Ab in den Sommer! - bunkverlag

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Ab in den Sommer! - bunkverlag
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 1

     www.kulturnews.de                                                                           Sonderausgabe
                                                                                                       8/2021

                                                                                          Martin
                                                                                         Tingvall
                                                                                          Unfassbar
                                                                                           schön

                               Ab in den Sommer!
      Buch                              Discosoul                          Kunst          Kino

                                                                           ROSA
                                                                           BARBA
                       QUENTIN          JUNGLE                             Neue           FABIAN
                     TARANTINO          Kopf aus,                          Räume          Der-3-h-Film
               Hollywood reloaded       Arsch ein                          öffnen         nach Kästner
Ab in den Sommer! - bunkverlag
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               O FF
                  FL I N E –
                           U N D D I E W E LT
                       S T Ü R Z T I N S C H AO S .

                                                                                                      © P a o l o C a r n a s s a l e / A d o b e St o c k
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                                                                                                                                                                                      Der Hochsommer …
                                                                                                                                                                                      … geht in seine starke Phase. Deswegen sagt kulturnews: „Ab in den
                                                                                                                                                                                      Sommer!“ Auch im August ist die Sonderausgabe wieder voll mit
                                                                                                                                                                                      Kulturtipps aus dem ganzen Land.

                                                                                                                                                                                      Wir zeigen, welche Theater Open-Air-Vorstellungen geben, wo der
                                                                                                                                                                                      Kultursommer fortgesetzt wird; wir schauen bei der Ruhrtriennale rein,
                                                                                                                                                                                      beim „Tanz im August“ in Berlin vorbei und machen Halt beim
                                                                                                                                                                                      Kunstfest Weimar. Jazzmusiker Martin Tingvall kommt mit neuem
                                                                                                                                                                                      Album ab September auf Tour. Wir haben mit ihm über die Kraft der
                                                                                                                                                                                      Natur gesprochen, die seine Musik schon immer geprägt hat.
                                                                                                                                                                                      Künstlerin Rosa Barba stellt in der Neuen Nationalgalerie in Berlin aus.
                                                                                                                                                                                      Wir sprachen mit ihr darüber, wie Film neue Räume öffnet – und ja:
                                                                                                                                                                                      Auch die Kinos zeigen wieder Filme!

                                                                                                                                                                                      Ob drinnen oder draußen, ob Musik, Kunst, Tanz oder Theater:
                                                                                                                                                                                      Die Kultur lebt. Lassen wir Vorsicht walten und genießen die Kultur
                                                                                                                                                                                      im Sommer!

                                                                                                                                                                              4
                                                                                                                                                                              Musik                                                    10                  Jazz

                                                                                                                                                                                              16                          Literatur

                                                                                                                                                                                  20 Film                                                           19           Krimi
                                                               Anna Victoria Best (Jungle), Sara Masüger: Rosa Barba. In a Perpetual Now Rosa Barba, Portrait (Rosa Barba),
                                                               Titelfotos: Sven Sindt (Martin Tingvall), Art Streiber / AUGUST (Quentin Tarantino),

                                                                                                                                                                                                   26                         Urbane Kultur
                                                               Lupa Film/Hanno Lenz („Fabian“)
© P a o l o C a r n a s s a l e / A d o b e St o c k

                                                                                                                                                                                  kulturnews.de                                     kulturmovies.de
                                                                                                                                                                                   Kultur bleibt sichtbar                             Das Kinoprogramm
                                                                                                                                                                                                                                                                         kulturnews | 3
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      Musik | Jungle

            Auf in die
                    Disco!

            Hinter Jungle stecken Tom McFarland und Josh Lloyd-Watson.
            Aber lieber wäre es ihnen, wir würden ihre Namen gar nicht kennen.

                                                                                                                                                                 Foto: Filmawi
      Tom, euer neues Album „Loving in Stereo“ ist wie maßgeschneidert für ich wollten immer hinter den Kulissen arbeiten. Schon als Kinder haben
      die Tanzfläche.                                                             wir nicht davon geträumt, Popstars zu werden, sondern einfach davon,
      Tom McFarland: Wir wollten so viel Energie, so viel Positivität wie mög- gemeinsam Musik zu machen. Auf dem zweiten Album haben wir ver-
      lich auf das Album packen. Es sollte nicht reflektiert oder nachdenklich sucht, persönlicher zu sein. Aber auf der Bühne haben wir dann gemerkt,
      oder zu emotional klingen – es geht nur ums Feiern. Seit zehn Jahren dass wir uns damit vor allem in den eigenen Arsch kriechen. (lacht)
      bringen wir Alben heraus, und jeden Tag werden wir besser. Zum ersten Unsere Fans wollen tanzen und nicht drei Songs hintereinander, in denen
      Mal hatten wir genug Vertrauen in unsere Fähigkeiten, um wirklich unsere es um unsere gebrochenen Herzen geht. Es geht nicht um uns. Jungle
      Vision umzusetzen.                                                          ist das Schiff, wir steuern es nur.
      Woher nehmt ihr diese Energie nach den letzten anderthalb Jahren?           Trotz verschiedener Genres dominiert Disco auf dem Album. Liegt das
      McFarland: Na ja, das Album ist 2018 und 2019 entstanden, vor der daran, dass wir bis heute kein bessere Tanzmusik erfunden haben?
      Pandemie. Josh und ich waren beide gerade umgezogen, hatten ein McFarland: Disco ist auf jeden Fall schon immer eines unserer Lieblings-
      Studio im Osten von London gebaut. Alles war sehr                                                genres. Du kannst in jeder denkbaren Situation einen
      aufregend und neu. Für unser zweites Album haben                                                 Discosong anmachen, und die Leute haben Spaß.
      wir uns Zeit gelassen, uns sehr auf uns selbst konzen-                                           Es hat einfach die perfekte Stimmung. Es gibt keine
      triert und unsere Emotionen zum Fokus gemacht.                                                   traurigen Discotracks!
      Dieses Mal sollte es genau umgekehrt sein: Jungle als                                            Auch in all euren Musikvideos wird leidenschaftlich ge-
      Logo oder als Marke ist wichtiger als die Gefühle von                                            tanzt. Warum seid ihr selbst lieber Musiker geworden?
      Josh und mir. Von Anfang an wollten wir unsere Egos                                              McFarland: Tatsächlich ist meine Mutter Tanzlehrerin,
      aus der Sache raushalten. Jetzt, glaube ich, ist es uns                                          und Tanzen war ein riesiger Teil meiner Kindheit. Aber
      zum ersten Mal gelungen.                                                                         als ich elf Jahre alt war, haben die Hormone dafür
      Viele Künstler:innen haben wenig Interesse daran,                                                gesorgt, dass ich sehr viel an Gewicht zugelegt habe –
      ihr Ego aus ihrer Musik rauszuhalten.                                                            das war das Ende meiner Ballettkarriere. (lacht)
      McFarland: Bei Jungle geht es darum, dem Alltag zu                Loving in Stereo
      entkommen. Das gilt auch für uns selbst. Josh und             erscheint am 13. August                                         Interview: Matthias Jordan

      4 | kulturnews
Ab in den Sommer! - bunkverlag
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 5

                                                                                    Szene | Musik
                                                                                                                 DAS NEUE
                                                                                                                  ALBUM
        Foto: Century Media Records

                                      Jammern auf hohem Niveau
                                      Wer Wolves In The Throne Room kennt, weil sie ab und an im Feuilleton
                                      landen, sie aber nie gehört hat – hier ist die Kurzfassung: Die Band
                                      aus Washington ist zu Recht heißgeliebt, weil sie in den Nuller- und
                                      frühen Zehnerjahren mal die ganze Instrumentalpalette des Black Metal
                                      sehr prominent und sehr gut erweitert hat – etwa um atmosphärische
                                      Synthesizerpassagen oder Harfen. Ebenjene Fans monieren jetzt immer
                                      ein bisschen – zu Recht –, dass sie sich seither leider wenig weiter-
                                      entwickelt haben. Und wenn, wie auf dem sehr viel elektronischeren
                                      „Celestite“, dann nicht zum Guten. Ein Kritikpunkt, der leider auch auf
                                      ihr neuestes Album „Primordial Arcana“ zutrifft. Es ist das Album, bei
                                      dem die Band bislang die meiste kreative Kontrolle innehatte – vom
                                      Songwriting bis hin zu Aufnahme und Mixen im bandeigenen Studio.
                                      Leider hat sie diese Bedingungen nicht genutzt. Wolves In The Throne
                                      Room bewegen sich mit „Primordial Arcana“ auf einem denkbar
                                      hohen Niveau – aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass             Ab 13.08.2021
                                      sich in den letzten zehn Jahren einfach nicht sehr viel getan hat. jl
                                                                                                                 überall erhältlich
                                                                                             TECHNIK-TIPP

                                                                       Technik trifft Textil
                                                                           Ein Rucksack, der nicht nur den
                                                                           Rücken, sondern auch die Natur
                                                                             schont, und ein Kopfhörer, der         T    O    U   R    2   0    2    2
                                                                          Maßstäbe setzt. Mit dem deuter x               7.2. FRANKFURT
                                                                         teufel UP Rucksack Berlin kommt                   8.2. HAMBURG
                                                                                zusammen, was zusammen-                      9.2. BREMEN
                                                                                            gehört: Style und            1 0 . 2 . H A N N OV E R
                                                                                        Komfort, Nachhaltig-                   1 2 . 2 . KÖ L N
                                                                                                                            13.2. BOCHUM
                                                                                       keit und Klimaschutz.            14.2. STUTTGART
                                                                                        Nachdem die beiden                15.2. MÜNCHEN
                                                                                       Firmen bereits im ver-                17.2. LEIPZIG
                                                                                     gangenen Jahr gemein-                  18.2. ERFURT
                                                                                  sam eine Kopfhörertasche                 19.2. ROSTOCK
                                                                                entwickelt haben, gehen die             2 0 . 2 . M AG D E B U R G
                                                                                                                          22.2. COTTBUS
                                                                              Unternehmen nun den nächs-
                                                                                                                             23.2. BERLIN
                                                                             ten logischen Schritt. Inspiriert
                                                                              vom SUPREME ON-Kopfhörer
                                                                                                                 TICKET BEI EVENTIM UND ALLEN
                                                                                  ist nun ein aus recycelten
                                                                                                                    B E K A N N T E N V V K- S T E L L E N
                                                                                  PET-Flaschen hergestellter
        Foto: deuter x Teufel

                                                                             Rucksack – entweder alleine –
                                                                                        oder im Set mit dem
                                                                                   SUPREME ON erhältlich.

