Afrika-bulletin - | Afrika-Komitee

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                                                                  Feb./März 2021
Restitution — eine Chance für Nord und Süd
                                                                                   afrika-bulletin

                                                                                    Nummer 181
Editorial

                                                                                                  Schon in den 1970er und 1980er Jahren forderten ehe-
                                                                                             mals kolonisierte Länder die Rückgabe von Sammlungs-
                                                                                             objekten, doch in den letzten drei Jahren hat diese Dis-
                                                                                             kussion so richtig Fahrt aufgenommen – Zeit, das The-
                                                                                             ma im Afrika-Bulletin aufzugreifen. Gast-Editor Samuel
                                                                                             Bachmann hat spannende Beiträge zusammengestellt,
                                                                                             die aus einer praktischen Perspektive die Erfahrungen,
                                                                                             Chancen und Herausforderungen von Restitution disku-
                                                                                             tieren, und führt gleich selber in das Thema ein. Die Rück-
                                                                                             gabe, das zeigt sich bei allen Beiträgen, ist dringlich.
                                                                                             Obwohl in europäischen Museen grosse Afrika Sammlun-
                                                                                             gen lagern (oft grösser als jene in Museen auf dem afrika-
2
                                 Samuel Bachmann             Veit Arlt ist Geschäftsführer   nischen Kontinent selbst), wird nur mit einem kleinen Teil
                        ist Kurator am Bernischen        des Zentrums für Afrikastudien.     davon gearbeitet. Nur durch den Zugang von descendant
                             Historischen Museum.            (Bild: Derek Li Wan Po 2017).
                                                            Kontakt: veit.arlt@unibas.ch.    communities zu den Objekten und über Zusammenarbeit
                                                                                             in Forschung und Vermittlung können neue Beziehungen
                                                                                             entstehen.
                                                                                                  Franziska Jenni berichtet von ihren Erfahrungen in
                                                                                             einem Basler Museumsdepot und von den Fragen und
                                                                                             Widersprüchen, denen eine Kuratorin einer ethnografi-
                                                                                             schen Afrika-Sammlung in ihrem Alltag und im Umgang
                                                                                             mit den Objekten begegnet. Es ist ein persönlicher Zu-
                                                                                             gang einer Expertin, die sich mit den Ambivalenzen der
                                                                                             alltäglichen Auseinandersetzung mit kolonialen Vergan-
                                                                                             genheiten zu arrangieren versucht und dabei auf das fas-
                                                                                             zinierende, erzählerische Potential der Objekte verweist.
                                                                                                 Tuuda Haitula und Jeremy Silvester von der Museum
     Impressum                                                                               Association of Namibia reflektieren die Restitution nami-
                                                                                             bischen Kulturerbes aus der Sicht einer Organisation, die
                                                                                             sich für den Auf- und Ausbau der kulturellen Infrastruk-
    Ausgabe 181 | Februar/März 2021                                                          tur auf regionaler und lokaler Ebene einsetzt. In dieser
    ISSN 1661-5603                                                                           Funktion haben sie Rückgaben und die politische De-
    Das «Afrika-Bulletin» erscheint vierteljährlich im 46. Jahrgang.                         batte in Namibia eng begleitet. Sie zeigen auf eindrück-
    Herausgeber: Afrika-Komitee, Basel, und Zentrum für Afrikastudien Basel.                 liche Weise, welche Bedeutung zurückgekehrtes Kultur-
    Redaktionskommission: Veit Arlt, Susy Greuter, Elísio Macamo,                            erbe vor Ort einnehmen kann und dass das, was in eu-
    Barbara Müller und Hans-Ulrich Stauffer                                                  ropäischen Museen vorhanden wäre, in der täglichen Ar-
    Das Afrika-Komitee im Internet: www.afrikakomitee.ch                                     beit von namibischen Museen, Kuratoren und Wissen-
    Das Zentrum für Afrikastudien im Internet: www.zasb.unibas.ch
                                                                                             schaftlerinnen schmerzlich fehlt.
    Redaktionssekretariat: Beatrice Felber Rochat
                                                                                                  Nelson Abiti und Amon Mugume erzählen von er-
    Afrika-Komitee: Postfach 1072, 4001 Basel, Schweiz
    Telefon: (+41) 61.692  51 88 | Fax: (+41) 61.269  80  50                                 nüchternden Erfahrungen mit Restitutionsversuchen. Die
    E-Mail Redaktionelles: afrikabulletin@afrikakomitee.ch                                   Kuratoren am Nationalmuseum von Uganda verweisen
    E-Mail Abonnemente und Bestellungen: info@afrikakomitee.ch
                                                                                             auf die zentrale Bedeutung von Kulturerbe in der kultu-
    Postcheck-Konto: IBAN CH26 0900 0000 4001 77543
                                                                                             rellen Bildung und Vermittlung. Ihre tagtägliche Trieb-
    Für Überweisungen aus dem Ausland:                                                       feder ist es, den Zugang zum eigenen Kulturerbe, zu ei-
    in Euro: Postkonto, IBAN CH40 0900 0000 9139 8667 9
    (Bic SwiftCode: POFICHBEXXX; Swiss Post, PostFinance, CH-3000 Bern)                      ner nationalen, regionalen und lokalen Erinnerungskul-
    Mitarbeitende dieser Ausgabe: Nelson Abiti, Veit Arlt (Red.), Samuel Bachmann,
                                                                                             tur und somit die übergenerationale Bewahrung von
    Eric Breitinger, Pius Frey, Elisa Fuchs, Susy Greuter (Red.), Tuuda Haitula,             Wissen unterschiedlichster Gruppen und Identitäten zu
    Franziska Jenni, Caro van Leeuwen, Amon Mugume, Barbara Müller (Red.),                   ermöglichen.
    Jeremy Silvester, Hans-Ulrich Stauffer (Red.)
                                                                                                  Durch die Annäherungen über alltägliche Arbeit mit
    Druck: Rumzeis-Druck, Basel
                                                                                             afrikanischem Kulturerbe ist dieses Bulletin ein Plädo-
    Inserate: Gemäss Tarif 5/99, Beilagen auf Anfrage
                                                                                             yer für die gesellschaftspolitische Bedeutung von Kultur-
    Jahresabonnement: Fr. 40.–/Euro 40.–
    Unterstützungsabonnement: Fr. 50.–/Euro 50.–                                             erbe, dessen Bewahrung, fortwährende Neuerzählung
    Im Mitgliederbeitrag von Fr. 60.–/Euro 60.– ist das Abonnement enthalten.                und -verwendung. Nicht in allen Fällen ist Restitution not-
    Redaktionsschluss Nummer 182: 31. März 2021                                              wendig oder wünschenswert um dieses Ziel zu erreichen.
    Schwerpunktthema: Klimawandel
                                                                                             In den allermeisten Fällen allerdings ist sie eine reale
    Schwerpunktthemen der nächsten Ausgaben: Internationale Zusammenarbeit,
    Humor, Binnenmigration, Mode                                                             Chance für alle Beteiligten, gemeinsame Ziele zu reali-
    Interessierte an einer Mitarbeit sind eingeladen, mit der Redaktion Kontakt              sieren. In der Praxis geht es vor allem darum, Wege zu
    aufzunehmen.                                                                             finden, die Objekte einfach und unkompliziert zurück-
    Unser Titelbild: Im Februar 2019 überreichte die Wissenschaftsministerin                 zugeben, wenn sie gebraucht werden. Restitution wird
    Baden-Württembergs Theresia Bauer in Gibeon dem namibischen Präsidenten                  so zu einem integralen und selbstverständlichen Pro-
    Hage Geingob feierlich Bibel und Peitsche des Herero-Führers Hendrik Witbooi.
    Die Objekte lagerten zuvor im Linden-Museum in Stuttgart. Siehe hierzu den               zess in der Museumsarbeit.                              •
    Beitrag auf Seiten sechs und sieben in diesem Heft (Bild: Shawn van Eeden).
                                                                                                 Veit Arlt und Samuel Bachmann
Restitutionsdebatte und Museumsarbeit
    Rückgabe als integraler Prozess

