Achtsamkeit in der Schule - 1 | 2021 - MBSR-Verband Schweiz
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1 | 2021 Achtsamkeit in der Schule
ZÄH N I PAU S E Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
Mehr Zeit fürs Team
dank Digitalisierung
Text: Urs-Peter Zwingli | Bilder: Ana Kontoulis
Das Team im Kreuzlinger Schulzentrum Bernegg hat einen Di- akzeptiert», sagt eine Lehrerin. Neben einem über 100-jährigen
gitalisierungsschub hinter sich «und das nicht erst seit Corona», Schulhaus stehen zwei Betonbauten aus den 1970er-Jahren auf
sagt Schulleiter Ralph Huber. So werden viele organisatorische dem Bernegg-Areal. An einem von ihnen wurde soeben eine
Fragen seit bald zwei Jahren im schulinternen Teams-Chat ge- Aufstockung mit zwei Klassenzimmern fertiggestellt. Die Schule
klärt. «Im Lehrerzimmer hängen seither braucht neue Räume, weil die Schülerzah-
kaum noch Infozettel an der Wand», sagt len langfristig steigen sollen – aber auch,
Huber. Und weil vieles vorab geklärt ist, «Das Schulzentrum Bernegg weil auf Anfang dieses Schuljahrs ein Zy-
bleibt mehr Zeit für schöne Dinge. Etwa hat einen Digitalisierungsschub klusmodell eingeführt wurde. In diesem
fürs gemeinsame Essen eines Dreikönigs- hinter sich – und das nicht erst wird öfter in Halbklassen unterrichtet, was
kuchens. Die Digitalisierung der Schule seit Corona.» mehr Platz erfordert. Neben und zwischen
kommt auch beim Lernen an: Ab der 3. den Schulgebäuden hat es Spielplätze für
Klasse erhalten alle der insgesamt rund verschiedene Altersklassen. «Für ein städ-
330 Schülerinnen und Schüler ein Tablet als Arbeitsgerät zur tisches Schulgelände ist unser Areal ungewöhnlich weitläufig»,
Verfügung gestellt. Das Schulzentrum Bernegg liegt zwischen sagt Schulleiter Huber. Wie das Schulgelände gestaltet wird,
dem Stadtzentrum und den privilegierten Wohnquartieren am können laut Huber «hoffentlich zunehmend» unter anderem die
Hang. Entsprechend sei die Schülerschaft sozial durchmischt, Schülerinnen und Schüler in ihren Klassenräten diskutieren und
sagt Huber. Und das Lehrteam? «Der gute Teamgeist macht die Ergebnisse der Schulleitung und Baukommission vorlegen.
unsere Schule aus. Man kann mit allen offen reden und Fragen
diskutieren. Und jedes Teammitglied wird mit seinen Eigenheiten schulekreuzlingen.ch › Primarschule › SZ Bernegg
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Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 I N HA LT
19 Meditieren im Klasse
nzimmer
erung auf dem
Bauernhof
24
Begabungsförd
FOKUS: ACHTSAMKEIT RUND UM DIE SCHULE
IN DER SCHULE
24 In einem Kurs der Begabungsförderung
06 Expertinnen zur Achtsamkeit in der Schule 26 Wie die erste Berufswahl gelingen kann
08 Rosinen, Bodyscans und Meditation 27 Weiterbildung lohnt sich
10 Kindern Zeit und offene Sinne schenken 27 Arbeitsfelder Schulunterstützung
12 Gesünder im Beruf dank Achtsamkeit
14 Laufbahnplanung: Es gilt, regelmässig innezuhalten KULTUR
15 Wie Thurgauer Lehrpersonen achtsam bleiben
28 Faktencheck im Museum
19 Die Sicht der Forschung
28 Digitale Entdeckungen
22 Aus der Redaktion
29 Der Wolf kehrt zurück
29 Kulturagentinnen intervenieren
AKTUALITÄT
23 Gemischte Teams eröffnen Perspektiven SchlussVERSion
30 Erziehungsvorschlag
Schulblatt
Juni 2021
zum Thema
Bibliotheken
im digitalen
Zeitalter
3
E D ITO R IA L Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
Achtsamkeit als Weg
aus dem Hamsterrad
des Alltags?
Liebe Leserin, lieber Leser
Haben Sie auch schon einmal daran gedacht, den Stress hin-
ter sich zu lassen und auf eine einsame Insel zu verschwinden?
Waren die Erschöpfungssymptome so stark, dass nur das
«Waren die Erschöpf- Yoga-Seminar auf Ibiza (oder vielleicht alternativ ein Whiskey-
Tasting in Schottland) gedanklich Linderung versprachen? Um
ungssymptome so uns herum hat sich in den letzten Jahren eine beachtliche
stark, dass nur das Achtsamkeitsindustrie entwickelt. Life- und Achtsamkeits-
Coaches für jeden Lebensabschnitt, Business-Yoga, Mind-
Yoga-Seminar auf Ibiza fulness-Seminare, Biohacking oder spirituelle Finde-zu-Dir-
(oder vielleicht Selbst-Workshops spriessen aus dem Boden.
alternativ ein Whiskey- Man kann das sehen, wie man möchte. Der eigentliche Grund
Tasting in Schottland) für das Aufkommen dieser Bewegung ist aber mitnichten von
der Hand zu weisen. Wenn man Achtsamkeit verstehen will als
gedanklich Linderung innere Haltung, als bewusste Wahrnehmung von uns selbst
versprachen?» und unserer Umwelt, so kann man durchaus feststellen: Wir
achten oft zu wenig auf uns, unsere Gesundheit, unsere Mit-
und Umwelt. Zumindest nicht in dem Masse, wie wir sollten.
Krankmachenden Faktoren und Verhaltensweisen begegnet
(und spürt?) ein jeder von uns. Steigende und komplexere
Anforderungen, hohes Tempo und Volatilität führen im Be-
ruf in der Summe zu einem höheren Belastungs- und Stress-
empfinden. Das hat in der Folge auch Auswirkungen auf das
Privatleben. Die Anzahl an Tagen, die Berufstätige aufgrund
psychischer Erkrankungen fehlen, ist im vergangenen Jahr-
zehnt stark angestiegen. Beschäftigte in Schulen bilden hier
keine Ausnahme.
Kann uns ein «achtsameres» Leben, was immer das für uns
individuell bedeuten mag, hiervor besser schützen? Auf diese
Frage finden wir nur eine Antwort, wenn wir uns aktiv mit dem
Thema Achtsamkeit auseinandersetzen. Das vorliegende
Schulblatt versucht, Ihnen für diese Erkundung einige Ge-
dankenanstösse zu geben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spass dabei. Nehmen
Sie sich Zeit!
Bernd Ruoff
Leiter Fachbereich Schulberatung, Amt für Volksschule
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Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
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FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
Was Achtsamkeit
Lehrpersonen
und ihren Klassen
nützen kann
Achtsamkeit als Methode der Selbststeuerung
hat in den letzten Jahren an Bekanntheit gewonnen.
Laut Expertinnen kann Achtsamkeit auch in der
Schule für Verbesserungen sorgen: Beispielsweise
erweitern Lehrpersonen damit ihr Handlungsreper-
toire und schützen sich vor Stress. Die Schülerinnen
und Schüler schärfen unter anderem ihre Konzen-
trationsfähigkeit.
Text: Urs-Peter Zwingli
A chtsamkeit als Methode der Selbststeuerung ist in den
letzten Jahren international in den Fokus gerückt: Der
deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx etwa kürte 2016
Achtsamkeit zum «Megatrend». Und bereits 2014 rief das US-
amerikanische «Time Magazine» auf seiner Titelseite die «Mind-
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Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
ful Revolution» aus. Achtsamkeit, so die Time-Journalisten, sei distanzieren», sagt Riedmann. Sie konstatiert zudem einen «hohen
ein möglicher Weg aus dem Hamsterrad des Alltagsstresses. gesellschaftlichen Druck, dass alles perfekt sein und immer funktio-
Auch der Schulalltag wartet regelmässig mit stressigen Situatio- nieren muss». Diese Erwartungshaltung trage zusätzlich zu unre-
nen auf: Beispiele dafür sind der allgemein steigende, gesell- flektierten Handlungen bei. Regelmässiges Achtsamkeitstraining
schaftliche Druck, verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler, könne dabei helfen, automatisierte Handlungen zu durchbrechen.
schwierige Elterngespräche, Teamkonflikte. Gibt es also auch in Dies mache es möglich, gerade in schwierigen Situationen inner-
der Schule einen Platz für Achtsamkeit? «Achtsamkeit erlaubt lich innezuhalten und so Entscheide nicht aufgrund von Emotio-
es Lehrpersonen, ihr Stresslevel zu regulieren. Das macht die nen zu fällen. Neben der Schule und der Berufswelt habe sich
Methode auch zu einer wichtigen Burnout-Prophylaxe», sagt Ruth Achtsamkeit auch in der Psychotherapie bewährt, sagt Riedmann.