                                                                                                kulturnews | 5
Ab in den Sommer! - bunkverlag
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      Musik | Los Lobos

         Stadtstreicher

                                                                                                                                                                 Foto: Piero F. Giunti
          Jeder kennt den Überhit der Kalifornier. Doch Los Lobos haben noch so viel mehr zu bieten.

     ›      Louie Pérez, zusammen mit David Hidalgo singender und Gitarre
            spielender Co-Frontmann von Los Lobos, bringt die Dinge knackig
      auf den Punkt. „Außer den Native Americans hat niemand von uns seine
                                                                                   Springfields Klassiker „For what it’s worth“, den Stephen Stills 1966
                                                                                   unter dem Eindruck der damaligen Auseinandersetzungen zwischen jun-
                                                                                   gen Feiernden und der Polizei auf den Sunset Strip in Hollywood
      Wurzeln auf diesem Kontinent. Wir Amerikaner stammen von überall her,        geschrieben hat. „Buffalo Springfield bedeutet uns so viel, dass wir auch
      und doch eint uns, dass wir uns als Amerikaner definieren.“ Pérez und        gleich noch den Song ,Bluebird‘ von ihnen mitaufgenommen haben“,
      Hidalgo sind, wie auch zwei ihrer drei Bandkollegen, mexikanischer           schwärmt Pérez.
      Abstammung. „Die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass wir alle
      zusammengehören, sie sogar aktiv zu missachten und Keile zwischen uns       „Native Sons“ ist ein Konzeptalbum. Alle Songs bis auf das selbst-
      zu treiben, so wie es unsere vormalige Regierung versucht hat, ist grund-   geschriebene Titelstück sind Coverversionen von Liedern anderer L.A.-
      falsch und geradezu obszön. Wenn du uns alle in unsere Ursprungs-           Bands und Musiker. Alle eint, dass sie den Sound von Los Lobos, diesen
      länder zurückschicken würdest, wäre hier fast niemand mehr übrig.“          furiosen und hochversierten Mix aus Rock’n’Roll und R&B, Surfmusik und
                                                                                  Soul, Mariachi und Música Norteña, Punkrock, Jazz und Country, maß-
      Los Lobos sind nicht per se eine politische Band. Die vor fast 50 Jahren geblich mitgeprägt haben. Ob es um den narrativ-zurückgelehnten Folk
      von den Schulfreunden Hidalgo und Pérez in East Los Angeles gegründete eines Jackson Browne („Jamaica say you will“), den dampfenden Funk
      Band war zunächst auf Partys und Hochzeiten aktiv                                              von WAR („The World is a Ghetto“) oder den Blues-
      und ist seit dem weltweiten Nummer-eins-Hit mit                                                Rockabilly der Blasters („Flat top Joint“) handelt,
      ihrer Version von Richie Valens’ „La Bamba“ aus dem                                            deren Saxophonist Steve Berlin heute bei Los Lobos
      gleichnamigem Biopic auch bei uns wohlbekannt.                                                 spielt – das Quintett verpasst den oft partynahen,
      Doch Herkunft, Werdegang, Musik und das aus-                                                   zünftigen Neuinterpretationen durchweg die unver-
      gedehnte Herumkommen in der ganzen Welt macht                                                  wechselbare Los-Lobos-DNA. „Dieses Album ist unser
      die fünf Männer, die zwischen 65 und 70 Jahre alt                                              Liebesbrief an die Stadt, die uns geprägt hat, und an die
      sind, zu leidenschaftlichen Streitern für die Multikultur.                                     Musiker, ohne die wir heute so nicht hier wären“, re-
      „Im Mittelpunkt unseres gesamten Schaffens steht es,                                           sümiert Pérez. „Selbst, wenn es morgen mit uns vorbei
      die Menschen einander näher zu bringen statt sie zu                                            wäre, werden wir immer mit einem breiten Lächeln auf
      entzweien.“ Auch auf dem neuen, mittlerweile 17.                                               unser Vermächtnis und auf das wertvolle Erbe derer, die
      Album „Native Sons“ trifft die Band den gesellschafts-               Native Sons               vor uns kamen, zurückblicken können.“
      politischen Ton mit ihrer Neuaufnahme von Buffalo               ist gerade erschienen                                                      Steffen Rüth

      6 | kulturnews
Ab in den Sommer! - bunkverlag
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                                                                                                                                                                   Jade Bird | Musik

          Besser ungewiss
          Mit ihrem zweiten Album etabliert sich Jade Bird
          als die nächste große Songwriterhoffnung.

         ›      Auf ihrem ersten Album – selbstbetitelt, naturally – war Jade Bird
                noch dabei, sich selbst zu finden. Schon da haben sich ihre Songs

                                                                                                                                                                                                         Foto: Colin Lane
          vor allem um Beziehungen gedreht – und um den Versuch, sich in ihnen
          zu verorten. Direkt im Opener „Ruins“ gestand sie ihrem Gegenüber „And
          I mean it when I say/I don’t know who I am“. Was im Angesicht dieser
          Ungewissheit so bewundernswert an ihrer Musik war: die Gewissheit,
          mit der sie ihre Gefühle preisgegeben hat, so ambivalent sie auch waren.                          heiten zu erkennen. Das befähigt Jade Bird zu Großtaten wie „Now is the
          Auf ihrem Zweitling, „Different Kinds of Light“, ist es nun der Schluss-                          Time“ in dem sie gleichzeitig sich selbst und ihren Partner aus einer
          track „Prototype“, der den Schlüssel zu den vorangegangenen 13 Tracks                             depressiven Starre zu wecken versucht. Oder „Houdini“, in dem sie die
          bietet. Erneut beeindruckt die gerade mal 23-jährigen Britin mit ihrem                            Muster entlarvt, in die zwei Verliebte verfallen, wenn es um Konfron-
          Mut und ihrem punktgenauen Songwriting: „Things got better the                                    tationen geht: „It’s a quarter to three, and it’s clear, clear to me that you’re
          moment I failed/when I wasn’t looking, it                                                         leavin’/usually we don’t come, come to blows ’til the evenin’“. Doch sind
          all stood still/I know with these things                                                          nicht nur die Texte auf ihrem zweiten Album treffsicherer, auch der von
          you can’t always tell/but I love you, and                                                         Country und Folk durchsetzte Indierock klingt runder und zeitgemäßer:
          I think I always will“ singt sie, und ihre                                                        Ihr Sound glänzt da, wo die Übergänge verfließen. Zwischen überlebens-
          Akustikgitarre jubiliert mit einer ebenso                                                         großem Powerpop („Open up the Heavens“), 90er-Alternative („1994“)
          einfachen wie unwiderstehlichen Mund-                                                             und federndem Folkrock (das bereits erwähnte Highlight der Platte „Now
          harmonikamelodie um die Wette. Müsste                                                             is the Time“) beweist Jade Bird, dass ihr alle Türen offen stehen.
          der Erfolg von „Different Kinds of Light“
          auf nur ein Element reduziert werden,                                                                                                                                            Jonah Lara
          wäre es wohl dieser – dass sie gelernt                                                            Different Kinds of Light
          hat, Gewissheiten in den Ungewiss-                                                                erscheint am 13. August

                                                                                                                                                                                        kulturnews | 7

          A FINE SELECTION                                                                                                                          www.shop.skiprecords.com

                                                                                                                                                    LIVE 2021
         MARTIN TINGVALL                                                                                                                            01.09.   Bernau - Siebenklang Festival
         WHEN LIGHT RETURNS                                                                                                                         02.09.
                                                                                                                                                    04.09.
                                                                                                                                                             Reinstorf - One World
                                                                                                                                                             Plön - Kulturforum Schloss Plön
                                                                                                                                                    09.11.   Essen – Kirche
         MARTIN TINGVALL, DER SICH IN GENRES                                                                                                        10.11.   Essen – Bürgermeistersaal
         WIE FILMMUSIK, KLASSIK, JAZZ ODER POP                                                                                                      12.11.   Essen – Mariengymnasium
         GLEICHERMAßEN BEWEGT, SPIELT AUF                                                                                                           14.11.   Reinbek – Schloß - Theater
         DIESEM ALBUM SCHEINBAR EINFACH                                                                                                             16.11.   Köln – Altes Pfandhaus
                                                                                                                                                    10.12.   Herford – Kirche
         KLINGENDE, ERGREIFEND SCHÖNE MELODIEN,
         DIE MAL ASSOZIATIONEN VON KLASSIK
         HERBEIZAUBERN, MAL SEINE WURZELN IN                                                                                                        LIVE 2022
         DER SCHWEDISCHEN VOLKSMUSIK SPIEGELN                                                                                                       05.02.   Westhofen – Gut Leben am Morstein
         UND IM NÄCHSTEN MOMENT DER                                                                                                                 07.02.   Neumünster – Stadthalle
         IMPROVISATIONSFREIHEIT DES JAZZ                                                                                                            12.03.   Illingen – Illipse
         NAHESTEHEN.                                                                                                                                15.04.   Stuttgart – Theaterhaus
                                                                                                                                                    30.04.   Kühlungsborn – Kunsthalle
            „Martin Tingvall von seiner schönsten Seite… es gelingt
          ihm erneut, dem Hörer etwas Seelenfrieden zu schenken.“
                                                  Jazzthetik 7/8 2021

                                                                  Die in 2020 und 2021 geplanten Hamburg-Konzerte von SKIP finden nun 2022 statt:
                                                    EMIL BRANDQVIST TRIO 7.4. Hamburg – Laeiszhalle/Kl. Saal | TINGVALL TRIO 8.6. Hamburg – Laeiszhalle/Gr. Saal
Ab in den Sommer! - bunkverlag
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      Musik | Knappe

      Top of
      the
      Pops
      Nicht nur seinem
      Körper verlangt
      Alexander Knappe
      einiges ab. Auch an

                                                                                                                    Foto: Marcel Brell
      seine Musik hat er
      hohe Ansprüche.