   Seit 2018 hat die Diskussion um die Restitution von      bereits 2015 an der Jahrestagung des Deutschen Muse-
   Kulturgut vehement an Fahrt aufgenommen. Sa-             umsbunds auf den Punkt: «Entgegen der häufig zu fin-
                                                            denden Praxis, dass ein Erwerb als rechtmässig ange-

                                                                                                                                     Schwerpunktthema
   muel Bachmann führt in die Debatte ein. Als Ku-          sehen wurde und wird, bis der Unrechtscharakter er-
   rator versteht er Restitution als integralen Bestand-    wiesen ist, gilt eigentlich das Gegenteil: Koloniale Ob-
   teil zeitgemässer Museumsarbeit.                         jekte stehen unter dem Verdacht, unrechtmässig erwor-
                                                            ben zu sein, bis das Gegenteil bewiesen ist.»

    Grosse Teile des afrikanischen Kulturerbes in euro-         Ungewisse Umsetzung
päischen Museumsammlungen wurden während der Ko-                Die Umsetzung dieser Idee ist mehr als unwahr-
lonialzeit angeschafft. Beispielhaft kann auf die relativ   scheinlich. Nicht zuletzt hat sich auch Emmanuel Ma-
provinzielle ethnografische Sammlung des Bernischen         cron, der Auftraggeber des Berichts von Sarr und Savoy,
Historischen Museums verwiesen werden, die dritt-           von diesem distanziert. Was bleibt, ist die Tatsache, dass           3
grösste Sammlung ihrer Art in der Schweiz. Sie umfasst      bei der internationalen Restitution von Kulturerbe aus
heute rund 10 000 inventarisierte Objekte afrikanischer     kolonialen Kontexten den Herkunftsgemeinschaften
Herkunft, wovon 67 Prozent zwischen 1894 und 1950           und ihren Nachkommen nach wie vor kaum völker-
aufgenommen wurden. Doch mit Ausnahme einer klei-           rechtliche Grundlagen zur Verfügung stehen, die einen
nen Dauerausstellung zu Alt-Ägypten, sind aktuell ein-      Rechtsweg ermöglichen. Nicht nur deshalb liegt der Ball
zig zwei Bootsmodelle ausgestellt. Nicht nur in Bern ist    bei den heutigen Besitzerinnen und Besitzern, sich um
die grosse Masse an afrikanischem Kulturerbe unge-          die Rückgabe zu bemühen. Die Rück- oder Übergabe
nutzt und unzugänglich, sondern dies ist bei ethnogra-      von Kulturerbe hat das Potential, einen elementaren Bei-
fischen Sammlungen in Europa die Regel. Restitution ist     trag zu neuen, faireren Beziehungen zu leisten, sofern
in erster Linie eine Chance, diesen Zustand zu ändern.      sie genau das bezweckt. Restitution ist jedoch kein fi-
                                                            naler Akt, nach dessen Erledigung ein vermeintlich vor-
    Wiederkehrende Abwehrreflexe                            kolonialer Besitzstand wiederhergestellt ist. Es braucht
    Erste Rückgabeforderungen hinsichtlich im Rahmen        mehr als nur die Rückgabe von Kulturerbe, um Dekolo-
kolonialer Expansion nach Europa verbrachter afrika-        nisierung anzustossen oder voranzutreiben.
nischer Kulturgüter wurden von verschiedenen Staaten
schon unmittelbar nach Erlangung der Unabhängigkeit              Die Politik ist gefordert
gestellt. Diese Begehren waren, auch in den Folgejahr-           Um diesen Anforderungen gerecht zu werden,
zehnten, allerdings selten von Erfolg gekrönt und wur-      müssten Museen Provenienzforschung und Restitution
den von Ministerien und Museen meist zurückgewie-           als alltägliche Prozesse innerhalb ihres gesellschaftli-
sen. Mit dem Argument der Bewahrungssicherheit wur-         chen Auftrags etablieren. Zweifelsohne braucht es ein
de afrikanischen Museen die Fähigkeit abgesprochen,         grösseres Bekenntnis seitens der Politik, diese Arbeit ge-
selber für den Erhalt ihres Kulturerbes zu sorgen. Der      zielt zu fördern und entsprechende Anreize zu schaffen.
Aufwand, der von europäischen Museen in die Bewah-          Die Erwartungen allerdings – das macht die Lektüre die-
rung der Artefakte bereits investiert wurde, sei beacht-    ses Bulletins augenscheinlich – sind heute mehr denn je
lich und somit hätten diese die Objekte gewissermas-        gerechtfertigt. Sei es, weil nur mit einem Bruchteil des
sen ersessen. Auch auf die Rechtmässigkeit der Erwer-       afrikanischen Kulturerbes in europäischen Museen wirk-
bungen wurde immer wieder verwiesen. Diese hätten,          lich gearbeitet wird, und hier oft ein Vielfaches mehr vor-
so dubios Käufe und Tauschbeziehungen auch gewesen          handen ist als in den Museen der Herkunftsländer. Sei
sein mögen, nur selten gegen damals geltendes Recht         es, weil nur durch den Zugang der Nachfolgegemein-
verstossen. Und schliesslich erheben bis heute die Prin-    schaften zu den Sammlungen und durch die Zusammen-
zipien der «Unveräusserlichkeit» und der «Sammlungs-        arbeit in Forschung und Vermittlung neue Beziehungen,
integrität» staatlicher Museumssammlungen die Heraus-       Erkenntnisse und Narrative entstehen können. Oder sei
lösung von einzelnen Objekten zu einer Gefährdung der       es auch nur aus dem pragmatischen Grund, dass afri-
Gesamtheit der Sammlungen und verhindern so Resti-          kanische Museen und Kulturschaffende die Objekte für
tution.                                                     eigene Projekte benötigen.                              •