Monstein. Die St. Galler Primarlehrerin, Lerncoachin und Autorin «Ich wende Achtsamkeitstechniken etwa bei psychosomatischen
wendet seit 25 Jahren im Schulumfeld Methoden der Achtsam- Beschwerden an. Das sind etwa Schmerzen, die durch andau-
keit an: Sie meditierte beispielsweise mit Schülerinnen und Schü- ernden Stress ausgelöst werden.» Auch Riedmann betont, dass
lern im Unterricht, als Meditation in der westlichen Gesellschaft es zahlreiche wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von
für viele noch ein Fremdwort war. «Anfangs war ich besorgt, ob Achtsamkeitsübungen gebe. «Mit Esoterik hat Achtsamkeit nichts
ich wohl Probleme mit der Schulleitung oder mit Eltern bekom- zu tun. Achtsamkeit hat einen konkreten Realitätsbezug. Die Kul-
men würde», sagt Monstein im Rückblick. Die Reaktionen seien tivierung von Freundlichkeit und Selbstmitgefühl eröffnet dabei
aber immer positiv gewesen. Es gehe bei hilfreiche, alternative Handlungsmöglich-
Achtsamkeit um die Entwicklung der ei- keiten für den Berufs- und Lebensalltag.»
genen Persönlichkeit. «Mit Religion oder «Aufgrund seiner Biologie
Esoterik hat das nichts zu tun», betont neigt der Mensch dazu, Anwendung in der Psychotherapie
Monstein. «Wichtig ist, dies den Eltern In der Therapie angewandt wird Acht-
unangenehme Ereignisse
und auch im Kollegium zu vermitteln. Man samkeit auch in der Station für Per-
automatisiert zu bewerten und
soll ihnen darlegen, dass Schülerinnen sönlichkeitsstörungen an der psychi-
und Schüler dank Achtsamkeitsübungen dann schnell zu handeln. atrischen Klinik Münsterlingen. Dort
lernen, ihre Emotionen zu regulieren, ihre Für den Überlebenskampf werden Menschen behandelt, die bei-
Konzentrationsfähigkeit zu verbessern macht das Sinn, im komplexen spielsweise am Borderline-Syndrom,
und ihren Stress zu regulieren.» Alltag aber weniger.» an narzisstischen Störungen oder an
Bindungsstörungen leiden. «Wir führen
Parallel zu ihrer Unterrichtstätigkeit an regelmässige Achtsamkeitsübungen in
verschiedenen Schulen in der Ostschweiz – sie arbeitete als Pri- Gruppen- und Einzeltrainings durch», sagt die Pflegefachfrau
marlehrerin, aber auch als Heilpädagogin auf allen Schulstufen – Maria-Christina Tautorius. Sie bildet sich zur Lehrerin für MBSR
bildete sich Monstein laufend im Bereich Achtsamkeit weiter, («mindfulness-based stress reduction») und leitet die Achtsam-
reiste dafür nach Indien und in die USA. 2018 veröffentlichte sie keitstrainings in Münsterlingen. Zur Wirkung von Achtsamkeit
schliesslich das Kinderbuch «Binja – meine Reise durch die Welt sagt sie: «In acht Wochen, in denen regelmässig Achtsamkeits-
der Gefühle», 2020 folgten die dazugehörenden Unterrichtsma- übungen gemacht werden, können sich unter Stress entstan-
terialien. «Ich habe das Buch entwickelt, weil es kaum Lehrmittel dene Strukturen im Gehirn normalisieren oder zurückentwickeln.
zum Thema Achtsamkeit für die Schule gibt», sagt Monstein. Die Durch regelmässiges Praktizieren entsteht eine freundliche
«Binja»-Geschichte hole die Schülerinnen und Schüler in ihren innere Haltung sich selbst und anderen gegenüber.» Es gehe
eigenen emotionalen Erfahrungen ab und öffne sie für Metho- dabei auch darum, Automatismen, die allenfalls ungünstige
den aus dem Achtsamkeitstraining. Verhaltensweisen befördern, zu überwinden. Das werde etwa
möglich, wenn man lernt, Auslöser von Stress zu identifizieren.
Automatisches Handeln überwinden «Erkennt man die Auslöser, ist man ihnen nicht ausgeliefert,
Doch wie funktioniert Achtsamkeit eigentlich? «Bei Achtsamkeit sondern kann lernen, mit ihnen umzugehen», sagt Tautorius. So
geht es im Kern um das wertfreie und wohlwollende Beobachten schaffe man sich die Möglichkeit, sich in schwierigen Situatio-
von Zusammenhängen in der äusseren und der inneren Welt – nen angemessen zu verhalten.
also auch der eigenen Gedanken und Gefühle. Durch diese Be-
obachtung gewinnt man Einblicke in die unbewussten Denkmus- Das Konzept, Achtsamkeit in den Alltag einzubauen, erachtet
ter, die unsere Handlungen begründen», sagt die Psychologin sie auch für die Schule als sinnvoll. «Gerade Schülerinnen und
Brigitte Riedmann. «Aufgrund seiner Biologie neigt der Mensch Schüler können viel von regelmässigen Achtsamkeitsübungen
dazu, unangenehme Ereignisse automatisiert zu bewerten und profitieren. Die Kinder und Jugendlichen wachsen heute in
dann schnell zu handeln. Für den Überlebenskampf macht das einem Umfeld mit vielen Ablenkungen auf. Durch Achtsamkeits-
Sinn, im komplexen Alltag aber weniger», sagt Riedmann. Sie leitet training, können sie lernen, Zeit für sich selbst zu investieren und
das Zentrum für Achtsamkeit & Resilienz (ZAR) in St. Gallen und eine Pause von den vielen Ablenkungsangeboten des Internets
arbeitet dort viel mit Lehrpersonen und Schulleitungen. «Gerade und der sozialen Medien zu machen. So wird langfristig die Fä-
Lehrpersonen sind in ihrem Beruf oft sehr engagiert. Das macht higkeit gestärkt, sich auf eine bestimmte Aufgabe zu fokussie-
es schwieriger, sich von momentanen Impulsen und Gefühlen zu ren», sagt Tautorius. ¡
7FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
«Wenn ich vor
einer Prüfung
meditiere,
kann ich klarer
denken»
Wie kann Achtsamkeit in den Unterricht eingebaut
werden? Ein Besuch bei einer Primarschulklasse
während einer besonderen Lektion.
Die Klasse untersucht eine
Rosine: Wie sieht sie aus Text: Urs-Peter Zwingli
, wie schmeckt sie?
C écile Nadler verteilt einzelne Rosinen an ihre Fünft- und
Sechstklässler und gibt Anweisungen dazu. «Betrachtet
und befühlt die Rosinen ganz genau und hält sie ins Licht. Wie
fühlen sie sich an? Wie sehen sie aus?» Die Schülerinnen und
Schüler der altersgemischten Klasse der Primarschule in Wi-
len bei Wil beginnen eifrig mit der Untersuchung, drehen die
Rosinen hin und her. «Nun könnt ihr sie in den Mund nehmen,
aber noch nicht draufbeissen. Wie ist der Geschmack jetzt?
Und wie verändert er sich, wenn ihr draufbeisst?», sagt Cécile
Nadler.