      Alexander, vielleicht erst mal etwas Grundlegendes: Wie hast du als ich aufbrechen. Deshalb habe ich zum Beispiel extra ein Songwriting-
      Musiker die vergangenen anderthalb Jahre erlebt?                          Camp gemacht, wo ich fünf Tage lang mit richtig guten Songwritern an
      Alexander Knappe: Ich habe gelernt, mit Krisen umzugehen, indem ich meinen Texten gearbeitet habe.
      einen Gang nach vorne schalte. Ich habe im ersten Lockdown ein fünf- Hat es einer der Songs aus diesem Camp auf das Album geschafft?
      wöchiges Autokino-Festival in meiner Heimatstadt Cottbus auf die Beine Knappe: Ja, „Mama“. Einige Textzeilen davon lagen schon seit sechs
      gestellt. Parallel habe ich versucht, an meinem neuen Album zu arbeiten Jahren rum, aber ich habe mich nicht getraut, den Song zu schreiben.
      und den Lockdown zu überleben.                                            Ich habe kein gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Mit dem Song will ich
      Wie hast du das angestellt?                                               ihr die Hand reichen.
      Knappe: Ich habe trainingsmäßig nochmal ein Level nach oben gesetzt. Wie gehst du damit um, etwas so Persönliches in einem klassischen
      Vor drei Wochen war ich in Griechenland und habe da weiter an den Popsong zu verpacken, der auf die Charts zielt?
      neuen Songs geschrieben. In der Zeit bin ich jeden Tag einen Riesenberg Knappe: Ich weiß, dass es auch Gefahren birgt, Musik so zu machen wie
      hochgelaufen. Vor einer Woche dann, beim Fußballtraining, hat sich das ich. Das wird schnell zu emotional oder zu kitschig. Mir ist das aber nicht
      bemerkbar gemacht: Ich bin weggeknickt und auf die Schulter gefallen – peinlich, damit auf die Bühne zu gehen. Das ist wichtig: Wenn die Leute
      die ist jetzt auch im Arsch. Aber ich ziehe das noch durch, bis mein merken würden, dass ich das nicht ernst meine, dann würde mir das um
      Album rauskommt. Vier Konzerte habe ich noch, und                                            die Ohren fliegen.
      dann werde ich in sechs Wochen operiert.                                                     Ist das für dich die Stärke der Popmusik: etwas
      Ein ganz schönes Programm. Brauchst du die                                                   Persönliches zugänglich zu machen?
      Beschäftigung als Ausgleich?                                                                 Knappe: Ich liebe Popmusik, und ich liebe Songs, die
      Knappe: Absolut. Ich komme oft an den Punkt, wo                                              jeder verstehen kann. Ich versuche immer, möglichst
      ich die Musik satt habe. Die Momente dürfen auch                                             viele Menschen mit meiner Musik zu erreichen, und
      mal da sein – aber nicht zu oft. Wenn ich den ganzen                                         bin immer auf der Suche nach dem Song, den die
      Tag nur Musik mache und nichts anderes, dann wird                                            ganze Nation hört. Den Anspruch hab ich für mich.
      das Endergebnis nicht gut.                                                                   Ich bin nicht Bob Dylan, das werde ich nie sein – und
      Was uns zu deinem neuen Album bringt: Du                                                     das will ich auch nicht. Wenn ich einen Song schrei-
      wolltest einen Neuanfang wagen. Wie hat das aus-                                             be, dann will ich schon, dass alle den geil finden.
      gesehen?
      Knappe: Ich habe bisher alle meine Projekte mit mei-                 Knappe                                                 Interview: Jonah Lara
      nem „Entdecker“ Kai Oliver Krug gemacht. Das wollte          erscheint am 13. August

      8 | kulturnews
Ab in den Sommer! - bunkverlag
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 9

                                                                           Szene | Musik
                                                                                                                               STADTPARK
                                                                                                                               OPEN AIR                                                        MIT
                                                                                                                                                                                            ABSTAND
                                                                                                                                                                                         HAMBURGS
                                  In die Zukunft
                            Jackson Browne weiß, dass sich
                                                                                                                               2021
                                                                                                                                 DIGGING FOR NUTS
                                                                                                                                                                                          SCHÖNSTE
                                                                                                                                                                                              BÜHNE!
                            zwangsläufig die Frage stellt,                                                                       SINCE 1975
                            warum er noch Musik macht.
                            Deshalb beantwortet der legen-
                            däre US-Songwriter die Frage

                                                                                                        Foto: Dylan Coulter
                            gleich auf dem ersten Song seines
                            neuen Albums „Downhill from
                            everywhere“: „I’m still looking for
                            something“. So glatt diese zehn
                            Songs auch sind (sehr), Browne                                                                            04.08. ALICE MERTON
                            ist nichtsdestotrotz getrieben – von der Klimakrise und der Frage, wie

                                                                                                                                      05.08. CAMPINO
                            eine gerechte Zukunft aussehen könnte. Und trotz seines jahrzehnte-
                            langen Aktivismus vermeidet Brownes 15. Studioalbum weltfremden
                            Kitsch, indem er seine Songs fast ausschließlich aus der Perspektive                                             HOPE STREET. »Wie ich einmal englischer Meister wurde«
                            Betroffener singt. Sich selbst fragt der Altmeister lediglich: „What does
                            that future need from me?“ jl
                                                                                                                                      06.08. ELEMENT OF CRIME

                                                                    Aus der                                                           07.08. FURY IN THE
                                                                                                                                             SLAUGHTERHOUSE
                                                                    Vergangenheit
                                                                                                                                      11.08. WiebuschBosseUhlmann
                                                                Man könnte Durand Jones & The
                                                                Indications vorwerfen, dass sie
                                                                                                                                      12.08. KURT KRÖMER
        Foto: Ebru Yildiz

                                                                aus der Zeit gefallen sind – nur
                                                                würde denen das wahrscheinlich
                                                                gar nichts ausmachen. Denn Soul,
                                                                Funk und Disco der vergangenen
                            Jahrzehnte sind die Leitsterne des Quintetts. Auch das neue Album
                                                                                                                                      13.08. PAUL VAN DYK
                            „Private Space“ klingt, als habe sich die Musik seit Stevie Wonders
                            Blütezeit nicht mehr weiterentwickelt. Kann man bemängeln – man                                                  REA GARVEY
                                                                                                                                      14.08. ›THE
                            würde sich damit aber nur selbst schaden. Denn der Sound der                                                          YELLOW JACKET SUMMER SESSIONS‹
                            Indications mag gestrig sein: An technischer Finesse und purem
                            Spielspaß kann die Band es locker mit ihren Vorbildern aufnehmen.
                            Nur Durand Jones selbst gerät oft in den Hintergrund, denn Kollege                                        19.08. BEST OF POETRY SLAM
                            Aaron Frazers Falsetto klingt nicht nur ansprechender als Jones’ eige-
                            ne Stimme, Frazer ist als Drummer auch hauptverantwortlich für den                                               LOTTO KING KARL
                                                                                                                                      21.08. &
                            unwiderstehlichen Groove. mj
                                                                                                                                               DIE 4 RICHTIGEN
                                                                                                                                      25.08. PHILIPP POISEL
                                     Trost im Jetzt
                            Wenn elf Jahre nach dem Debüt
                            mit „Change“ jetzt endlich das
                                                                                                                                      26.08. JOSÉ GONZÁLEZ
                            zweite Album von Anika er-
                            scheint, ist es gar keine so große
                            Überraschung, wie zeitgemäß ihr
                                                                                                                                      28.08. SOPHIE HUNGER
                            mit Elementen aus Postpunk,
                            TripHop und Dub spielender
                            Sound auch 2021 noch klingt.                                                                              01.09. GIANT ROOKS
                            Spektakulär aber, dass aus-

                                                                                                                                      03.+04.09. OLLI SCHULZ
                            gerechnet die in Berlin lebende
                            ehemalige Politikjournalistin den
                            überzeugendsten Mutmacher seit
                                                                                                        Foto: Sven Gutjahr

                            Alpha, Beta, Gamma, Delta vor-
                            legt: „But I beg to differ/I think we                                                                     05.09. DEINE FREUNDE
                            have it inside/I think we can
                            learn, I think we can change“. cs
                                                                                                                                        TICKETS: (0 40) 4 13 22 60 \ KJ.DE \ TICKETS@KJ.DE
                                                                                                                                   NEWS/INFOS VERLEGTE KONZERTE 20212022: STADTPARKOPENAIR.DE
                                                                                                                              VERANSTALTER          GEFÖRDERT VON                     MEDIENPARTNER
                                                                                       kulturnews | 9
Ab in den Sommer! - bunkverlag
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 10

      Musik | Jazz + Klassik

     Unfassbar
     schön

                                                             Das neue Album von Pianist
                                                               Martin Tingvall macht Hoffnung.
                                                               Er selbst zieht seine Kraft                                     LIVE 2021
                                                             aus der Natur.                                                   1. 9.    BERNAU
                                                                                                                              2. 9.    REINSTORF
                                                                                                                              4. 9.    PLÖN
                                                                                                                             9. 11.    ESSEN
                                                                                                                            10. 11.    ESSEN
                                                                                                                            12. 11.    ESSEN
                                                                                                                            14. 11.    REINBEK
                                                                                                                            16. 11.    KÖLN