    Ein frischer Wind
    Dem gegenüber stehen die politischen Forderungen,
die im Zuge des Ende 2018 von Felwine Sarr und Béné-
dicte Savoy veröffentlichten «Rapport sur la restitution
du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthi-
que relationnelle», die sowohl in der Öffentlichkeit als
auch in der Wissenschaft breit diskutiert werden. Eine
neue Beziehungsethik soll über die Umkehr der Beweis-
last eine Rückgabe von Kulturerbe ermöglichen. Nicht
die Klagenden sollen beweisen müssen, dass ein Ob-
jekt unrechtmässig erworben wurde, sondern die heuti-
gen Besitzerinnen und Besitzer sind in der Pflicht, die     Samuel Bachmann kuratiert die Afrikasammlung am Bernischen
                                                            Historischen Museum und promoviert am Zentrum für Afrikastudien
Rechtmässigkeit ihrer Erwerbungen zu belegen. Der           der Universität Basel zum Thema Koloniales Kulturerbe in Schweizer
deutsche Historiker Jürgen Zimmerer brachte diese Idee      Museen. Kontakt: samuel.bachmann@unibas.ch.
Afrikanische Kulturgüter in europäischen Mu
                                  Neues Interesse an lange vergessenen Objekten

                                  Heutige Kuratorinnen können Sammelobjekten aus ethnografischen Beständen nur mit Ambivalenz be-
                                  gegen, sind diese materiellen Kulturgüter doch auch als Zeugen der europäischen Beteiligung am kolo-
                                  nialen Projekt zu betrachten. Dieser Ambivalenz stellt sich Franziska Jenni in ihrem Dialog mit den Ob-
                                  jekten im Basler Museum der Kulturen. Sie plädiert für eine Öffnung des Museums zu einem transdis-
                                  ziplinären, transnationalen und transinstitutionellen Raum.

                                    Denken mit Objekten im Afrika-Depot                  Depots versetzte uns jeweils über kurz oder lang in ei-
                                    Letztes Jahr haben meine Assistentin Nadège Kittel   nen leicht surrealen Zustand des Dazwischen – zwi-
                               und ich jede Woche ganze Tage im Depot verbracht, zu      schen Welten, Zeiten, Realitäten und Emotionen. Fern-
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                               zweit, in Anwesenheit von rund 6000 Objekten. (Die        ab des hektischen Büroalltags, in dem ein Termin den
                               auf mehrere Depots verteilte Sammlung der Afrika-Ab-      nächsten jagt, entspannen sich zwischen uns lange und
                               teilung des Museum der Kulturen umfasst insgesamt         intensive Gespräche. Während ein Objekt nach dem
                               fast 30 000 Objekte.) Sie wurden meist von Männern        anderen durch unsere Hände ging, dachten wir immer
                               über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren vom       wieder laut über die Geschichte des Museums sowie
                               afrikanischen Kontinent nach Basel gebracht: Masken,      über die unzähligen Ambivalenzen nach, in die wir als
                               Statuen, Nackenstützen, Schmuck, Tabakpfeifen, Kera-      Angestellte eines ethnologischen Museums in Europa
                               miktöpfe, wenig Kinderspielzeug, dafür umso mehr          im 21. Jahrhundert unweigerlich tagtäglich verstrickt
                               Waffen. Unsere Aufgabe war es, ein Objekt nach dem        sind.
                               anderen zu fotografieren, jedem eine Strichcode-Eti-
                               kette umzuhängen, den Standort zu kontrollieren, die           Zwischen Faszination und Ernüchterung
                               fehlenden Masse und Materialangaben in der Samm-               Wie kam es dazu, dass so viele Objekte aus den un-
Depotaufnahme einer Kiste      lungsdatenbank zu ergänzen, sowie die Objektbezeich-      terschiedlichsten Gegenden Afrikas nach Basel gelang-
        mit Perlenschmuck      nungen, wenn möglich, zu präzisieren. Diese über Stun-    ten? Wer hat sie hergestellt und gebraucht? Unter wel-
 aus Südafrika im Museum
         der Kulturen Basel    den ausgeführte, repetitive Arbeit im Untergeschoss des   chen Bedingungen haben sie den Kontinent verlassen?
(Bild: Nadège Kittel, 2020).                                                             Weshalb genügte es unseren Vorgängern nicht, von ei-
                                                                                         nem bestimmten Artefakt ein bis zwei Exemplare in die
                                                                                         Sammlung aufzunehmen?
                                                                                              Auch in der Basler Sammlung ist die «serielle Klep-
                                                                                         tomanie», wie die Kuratorin Clémentine Deliss, die Raff-
                                                                                         gier der Europäer nach materiellen Kulturgütern in den
                                                                                         Kolonien beschrieben hat, allgegenwärtig. Warum sind
                                                                                         nach über hundertjähriger Museumsarbeit die meisten
                                                                                         Objekte noch immer nur rudimentär beschrieben, oft in
                                                                                         Terminologien, die längst nicht mehr gebräuchlich sind?
                                                                                         Und inwieweit setzen wir nun mit den oben erwähnten
                                                                                         Arbeitsgängen im Depot die «Vermessung der Welt» in
                                                                                         einer anachronistischen Art und Weise fort und versu-
                                                                                         chen, aussereuropäische Kulturgüter weiter in ein Wis-
                                                                                         senssystem einzuordnen, von dem wir doch längst wis-
                                                                                         sen, dass es ihnen nicht gerecht wird, weil sie komple-
                                                                                         xer und Teile von Epistemen sind, die anders funktio-
                                                                                         nieren und nur bedingt mit jenen der westlichen Ethno-
                                                                                         logie und Museologie kompatibel sind? Wie schwierig
                                                                                         ist es doch über Jahrzehnte einstudierte Praktiken, durch
                                                                                         die auch eine Institution wie das Museum geworden ist,
                                                                                         was es ist, zu überdenken, zu verändern oder gar auf-
                                                                                         zugeben. Doch genau vor solch bedeutenden Heraus-
                                                                                         forderungen stehen die ethnologischen Museen Euro-
                                                                                         pas heute.
                                                                                              Angeregt durch Denkanstösse der postcolonial stu-
                                                                                         dies geriet in letzter Zeit die (koloniale) Geschichte der
                                                                                         Sammlungen wieder vermehrt kritisch in den Blick, so-
                                                                                         wie auch die vielschichtigen Narrative, die über die Be-
                                                                                         wegung von Objekten, verschiedene Weltgegenden und
                                                                                         Menschen miteinander verflochten haben. Mit diesen
                                                                                         Denkansätzen entfalten sich weitere wichtige Fragen,
                                                                                         die für die Hauptaufgaben der Museumsarbeit von Be-
                                                                                         deutung sind, und die Anna-Maria Brandstetter 2019 in
                                                                                         ihrem Beitrag «Dinge und Theorien in der Ethnologie»
                                                                                         zusammengefasst hat: Wer konzipiert und inszeniert
seen