Zum Auftakt der Lektion wenige Minuten zuvor sassen die
Kinder auf Sitzkissen neben ihren Pulten, die Augen geschlos-
sen, auf ihren Atem konzentriert. Diese Meditation, in der die
Lehrerin die Kinder im Geiste zurück in eine schöne Situation
am Wochenende führte, war wie der «Rosinentest» eine Acht-
samkeitsübung. Die 37-jährige Nadler führt diese regelmässig
mit ihren Schülerinnen und Schülern durch – normalerweise
sind es im Unterricht nur kurze Sequenzen. Für den Besuch
der Schulblatt-Redaktion Ende Januar gestaltete Nadler aber
eine ganze Lektion. «Auch die Schülerinnen und Schüler der
Primarstufe haben einen immer stressigeren Alltag und Corona
hat das noch verschärft. Achtsamkeit kann helfen, diesen Stress
zu reduzieren. Die Kinder lernen dabei auch, ihre Selbststeuer-
Schülerinnen
lt Rosinen an die ung und ihre Konzentration zu verbessern», sagt sie, die privat
Cécile Nadler tei
und Sc hü ler au s.
ebenfalls regelmässig Achtsamkeitsübungen macht.
8Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
Die Klasse beim Bodyscan.
Besonders beliebt vor Prüfungen
Nach den Übungen in der Klasse bespricht Nadler mit den Kin-
dern, was diese dabei empfunden haben – und wie sie Acht-
samkeit allenfalls in ihren Alltag einbauen könnten. «Betrachtet
zuhause einmal euer Essen so, wie wir es heute mit der Rosine tag dazugelernt. «In stressigen Situationen mit Schülerinnen und
getan haben. Nehmt euch Zeit, um langsam zu essen.» Einige Schülern oder in anspruchsvollen Gesprächssituationen mache
Schülerinnen und Schüler sagen, dass ihnen die regelmässigen ich nun oft innerlich einen Schritt zurück. Ich überlege dann mög-
Achtsamkeitsübungen in Stresssituationen helfen. «Wenn ich vor lichst distanziert von meinen aktuellen Emotionen, wie ich vor-
einer Prüfung einige Minuten in die Stille gehen soll. Das bringt meistens bessere
gehe, bin ich danach viel ruhiger. Ich kann Ergebnisse als eine schnelle Reaktion.»
dann klarer denken», sagt ein Sechst- «Es hilft mir auch in
klässler. Mehrere Mädchen und Jungen einem Streit. Wenn ich dabei Im Bodyscan die eigenen
pflichten ihm bei. Ein Schüler fügt an: «Es Stärken erkennen
so wütend werde, dass ich
hilft mir auch in einem Streit. Wenn ich da- Eine bekannte Achtsamkeitsübung ist
jemanden schlagen will, kann
bei so wütend werde, dass ich jemanden der sogenannte «Bodyscan», bei der man
schlagen will, kann ich mich fragen: Will ich mich fragen: Will ich das sich der Reihe nach auf die Empfindung
ich das wirklich und was soll das bringen?» wirklich und was soll das verschiedener Körperteile konzentriert.
bringen?» Zum Abschluss der Lektion macht die Wi-
Die Lehrerin sagt, es gebe durchaus auch lener Klasse einen solchen Scan im Ste-
Kinder, die wenig mit Achtsamkeit und da- hen, die Augen fest geschlossen. Nadler
mit verbundenen Übungen anfangen könnten. «Daneben kom- entwirft das Bild von Wurzeln, die aus den Füssen wachsen und
men manchmal aber auch einzelne Schülerinnen und Schüler auf sich tief im Boden verankern. Und von Armen und Händen, die zu
mich zu und fragen, ob sie ’in die Stille gehen’, also meditieren, starken Ästen werden. «Überlegt euch einmal, was eure Stärken
dürfen», sagt Nadler. «Und an Tagen, an denen die Klasse kribbe- sind. Und wo eure Wurzeln liegen, die euch Kraft geben.» Die Er-
lig ist, wende ich einfache Übungen auch spontan an.» Sie habe gebnisse aus dem Scan schreiben die Schülerinnen und Schüler
zudem dank ihres eigenen Achtsamkeitstrainings im Berufsall- auf ein Blatt, das sie schliesslich in ihrem Portfolio ablegen. ¡
9FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
1.
Sabrina ist Oberstufenlehrerin. Als sie gegen Ende
der besuchten Lektion einen Test ankündigt, knallt ein
Knabe wütend sein Heft auf den Tisch und drückt
Kindern Zeit lautstark seinen Unmut über die seiner Meinung nach
zu kurze Vorbereitungszeit aus. Sabrina geht einige
Schritte in seine Richtung, schaut ihn nachdenklich an
und offene Sinne und sagt: «Ich vermute, du bist gerade ziemlich genervt.»
Der Jugendliche murmelt etwas von Ungerechtigkeit
schenken und schaut dabei auf den Boden, worauf ihn Sabrina
fragt: «Hast du denn bereits eine Idee, wie wir deine
Vorbereitungszeit verlängern könnten, oder wollen wir
das später besprechen?»
Erinnern Sie sich an eine Lehrperson Ihrer
2.
Schulzeit, die zu Ihnen ans Pult gesessen ist und
mit staunenden Augen gesagt hat: «Wow, wie bist du
auf diese Idee gekommen? Erzähl mir davon!» Falls Im Kindergarten beobachte ich eine Praktikantin,
die mit einem Kind auf dem Boden sitzt und einen bun-
Sie einen solchen «magischen Augenblick» genies- ten «Losivogel» (aus Stoff, mit geschlossenem Schnabel
sen durften, hatten Sie wohl das Glück, von einem und grossen Ohren) in den Händen hält. Offensichtlich
achtsamen Menschen unterrichtet zu werden. Acht- erzählt das Kind dem Vogel gerade von der Grossmutter
in der Türkei, die nicht zu Besuch kommen kann. Weder
samkeit gegenüber Schülerinnen und Schülern ist die junge Frau noch der «Losivogel» sagen etwas, wäh-
keine moderne Methode, sondern die Entscheidung, rend das Kind immer wieder kurz nachdenkt, bevor es
sich für einen Moment ganz auf ein Kind einzulassen leise weiterredet.
und es ohne Erwartungen in seinen Gedanken,
Emotionen und Lernprozessen wahrzunehmen. 3.
Marc, Mittelstufenlehrer, berichtet mir von «Klein-
Text: André Kesper, Schulberater AV gruppen-Meetings», die er während der Corona-Pande-
mie im Fernunterricht durchführte. Jeden Tag traf er sich
A ls Schulberaterinnen und Schulberater geniessen wir das per Video mit jeweils drei Schülerinnen und Schülern
Privileg, hin und wieder Besuche im Unterricht machen zu während einer Viertelstunde. Das Gespräch mit der Klein-
dürfen. Etwa dann, wenn Lehrpersonen sich in Fragen der Klas- gruppe drehte sich dabei für einmal nicht um Schulstoff,
senführung oder des Unterrichtsmanagements coachen lassen sondern um Gedanken und Gefühle, welche die Kinder
und wir unser Gespräch auf live erlebten Sequenzen aufbauen. gerade beschäftigten. Marc hörte zu und beschränkte
Ich liebe Schulbesuche auch deshalb, weil ich fast jedes Mal sich auf Verständnisfragen oder streute hin und wieder
solche «magischen Momente» entdecke, die von Achtsamkeit eine ressourcenorientierte Frage ein, wie etwa: «Wie hast
gegenüber Kindern oder Jugendlichen geprägt sind, und in de- du das denn geschafft?». Tipps gab er in diesem Setting
nen die Schönheit des Lehrerinnen- und Lehrerberufs greifbar bewusst keine, machte sich aber Notizen.
wird. Dazu drei kleine Beispiele: *
10Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
Die drei Sequenzen zeigen winzige und gleichzeitig nachhaltige Präsenz schafft lernförderliches Klima.
Momente. Im Gespräch mit Lehrpersonen haben wir Merkmale Wenn ich als Lehrperson mit meinem ganzen Sein anwesend
von Achtsamkeit im Unterricht identifiziert: bin, im guten Kontakt mit mir selber, und eine aufmerksame,
wertschätzende und gewaltfreie Beziehung zu meinen Schüle-
rinnen und Schülern pflege, die sich in Worten, Blicken, Gesten
und Handlungen ausdrückt, dann schaffe ich die Vorausset-
Beziehung zungen für Sicherheit, Vertrauen und ein lernförderliches Klima.
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, nicht
nur mit meiner Klasse eine Beziehung zu pflegen, Jugendliche sind achtsamer, wenn es ihre
sondern mit jeder einzelnen Schülerin und jedem Lehrpersonen auch sind.
einzelnen Schüler. Der Bildungsforscher Hattie hat dargelegt, dass Schülerinnen
und Schüler erfolgreicher lernen, wenn sie sich und ihren Lern-
räsenz
P prozess bewusst wahrnehmen und einschätzen können. Sich
Ich blende Stoff, Umfeld oder Regeln aus und Zeit nehmen, um genau hinzuschauen, nachzufragen und zu re-
wende mich mit meinen Sinnen ganz einem Kind flektieren, ist die entscheidende Kompetenz. Wir Erwachsenen
oder einer Gruppe zu. sollten dies vorleben.