                                                                                                                                                                Foto: Tine Acke
                                                                                                                            10. 12.    HERFORD

      Martin, du hast dein neues Album „When Light returns“ nach einem nicht tun; es war nur für mich, und deswegen, glaube ich, habe ich auch
      Naturphänomen benannt und bist während der Aufnahmen viel so entspannt gespielt.
      spazieren gegangen. Wie ist deine Beziehung zur Natur?                        Würdest du das Album als Jazz bezeichnen, als Klassik oder als etwas
      Martin Tingvall: Die Natur ist vielleicht meine größte Inspirationsquelle: ganz anderes?
      die Stille, die Weite und vor allem das Meer.                                 Tingvall: Es ist ein Martin-Tingvall-Album. Ich finde es schwierig, Musik
      Die Musik ist sehr minimalistisch und direkt.                                 in eine Schublade zu stecken. Ich glaube und hoffe, dass ich sehr unter-
      Tingvall: Ich war zur Zeit der Aufnahmen in Schweden und besonders schiedliche Hörer:innen mit diesem Album erreiche. Es ist viel Klassik
      viel in der Natur. Ich glaube, diese Ruhe ist auch in der Musik zu hören drin, genauer gesagt Neoklassik, aber auch skandinavischer Jazz und
      und zu spüren.                                                                Folklore und Blues …
      Du hast gesagt, in den neuen Stücken geht es vor                                                    Apropos Skandinavien: Welche Rolle hat die
      allem um Hoffnung. Was genau meinst du damit?                                                       Volksmusik gespielt?
      Tingvall: Ich habe das Album in einer Zeit kompo-                                                   Tingvall: Ich bin Schwede, und diese musikalischen
      niert und aufgenommen, in der die ganze Welt im                                                     Wurzeln werde ich nie verlieren. Ich bin aufgewach-
      Lockdown war, aber gleichzeitig gab es einen                                                        sen mit schwedischer Musik: Volksmusik, Pop-
      unfassbar schönen Frühling. Das hat mir Mut und                                                     musik, Rock und Jazz. Aber in allen diesen Genres
      Kraft und, ja, auch Hoffnung gegeben – dass es                                                      kann man fast immer den schwedischen bzw.
      weitergeht, trotz der Pandemie.                                                                     skandinavischen Ton raushören.
      Auf „When Light returns“ bist du einmal mehr                                                        An mehreren Stellen hört man nicht nur das
      ganz allein zu hören. Ist es einfacher, so Musik zu                                                 Klavier, sondern auch deine Stimme, wie du mit-
      machen als etwa mit deinem Trio, weil du keine                                                      summst …
      Kompromisse eingehen musst?                                                                         Tingvall: Das geschieht, wenn ich das Spielen
      Tingvall: Ich habe dieses Album sehr spontan auf-                                                   besonders genieße. Ich bin dann ganz tief in der
      genommen und geschrieben und habe es einfach                                                        Melodie und muss einfach mitsummen!
      genossen, neue Ideen auf einem tollen Instrument                  When Light returns
      zu probieren. Es gab keinen Druck, ich musste es                 ist gerade erschienen                                       Interview: Matthias Jordan

      10 | kulturnews
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 22.07.21 11:24 Seite 11

                                                                     Jazz + Klassik | Musik

                                Siril Malmedal Hauge
                                                             Slowly Slowly
                                                      Jazzland Recordings

         JAZZPOP Gleich mal eine klare Ansage im Opener
         „Sense of Lilac“: Die betörende Stimme Siril Malmedal           Hi-Res Musikstreaming
         Hauges gegen das kompromisslose Jazzbrett ihrer Band.              und -Downloads
                                                                         Hörtipp des Monats
         Will so viel sagen wie: Das ist jetzt hier nicht das x-te
         nette Popjazzding aus dem hohen Norden, sondern eine
         richtig erwachsene und ambitionierte Bandproduktion mit hohem Anspruch an Songlyrik und
         instrumentaler Umsetzung. Haben wir verstanden. Na ja, und dann kann sich die Norwegerin in
         der Folge auch mal wieder in die balladeske Kuschelecke zurücklehnen, ohne dabei im Trond-
         heimer Allerlei zu verrecken. Bei all dem bleibt viel Raum für Martin Myhre Olsens verhallte
         Saxofonelegien und die songdienliche Rhythmusarbeit von Bassist Martin Morland und Schlag-
         zeuger Henrik Lødøen. Zwischendurch gefällt sich das Album in psychedelischen Eskapaden, die
         sicherlich nicht zwingend sind – aber konsequent, denn „Slowly Slowly“ ist auch und insbesondere
         in diesen Momenten dankenswerter Weise kein Hörerlebnis aus der Kategorie Easy Listening. ron

                                   Rodrigo Amarante
                                   Drama
                                   Polyvinyl

                                   BRASILPOP Heutzutage wirst du dank Netflix berühmt. Vielleicht. Da
                                   bohrt sich einfach mal der Soundtrack einer Serie wie „Narcos“ ins Hirn.
                                   Die mag zwar unheimlich spannend sein, wird aber morgen schon
         wieder abgelöst von der nächsten Produktion. Was bleibt, ist im Idealfall ein Thema wie „Tuyo“.
         Der Glückspilz, der da seine Hände im Spiel hatte, ist der brasilianische Multiinstrumentalist
         Rodrigo Amarante. Und jetzt kann er eigentlich machen, was er will – von orchestralen Schwel-
         gereien bis zu kleinen, folkinspirierten Dramoletten – jeder Track ist ein Soundtrack, jeder Takt
         ein neuer Hörfilm. Für einen, der ursprünglich angetreten war, um sich als Journalist durchs Leben
         zu schlagen, ist „Drama“ ein so ideen- und facettenreiches Album, dass es spätestens jetzt keinen
         Weg zurück zu geben scheint: Rodrigo Amarante hält sich durch seine zahlreichen Kooperationen
         zwischen Brasilpop und US-amerikanischem Alternativerock alle Optionen offen und muss
         eigentlich nur auf den nächsten dicken Fisch warten, der ihm vor die Angel kommt. ron

         KLASSIK MEETS POP

                            Blumerant
         Hat es jemals in der Musikgeschichte eine inno-
         vative Verbindung von Klassik und Pop gegeben?
         Wenn, dann ist das schon lange her. Chloe Flowers
         gleichnamiges Debütalbum ist ein weiterer miss-
         glückter Versuch, diesen heiligen Gral zu finden.
         Die klassisch ausgebildete Pianistin und Kompo-
         nistin unterlegt ihr Klavier darauf mit stumpfen
         HipHop-Beats und schmalzigem Orchester.
         Wellness-Guru Deepak Chopra salbadert dazu
         vor Schnipseln aus Schumanns „Träumerei“ und
         der „Mondscheinsonate“ von Unschuld und
                                                                                                              Foto: Shervin Lainez

         Heilung. Ein pompöses Cover von Billie Eilishs
         „Bad Guy“ hilft nicht, das Album weniger an-
         strengend zu machen: Klassikpop für Leute, die
         weder Klassik noch Pop mögen. mj

                                                                                           kulturnews | 11
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      Musik | Platten

      Die beste Musik
      # 8/2021
                                                                                                                                                  Genetikk
                                                                                                                                                  MDNA
                                                                                                                                                  Outta This World

                                                                                                                                                  HIPHOP Auf „MDNA“ (steht für „Mass
                                                                                                                                                  Destruction New Age“) dominiert ein
                                                                                                                                                  Gefühl: Verfolgungswahn. Kappa sieht
                                                                                                                                                  sich als „Deutschraps Geisterfahrer“, der
                                                                                                                                                  auf Twitter gecancelt wird, schießt gegen
                                                                                                                                                  Schlager-Rapper und „Leute, die nichts
                                                                                                                                                  zu erzählen haben“, und fragt „Wo ist die
                                                                                                                                                  Message?“. Es ist keine Überraschung,
                                                                                                                                                  dass Genetikk ins Umfeld der Corona-
                                                                                                                                                  leugner:innen abgerutscht sind: ver-

                                                                                                                           Foto: Shervin Lainez
                                                                                                                                                  schwörungstheoretische Lyrics wie in

        Torres                            R
                                              HI
                                                   GHLI
                                                          G
                                                                                                                                                  „Antiassimiliert“ sind nur die letzte
                                                                                                                                                  Konsequenz der zwanghaften Angst
                                                                                                                                                  davor, so zu sein wie die anderen. Da
                                     HÖ

                                                           HT

                                                                                                                                                  rappt man schon mal „Es ist 2021,
      Thirstier                                                    schwängliches, radikal optimistisches Album                                    2 und 2 macht wieder 5“. Und ob Rio
      Merge
                                          #8
                                                                   vor, das die Liebe in all ihren Facetten feiert.                               Reiser gefallen hätte, wie er für „GER-
                                                   /2021           Songs wie „Keep the Devil out“ und „Hug from                                   MAN ANGST! (Der Traum ist aus)“ ver-
      INDIEROCK Gleich der Kopf-                                   a Dinosaur“ verneigen sich vor Butch Vig                                       einnahmt wird? Zugegeben, musikalisch
      nicker „Are you sleepwalking?“ als Eröffnungs-               (Nirvana, Garbage), indem sie Grunge-                                          fetzt nicht nur dieser Track. Sikk ist ein
      stück zeigt: Nun ist der Stimmungswechsel                    Elemente ins Jetzt transformieren, und so                                      Meister darin, seine knarzig-verspulten
      also perfekt. Mackenzie Scott hat sich mit intro-            eingängig wie mit der rockigen Country-                                        Beats mit neuerer Trap-Ästhetik anzurei-
      vertierten Songs voller Selbst-                                           Komposition „Don’t go puttin’                                     chern. Dazu zeigt Kappa uns technisch
      zerfleischungen einen Namen                                               Wishes in my Head“ oder dem                                       einwandfrei, wie echter Rap klingt. Und
      gemacht, doch schon das von ihr                                           hymnischen Titeltrack klang                                       zwar: Testosteron, Wu-Tang-Anleihen und
      in Eigenregie produzierte Album                                           Torres nie zuvor. „The more of you                                zahllose Wie-Vergleiche – inklusive vier
      „Silver Tongue“ aus dem letzten                                           I drink/the thirstier I get“: Vielleicht                          Simpsons-Referenzen allein in den ersten
      Jahr war ein erster Aus-                                                  braucht es das Wissen um Torres’                                  vier Songs. Wie relevant das im Jahr 2021
      bruchversuch. Mit dem fünften                                             Vergangenheit – doch mit dem                                      ist, fasst Kappa selbst in der letzten Zeile
      Torres-Album legt die 30-jährige                                          sind solche Zeilen und all der                                    des Albums zusammen: „Ich hab mit dem
      US-Amerikanerin nun ein über-                                             Bombast komplett unpeinlich. cs                                   Rest der Welt nichts mehr zu tun“. mj

