vorge- religiösen Institution oder einer wissenschaftlichen stellt. Zunächst werden die unterschiedlichen Migra- Einrichtung nach Deutschland entsendet wurden. Sie 10
Geographien Südasiens 8 Extended Abstracts der 7. Jahrestagung des AK Südasien haben ihre Netzwerke nicht selbst aufgebaut und Die Gruppe derjenigen, die als abhängige Familien- ihre Migration findet unter vorher definierten Rah- angehörige migriert, besteht aus Ehepartnern und menbedingungen statt. Personen, die innerhalb Kindern. Im indischen Kontext sind zum Teil auch transnationaler Unternehmen migrierten nannten in arrangierte Ehen relevant. Gesprächspartner berich- den Tiefeninterviews unterschiedliche Gründe: 1) teten vielfach über Probleme dieser Gruppe, die vor die Hoffnung auf einen Karriereschub, 2) das Streben allem mit der Integration in den Arbeitsmarkt zu- nach Auslandserfahrung und 3) Abenteuerlust. Ein sammenhängen, hauptsächlich das Erhalten einer Gesprächspartner, der inzwischen seit zwölf Jahren Arbeitserlaubnis und die Anerkennung indischer in Deutschland lebt, berichtete: Qualifikationen werden als schwierig be-schrieben. „I was in Bangalore, well settled, had an apartment, Bei denjenigen, die individuell nach Deutschland two cars... my wife had a good work, her own liking. I migriert sind, ist Bildung ein wichtiges Motiv, wobei was liking my work I was doing. […] neben den Kostenvorteilen auch die hohen Frei- I was new in IT industry and at that level the promo- heitsgrade als wichtiger Grund genannt wurden. tion would have been easy, if I had spent with an IT Oftmals sind es dabei aber externe Gründe, die zur project abroad. […] So when the opportunity came, I letztendlichen Migration nach Deutschland führen, thought it is a good opportunity to spend one, one z.B. das Erhalten eines Stipendiums. Viele der indivi- and half a year abroad and then come back. So there duell nach Deutschland migrierten nannten den was never a plan ‘work abroad or go abroad. ‘ It was Wunsch Auslandserfahrung zu sammeln als haupt- not a migration, which was planned. It was more… it sächlichen Migrationsgrund. Der explizite Wunsch happened.“ Deutschland kennenzulernen wurde nur selten ge- nannt, weitere Gründe sind Flucht und Liebesbezie- Für diejenigen, die als Wissenschaftler tätig sind, hungen zu deutschen Partnern. stellt die Vernetzung innerhalb der wissenschaftli- chen Community einen Migrationsanreiz, dar, der Netzwerke gleichzeitig die Migration erleichtert. So berichteten Große Unterschiede wurden hinsichtlich der trans- mehrere Probanden, dass sie nach Deutschland ge- nationalen Netzwerke sichtbar. Sie unterscheiden kommen sind, um hier mit Experten in bestimmten sich je nachdem, aus welchem Grund die Migration Bereichen zu kooperieren. Oftmals wurden die not- erfolgte, nach der Herkunftsregion in Indien und wendigen Kontakte durch erfahrene, gut vernetzte Faktoren wie Aufenthaltsdauer und Rückkehrab- Kollegen, etwa die Betreuer der Promotion, vermit- sicht. Insbesondere Personen, die noch nicht lange in telt. Deutschland sind und beabsichtigen nach Deutsch- Eine wichtige Rolle für die deutsch-indische Migrati- land zurückzukehren unterhalten oft enge soziale onsgeschichte spielt die katholische Kirche. Wäh- Netzwerke nach Indien. Eine Gesprächspartnerin, rend sie in den 1960er und 1970er Jahren die Migra- die wegen des Berufs ihres Mannes nach Deutsch- tion der keralesischen Krankenschwestern initiierte, land kam und hofft, bald zurückkehren zu können, ist sie heute für die Migration einer zunehmenden beantwortet die Frage, nach dem Schwerpunkt ihrer Zahl von Priestern verantwortlich. Eine Studie der sozialen Beziehungen ambivalent: Universität Münster nennt eine Zahl von 380 indi- „I would say it is mainly in India, I would say so. But I schen Priestern in Deutschland im Erhebungszeit- would like to highlight one point. It is the friends that raum (2007 bis 2010 eigene Berechnung nach Anga- I have made here, I think I share a much deeper con- ben von Gabriel/Leibold/Achtermann 2011). In dem nect with them, because we have become friends, Projekt THIMID wurde hierzu ein Experte und ein because we are caught in a similar sort of circum- Priester befragt, die übereinstimmend von ca. 600 stances. […] I found that when I speak with people indischen Priestern in Deutschland sprachen (im here, I am actually talking to them. They are actually Jahr 2015 bzw. 2016). Knapp ein Viertel dieser there.” Priester (ca. 130) stellen die Carmelites of Marry Immaculate. Ein Priester dieses Ordens sagte im Für viele Gesprächspartner ist die Einbeziehung in Interview, dass für ihn bei der Entscheidung nach familiäre Netzwerke relevant. Oftmals fühlen sich die Deutschland zu migrieren verschiedene Gründe eine Migrant*innen weiterhin einem Haushalt in Indien Rolle gespielt haben. Hauptgrund war die Möglich- zugehörig. Insbesondere Männer beschrieben, dass keit in Deutschland Geld für Projekte des Ordens in es für sie wichtig ist, der traditionellen Rolle inner- Indien generieren zu können (Rimessen). Er sprach halb der Familie gerecht zu werden, wenn sie als aber auch von „Abenteuerlust“, die ihn dazu bewo- Erstgeborene für die Versorgung der Eltern verant- gen habe noch Deutschland zu kommen, um Neues wortlich sind. Im zeitlichen Verlauf erweisen sich die kennenzulernen. Die Generierung von Rimessen ist familiären Netzwerke als die stabilsten. Allerdings auch das wesentliche Motiv der jungen Frauen ge- wandelt sich der Charakter der sozialen Netzwerke wesen, die nach Deutschland kamen, um als Kran- mit der Dauer des Aufenthaltes. Insbesondere der kenschwestern zu arbeiten. Dieses Motiv ist für die Eintritt in eine neue Phase des Lebenszyklus führt Migration im institutionellen Kontext Kirche daher dazu, dass sich der Charakter der sozialen Netzwer- insgesamt von zentraler Bedeutung. ke verändert, z.B. die eigene Elternschaft, der Tod der Eltern oder Eintritt in das Rentenalter. Mit zu- 11
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