   Ausstellungen für wen, wie wird mit den Objekten in den             Prinzipiell steht das Museum der Kulturen Basel Re-
   Depots verfahren und wer darf die Objekte und das mit          stitutionsforderungen offen gegenüber. In einzelnen Fäl-
   ihnen und über sie generierte Wissen verwalten? Wie            len ist es auch bereits zu Restitutionen gekommen. Von

                                                                                                                                           Schwerpunktthema
   lässt sich das Museum also weiter öffnen hin zu einem          afrikanischer Seite sind bis jetzt noch keine konkreten
   transdisziplinären, transnationalen und transinstituti-        Rückgabeforderungen gestellt worden. Wie diese Pro-
   onellen Raum, in dem die Möglichkeiten und Herausfor-          zesse der Rückgabe im Einzelnen aussehen könnten,
   derungen, sowie die Zukunft der Sammlungen zwischen            ist schwer vorherzusagen, da es sich um komplexe Aus-
   den verschiedenen Stakeholdern der Nachkommensge-              einandersetzungen handelt, die von Fall zu Fall auch ei-
   sellschaften und den Baslerinnen und Baslern, Wissen-          ne andere Dynamik entwickeln werden.
   schaftlerinnen, Künstlern und Designerinnen neu dis-                In Zukunft ist es für uns Museumsmitarbeiterinnen
   kutiert und ausgelotet werden können?                          wichtig, offen und bereit zu sein, eingespielte Praktiken
                                                                  aufzugeben, für selbstverständlich gehaltene Deutungs-
       Szenarien für die Zukunft                                  hoheit zu relativieren und so Raum für Neues zu schaf-               5
       Angestossen durch den von Felwine Sarr und Béné-           fen.
   dicte Savoy im Auftrag des französischen Präsidenten                Ist es nicht bemerkenswert, dass just in dem Mo-
   Emmanuel Macron verfassten und 2018 veröffentlich-             ment, in dem immer mehr Bereiche unseres täglichen
   ten Berichts über die Restitution afrikanischer Kultur-        Lebens ins Virtuelle verlagert werden, Objekte, die nun
   güter sowie die kontroversen Diskussionen rund um das          so lange vergessen in verschlafenen Depots herumla-
   Humboldt Forum im wieder hergestellten Schloss mitten          gen, erneut reges Interesse wecken, neue Fragestellun-
   in Berlin, sind die Themen Provenienzforschung und Re-         gen an sie herangetragen und sie damit in neue Dyna-
   stitution auch in den Schweizer Museen ins Zentrum der         miken eingebunden werden? Mögen die in westlichen
   Diskussion gerückt. Auch wenn die offizielle Schweiz           Museen «weggesperrten» und «eingefrorenen» Kultur-
   nie Kolonien besessen hat, hat sie doch am kolonialen          güter erneut in Bewegung geraten, berühren, begeis-
   Projekt teilgehabt und wirtschaftlich massgeblich davon        tern und staunen machen. Dies gelang ihnen bei mei-
   profitiert. Zeugen oder Belege dieser Geschichte sind          ner Assistentin und mir während unseren vielen Stun-
   u.a. materielle Kulturgüter in den Depots der Museen.          den «unter Tag» immer wieder, denn die unendliche
   Es ist darum wichtig, dass sich die Schweizer Museen           Formen-, Material- und Gestaltvielfalt der Objekte so-
   noch vertiefter mit der Aufarbeitung der kolonialen Er-        wie die manifestierte menschliche Kreativität und Fin-
   werbskontexte ihrer Sammlungen beschäftigen. Dass              gerfertigkeit sind schlicht umwerfend.                 •
   dies vermehrt geschieht, zeigt sich zum einen an im-
   mer mehr Ausstellungen, die sich mit der Entstehungs-
   geschichte der Sammlungen und Fragen nach deren Pro-
   venienzen auseinandersetzen, aber auch an der Zunah-
   me von Projekteingaben zur Erlangung von Fördergel-
   dern bezüglich Provenienzforschung beim Schweizer
   Bundesamt für Kultur. Eines der jüngst finanzierten Pro-
   jekte wurde von den acht ethnologischen Museen der
   Schweiz zusammen eingereicht und hat zum Ziel, ge-
   meinsam – und in Kooperation mit Wissenschaftlerin-
   nen in Nigeria – die Provenienzen ihrer Sammlungen
   aus dem Königtum Benin zu erforschen.
       In ähnlicher Weise kam es vor kurzem auch zu einer
   ersten Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum
   Kulturverluste, bezüglich der Bestandesaufnahme von
   namibischen Sammlungen in deutschsprachigen Mu-
   seen. Solche Projekte der Zusammenarbeit machen Sinn
   und werden in der Zukunft wohl noch weiter zunehmen,
   denn nur so lässt sich die Komplexität der Zirkulation
   von Objekten zwischen Kontinenten, Ländern und Ins-
   titutionen weiter erhellen.
       Wünschenswert wäre eine verstärkte produktive und
   nachhaltige Zusammenarbeit, sowie die Erleichterung
   und Förderung kollektiver Forschung, um so das Wissen
   zu den Objekten und ihrer Geschichte zu erweitern, zu
   ergänzen und zu verdichten.
       Dies ändert natürlich nichts an der Notwendigkeit,
   die Frage nach der Restitution und den möglichen Ver-
   fahren weiter zu stellen. Ein wichtiger erster Schritt hier-
                                                                  Franziska Jenni war von 2011 bis 2015 und von 2019 bis 2020
   bei ist, dass die Sammlungsbestände – wie von Wissen-          Kuratorin für die Afrika Abteilung am Museum der Kulturen Basel.
   schaftlern, Künstlerinnen und Aktivisten aus dem glo-          Sie hat an den Universitäten Basel und Bern Ethnologie,
                                                                  Kunstgeschichte und Gender Studies studiert. Zurzeit schliesst sie
   balen Süden immer dringlicher gefordert – digital ei-          ihre Doktorarbeit zu zeitgenössischer Fotografie in Bamako ab.
   nem, auch in geografischer Hinsicht, breiten Publikum          Kontakt: f.jenni@unibas.ch.
   zugänglich gemacht werden. Nur so lässt sich relativ
   einfach eruieren, welche Kulturgüter sich wo befinden.
Restitution und kulturelle Neubelebung in N
                                 Ein Plädoyer für einen internationalen Austausch