Zeit Achtsamkeit ist Voraussetzung für digitalen Unterricht.
Ich signalisiere meinem Gegenüber, dass ungestört Wir dürfen davon ausgehen, dass Unterricht in Zukunft noch
Zeit zur Verfügung steht. In Momenten der acht- hybrider (klassisch/digital sowie Einzel-, Gruppen- und Klas-
samen Zuwendung lasse ich auch wortlose Stille zu. sensetting) als heute sein wird. Nebst Technik und Organisation
sowie Didaktik und Methodik wird eine achtsame und individu-
Offenheit elle Lernbegleitung jedes Kindes wohl Grundvoraussetzung für
Ich löse mich bewusst von Erwartungen und Lernerfolg sein.
bewerte nichts.
Faire Beurteilung beruht auf achtsamer Wahrnehmung.
Neugier Im Beurteilungsreglement vom 27. August 2020 steht unter
Ich will erfahren, wie und was ein Kind denkt, fühlt anderem: «Die Gesamtbeurteilung ( … ) berücksichtigt neben
und lernt. Dabei können Fragen wie «Was denkst du der Beurteilung von Lernprodukten auch die Beobachtungen
gerade?», «Wie fühlt es sich an?» oder «Was hilft dir?» und Erfahrungen der Lehrperson aus der Lernbegleitung. Das
unterstützen. alleinige Abstellen auf einen Durchschnitt von Noten ist nicht
statthaft». Mit anderen Worten: Der Anspruch, Schülerinnen und
Verknüpfung Schüler «gesamthaft» zu beurteilen, ist nur mit achtsamer Wahr-
Was ich an Gedanken, Emotionen oder Lern- nehmung erfüllbar. Faire Beurteilung entsteht durch Zuwendung,
prozessen wahrnehme, halte ich in einem Journal nicht durch Arithmetik. Achtsamkeit sich selbst, der Umwelt und
fest und verknüpfe es mit früheren Eindrücken. So anderen Menschen gegenüber stärkt laut Studien das Immun-
entsteht in Mosaikform ein Bild der Persönlichkeit system und die Resilienz. Sie ist lern- und ausbaubar und kann
eines Kindes, das sich immer wieder verändert. Thema eines Coachings oder einer Beratung sein. Falls Sie daran
interessiert sind, kontaktieren Sie die Schulberatung. ¡
* S
ämtliche Namen und Situationen wurden so verändert, dass sie nicht
identifizierbar sind.
Achtsamkeit im Unterricht bedeutet, offene Ohren und Augen
für Schülerinnen und Schüler zu haben und ihnen vorurteils-
frei Zeit zu schenken. Ich stelle fünf Thesen zur Diskussion, die
darauf hinweisen, dass ohne Achtsamkeit kaum hochwertiger
Unterricht möglich ist: Schulberatung
Die Schulberatung unterstützt Lehrpersonen,
Achtsamkeit führt zur Individualisierung. Schulleitungen, Schulbehörden, Fachpersonen
Wer sich Zeit nimmt, in der Beobachtung und im Dialog den sowie weitere Mitarbeitende bei allen Fragen rund
Lernprozess jeder Schülerin und jedes Schülers wahrzuneh- um deren Arbeit für die Volksschule Thurgau.
men, wird erkennen, dass Interessen, Kompetenzen, Art und Die ersten sechs Beratungsstunden sind kostenlos.
Tempo des Lernens sowie Unterstützungsbedarf sehr unter-
schiedlich sind. Es ergibt darum Sinn, Lernangebote zu indivi- Kontakt
dualisieren und dabei die Selbstverantwortung der Kinder und 058 345 74 80, info.sb@tg.ch
Jugendlichen zu stärken.
11FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
«Viele Lehrpersonen warten lange,
bis sie sich Unterstützung holen»
Lehrpersonen sind trotz hoher Berufszufriedenheit überdurchschnittlich stark gefährdet, psychisch
zu erkranken. Ein achtsamer Umgang der Lehrpersonen sowie der Schulführung mit dem Thema Gesund-
heit kann vorbeugend wirken, sagt Bernd Ruoff, Leiter der Thurgauer Schulberatung.
Interview: Urs-Peter Zwingli
Das Thema Burnout wird seit Letzterer bedeutet, dass man selbst dann
einigen Jahren in der Öffentlich- zur Arbeit in der Schule erscheint, wenn
keit breit diskutiert. Immer wieder man psychisch angeschlagen oder krank
ist auch die Rede davon, dass ist. Beide sind auf längere Sicht nicht
Lehrpersonen dafür besonders unbedingt gesundheitsförderliche Kom-
gefährdet sind. Wie sehen Sie das ponenten. Zudem stellen wir immer fest,
als Leiter der Schulberatung? dass Lehrpersonen sehr lange warten,
Mehrere Studien weisen darauf hin, dass um sich Unterstützung zu holen. Die Situ-
Lehrpersonen zwar eine hohe Zufrieden- ation verbessert sich dadurch meist nicht.
heit im und Spass am Beruf haben. Gleich-
zeitig sind sie aber einer im Vergleich zu an- Hat die Belastung im Lehrberuf
deren Berufsgruppen überdurchschnittlich zugenommen? Und wenn ja, durch
Zur Person hohen Gefahr von psychischen oder psy- welche Faktoren?
Bernd Ruoff (*1966) leitet im Amt chosomatischen Krankheiten ausgesetzt. Aus Sicht der Schulberatung hat die
für Volksschule den Fachbereich Auch in der Schweiz ist laut einer Erhe- Belastung in den letzten Jahren klar
Schulberatung. Er hat unter anderem bungen rund ein Drittel der Lehrpersonen zugenommen. Die Aufgaben der Lehr-
an der Universität Konstanz Sozial- burnout-gefährdet. Aber nicht nur Lehr- personen sind deutlich komplexer und
wissenschaften studiert, in diversen personen, auch Schulleitungen sind sehr vielfältiger geworden. Eine Lehrperson
Institutionen im Sozial- und Bildungs- belastet. Das sind alarmierende Befunde. wendet heute sehr viel Zeit für andere
wesen gearbeitet sowie zahlreiche Einerseits steckt hinter diesen Zahlen viel Tätigkeiten auf neben dem eigentlichen
Weiterbildungen im Supervisions- und menschliches Leid, andererseits sind die Unterrichten. Parallel zur Komplexität
Coachingbereich absolviert. wirtschaftlichen Kosten durch belastungs- sind auch die gesamtgesellschaftlichen
bedingte Krankheiten immens hoch. Ansprüche an die Schule gestiegen. Und,
Kontakt was Lehrpersonen im Unterricht wohl am
bernd.ruoff@tg.ch, Tel. 058 345 74 88 Wie zeigt sich das in der Praxis? stärksten spüren: Die Heterogenität der
Was sind typische Anfragen, Klassen hat zugenommen. Im Extremfall
die die Thurgauer Schulberatung reicht das Spektrum von verhaltensauf-
erreichen? fällig bis hochbegabt.
Viele Anfragen die wir erhalten, haben
mit Dingen zu tun, die Belastungen aus- Gibt es unter dem Schulpersonal
gelöst haben und weswegen Lehrper- Altersgruppen, die besonders
sonen auch oft zu uns kommen. Von den anfällig für stressbedingte
Themen her erreicht uns eine grosse Erkrankungen sind?
Bandbreite: Umgang mit herausfor- Nein, das kann man so pauschal nicht
dernden Schülerinnen und Schüler oder sagen. Entscheidend für einen konstruk-
schwierigen Klassenkonstellationen, tiven Umgang mit Belastung und Stress
belastende Kommunikation mit Eltern, sind vielmehr die individuelle Veranla-
Konflikte im Kollegium oder Fragen zum gung, Lebenserfahrung und die jewei-
eigenen Zeitmanagement sind nur einige lige Bewältigungskompetenz und nicht
Beispiele. Versteckt, also nicht in der An- unbedingt das Alter. Jene Lehrpersonen,
frage enthalten, zeigt sich bei Lehrper- die achtsam mit sich sind, erkennen Be-
sonen oftmals auch ein gewisser Hang lastungen oft früher – und wissen in der
zum Perfektionismus und Präsentismus. Regel, wie sie damit umgehen können.
12Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
Wie wichtig ist dieses Erkennen leitungen und Schulbehörden haben Gibt es denn Programme, die Sie
der eigenen Empfindungen? hier eine grosse Verantwortung, gute empfehlen können?
Eine gute Selbstfürsorge und ein acht- Bedingungen für eine gesunde Schule Ich empfehle etwa das Angebot «Schule
samer Umgang mit sich selbst, aber auch zu schaffen. Das bedeutet erst mal, dass handelt» von Radix. Auf Basis von Befra-
das Kennen der eigenen Belastungs- auch sie selbst achtsam mit sich umge- gungen der Lehrpersonen einer Schule
grenzen sind wichtig, damit Lehrpersonen hen und das auch vorleben. Gesundheit geht es darum, gesundheitsfördernde
im Beruf langfristig gesund bleiben und als Thema sollte deshalb in jeder Schule Aspekte und Ressourcen zu identifizie-
Freude empfinden. Nur ist dies kein Selbst- nachhaltig verankert sein. Wichtig ist da- ren und zu stärken sowie offensichtliche,
läufer. Ich spreche da auch aus eigener Er- bei, dass dies nicht einfach von oben ver- stresstreibende Faktoren zu erkennen
fahrung. Es braucht Disziplin, sich selber und wenn möglich abzumildern. Ich habe
und sein Handeln regelmässig zu hinter- das Angebot in einigen Thurgauer Schu-
fragen und bewusst etwas für sich zu tun. «Aus Sicht der Schul- len mit guten Resultaten durchgeführt.
Das fängt bei ganz grundlegenden Dingen beratung hat die Belastung Da es sich auch um die Analyse von
wie genügend Schlaf, einer möglichst kla- bestehenden Stressoren handelt, durch
in den letzten Jahren klar
ren Trennung von Arbeit und Freizeit oder die einige Verbesserungsmassnahmen
zugenommen. Die Aufgaben
der regelmässigen Pflege von Hobbys und ersichtlich werden, müssen die Schulen
entspannenden Tätigkeiten an. der Lehrpersonen sind das Rad nicht jedes Mal neu erfinden.
deutlich komplexer und Gesundheitsförderung muss nicht in un-
Was trägt weiter dazu bei, die vielfältiger geworden.» nötigen Stress ausarten. ¡
Gesundheit von Lehrpersonen zu
fördern?
Ich möchte betonen, dass Lehrpersonen ordnet wird, sondern partizipativ erfolgt.
trotz der grossen Bedeutung einer acht- Schulen die sich bewusst der Gesund- «Schule handelt»
samen Selbstfürsorge für ihre Gesund- heitsförderung zuwenden, haben meist Angebot und Infos
heit nicht alleine verantwortlich sind. auch ein gutes Schulklima. Das wirkt sich radix.ch › Gesunde Schulen ›
Eine Schule braucht als Ganzes eine somit auch positiv auf die Lernmotivation Angebote › Schule handelt
gesundheitsfördernde Haltung. Schul- und den Schulerfolg der Kinder aus.
13FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
«Es muss
nicht immer ein
Berufswechsel
sein»
Die Laufbahn aktiv zu gestalten, ist für
Lehrpersonen wichtig – auch, um Frustration und
Unzufriedenheit vorzubeugen. Schul- und
Laufbahnberatung können helfen, eine passende
Entwicklungsmöglichkeit zu finden. Manchmal
genügt schon eine kleine Veränderung, um sich
im Lehrberuf wieder wohler zu fühlen.
Text: Marion Loher, Journalistin BR
A nton Z. ist seit fünf Jahren Lehrer einer dritten Klasse.
Das Unterrichten gefällt ihm gut. Trotzdem fragt er sich
in letzter Zeit immer öfter, ob der Lehrberuf für ihn noch der
«Wenn der Energiehaushalt nicht mehr im Lot und die eigene
Gesundheit betroffen ist, geht es in erster Linie darum, die im
Beruf erlebten Belastungen zu verringern.» Wichtig sei, fügt
Richtige ist oder ob er allenfalls eine Neuorientierung wagen Susanne Schweri an, sich mit jemandem über die Probleme
soll. Das gewählte Beispiel ist zwar fiktiv, die Situation jedoch auszutauschen. Das könne beispielsweise die Schulleitung
nicht aus der Luft gegriffen. Viele Lehrerinnen und Lehrer kom- oder eine Berufskollegin sein. Oder man wendet sich an eine
men irgendwann an einen Punkt, an dem sie sich diese Fra- Aussenstelle wie die Schulberatung.
gen stellen. «Und das ist auch gut so»,
sagt Susanne Schweri, Schulberaterin Gemäss der aktuellen Laufbahnfor-
beim Amt für Volksschule. Sie plädiert schung ist es zentral, dass sich Personen
dafür, regelmässig innezuhalten und sich «Gemäss der aktuellen Lauf- aktiv um ihre Laufbahn über die ganze
darüber Gedanken zu machen, wo man bahnforschung ist es zentral, Lebensspanne hinweg kümmern, bei-
steht. Dabei sollte man sich selbst fra- dass sich Personen aktiv um spielsweise durch Netzwerke, Laufbahn-
gen, ob man mit der Arbeit noch zufrie- ihre Laufbahn über die ganze planung, Informationsbeschaffung oder
den ist und sich gesund fühlt. «Achtsam Lebensspanne hinweg küm- Weiterbildung. Dies auch aufgrund der
mit sich selbst zu sein, ist sehr wichtig», mern, beispielsweise durch zunehmenden Dynamik und Komplexität
sagt die Schulberaterin. So könne eine Netzwerke, Laufbahnplanung, der Schule und des Unterrichtens. «Bei
gute Balance zwischen Beruflichem und Informationsbeschaffung der Standortbestimmung geht es darum,
Privatem gefunden werden. einen inneren Kompass zu entwickeln»,
oder Weiterbildung.»
sagt Dorothea Wiesmann. Dabei werde
Einen inneren Kompass entwickeln die Selbsterkenntnis gefördert und die
Der Wunsch nach Veränderung kann Person habe die Kompetenz, aktiv ge-
unterschiedliche Gründe haben, wie Dorothea Wiesmann, wisse Entscheidungen zu treffen und die eigene Laufbahn be-
Regionalstellenleiterin des Berufsinformationszentrums BIZ wusst zu gestalten. «Personen, die sich ihrer beruflichen Ziele
in Kreuzlingen, weiss. «Bei den einen sind es eigene Interes- im Klaren sind, zeigen im Allgemeinen mehr Engagement in
sen, die stärker zum Tragen kommen sollen, bei den anderen ihrer Laufbahn und sind erfolgreicher und zufriedener in ihrer
veränderte Arbeitsbedingungen, die den Ausschlag für eine beruflichen Entwicklung.»
Standortbestimmung geben.» Letztere können bei Lehrerinnen
und Lehrern beispielsweise steigende oder sinkende Schüler- Oft genügen kleine Veränderungen
zahlen sein, eine sich verändernde Fächerkonstellation oder Viele Lehrerinnen und Lehrer, die zum ersten Mal zu Susanne
die Funktion als Klassen- oder Fachlehrperson, die zu denken Schweri in die Beratung kommen, hätten das Gefühl, dass sie
gebe. Das kann zu Frustration und Unzufriedenheit führen. gleich das gesamte berufliche Leben auf den Kopf stellen
«Auch aus Konflikten und Situationen, die einen belasten, kann müssen. Doch dem ist meistens nicht so. «Es bedarf nicht im-
das Bedürfnis entstehen, neue Perspektiven zu entwickeln und mer einer anderen Stelle, einer neuen Ausbildung oder eines
berufliche Alternativen zu prüfen», sagt die Laufbahnberaterin. kompletten Berufswechsels», sagt die Schulberaterin. «Oftmals
14Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
genügt schon die Reduktion des Pensums oder der Wech-
sel von der Klassen- zur Fachlehrperson, damit sich die Wie Thurgauer
Lehrpersonen
Lehrperson wieder wohler in ihrem Job fühlt.» Manchmal
seien es sogar noch kleinere Veränderungen, die grosse
Wirkung zeigten, wie beispielsweise das Absolvieren einer
Weiterbildung oder die Neugestaltung des Elterngesprä-
ches. «Jede Veränderung ist eine Entwicklung und damit Achtsamkeit
im Schulalltag
auch ein Schritt nach vorne.»