                                                   Deafheaven                                  zunehmend vom Black Metal entfernt haben. „Infinite Granite“ ist nun
                                                                                               der Schritt, der eigentlich schon seit „Sunbather“ vorprogrammiert war:
                                                   Infinite Granite                            die Umkehr der Formel, die sie in der Metalszene kontrovers hat werden
                                                   Sargent House                               lassen und für die sie von der Kritik hoch gelobt worden ist. Anstatt einen
                                                                                               harten, rauen Kern mit Melancholie und Verletzlichkeit zu durchsetzen,
                                        BLACKGAZE Dass Deafheaven die                          lässt die Band Verzerrung diesmal nur stellenweise aufkommen: „Infinite
                                        Metalwelt mit ihrem Zweitling                          Granite“ ist mehr im Dreampop und Shoegaze zu verorten als in irgend-
                                        „Sunbather“ in helle Aufregung                         einem Metal-Subgenre. Ein gefährliches Unterfangen – denn schließlich
                                        versetzt haben, ist mittlerweile acht                  passiert auf dem Papier ja nicht viel mehr, als dass Deafheaven eine
                                        Jahre her. In der Zwischenzeit                         maßgebliche Facette ihres Sounds aufgeben. Doch glücklicherweise
                                        haben die fünf US-Amerikaner ihre                      kann die Band zu Recht auf die Stärke ihres Songwritings vertrauen:
                                        Mischung aus Black Metal, Shoe-                        Sie setzen alles auf den emotionalen Gehalt der Stücke. So sind
      gaze und Postrock auf zwei weiteren Alben vertieft – „New Bermuda“                       Deafheaven diesmal nicht nur zugänglich wie nie – sie sind auch nahbarer
      von 2015 und „Ordinary corrupt human Love“ von 2018 – die sich                           und verletzlicher denn je. jl

      12 | kulturnews
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 13

                                                                                                                             Platten | Musik

                                           Liars
                                           The Apple Drop                                    Lingua Ignota
                                           Mute
                                                                                                       Sinner get ready
                                             AVANTGARDE 20 Jahre sind                                       Sargent House
                                             nun schon seit dem Debüt
                                             „They threw us all in a Trench    AVANTGARDE Es wäre so leicht gewesen,
                                             and stuck a Monument on Top“      diesen Geniestreich einfach ein weiteres
                                             vergangen: Man hat sich daran     Mal zu wiederholen. Auf ihren ersten
                                             gewöhnt, dass Liars sich mit      beiden Alben hat Kristin Hayter alias Lingua Ignota einen ganz und gar
         jeder Veröffentlichung neu erfinden und innovative Alben jenseits     eigenen Sound zwischen opernhafter Avantgarde, Metal und Noise er-
         jeglicher Genrenormen veröffentlichen. Doch zuletzt waren da die      schaffen. Und jetzt: kein Rauschen, kein Feedback, kaum Lärm. Auch ihr
         Platten „TFCF“ (2017) und „Titles with the Word Fountain“ (2018),     Gesang ist auf „Sinner get ready“ beinahe lieblich und lässt ihre Fähig-
         die Bandgründer Angus Andrew komplett im Alleingang aufgenom-         keiten als ausgebildete Opernsängerin glänzen. Ausgehend von den tra-
         men hat: Auch sie waren sehr gut, aber eben nicht spektakulär. Für    ditionellen Instrumenten der Appalachenregion, in der Hayter zum Zeit-
         das zehnte Album hat er nun den Jazzschlagzeuger Laurence Pike,       punkt der Entstehung des Albums gelebt hat, wendet sie sich vom Metal
         den Multiinstrumentalisten Cameron Deyell und die Texterin Mary       hin zu Country, Folk und Gospel: Diese neun Stücke atmen südstaatliches
         Pearson an Bord geholt. Und vermutlich noch viel wichtiger: Bei       Pathos, alttestamentarische Wut und staubige Tradition. Doch wie die
         „The Apple Drop“ hat Andrew zum ersten Mal an Musik gearbeitet,       beiden Vorgänger „All Bitches die“ und „Caligula“ ist auch „Sinner get
         ohne seine Angstzustände mit Antidepressiva in Schach zu halten.      ready“ eine zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit Missbrauch und
         Hier treffen im Bandformat eingespielte Demoaufnahmen auf             untrennbar mit Hayters jahrelangen Erfahrungen häuslicher und sexua-
         Computeralgorithmen, und immer wieder treten auch Motive und          lisierter Gewalt verbunden. Daher ist es so schmerzhaft, wenn Hayter
         Figuren der vergangenen 20 Jahre auf, um eine komplett neue           diese Erfahrungen in ihrer Erkundung religiöser Motive wiederentdeckt:
         Soundwelt zu gestalten. Natürlich brauchen Songs wie „Sekwar“         Unterwerfung, Sünde, Bestrafung, Erlösung und Vergeltung – diese
         und „My Pulse to ponder“ etwas Zeit – doch mit jedem Durchlauf        archaischen Konzepte erhalten hier eine ganz neue Deutungsebene. Die
         wird dieses Hörerlebnis intensiver, das zugleich niederschmetternd    Gefühle der Wut, der Angst und der Schutzlosigkeit, die Hayter offenlegt,
         und spektakulär ist. cs                                               werden niemanden, der dieses Album gehört hat, je wieder verlassen. jl

          We all are
          SUPREME.
          SUPREME ON – The Bluetooth Headphones

         Der SUPREME ON sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern ist unser bisher leistungsstärkster
         Bluetooth-Kopfhörer. Dank der in Berlin entwickelten Linear-HD-Treiber verwöhnst du deine
         Ohren über Bluetooth 5.0 aptX™ oder AAC mit präzisen Höhen und starkem Kickbass. Und das
         bis zu 30 Stunden lang. teufel.de/supreme-on
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 22.07.21 10:21 Seite 14

                          Tourneen | Ausblick 2021

                          Endlich wieder Konzerte!
                                                                               Magdalena Ganter
                                                                               Mehr Leichtigkeit: Mit ihrer Band Mockemalör hat Magdalena Ganter Synthpop
                                                                               gemacht, für den sie bei jeder Tour tonnenweise Equipment mitschleppen musste. Für
                                                                               ihr erstes Soloalbum unter ihrem Klarnamen hat die Chansonsängerin nun extra Songs
                                                                               geschrieben, die „überall dort funktionieren, wo ein Klavier steht“. Und so ist „Neo Noir“
                                                                               auch eine Befreiung von allem überflüssigen Ballast. Leicht sind auch die neuen Lieder,
                                                                               die vor Optimismus nur so strotzen – obwohl Ganter sie vor allem in düsteren Momenten
                                                                               geschrieben hat, wie sie uns im Interview verriet. In Singles wie „Nackt“ oder „Neue
                                                                               Ufer“ geht es um die Vertracktheiten des Alltags, in denen man sich problemlos wieder-
                                                                               finden kann. Großes Vorbild sind dabei die 20er-Jahre und große Entertainerinnen wie
                                                                               Marlene Dietrich. Als ausgebildete Schauspielerin und Tänzerin weiß Magdalena Ganter,
                                                                               wie man mit wenig Mitteln große Wirkung erzielt. Deswegen steht auch einer großen
                                                                               Solotour nun nichts mehr im Wege: Klaviere gibt es zum Glück fast überall.
    Foto: Marcus Engler

                                                                               10. 9. Rheinbach | 17. 9. Ludwigsburg | 18. 9. Stuttgart | 23. 9. Donaueschingen
                                                                               24. 9. Marburg | 25. 9. Frankfurt | 26. 9. Jena | 10. 10.Damnatz | 22. 10. Rostock
                                                                               24. 10. Berlin | 26. 10. Hamburg | 27. 10. Oberhausen | 28. 10. Münster
                                                                               29. 10. Laufenburg | 30. 10. Gaggenau

                          Ins Freie  – Back to
                          Live Hanau 2021
                          Corona hin oder her: Im Sommer macht
                          Open Air einfach viel mehr Spaß. Bei der
                                                                                                                               Foto: Hieronymus Josh