                                 Tuuda Haitula und Jeremy Silvester vom namibi-        Deutsche Zentrum Kulturgutverluste derzeit an einem
                                 schen Museumsverband (Museums Association             Bericht arbeitet, der einen umfassenden Überblick über
                                                                                       namibische Sammlungen in deutschen Museen bieten
                                 of Namibia, MAN) erläutern den Prozess, aber vor      wird. Erhöhte Transparenz und Zugänglichkeit sind
                                 allem auch den Sinn von Restitution, der weit über    Grundvoraussetzung und erste Schritte im Prozess der
                                 den ethischen Anspruch der Wiedergutmachung           Restitution.
                                                                                            Der Besuch von Museumsdepots in ganz Deutsch-
                                 von Plünderungen im kolonialen Kontext hinaus-        land führte zu zwei überraschenden Erkenntnissen. Die
                                 geht.                                                 erste war die schiere Menge an Objekten aus Namibia.
                                                                                       Tausende Objekte befinden sich in deutschen Museen,
                                  Die grössten Sammlungen von Artefakten, die die      von denen, gleich der Spitze eines Eisbergs aus mate-
                              historischen und kulturellen Erinnerungen der namibi-    rieller Kultur, nur ein kleiner Bruchteil ausgestellt ist.
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                              schen Gemeinschaften verkörpern, befinden sich nicht     Die meisten Objekte sind auf Dachböden, in Kellern und
                              in namibischen Museen, sondern in den Depots von Mu-     Lagerhallen den Blicken entzogen. Die zweite Erkennt-
                              seen in Europa. Die Dynamik für die Rückgabe von Ob-     nis war die ungewisse Provenienz der Objekte. Damit
                              jekten an Nachkommen der Menschen und Orte, denen        meinen wir nicht die Spur des Eigentums, die von Samm-
                              diese Objekte genommen worden sind, hat aber zuge-       ler zu Sammler und schliesslich zum jetzigen Standort
                              nommen. Restitution bietet der Bevölkerung Namibias      führt. Was vielmehr fehlte, waren die Namen der ur-
                              die Chance, vergessene Erzählungen zu erschliessen       sprünglichen Besitzerinnen oder Kunsthandwerker, die
                              und sich an der kulturellen Neubelebung zu beteiligen.   die Objekte schufen. Sogar die geografische Herkunft
                              Dieser Prozess ist genauso wichtig wie die physische     der Gegenstände war nur vage oder überhaupt nicht
                              Rückgabe von Objekten und kann sowohl den interna-       angegeben. Stattdessen nutzten die ethnografischen
                              tionalen Austausch wie auch den Dialog zwischen den      Museen Objekte als Marker für ethnische Identität und
                              Generationen und Kreativität in Namibia fördern.         Differenz.

                                                                                           Namibische Objekte in der Schweiz
                                                                                           Erste Besuche in Schweizer Museen legten nahe, dass
                                                                                       diese beiden grundlegenden Punkte auch für deren
                                                                                       Sammlungen gelten. 2019 konnten zwei Kollegen der
                                                                                       MAN am Workshop «Stolen from Africa?» in Basel teil-
                                                                                       nehmen und Museen mit ethnografischen Sammlun-
                                                                                       gen in Bern, Basel, Neuenburg und Zürich besuchen. Der
                                                                                       Workshop resultierte in einer Erklärung der Teilnehmen-
                                                                                       den, die zwölf Grundsätze enthielt. Zwei davon bezo-
                                                                                       gen sich auf die Notwendigkeit, namibische Sammlun-
                                                                                       gen in der Schweiz transparenter und für Namibier und
                                                                                       Namibierinnen zugänglich zu machen. Ein Ergebnis da-
                                                                                       von ist, dass eine unserer Kolleginnen, Randy Mwaton-
                                                                                       dange, ab Februar 2021 die Möglichkeit hat, für ihre
                                                                                       Masterarbeit über eine umfangreiche Sammlung von
                                                                                       Fruchtbarkeitspuppen aus den Owambo-Königreichen
                                                                                       im Norden Namibias und Süden Angolas zu forschen.
                                                                                       Während das Nationalmuseum von Namibia nur weni-
                                                                                       ge Exem-plare besitzt, sind im ethnografischen Muse-
                                                                                       um in Neuenburg deren 122 zu finden.

Präsentation der Bibel und                                                                 Jenseits der Dekolonisierung von Museen
      Peitsche von Hendrik                                                                 Der Fokus bei der Restitution liegt auf der Notwen-
Witbooi bei ihrer Rückgabe
  in Gibeon, Namibia (Bild:       Africa Accessioned                                   digkeit, Museen zu «dekolonisieren», indem die kon-
   Museums Association of         Ein bescheidenes Projekt, das wir 2014 mit einem     zeptionellen und historischen Verbindungen zwischen
            Namibia, 2019).
                              Zuschuss des International Council of Museums (ICOM)     ethnografischen Sammlungen und Kolonialismus auf-
                              durchführten, ermöglichte uns, den Dialog mit Museen     gedeckt und Objekte zurückgegeben werden. In ihrem
                              in einer Reihe von Ländern aufzunehmen, die Samm-        Buch «The Metabolic Museum» berichtet Clementine
                              lungen von Objekten aus Namibia besitzen. Denn nur       Deliss über ihre Bemühungen, im Museum der Weltkul-
                              wenn die Betroffenen wissen, was sich überhaupt in den   turen in Frankfurt ein Museumslabor einzurichten, das
                              europäischen Museumsdepots befindet, kann auch ei-       es eingeladenen Gästen erlaubt, sich mit historischen
                              ne Rückgabe von Objekten gefordert werden. Der Dia-      ethnografischen Artefakten in der Sammlung auseinan-
                              log mit Museen in Deutschland (das Namibia von 1884      derzusetzen. Gastkünstler und -künstlerinnen könnten
                              bis 1915 kolonisierte) war besonders fruchtbar. In den   Artefakte aus der Sammlung in neuen «Assemblagen»
                              letzten Jahren entstanden so einige wichtige Partner-    kombinieren und indem sie neue Verbindungen und As-
                              schaftsprojekte und Rückgaben von Objekten aus deut-     soziationen vorschlagen neue Bedeutungen schaffen, die
                              schen Museen. Wir freuen uns besonders, dass das         den ethnografischen Rahmen sprengen.
amibia