Die Entwicklungsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer
sind heute vielfältiger als noch vor zehn Jahren. So gibt
es beispielsweise berufsnahe Aus- und Weiterbildungen,
Zwischenlösungen, Auslandaufenthalte oder einen Be-
einsetzen
rufswechsel. Letzterer ist allerdings – trotz fundierter pä-
Thurgauer Lehrpersonen und Schulleitungen
dagogischer Ausbildung und Praxis – ohne Zweitausbil-
dung kaum realisierbar. Wer jedoch in der Branche bleiben erzählen von ihren persönlichen Bezügen zur
möchte, kann sich beispielsweise auf ein Fach spezialisie- Achtsamkeit. Eine zentrale Aussage ist, dass
ren oder weitere Fächer hinzunehmen. Man kann in die
auch Schülerinnen und Schüler von der Methode
Bildungsforschung oder die Lehrmittelbearbeitung wech-
seln. Möglich ist auch, sich zur Schulleiterin, schulischen profitieren können.
Heilpädagogin oder Logopädin weiterbilden zu lassen oder
die Unterrichtsstufe zu wechseln, etwa von der Sekundar- Umfrage: Urs-Peter Zwingli
stufe I in die Berufsfachschule. Zwischenlösungen könnten
Stellvertretungen, Teil-Pensen oder Fortbildungen sein und
im Ausland wäre der Unterricht an einer Schweizerschule
eine Option.
Peter Hinderling (60)
Den Lehrerberuf neu entdecken Schulleiter Primarschule,
Sowohl bei der Schulberatung als auch bei der Laufbahn- Romanshorn
beratung wird zuerst eine Auslegeordnung gemacht, wobei
nicht nur die berufliche Situation thematisiert wird, sondern
auch die Biografie und die aktuelle Lebenssituation, per-
sönliche Interessen und Werte. Zusammen mit der Lehr-
U nsere Schule wendet
seit Jahren das Lehrmit-
tel «Denk-Wege» an, das früher
person werden dann Veränderungsideen besprochen und «Programm zur Förderung alternativer Denkstrategien»
Argumente zusammengetragen. Die Beratung an sich kann hiess. Darin geht es darum, soziale Kompetenzen bei
über eine längere Zeit dauern, die Ergebnisse sind indivi- Schülerinnen und Schülern zu fördern. Das Lehrmittel
duell. «Nicht selten entscheiden sich Lehrerinnen und Leh- spricht stark die Bedeutung der Gefühlsebene an und
rer nach gründlicher Reflexion neu für ihren Beruf», sagt thematisiert beispielsweise Konfliktbewältigung, Aus-
Laufbahnberaterin Dorothea Wiesmann. «Dies häufig mit grenzung, Wahrnehmung der anderen, aber auch die
der Begründung, kein anderer Beruf erscheine ihnen so Arbeitsorganisation. Achtsamkeit spielt darin – auch
sinnvoll, vielseitig und spannend wie der ihrige.» ¡ wenn der Begriff so nicht explizit verwendet wird – eine
wichtige Rolle. Das Ziel von Bestrebungen zu mehr
Achtsamkeit ist letztendlich ein gutes Wohlbefinden für
alle Personen in der Schule. Das macht fokussiertes
Arbeiten möglich und stärkt langfristig die Gesundheit
der Lehrpersonen sowie der Schülerinnen und Schüler.
Dieser Punkt ist wichtig, weil der Stoffdruck, den Lehr-
personen und ihre Klassen bewältigen müssen, laufend
zunimmt. Achtsamkeit kann dabei helfen, Lernstrate-
gien zu entwickeln und mit Druck umzugehen. Ich habe
kürzlich eine Weiterbildung zu achtsamkeitsbasierten
Methoden für den Schulalltag begonnen. Dies aus per-
sönlichem Interesse, aber auch, um neue Impulse für
die Anwendung von «Denk-Wege» zu finden. Mein Ziel
ist, auch den Lehrpersonen in unserer Schule achtsam-
keitsbasierte Methoden näher zu bringen. Doch das
braucht Zeit und kann nicht an einem Weiterbildungs-
tag vermittelt werden.
15FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
Janaira Schär (38) Márcia Mohn (44)
Sekundarlehrerin, Fachlehrerin TTG/Englisch Primarschule,
Felben-Wellhausen Frasnacht
M omentan plane ich mehrere Projekte zur Acht-
samkeitspraxis. So wird auf das neue Schuljahr
ein Freifach «Achtsamkeit und Meditation» an unserer
A us Neugier habe ich in meinem Bildungssemes-
ter einen Weiterbildungskurs zu Achtsamkeit in
der Schule gemacht. Seither ist Achtsamkeitstraining
Schule ausgeschrieben, das ich betreuen werde. Kurze ein fester Bestandteil meines Alltags. Später habe ich
Atemübungen und Meditationen setze ich bereits heute einen MBSR-Kurs absolviert und aktuell nehme ich
im Unterricht ein. Weiter plane ich gemeinsam mit ei- am Lehrgang «Mindfulness in Education» am Zentrum
ner Kollegin, mit der ich gemeinsam eine Ausbildung für Achtsamkeit & Resilienz in St. Gallen teil. Mit den
zur Achtsamkeitslehrerin mache, ein niederschwel- Schülerinnen und Schülern mache ich bei Bedarf kurze
liges Achtsamkeitsangebot für Lehrpersonen. Dieses Achtsamkeitsübungen, etwa wenn sie unruhig sind
findet regelmässig online über Zoom statt, man kann oder vor einer Prüfung. So lernen die Kinder, sich und
unverbindlich und ohne Verpflichtungen daran teilneh- ihre Emotionen besser wahrzunehmen.
men. Die Sitzungen werden etwa eine halbe Stunde Das hilft ihnen unter anderem dabei,
dauern und vor allem einfache Meditationen und Un- sich besser zu konzentrieren. Aus-
terrichtsideen vermitteln. Ich selber bin auch über serdem verbessert sich dank Acht-
eine Freundin zur Achtsamkeit gekommen. Ich hatte samkeitsübungen ihre Fähigkeit zur
damals eine schwierige Situation an meiner Schule, Selbststeuerung. Und weil die Kinder
mit einem herausfordernden Schüler und einem eben- lernen, eigene und andere Gefühle
solchen Elternverhältnis. Damals merkte ich, dass ich besser wahrzunehmen und zu akzep-
eine Technik haben möchte, um mich vom Stress nicht tieren, nimmt die gegenseitige Rück-
überwältigen zu lassen. Ich habe mittlerweile verschie- sichtnahme in der Klasse zu.
dene Kurse zu Achtsamkeit und Bildung gemacht und
meditiere regelmässig. Das bringt mir innere Ruhe und
Gelassenheit in schwierigen Situationen und auch et-
was Nachsicht im Umgang mit mir selber.
Tina Blanke (43)
Mit meinen Schülerinnen und Schülern mache ich Schulische Heilpädagogin Oberstufe,
beispielsweise am Anfang von Lektionen kurze Atem- Heilpädagogisches Zentrum, Romanshorn
übungen oder etwas Stretching. Oder ich lasse sie aus
einem Kartenset mit verschiedenen Emotionen eine
auswählen, die ihre momentanen Gefühle zeigt. Viele
Schülerinnen und Schüler haben mir gesagt, sie fühlten
I ch habe begonnen, Atemübungen auszuprobieren,
unter anderem auch, weil ich sehr starkes Asthma
hatte. Bewusst zu atmen, hat mir dabei geholfen. Zudem
sich dank der Übungen gelassener und könnten besser mache ich seit einigen Jahren Yoga. Weil sich solche
mit Stress umgehen. achtsamen Techniken für mich sehr gut angefühlt ha-
ben, habe ich vorsichtig damit begonnen, diese in den
Unterricht einzubauen. In der Sonderpädagogik, speziell
Weitere Infos sowie der Zoom-Link für die Teilnahme in Sonderschulen, ist die Schulung der Wahrnehmung
an den Meditationsabenden für Lehrpersonen sind zentral. Dazu hat Achtsamkeit einen Beitrag geleistet,
unter anmeldung@clickandrelax.ch erhältlich. die Körperwahrnehmung der Schülerinnen und Schüler
hat sich verbessert. Auch sind sie dadurch wacher, kon-
zentrierter und präsenter, insbesondere
nach gemeinsamen Übungen. Mittlerweile
fordert meine Klasse sogar regelmässig
von mir, dass ich Achtsamkeitsübungen
durchführe. Mit Corona hat sich auch für
unsere Schülerinnen und Schüler der
Stress erhöht. So ist Achtsamkeit in den
letzten Monaten als Mittel zur Entspan-
nung noch wichtiger geworden.
16Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
Marco Voney (51) Natalie Mutti-Bossi (37)
Schulsozialarbeiter, Sekundarlehrerin, Wängi
VSG Sulgen
I ch habe eine Ausbildung N eben meiner Lehrtätigkeit habe ich eine Ausbil-
dung zum Coach CAS und zur Yoga-Instruktorin
gemacht und dann vor vier Jahren Yoga als Freifach in
zu gewaltfreier Kommunikation gemacht und dabei
festgestellt, dass Achtsamkeit dabei hilft, die Methode unserer Schule eingeführt. Im Yogaunterricht sind viele
zu vermitteln und zu vertiefen. Ich habe auch eine Nähe Elemente von Achtsamkeit enthalten. Ich habe gemerkt,
zum Thema, weil ich privat meditiere und Yoga mache. dass die Schülerinnen sich im Freifach Yoga sehr auf
Achtsamkeit als Methode auch an Schulen hat in den diese Achtsamkeitsübungen eingelassen haben. Da-
letzten Jahren an Akzeptanz gewonnen. Dazu beige- rauf habe ich kurze, einfache Sequenzen wie Dehn-,
tragen hat sicher, dass es mittlerweile viele wissen- Aufmerksamkeits- oder Entspannungsübungen auch
schaftliche Belege für die positiven Auswirkungen von im normalen Unterricht eingesetzt. Auch Techniken wie
regelmässigen Achtsamkeitsübungen gibt. PMR (Progressive Muskelentspannung) oder TRE (Ten-
sion and Trauma Releasing Exercises) wende ich regel-
Nach einer Weiterbildung zum Thema «Achtsamkeit mit mässig an. Gerade vor Prüfungen oder bei Unruhe im
Kindern» habe ich 2019 in zwölf Primarschulklassen Klassenzimmer hat sich das
das «Binja»-Kinderbuch in den Unterricht eingeführt. bewährt. Oft grinsen einige
Zu dieser Geschichte gehören auch einfache Medita- Schülerinnen und Schüler
tions- und Atemübungen. In diesen Lektionen konnten dann, doch am Ende machen
die Schülerinnen und Schüler für einmal das Aussen alle mit und die Situation ist
loslassen und sich nach Innen wenden. Sie lernen sich danach entspannter.
dabei besser kennen und können so in der Schule eine
neue, wichtige Erfahrung machen. Die Rückmeldungen Mein Ziel ist es in erster Linie,
waren sehr positiv, ich werde bis heute immer wieder dass die Schülerinnen und
von Kindern gefragt, ob es eine Weiterführung gebe. Schüler lernen, wie sie sich
entspannen und Stress redu-
Lehrpersonen müssen aber nicht ganze Lektionen zieren können. Wichtig ist mir
zur Achtsamkeit abhalten. Kurze Übungseinheiten ge- auch, dass sie ihre Gefühle wahrnehmen – ob positiv
nügen, um beispielsweise an einem schwierigen Tag oder negativ – und darüber sprechen können. Das sind
mehr Ruhe in den Unterricht zu bringen. Als Schul- alles Dinge, die im normalen Unterricht zu kurz kom-
sozialarbeiter wende ich Achtsamkeitsübungen auch men. Gerade Mädchen werden in der Sekundarstufe
in Einzelberatungen für Schülerinnen und Schüler an. oft durch die lauteren Jungs übertönt. Mit Achtsamkeit
Sie können beispielsweise dabei helfen, ein diffuses lernen sie, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrü-
Problem oder Ängste zu erkennen und zu benennen. cken. So wächst auch ihre Selbstsicherheit. Achtsam-
keitstraining fördert auch mehrere Kompetenzen aus
dem Lehrplan. Unter anderem wird damit die Selbst-
wahrnehmung gefördert, so verbessert sich auch die
Selbststeuerung und die Konzentrationsfähigkeit.
17FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
Petra Hinrichsen (48)
Sekundarlehrerin,
Steckborn
V or drei Jahren habe ich an unserer Schule eine
Projektwoche zum Thema Work-Life-Balance
durchgeführt. Dort wurden etwa Yoga, Achtsamkeit und
Michael Kubli (44)
Meditation behandelt. Das Interesse der Schülerinnen Schulleiter Sekundarschule, Kreuzlingen
und Schüler war sehr gross. Der Erfolg dieser ersten
Projektwoche hat zu einer zweiten im Oktober 2020
geführt. Dort haben wir Achtsamkeit ganz ins Zen- I n der heutigen Welt ist vieles im Umbruch und Corona
hat diesen Zustand verschärft. Als Folge davon lei-
den viele Schülerinnen und Schüler unter der fehlenden
trum gerückt. Ich selber mache seit zehn Jahren Yoga
und habe vor drei Jahren einen MBSR-Kurs gemacht. äusseren Stabilität und unsicheren Zukunftsaussichten.
Seither habe ich mich im Bereich Achtsamkeit laufend Ich sehe beispielsweise, dass die Achtklässler an un-
weitergebildet. Im normalen Unterricht mache ich mit serer Schule, die mitten in der Berufswahl stehen, Äng-
der Klasse oft eine kurze Meditation zum Start einer ste erleben. Der Aufbau einer inneren Stabilität kann
Lektion. Oder ich lasse die Schülerinnen und Schüler helfen, mit diesen Unsicherheiten besser umzugehen.
zu beruhigender Hintergrundmusik Englischvokabeln Hier kommt Achtsamkeitstraining ins Spiel: Dank
aufschreiben mit dem Ziel, sich ganz auf das Schrei- Achtsamkeit kann man sich auf sich selber und seine
ben und Erinnern der Wörter zu fokussieren. Manchmal Stärken besinnen. Auch die Lehrpersonen standen im
schalte ich auch spontan eine Achtsamkeitsübung ein, vergangenen Jahr wegen der coronabedingten Schul-
wenn ich viel Unruhe in der Klasse spüre. Ich denke, schliessungen stärker unter Druck – und die Situa-
dass die Schülerinnen und Schüler davon profitieren, tion bleibt unsicher. Das heisst, dass auch
sich auf ein einzelnes Medium, eine einzelne Tätigkeit Lehrpersonen mehr innere
zu konzentrieren. Ihr Alltag ist ja eher reizüberflutet. Stabilität brauchen, weil ihre
Auch für meine Arbeit bringen mir regelmässige Acht- jahrelang erprobten Strategien
samkeitsübungen Vorteile. Ich bin fokussierter, habe plötzlich nur noch begrenzt
eine innere Ruhe und Kraft. Das hilft mir in schwierigen gültig sind. Selber war ich vor
Situationen. etwa einem Jahr als Schullei-
ter an einem Punkt, an dem ich
Derzeit baue ich für das nächste Schuljahr ein Freifach bezüglich meiner Ressourcen
auf, in dem Achtsamkeit mit Yoga kombiniert wird. Zu- an eine Grenze kam und die
dem kann ich mir gut vorstellen, auch Kolleginnen und Gedanken häufig unkontrolliert
Kollegen an das Konzept heranzuführen – etwa mit um berufliche Probleme kreis-
einem Inputreferat an einer Weiterbildung. ten. Der Ausweg war eine offene
Kommunikation im Team und mit meinen Vorgesetzten
und eine persönliche Auseinandersetzung mit den Res-
sourcen, zum Beispiel durch einen Kurs in achtsam-
keitsbasierter kognitiver Therapie (MBCT). Dort lernte
ich einfache Techniken kennen, wie ich meine Gedan-
ken durchbrechen kann, bevor sie anfangen, zu kreisen.
Dazu gehörten etwa Atemtechniken, Yoga-Übungen
oder Meditationen. Ich wende sie bis heute an, um im
Alltag meinen Fokus auf das Wesentliche zu schärfen.