                          Veranstaltungsreihe „Ins Freie“ gibt es an

                                                                                                                                                                                               Foto: Jakob Tillmann
                          verschiedenen Schauplätzen in Hanau
                          zwei Monate lang Konzerte, Aufführungen,
                          Musicals und mehr zu sehen. Dabei sind
                          unter anderem Wolfgang Niedecken, das
                          Ensemble Modern und die Neue Philhar-
                          monie Frankfurt.
                          1.8.–2. 10. Hanau                               Matija                                                                       Liv Solveig
                                                                          Wie bei Alice Cooper oder Bon Iver ist Matija                                Sich Zeit lassen: Das mussten wir
                                                                          zugleich der Name der Band und der des                                       alle lernen in den letzten anderthalb
                                                                          Frontmanns. Das sollte man allerdings nicht mit                              Jahren. Liv Solveig kann es schon
                          Billy Raffoul                                   Narzissmus verwechseln: Matija sind zwar selbst-
                                                                          bewusst, aber viel zu entspannt-melancholisch für
                                                                                                                                                       lange. Die Singer/Songwriterin hat
                                                                                                                                                       ihr Album „Slow Travels“ gleich ein
                          Letztes Jahr hat Billy Raffoul für seine Fans   Arroganz. Im Oktober hat das Indiepop-Trio sein                              zweites Mal aufgenommen, weil
                          die „2020 Social Distance Tour“ gestreamt –     Album „byebyeskiesofyesterday“ veröffentlicht.                               sie mit der ersten Version nicht zu-
                          immer aus einem anderen Zimmer seines                                                                                        frieden war. Diese Entschleunigung
                          Elternhauses. Der Singer/Songwriter ist es      12. 10. Bremen | 13. 10. Hamburg                                             hört man auch in der Musik.
                          gewohnt, Leute an sich ranzulassen: Seine       14. 10. Berlin | 15. 10. München
                          Texte sind persönlich, seine Stimme             16. 10. Passau | 20. 10. Köln                                                15.   9.   Hamburg
                          schneidet durch alle Masken. Jetzt geht es      21. 10. Nürnberg | 22. 10. Ulm                                               17.   9.   Magdeburg
                          endlich wieder auf Live-Tournee.                24. 10. Regensburg | 27. 10. Augsburg                                        21.   9.   Berlin
                                                                          28. 10. Stuttgart | 29. 10. Leipzig                                          17.   3.   Karlsruhe
                          12. 10. München | 13. 10. Frankfurt             30. 10. Dresden | 2. 11. Mainz                                               18.   3.   Offenburg
                          14. 10. Hamburg | 15. 10. Berlin                3. 11. Hannover | 4. 11. Essen                                               19.   3.   Stuttgart
                          17. 10. Köln                                    5. 11. Osnabrück | 6. 11. Erfurt | 7. 11. Freiburg                           21.   3.   Reutlingen

                          14 | kulturnews
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 22.07.21 11:24 Seite 15

        Foto: Kathrin Leisch                            Ausblick 2021 | Tourneen

                               Fewjar
                               Auf der Tanzfläche weinen – das ist nicht gerade cool. Aber: „Wir wollen
                               nicht cool sein, denn Coolness bedeutet heutzutage für viele Gleich-
                               gültigkeit“, erklären Fewjar. „Musik darf uns wehtun.“ Im Herbst stellt
                               die Band ihr neues Album „Pace“ vor. Wohl wieder mit vielen 80er-
                               Anleihen – und jeder Menge Druck auf die Tränendrüse.

                               3. 9. Berlin | 4. 9. Dresden | 7. 9. Dortmund | 8. 9. Köln
                               9. 9. Hannover | 10. 9. Bremen | 11. 9. Hamburg
                               29. 9. Wiesbaden | 30. 9. Karlsruhe | 1. 10. München
                               2. 10. Nürnberg

                                                             Jesse Marchant
                                                             Es ist ein Klischee, wie sehr Country ein
                                                             Klischee ist. Aber wenn dahinter ein in
                                                             New York lebender Kanadier steckt,
                                                             klingt die Sache schon anders. Jesse
                                                             Marchant orientiert sich an alten
                                                             Meistern von Joni Mitchell bis Bob
                                                             Dylan – aber auch Joy Division oder
                                                             Fela Kuti klingen in seinen gefühlvollen
                                                             Songs an.
        Foto: Jen Steele

                                                             1. 10. München | 2. 10. Berlin
                                                             3. 10. Hamburg

                                                     HAEVN
                               Als junger Mann musste Marijn van der
                               Meer wegen Krankheit drei Jahre im Bett
                               verbringen. Die Gitarre hat dem Nieder-
                               länder geholfen, nicht den Verstand zu
                                                                                                          Foto: Kelly Alexandre

                               verlieren. Gemeinsam mit dem
                               Filmkomponisten Jorrit Kleijnen hat er
                               HAEVN gegründet, um die heilende
                               Kraft der Musik weiterzugeben

                               15. 9. München | 16. 9. Frankfurt | 17. 9. Essen | 18. 9. Köln
                               20. 9. Leipzig | 21. 9. Berlin

                                                                                       kulturnews | 15
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 16

      Buch | Literatur

      Hollywood
      Reloaded
      Dann macht Quentin Tarantino eben nur noch

                                                                                                                                                                  Foto: Art Streiber / AUGUST
      einen Film. Solange er dafür so grandiose
      Bücher schreibt wie die Romanversion von
      „Es war einmal in Hollywood“.

      ›      „In den 70er-Jahren waren Romanfassungen von Filmen die ersten
             Bücher für Erwachsene, die ich gelesen habe: Daher bin ich stolz,
      ,Es war einmal in Hollywood‘ als meinen Beitrag zu diesem oft margina-
                                                                                    sein. Neben Sharon Tate und Charles Manson ist es vor allem der im Film
                                                                                    so mysteriöse und geheimnisvolle Booth, der im Roman eine Tiefen-
                                                                                    zeichnung erhält.
      lisierten, aber geliebten Subgenre der Literatur anzukündigen“, sagt
      Quentin Tarantino über sein Romandebüt. Natürlich sind die Figuren und
      auch der Plot aus seinem mit vielen Filmpreisen ausgezeichneten               Selbst beim Runtererzählen von Filmografien
      Meisterwerk aus dem Jahr 2019 bekannt: Da ist der abgehalfterte
      Schauspieler Rick Dalton, der einst für seine eigene Fernsehserie „Bounty     ist Tarantino ein entlarvender Unterhalter
      Law“ gefeiert wurde, inzwischen aber nur noch als Western-Bösewicht
      gebucht wird und seine Selbstzweifel in Whiskey Sours ertränkt. Da ist
      sein Stuntdouble Cliff Booth, ein ehemaliger Kriegsheld, der seinem Boss      Auch in Tarantinos Prosa sitzen die Dialoge. Wie in seinem Film gelingt
      aber eigentlich nur noch als Fahrer, Hausmeister und Therapeut dient.         ihm ein bildgewaltiger Abgesang auf die großen Zeiten der US-amerika-
      Und weil die Handlung im Februar 1969 in Los Angeles spielt, treten           nischen Unterhaltungsindustrie. Natürlich steckt eine intensive
      auch Roman Polanski, seine Frau Sharon Tate und Charles Manson auf.           Recherchearbeit dahinter, wenn er seine fiktive Handlung in ein reales
      Doch bietet das Buch des 58-jährigen Starregisseurs eben nicht nur das        Setting bettet: Selbst beim seitenlangen Runtererzählen von Filmografien
      abgedruckte Drehbuch oder eine Nacherzählung des Films: Tarantino             ist Tarantino ein entlarvender Unterhalter. Und natürlich hat der spekta-
      ergänzt die Vorgeschichte seiner Figuren, er verleiht ihnen mehr Tiefe,       kuläre Showdown des Films auch im Roman seinen Platz – wenngleich
      und durch eine andere Anordnung der Handlungselemente setzt er einen          er hier nicht am Ende steht: Bei Tarantino dringen die Mitglieder von
      komplett neuen Fokus.                                                         Mansons Hippie-Gang nicht in die Villa von Roman Polanski ein und
                                                                                    töten die hochschwangere Sharon Tate und ihre Freunde, sondern landen
                                                                                                                            nebenan bei Rick Dalton und wer-
      Wie oft passt das Wort „ficken“                                                                                       den von dem Westernhelden und
                                                                                                                            seinem Double übel massakriert.
      auf eine Buchseite?                                                                                                   Im Roman setzt Tarantino einen
                                                                                                                            anderen, deutlich versöhnlicheren
                                                                                                                            Schlussakkord, indem er ganz
      Vielleicht einfach mal zur Seite 272 blättern: Hier gelingt es dem Autor,                                             nah an einen Rick Dalton heran-
      das Wort „ficken“ ganze 21 mal auf einer einzigen Buchseite unter-                                                    rückt, der sich von seiner achtjäh-
      zubringen. Okay, die Häufigkeit ist imposant, doch eine wirklich große                                                rigen Schauspielerkollegin Trudi
      Überraschung ist das bei Tarantino natürlich nicht. Spannender ist da                                                 den Weg weisen lässt.
      schon, dass wir uns hier in dem Kapitel „Die Tapferkeitsmedaille“ befinden,
      und viele Informationen über die von Brad Pitt gespielte Figur be-                                                                    Carsten Schrader
      kommen, die der Film ausspart: Nach dem Zweiten Weltkrieg landet der
      spätere Stuntman zunächst in Paris, wo er mit dem Gedanken spielt, als                                                Quentin Tarantino
      Zuhälter seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und so lässt er sich von                                                Es war einmal in Hollywood
      den maquereaux eine ausführliche Jobbeschreibung geben. In einem                                                      Kiepenheuer & Witsch, 2021
      anderen Kapitel erfahren die Lesenden zudem Details über ein Ereignis                                                 416 S., 25 Euro
      aus dem Leben von Booth, das im Film nur wiederholt angedeutet wird:                                                  Aus d. Engl. v.
      Er soll seine Frau umgebracht haben und damit vor Gericht durchgekommen                                               Stephan Kleiner u. Thomas Melle

      16 | kulturnews
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 17

                                                                                                                             «Wie wollen wir leben?
                                                                               Literatur | Buch                            Wofür engagie  eren wir uns?
                                                                                                                         Und was ist der Preis
                                                                                                                                           e der Freiheit?
                                                                                                                                  Darum geht
                                                                                                                                           e es.
                                                                                                                          Große Fragen fü ür ein Debüt.»
                              Im Leben der Anderen                                                                          Heide Soltau,
                                                                                                                                   Soltau NDR KuKultur
                                                                                                                                                K u
                                                                                                                                                  ultur