        Wir müssen aber auch die Arbeit berücksichtigen,
    die Objekte leisten, die an «Nachkommensgemeinschaf-
    ten» zurückgegeben werden. Wie von Jeremy Silvester
    und Napandulwe Shiwedha vorgeschlagen, verwenden
    wir bewusst diesen Ausdruck, um die Tatsache zu be-
    tonen, dass Kultur und die mit ihr verbundenen Identi-
    täten dynamisch sind. Vor diesem Hintergrund spielt
    Restitution in der heutigen namibischen Gesellschaft in
    zweierlei Hinsicht eine Rolle. Einerseits kann die Rück-
    gabe von kulturellen Artefakten, die im kolonialen Kon-
    text gewaltsam entfernt wurden, eine Komponente der                                                                           oben:
    Wiederherstellung von Gerechtigkeit sein. Sie kann den                                                                        Das grosse Publikum und
                                                                                                                                  die stark vertretene Politik
    Gemeinschaften und der Nation helfen, Beweise zurück-                                                                         und Behörden anlässlich
    zugewinnen, die zu neuen historischen Erzählungen bei-                                                                        der Übergabezeremonie in
                                                                                                                                  Gibeon zeugen von der
    tragen.
                                                                                                                                  Bedeutung der Objekte
        Ein Beispiel hierfür ist die Rückgabe der Peitsche                                                                        (Bild: Museums Association
    und der Bibel von Hendrik Witbooi, einem prominenten                                                                          of Namibia, 2019).

    Anführer des Widerstands der Nama-Gemeinschaften im                                                                           links:
    Süden Namibias gegen die deutsche Kolonialherrschaft.                                                                         Theresia Bauer,
    Die Bibel enthält eine Inschrift in Khoekhoegowab auf                                                                         Wissenschaftsministerin
                                                                                                                                  Baden-Württembergs,
    der ersten Leerseite und handschriftliche Anmerkungen,                                                                        überreicht die Witbooi-Bibel
    die Aufschluss über den Einfluss der Bibel auf Witbooi                                                                        an den namibischen
                                                                                                                                  Präsidenten Hage Geingob
    und seinen Glauben geben könnten. Die Objekte wur-
                                                                                                                                  (Bild: Shawn van Eeden).
    den aus dem Linden-Museum in Stuttgart nach Nami-
    bia zurückgebracht und symbolisch den Ältesten der              Solche Kreationen könnten wiederum in Form eines
    Khowesin (Witbooi)-Gemeinschaft im Dorf Gibeon über-        neuen, kulturellen Austauschs und der Förderung na-
    geben. Derzeit werden sie im Nationalarchiv und im          mibischer Produkte nach Berlin zurückkehren. Restitu-
    Nationalmuseum in Windhoek aufbewahrt. Die Nama             tion sollte keine Lücken hinterlassen, sondern eine Chan-
    Traditional Leaders Association kritisierte die Tatsache,   ce für einen nachhaltigen Austausch von Wissen und Fä-
    dass die Artefakte an den namibischen Staat und nicht       higkeiten zwischen Namibia und jenen Orten bieten, an
    an die Familie Witbooi übergeben wurden, wenn auch          denen Museen wichtige historische und kulturelle Ar-
    nur vorübergehend. Dies weist auf die Notwendigkeit         tefakte aus Namibia bewahren. Wenn Objekte nach Na-
    hin, die Restitution mit einer Aufwertung kommunaler        mibia zurückkehren, ermöglichen sie neue Forschun-
    Museen oder Gedenkstätten zu verbinden, an denen            gen, die einheimisches Wissen generieren, das wieder-
    wichtige Objekte aufbewahrt werden können. Es erin-         um namibische Interventionen in den Museen erlaubt,
    nert auch an die Tatsache, dass selbst wenn Herkunfts-      in denen diese Objekte viele Jahre lang aufbewahrt wur-
    ort und Familie bekannt sind (was selten der Fall ist),     den.
    der «rechtmässige» Empfänger, respektive die Empfän-            In den letzten Jahren hat die MAN Workshops orga-
    gerin der Objekte in Frage gestellt werden kann. Zum        nisiert, in denen den Teilnehmenden Bilder von Objek-
    Zeitpunkt der Rückgabe gab es innerhalb der Khowesin-       ten gezeigt wurden, die in ausländischen Museen auf-
    Gemeinschaft einen Streit zwischen zwei Brüdern, die        bewahrt werden, um so einen Dialog zu eröffnen und
    beide beanspruchten, das legitime traditionelle Ober-       mehr Wissen zu erlangen. Die Workshops ermöglich-
    haupt zu sein. Derzeit entwickelt Namibia nationale         ten es den anwesenden Ältesten, Herstellungsweisen
    Richtlinien, um klare Verfahren zu schaffen, die bei der    und das mit den Objekten verbundene immaterielle Kul-
    Verhandlung von Streitigkeiten helfen, wenn Eigentums-      turerbe zu erläutern. Diese Workshops dienen auch
    verhältnisse innerhalb von Gemeinschaften oder zwi-         dazu, die Gemeinschaften für den Inhalt verschiedener
    schen Gemeinschaften und Staat umstritten sind.             Sammlungen zu sensibilisieren, bedeutungsvolle Ob-
                                                                jekte zu identifizieren und Anträge auf Restitution zu
         Wirkung von Restitution                                entwickeln.
         Andererseits kann die Rückgabe von Objekten auch           Restitution und physische Rückgabe von Objekten
    zum Diskurs über kulturelle Wiederherstellung und zum       sind unerlässlich, doch sind wir der Ansicht, dass auch
    Dialog zwischen den Generationen beitragen. Kolonia-        die «virtuelle Rückführung» über Abbildungen zur Wie-
    lismus, Christianisierung und der internationale Han-       derherstellung und Dokumentation des immateriellen
    del mit afrikanischer Kunst haben Namibia vieler Ob-        Kulturerbes beitragen kann. Restitution darf niemals nur
    jekte mit sakraler und kultureller Bedeutung beraubt.       eine logistische Unternehmung sein, sondern muss in
    Jedoch können, wie Deliss argumentiert, alte Objekte        einen internationalen Dialog eingebunden werden, der
    auch «generativ für zukünftiges Design» sein. Die MAN       den Austausch von Wissen fördert. Bei der Restitution
    möchte junge namibische Modedesigner und -designe-          geht es nicht nur darum, etwas zurückzugeben, son-
    rinnen mit Artefakten aus dem 19. Jahrhundert in Kon-       dern auch darum, vorwärts zu gehen.                   •
    takt bringen, die sich derzeit im Ethnografischen Mu-
    seum in Berlin befinden. Das Ziel ist, einen namibischen    Jeremy Silvester und Tuuda Haitula sind als Programmleiter und
                                                                Projektmitarbeiter bei der Museums Associaton of Namibia in
    Stil zu fördern, der auf historische Gestaltungsformen      Restitutionsverfahren involviert und haben dabei auch beratende
    zurückgreift, um zeitgenössische Mode zu beeinflussen.      Funktion. Kontakt: jeremysilvester3@gmail.com.
Rückgabe zentraler Kulturgüter nach Ugand
                                   Die Kibuuka-Artefakte und der Luzira-Kopf