18Schulblatt Thurgau 1 | März 2021 FOKUS
Schule der
Achtsamkeit dauernden Übung erhalten die Kinder Zeit, über das Erlebte zu
sprechen. Übungen wie diese finden mehr und mehr Eingang
in alle Stufen unserer Schulen. Sie haben mit Wahrnehmung
Der Stress in unserer Gesellschaft nimmt zu – zu tun und sind grundlegend in der Schulung von Achtsamkeit.
auch bei Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Es geht um Körperempfinden, Sinneserfahrungen, Gefühlsaus-
druck und Erkennen von Gedanken.
Schülern. Die Schulung von Achtsamkeit kann in
dieser Situation helfen, innere Ruhe zu gewinnen. Was bewegt Lehrerinnen und Lehrer dazu,
Diese kann zum Gelingen von Dialog und sich diesem Thema anzunehmen?
Eine Studie zu Ressourcen und Belastungen bei Lehrpersonen
Begegnung in der Schule beitragen. in der Schweiz von 2014 nennt drei zentrale berufliche Heraus-
forderungen: Störungen in der Schulklasse, Konflikte mit Eltern
Text: Ursula Frischknecht-Tobler, PHSG & Regula Nussbaumer, PHZH und die Vielzahl der Aufgaben. Lehrpersonen müssen einem
I n einer 6. Klasse öffnet die Lehrerin vor Unterrichtsbeginn
das Fenster. Es ist Frühling, draussen singen die Vögel, die
Blätter der grossen Linde vor dem Schulhaus rascheln im Wind.
«Jon Kabat-Zinn (2015) bezeichnet
Achtsamkeit als ein ‹nicht urteilendes
Gewahrsein von Moment zu Moment›,
Die Lehrerin schlägt die Klangschale an, worauf die Kinder ihre
Augen schliessen und den Worten der Lehrerin folgen: «Tief was bedeutet, ganz bewusst im gegen-
ein- und ausatmen, ganz bei dir ankommen … Lass es ruhig wärtigen Augenblick präsent zu sein.»
werden in dir … Nun die Aufmerksamkeit auf die Geräusche
draussen richten. Lausche den Vögeln, den Geräuschen der
vorbeifahrenden Fahrzeuge und höre auch auf die anderen weitreichenden Beziehungsnetz von Eltern, Schülerinnen und
Geräusche, die sonst noch kommen und gehen … Für jedes Schülern sowie Team und Schulleitung gerecht werden. Als Teil
neue Geräusch halte einen Finger auf, dann lass es los und einer leistungsorientierten Gesellschaft wird Druck für Lehr-
lausche auf Neue … » Nach dieser etwa zwei bis drei Minuten personen zu einer alltäglichen Erfahrung und für viele zuneh-
19FOKUS Schulblatt Thurgau 1 | März 2021
mend auch zu andauerndem Stress mit Einfluss auf Leistungs-
fähigkeit und Wohlbefinden (Kunz-Heim, Sandmeier & Krause,
2014). Auch Kinder und Jugendliche kommen vermehrt mit der
Erfahrung von Stress in Berührung. Die Juvenir-Studie (Günt-
zer, 2017) aus der Schweiz nennt bei Jugendlichen Verunsiche-
rung und Angst um die berufliche Zukunft und den verinnerlich-
ten gesellschaftlichen Leistungsdruck als zentrale Ursache
von Stress und Überforderung. Die zunehmende Tendenz zur
Selbstoptimierung führt zu übersteigerten Erwartungen und
bringt weitere Belastungen. Aus einem inneren Ort der Ruhe
und Gelassenheit zum Gelingen von Dialog und Begegnung in
der Schule beizutragen, steht immer deutlicher als Imperativ im
Raum und erklärt vielleicht die Resonanz, die eine Schulung von
Achtsamkeit bei Lehrpersonen auslöst. solchen Momenten mitfühlend zu begegnen, kann uns wieder
mit unserem Glauben an uns selbst verbinden (Frischknecht-
Worum geht es bei der Achtsamkeit? Tobler, 2019). Eine wichtige Qualität der Achtsamkeit ist zu-
Noch vor wenigen Jahren war Achtsamkeit als Begriff kaum dem, unsere Erfahrungen nicht gleich nach gut oder schlecht,
jemandem bekannt. Ursprünglich aus der buddhistischen Psy- richtig oder falsch zu beurteilen, sondern bei der schlichten
chologie stammend, finden wir heute die Achtsamkeit in fast Wahrnehmung der Erfahrungen mit ihren angenehmen und
allen gesellschaftlichen Feldern, vom Gesundheitswesen, wo unangenehmen Aspekten zu bleiben. Impulse, aus einer inne-
sie mit dem MBSR-Training von Jon Kabat-Zinn in den 70er ren Reaktanz oder Gewohnheit heraus zu handeln, können so
Jahren des letzten Jahrhunderts ihren Anfang nahm über die erkannt werden, was die persönliche Komfort-Zone erweitert.
Wirtschaft, das Bildungswesen und die Der österreichische Neurologe und Psy-
Politik bis hin zur Justiz. Für den Alltag, chiater Viktor Frankl bringt dies auf den
der heute immer mehr als hektisch, unsi- Punkt: «Zwischen Reiz und Reaktion gibt
cher, belastet und komplex wahrgenom- «Wenn es Lehrpersonen es einen Raum. In diesem Raum haben
men wird, gibt es eine riesige Zahl von gelingt, immer wieder in- wir die Freiheit und die Macht, unsere
Büchern und Apps als Einstieg in die nezuhalten und jedes Kind in Reaktion zu wählen. In unserer Reak-
Thematik und die Praxis der Achtsam- seiner Art wahrzunehmen und tion liegen unser Wachstum und unsere
keit. Jon Kabat-Zinn (2015) bezeichnet wertzuschätzen, es zu sehen Freiheit.»
Achtsamkeit als ein «nicht urteilendes und ihm zuzuhören, kann
Gewahrsein von Moment zu Moment», Vertrauen wachsen und pro- Achtsamkeit macht diesen Raum mög-
was bedeutet, ganz bewusst im gegen- lich und lässt uns mit dem vollen Spek-
duktives Lernen stattfinden.
wärtigen Augenblick präsent zu sein. trum des Erlebens zutiefst in Berührung
Gleichzeitig nehmen Verhal-
gehen, denn «der gegenwärtige Moment
Verschiedene Aspekte der Achtsamkeit tensauffälligkeiten ab.» ist der einzige, den wir je erfahren wer-
kommen in dieser Definition zum Aus- den – um zu leben, um etwas zu fühlen,
druck. Zum einen ist es die Fähigkeit, die um zu wachsen oder geheilt zu werden,
Aufmerksamkeit gezielt auf die Erfahrungen des Jetzt (Hören, um zu lernen oder um unsere Gefühle zum Ausdruck zu bringen»
Sehen, Spüren, Gedanken, Emotionen) zu lenken und nicht in (Kabat-Zinn, 2015, S. 10). Aus der Achtsamkeitspraxis heraus
der Zukunft oder in der Vergangenheit zu verweilen. Weiter können wir lernen, uns zu entscheiden für das Leben wie es ist.
beinhaltet Achtsamkeit die Komponente von Bewusstsein im Wir können uns entscheiden, auf eine neue Art durchs Leben zu
Sinne einer Beobachter- oder Adlerperspektive, die die aktuelle gehen: freundlich, grosszügig, mit offenem Herzen, mitfühlend,
Erfahrung offen wahrnimmt. Zu oft sind wir gefangen in auto- akzeptierend und fürsorglich für uns und andere.
matischen Reaktionen und im ständigen Strom von beurtei-
lenden und antreibenden Gedanken, mit denen wir uns identifi- Achtsamkeit für Lehrpersonen
zieren oder die wir mit allen Mitteln abwehren. Akzeptieren was In MBSR-Kursen und in der Achtsamkeitspraxis wird der Schu-
und wie etwas ist, lässt uns Ereignisse und Personen unvor- lung von Wahrnehmung und Selbstbeobachtung eine wichtige
eingenommener sehen und entsprechend handeln. Wenn die Rolle zugesagt. Empfindungen im Körper, Atem, Sinnestore,
Dinge im Leben nicht gut laufen, können zudem schnell wenig Gefühle und Gedanken werden beobachtet und erkannt, ohne
unterstützende innere Kritiker aktiviert werden. Uns selbst in sie gleich zu bewerten und zu bekämpfen. Dies führt zu einer
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