         Nach den fremdenfeindlichen                                   Künstler wird, bleibt Günter im
         Übergriffen in Chemnitz wurde der                             Osten, arbeitet als Fahrlehrer und
         Debütroman von Lukas Rietzschel                               verzweifelt, als sein Sohn Thorsten
         vor drei Jahren als ein Schlüssel-                            eines Nachts von einem Wartburg
         roman gefeiert: In „Mit der Faust in                          angefahren wird und der Fahrer
         die Welt schlagen“ erzählt der heute                          einfach weiterfährt. Jan versucht
         27-Jährige, wie junge Sachsen zu                              die Verbindungen zu seiner eige-
         rechten Gewalttätern werden. Auch                             nen Familie herzustellen und sieht
         mit dem Nachfolger bleibt der heute                           sich mit Themen konfrontiert, die
         in Görlitz lebende Rietzschel der                             er lange Zeit umgangen hat: der so
         Region treu - der Roman spielt in seinem          wortkarge Vater und Jans Mutter, die ihren
         Heimatort Kamenz – doch erweitert er den          Mann verlässt und nach und an ihrer Alkohol-
         zeitlichen Rahmen, indem er in „Raumfahrer“       sucht zugrunde geht. Geschickt mischt
         zwei Familiengeschichten nachzeichnet, die        Rietzschel die Zeitebenen, arbeitet die Brüche
         vom Kriegsende bis in die Nachwendezeit           in Biografien, das Aufladen von Schuld, das
         reichen. Ausgangspunkt ist der junge Jan          Schweigen und das Verschweigen als Konti-
         Nowak, der noch bei seinem Vater im Keller        nuität heraus und offenbart wie ein routinierter
         wohnt und im Krankenhaus jobbt, das dem-          Krimiautor erst nach und nach die Überschnei-
         nächst geschlossen werden soll. Hier trifft er    dungen seiner beiden Handlungsstränge. Vor
         auf den im Rollstuhl sitzenden Thorsten Keun,     allem aber brennen sich die Worte ein, die er
         der ihm aus dem Nachlass seines Vaters einen      findet, um die Gemälde von Georg Baselitz zu
         Karton voller Unterlagen übergibt, auf dem Jans   beschreiben: Sie machen ein Verlorengehen in
         Name geschrieben steht. So erfährt Jan von der    der Geschichte fühlbar. cs
         Geschichte der Brüder Georg und Günter Keun:                                     Lukas Rietzschel
         Während der Ältere nach West-Berlin geht und                                          Raumfahrer
         schon bald als Georg Baselitz zum gefeierten                         dtv, 2021, 288 S., 22 Euro

                                                                                                                          271 S. | Geb. | € 22,–[D] | ISBN
                                                                                                                                                         N 978-3-406-76467-7

                                                                                                                          «Ein atmosphärisch    h dichter
                          In Platons Höhle                                                                                Familienroman übeer Liebe und
                           Das Wetter: grob vorherseh-     meintlich willkürliche Blicke, erzählt kurze                   Ablehnung, alte Verletzungen
                                                                                                                                               e            und
                           bar, im Detail aber letztlich   Anekdoten, schildert ausgesuchte Szenen. Ein
                           immer unberechenbar. Po-        Zitat, das Schmitter ihrem Roman voranstellt,
                                                                                                                          den Wunsch verzeihen zu können.»
                           tenziell dramatisch, zumeist    vergleicht unsere Schädel mit Platons Höhle:                   Barbarraa Geierr,, NDR Kulturjournal
                                                                                                                                               R Ku
                           allerdings harmloses Small-     Alle Menschen, so die These, leben vorrangig
                           Talk-Thema. Jederzeit prä-      im eigenen Kopf. Dass das detaillierte Aus-                                        ütroman, der
                                                                                                                          «Berührender Debütroman,
         sent, aber vornehmlich dann bemerkt, wenn         leuchten dieser platonischen Höhlen sich nicht                                     roßen Fragen
                                                                                                                          leichthändig mit großen
         es uns ungelegen kommt. All diese Nuancen         entfremdend oder ermüdend, sondern im
         spielen hinein in „Inneres Wetter“, den Titel     Gegenteil sehr unterhaltsam liest, ist Schmitters              der Zeit jongliert.»
         von Elke Schmitters neuem Roman. Es geht          lakonischem Humor zu verdanken – und ihrer                     Ka Wa
                                                                                                                          Karin Waldner-Petuttschnig,
         ihr darum, die Gedankenwelt ihrer Figuren         makellosen Sprache: Monolog, Dialog, E-Mail,
         mit all ihren Details, Abschweifungen und         Tagebucheintrag, alle Formen kommen zum                        Kleine Ze
                                                                                                                                 Zeitung
         Widersprüchlichkeiten einzufangen. Die Hand-      Einsatz, passen sich in das Gesamtgefüge ein.
         lung ist daher nebensächlich, fast schon belie-   Subtile Eigenheiten wie Bettinas Hang zu
         big: Drei erwachsene Kinder planen eine Feier     immer leicht misslungenen Anglizismen füh-
         zum 77. Geburtstag ihres Vaters. Huberta, die     len sich an wie die Spleens echter Menschen.
         Älteste, ist alkoholkranker Single, deren         Letztlich ist daher auch die mangelnde
         geliebte Hündin in den letzten Zügen liegt. Die   Dramatik eher eine Stärke des Romans. Denn
         sorglose Bettina hat einen deutlich älteren       Schmitter porträtiert Menschen, die nichts Be-
         Mann geheiratet und mit ihm eine Tochter.         sonderes sind und denen nichts Besonderes
         Und der melancholische Sebastian zweifelt an      passiert – und macht sie interessant. Das
                                                                                                               © Rasmus Tanck

         seiner Ehe mit der resoluten Mora. Strukturiert   implizite Versprechen von „Inneres Wetter“: Aus
         werden die drei Teile des Buches von E-Mails,     dem richtigen Blickwinkel sind wir das alle. mj
         die Bettina ihren Geschwistern zur Vorberei-
         tung der Feierlichkeiten schickt. Nicht nur                                    Elke Schmitter
         in ihre Köpfe, sondern auch in die einzelner                                    Inneres Wetter
         Verwandter und Freunde wirft Schmitter ver-                  C.H. Beck, 2021, 202 S., 22 Euro

                                                                                            kulturnews | 17
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 18

                          Buch | Literatur

                             Rassismus in den
                          Zeiten von Instagram
                          Eines Abends wird die Babysitterin Emira im                                 „Kraut finde ich nicht schlimm.
                          Supermarkt von einem Wachmann attackiert: Sie
                          soll Briar, das Kind ihrer weißen Chefin Alix, ge-
                          kidnappt haben. Für die liberale Alix ist dieser Fall
                                                                                                      Viel schlimmer ist Rock!
                          von Alltagsrassismus ein Anlass zu gerechtem Zorn.
                          Um sich zu beweisen, dass sie selbst alle Vorurteile hinter sich gelas-     Rock steht nämlich für gar nichts.
                          sen hat, will sie Emira zu einem Teil der Familie machen. Doch die ist
                          jetzt 25 Jahre alt und will sich eigentlich längst nach einem anderen
                          Job umsehen. Dann stellt sich heraus, dass Emiras neuer Freund
                                                                                                      Rock machen auch Rechtsradikale.
                          Kelley eine gemeinsame Geschichte mit Alix hat – und Alix vielleicht
                          lange nicht so woke ist, wie sie selbst glaubt. In ihrem Romandebüt         Wenn Heino Rammstein singt,
                          „Such a fun Age“ nimmt sich Kiley Reid gewichtige Themen vor:
                          Natürlich Black Lives Matter, aber Klassenunterschiede, Mutterschaft        ist das dann Rock?“ Jaki Liebezeit
                          und Älterwerden spielen ebenso eine Rolle. Doch obwohl die Autorin
                          vor unbequemen Wahrheiten nicht zurückschreckt, ist der Roman weder
                          Pädagogik noch Pamphlet, sondern sprüht vor schwarzem Humor.                                             Über den Begriff lässt sich streiten, über
                          Reid hat ein Gespür für Dialoge, sodass nicht nur Emira und ihre                                         die Bedeutung der Musikrichtung nicht.
                          Freundinnen tatsächlich klingen wie junge Frauen der Instagram-Ära;                                      Mit „Future Sounds“ legt Journalist
                          auch die kleine Briar redet wie ein echtes Kind. Sollte in Hollywood                                     Christoph Dallach eine ausführliche
                          noch niemand auf die Idee gekommen sein, das Buch zu verfilmen, ist                                      Chronik des Krautrock vor, in dem
                          das hoffentlich nur eine Frage der Zeit: „Such a fun Age“ hält problem-                                  Mitglieder von Can, Faust, Cluster und
                          los mit hochgelobten Satiren der letzten Jahre mit wie „Get out“ oder                                    Co. selbst zu Wort kommen – plus ein
                          „Parasite“ mit. mj                                                                                       paar internationale Fans.
                                                                       Kiley Reid Such a fun Age
                              Ullstein, 2021, 352 S., 22 Euro, Aus d. Engl. v. Corinna Vierkant                                    Christoph Dallach
                                                                                                                                   Future Sounds: Wie ein paar
                                                                                                                                   Krautrocker die Popwelt revolutionierten
                                                                                                                                   Suhrkamp, 2021, 511 S., 18 Euro

                                                        Kampf gegen
                                                        Windmühlen
                                                                                                                           Nicht heiter,
                                                         Widerstand ist nicht gleich Widerstand:
                                                         Darauf könnte man Nicolai Kabels                                   aber schön
                                                         Debütroman „Kleine Freiheit“ reduzieren.
                                                         Während Saskia ihren Beruf als               Bremen, 90er-Jahre: Die Ich-Erzählerin ist nach
     Foto: Rasmus Tanck