                                   Die ersten Forderungen nach einer Rückgabe von Kulturgütern mit zentraler Bedeutung liegen im Fall
                                   von Uganda über 50 Jahre zurück. Wie die Beispiele der Kibuuka-Objekte und des Luzira-Kopfes zeigen,
                                   wurde diesen Forderungen allerdings selten in der Weise entsprochen, wie sie seitens Uganda vorge-
                                   bracht wurden. Die Kuratoren Nelson A. Abiti und Amon A.T. Mugume vom Nationalmuseum Ugandas
                                   argumentieren, dass Restitution nicht auf die blosse Rückgabe von Objekten reduziert, sondern als Hei-
                                   lungsprozess und als Gelegenheit für internationale Zusammenarbeit verstanden werden sollte. Was aus
                                   einer solchen Zusammenarbeit entstehen kann, zeigen sie an dem eindrucksvollen Projekt Milk Mobile
                                   Museum.

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                                    Als die Europäer in das Innere des heute Uganda
                                genannten Teils von Ostafrikas vordrangen, beschlag-
                                nahmten Kolonialbeamte wichtige rituelle Objekte und
                                schafften sie fort. Zu den für das Buganda-Volk beson-
                                ders wertvollen Kultgegenständen gehörten die rituel-
                                len Kibuuka-Artefakte sowie die Terrakotta-Figur des
                                Luzira-Kopfes. 1962, im Zuge des politischen Dekoloni-
                                sierungsprozesses, als Uganda die Unabhängigkeit von
                                der britischen Kolonialverwaltung forderte, wurde auch
                                die Frage nach der Rückgabe der Kulturgüter gestellt.
                                Obwohl die ugandische Nation beständig die Restitu-
                                tion der für ihr spirituelles Wohlergehen wichtigen Kul-
                                turgüter forderte, konnten viele der geraubten Arte-
                      rechts:   fakte nicht dingfest gemacht werden; dies aufgrund
     Ethnografische Präsen-     des begrenzten Verständnisses der Forderungen, der
tation der Kibuuka-Objekte
        im Uganda Museum        Eigentumsverhältnisse und der unterschiedlichen Rol-
(Bild: Nelson A. Abiti, 2020)   len von Museen und betroffenen Gemeinschaften.
                                    Wir argumentieren, dass Restitution als Prozess ver-
                                standen werden muss, bei dem es nicht einfach um das
                                Verpacken und den Abtransport von kolonialen Arte-         den. Während der kriegerischen Handlungen wurde der
                                fakten aus Europa geht, sondern vielmehr um das Hei-       Kibuuka-Schrein – der Ort, an dem die rituellen Gegen-
                                len von Beziehungen innerhalb der lokalen Gemein-          stände aufbewahrt und gepflegt wurden – angegriffen
                                schaften. Diese Argumentation entwickelte sich auf-        und niedergebrannt. Zwar gelang es dem Hüter von Ki-
                                grund der Tätigkeit des Uganda Museum, das versucht        buuka, die Heiligtümer des Schreins zu retten, doch der
                                die Rückgabe als Mechanismus zu nutzen, der den be-        Missionsanthropologe Rev. John Roscoe, der sich auf das
                                troffenen Gemeinschaften Zugang zu wichtigen rituel-       Sammeln der religiösen und rituellen Objekte der Bugan-
                                len und kulturellen Artefakten gewährt. Im Bemühen         da verlegt hatte, spielte von 1899 bis 1907 eine wichtige
                                um verstärkte Beziehungen zu den betroffenen Gemein-       Rolle bei der Verbringung der Kultgegenstände nach
                                schaften soll diesen auch eine effektive Beteiligung am    England.
                                Rückgabeprozess ermöglicht werden. Letztlich setzt             Im Jahr 1961 beantragte Abu Mayanja, einer der An-
                                sich das Museum vor allem deshalb für die Rückgabe         wälte Bugandas und zugleich Bildungsminister, beim
                                der illegal gesammelten kulturellen Objekte ein, um so     Cambridge University Museum of Archaeology and An-
                                einen Versöhnungsprozess einzuleiten und die Wider-        thropology (CMAA) offiziell die Rückgabe der Kibuuka-
                                standsfähigkeit einer durch widrige Umstände gefähr-       Reliquien. Das CMAA bewilligte zwar den Antrag, das
                                deten Gesellschaft über den Zugang zu gemeinsamem          wichtige spirituelle Gut der Buganda-Gemeinschaft nach
                                Kulturerbe und die Reaktivierung von lokalem Wissen        Uganda zurückzugeben, der Rückgabeprozess der Ki-
                                zu stärken.                                                buuka-Objekte blieb jedoch unvollständig, da keine Pro-
                                                                                           venienzforschung durchgeführt wurde, um eine Liste
                                    Der Fall der Kibuuka-Ritualobjekte                     aller zu Kibuuka gehörenden rituellen Objekte zu er-
                                    Die Restitutionsdebatte in Uganda drehte sich in den   stellen. Die als Kibuuka klassifizierten Objekte wurden
                                letzten 50 Jahren insbesondere um die Rückgabe der         nach Uganda zurückgeführt und dem Kurator des Nati-
                                Kibuuka-Artefakte, einer Reihe von Ritualobjekten der      onalmuseums übergeben, wo sie danach ethnogra-
                                Buganda-Kultur. Nach ihrer Ankunft in Uganda in den        fisch ausgestellt wurden. Die fehlenden Objekte, wie der
                                Jahren 1877 bis 1897 begannen die Missionare der angli-    Schild, der Speer und das Leopardenfell, wurden von
                                kanischen Missionsgesellschaft von England und der         der Nalinya (Prinzessin) des Buganda-Königreiches hin-
                                römisch-katholischen Kirche, die Bevölkerung rund um       zugefügt und komplettieren bis heute die Ausstellung
                                den königlichen Palast der Buganda zu missionieren.        im Uganda Museum. Wegen der Bedeutung von Kibuu-
                                Zwischen 1888 und 1899 kam es zu Religionskriegen,         ka für die spirituellen Bedürfnisse der Bevölkerung ge-
                                bei denen die Missionare von den Kolonialsoldaten im       niessen die Artefakte nach wie vor grosse öffentliche
                                Kampf gegen die lokalen Herrscher unterstützt wur-         Aufmerksamkeit.
a