                                                         Richterin zurückstellt, um in einem          der Wende aus Bulgarien hergezogen, gemeinsam
                                                         Provinzdorf ihre beiden Kinder groß-         mit Mann und Tochter. Eigentlich will sie hier ein
                                                         zuziehen – ihr Mann Christian macht in       neues Leben beginnen, aber stattdessen fühlt sie
                                                         einer Kanzlei in Hamburg derweil             sich haltlos, kopflos, heimatlos. Als ihr Vaters stirbt,
                                                         Karriere –, war es eine Generation früher    kehrt sie zur Beerdigung in ihre Geburtsstadt Baltschik zurück – und
                          ganz anders: Saskias Vater Hans engagierte sich in einer Kommune            beschließt, dass nur eine Konfrontation mit der Vergangenheit ihr
                          im Wendland gegen Atomkraft, denkt heute noch kapitalismuskritisch          helfen kann, im Jetzt zu sich selbst zu finden. Der Ton von Antonia
                          und ist noch immer Gegner von bürgerlichen Rollenbildern. Saskia            Bontschevas autobiografischem Debütroman ist kein versöhnlicher:
                          aber engagiert sich intensiv gegen den Bau von Windkrafträdern in           „Die Schönheit von Baltschik ist keine heitere“ liest sich in weiten
                          der Nähe ihres Dorfes – ihr Handeln ist nach persönlichen Interessen        Teilen wie eine Abrechnung, vor allem mit ihrem ersten Mann und
                          ausgerichtet. Dabei schreckt sie sogar vor einer Allianz mit konservativ-   ihrer Schwiegermutter. Aber auch mit der eigenen Familie, die ihre
                          reaktionären Koalitionspartnern nicht zurück, was                           Traumata aus Krieg und Kommunismus eisern totgeschwiegen und
                          zu einem Zerwürfnis mit ihrem Vater führt. Nicola                           gerade deshalb an die nächste Generation vererbt hat. Trotzdem spüren
                          Kabel ist ein einfühlsames Psychogramm einer                                wir die Liebe zu ihren verschrobenen Verwandten, von deren Eigen-
                          Familie gelungen. Dass die so wichtige politische                           heiten Bontscheva mit kräftiger Sprache und manchmal derbem
                          Komponente des Romans nur eine psychologische                               Humor erzählt. Der Wille, auch Gefühle wie Bitterkeit und Zorn zu-
                          Unterfütterung erhält, ist angesichts der gelungenen                        zulassen, setzt das Buch von anderen autofiktionalen Werken ab –
                          Schilderung des Privaten verschmerzbar. jw                                  und immunisiert es zugleich gegen Kitsch. mj
                                                                                                                                                            Antonia Bontscheva
                                               Nicola Kabel Kleine Freiheit                                                      Die Schönheit von Baltschik ist keine heitere
                                         C.H. Beck, 2021, 271 S., 22 Euro                                                  Frankfurter Verlagsanstalt, 2021, 416 S., 24 Euro

                          18 | kulturnews
01-32_kulturnews_08_2021-nh2-jw-4k.qxp_01-32_kulturnews_08_2021 21.07.21 16:05 Seite 19

                                                                                                                                        Krimi | Buch

         Blick zurück                                                                                     Alte Feinde,
                                                                                                          neue Freunde
         nach vorn                                                                                         Erinnert sich noch jemand an Bonn? Also jene
                                                                                                           Erstmal-Hauptstadt, die offiziell immer nur
         Ist die Gegenwart wie ein schlechter Zukunfts-                                                    „Regierungssitz“ hieß? Unter die rheinischen Froh-
                                                                                                           naturen haben sich ab 1949 allerlei Politakteure
         thriller, reist man mit diesen vier Historien-                               gemischt, um im Kleinstadtmief die noch junge Republik zu formen:
                                                                                      eine Bundestagsaltherrenriege mit Nazihintergrund, ein misstrauisches
         krimis in eine Zeit seiner Wahl. Und kann                                    Diplomatisches Corps und subversiv agierende Geheimdienste.
                                                                                      Thrillerautor Ralf Langroth nutzt diese Gemengenlage für eine neue Serie,
         dabei sogar aus der Vergangenheit lernen …                                   die historische Personen und Ereignisse in fiktionale Spionageaction
                                                                                      einflicht. Im Jahr 1953 soll Philipp Gerber – offiziell Leiter des BKA,
                                                                                      heimlich Agent der USA – den Mord an seinem Vorgänger aufklären.
                                                                                      Zusammen mit der Journalistin Eva Herden, die für ein kommunistisches
                                         Onomatopoetisch                              Magazin schreibt, führen ihn die Recherchen zu einer rechten Zelle,
                                                                                      die ein Attentat auf einen führenden Politiker verüben will. Da wird auf
                                        EDHIG   Jede Zeit hat ihren Sound:            brüchige Loyalitäten gesetzt, gesundes Misstrauen gehegt und die ein-
                                   IL             Pferdegetrappel, schnaufende        oder andere ungewöhnliche Allianz eingegangen – selbst von einem
                          HARDBO

                                            HL

                                                  Dampfloks, zischende Schnell-       gewissen Konrad Adenauer … nh
                                                IGHT

                                                   züge. Wortvirtuose David Peace                                             Ralf Langroth Die Akte Adenauer
                                                  stimmt in seinen Romanen                                                    Rowohlt, 2021, 400 S., 16 Euro
                               #8                viele Töne an: Er charakterisiert
                                  /2021
                                               damit seine Protagonisten und
                                          komponiert rhythmische Szenen. Mit          Wem’s gepfählt …
                                   akustischen Leitmotiven führt er durch seine
         verworrenen Noirs, die zugleich auch gesellschaftliche Langzeit-             Selbst in Wien graust man sich, wenn Frauen gepfählt werden. Im
         studien sind. Historische Kriminalfälle dienen dabei als Taktgeber,          Mittelalter noch gang und gäbe, hat die Todesmarter auch dort zu Beginn
         um Dissonanzen hörbar zu machen. Im letzten Band seiner Tokio-               der Neuzeit ausgedient. Jedoch fühlt sich 1893 ein Irrer von einem
         Trilogie begleitet Peace den Nachhall eines Misstons in Japans               Almanach über Tötungsarten inspiriert: Er rammt vier Dienstmädchen
         Nachkriegszeit: 1949 wird der Präsident der Eisenbahngesellschaft            lange Hartholzpfähle in die Vagina und schneidet ihnen die Köpfe von
         zerstückelt auf den Gleisen gefunden. Selbstmord? Er musste kurz             den Hälsen. Inspektor Leopold von Hertzfeldt – grad aus Graz versetzt –
         vor seinem Tod Massenentlassungen verkünden. Detective Sweeney               eckt mit neuartigen Ermittlungsmethoden an, misstraut der feschen Julia
         von der US-Militärpolizei ermittelt im Zuständigkeitsgerangel und haut       „Lämmchen“ Wolf und freundet sich nach einem Malheur auf dem
         sich dabei die Fäuste blutig. 1964 brandet Jubel auf: Die Olympischen        Zentralfriedhof mit dem schrulligen Totengräber Rothmayer an. Best-
         Spiele und die neuen Shinkansenzüge setzen Akzente. Bei einer                sellerautor Oliver Pötzsch führt uns mit seiner unge-
         Séance versucht Privatdetektiv Hideki mit Klopfzeichen einen Autor           wöhnlichen Krimiserie in ein Wien auf der Schwelle
         zu kontaktieren, der über den Eisenbahnfall geschrieben hat. 1988            zur Moderne. Als Zuckerl obendrauf: Die damalige
         wird es still: Kaiser Hirohito liegt im Sterben. Ex-Agent Reichenbach        Neugier und zugleich Reserviertheit gegenüber
         geht etwas nicht aus dem Ohr und er meint, seine Verfolger schon             technischen Neuerungen liest sich amüsant als
         zu hören … nh                                                                Gleichnis zu heutigen Problemen. nh
                                                  David Peace Tokio, neue Stadt
                                            Liebeskind, 2021, 432 S., 24 Euro                  Oliver Pötzsch Das Buch des Totengräbers
                                                     Aus d. Engl. v. Peter Torberg                    Ullstein, 2021, 448 S., 16,99 Euro

         Sie sind unter uns
         Western Germany, anno ’78: Starfighter gehen am Himmel steil, Bonanza-      lippenbärtchen ist das ein Fall von Grenzgänger-Kriminalität. In Wahrheit:
         räder bei den Youngstern. Für Eigentore ist noch Berti Vogts zuständig,     Aktenzeichen XY … ungelöst. Sanne und Ulrike kleben Christian Klar
         und wer die Haare lang trägt, ist entweder pauschal ein Mädchen oder                            neben Rainer Bonhof ins Sammelalbum. Wer weiß,
         bei der RAF. In einem Kaff an der Grenze zu Luxemburg verbringen die                            vielleicht spielt der ja auch mit? Krimipreisträger Max
         zwei Teenagergören Sanne und Ulrike die Ferien zwischen dem Schweine-                           Annas leuchtet in die dunklen Ecken der
         stall des elterlichen Bauernhofs und ihrem geheimen Rückzugsort,                                bundesdeutschen Provinz – und lässt im Zeitkolorit
         einem Hochsitz am Waldrand. Hanutas mopsen, um an die begehrten                                 der 1970er Jahre unberechenbare Gewalt aufblit-
         WM-Klebebildchen zu kommen, ist genauso aufregend wie der heiße                                 zen, die gekonnt böse das Trugbild einer behüteten
         Lehrling mit der Günter-Netzer-Frisur. Von Fußball und Jungs wissen sie                         Jugend- und Dorfidylle zerlegt. nh
         noch nicht viel, von Terroristen erst recht nichts. Sie beobachten mehr,
         als sie verstehen können: jemand ballert im Wald rum, ein dickes Auto,                          Max Annas Der Hochsitz
         ein Banküberfall, zwei Morde. Für den Polizeiobermeister mit dem Ober-                          Rowohlt, 2021, 272 S., 22 Euro

                                                                                                                                                kulturnews | 19
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