                                                                                                                                links:
                                                                                                                                Der Original Luzira-Kopf.
                                                                                                                                Die Terrakottafigur wird
        Das Replikat des Luzira-Kopfes                         mobile Ausstellung brachte das Museum näher zur Be-              im British Museum als
        Im Gegensatz zu den wenigstens teilweise rücker-       völkerung, deren grösster Teil die Institution noch nie          Kunstobjekt präsentiert
    statteten Kibuuka-Ritualobjekten wurde ein anderes be-     zuvor besucht hatte.                                             (Bild: Vassil, Wikimedia
                                                                                                                                Commons, 2019).
    deutendes kulturelles Objekt nur in Form einer Nachbil-        Die Besucher des mobilen Milchmuseums lernten
    dung an Uganda zurückgegeben. Der Luzira-Kopf aus          das kulturelle Erbe der Milchwirtschaft beider Länder            rechts:
                                                                                                                                Andrang von Schulklassen
    Terrakotta ist eine der ältesten in Uganda entdeckten      kennen. Die Ausstellung lenkte die Aufmerksamkeit
                                                                                                                                vor dem Besuch des Milk
    Skulpturen. Nach seinem Fund im Jahr 1929 war er in        auch auf verwandte Themen wie die Folgen des Klima-              Mobile Museum in Nebby
    die Sammlungen des British Museums gelangt, zusam-         wandels, lokale Methoden zur Herstellung von Vieh-               Town, Norduganda (Bild:
                                                                                                                                Ali Nkwasibwe, 2019).
    men mit Tausenden von Objekten, die aus den Kolo-          futter, ökologische Landwirtschaft, soziale Verände-
    nien weggeschafft und nach London verschifft wur-          rungen und Geschlechterrollen. Die Ausstellung sollte
    den. 1965 stellte die ugandische Regierung den Antrag,     tagsüber von Schulkindern besucht werden, während
    den Luzira-Kopf zurückzuführen, damit er für die Ge-       Erwachsene am Abend und samstags empfangen wur-
    meinschaft in Uganda zugänglich gemacht werden             den. Guides begleiteten Gruppen von Kindern unter-
    könne. Stattdessen stellte jedoch das Museum of Man-       schiedlichen Alters durch die Ausstellung: Sie erklär-
    kind in London eine Replik des Luzira-Kopfes für das       ten, demonstrierten und beantworteten Fragen.
    Uganda Museum her. 1972 forderte die Amin-Regie-               Das Milk Mobile Museum machte deutlich, dass die
    rung die britische Regierung erneut dazu auf, die origi-   Menschen eine starke Anbindung an ihre Kultur und Tra-
    nale Terrakotta-Figur des Luzira-Kopfes an Uganda zu-      ditionen haben. Das Museum zu den Menschen zu
    rückzugeben. Das Gesuch wurde jedoch mit dem               bringen, war für beide Seiten ein Höhepunkt, da es ge-
    Argument abgelehnt, dass die konservatorischen An-         lang, neue Formen des Informationsaustausches auch
    forderungen und die Kapazitäten der afrikanischen Mu-      ausserhalb der traditionellen Museumsmauern zu er-
    seumsinstitutionen nicht ausreichten, um den Erhalt des    möglichen.
    wichtigen Artefakts zu gewährleisten. Im Jahr 2005 ge-
    langte der Direktor der ugandischen Museen und Denk-           Abschliessende Bemerkungen
    mäler mit einem Brief an das British Museum und ver-           Die Diskussionen über Restitution haben den öf-
    langte, dass der Luzira-Kopf, der seit seinem Abtrans-     fentlichen Druck auf die Museen erhöht, einen kriti-
    port aus Uganda nie gezeigt worden war, wenigstens         schen Blick auf ihre Geschichte zu werfen und ihre
    öffentlich ausgestellt werde, was daraufhin auch ge-       Praktiken neu zu bewerten. In diesem Zusammenhang
    schah. Doch während die Ausstellung im Nationalmu-         haben internationale Partnerschaften mit Museen und
    seum die Replik des Terrakotta-Kopfes von Luzira im        Gemeinschaften im globalen Süden an Bedeutung ge-
    Kontext des Schrein-Tempels der Buganda-Gemeinschaft       wonnen. Thomas Laely, der damalige Projektinitiator in
    zeigt, wird das Original in der Africa-Sainsbury-Galerie   Zürich, stellte fest, dass «wir nur gemeinsam und im
    im British Museum als Kunstobjekt präsentiert. Das         ständigen Dialog neue Wege finden können».
    Uganda Museum betont die grosse Bedeutung der Be-              Schliesslich offenbart die Absenz der kulturellen Ob-
    ziehungen zu den Gemeinschaften, wonach die Artefak-       jekte den Prozess der Gewalt und Entmachtung der in-
    te umso bedeutsamer sind, je näher sie die Gemein-         digenen Gemeinschaften während der Kolonialzeit. So-
    schaft und deren kulturelles Leben darstellen.             wohl die Kibuuka als auch die Luzira-Kopf-Terrakotta
                                                               waren wichtige spirituelle Objekte für das Buganda-
        Das Milk Mobile Museum                                 Volk. Die mobile Ausstellung hat gezeigt, wie wichtig
        Welche Bedeutung die Zusammenarbeit mit ande-          die Museumsobjekte für die Gemeinschaften immer
    ren Museen einerseits und das Kulturerbe andererseits      noch sind – sei es als Träger von kulturellem Wissen
    für die ugandischen Gemeinschaften vor Ort haben,          oder als spirituelle Verkörperungen. Daher fordern wir
    zeigt ein Projekt, das aus einer 2015 gestarteten Part-    die europäischen Museen auf, die Stimme der ugandi-
    nerschaft zwischen dem Ethnografischen Museum der          schen Gemeinschaft in die Debatte um die Restitution
    Universität Zürich, dem Uganda Museum und dem              von Kulturgütern einzubeziehen.                        •
    Igongo Cultural Centre in Mbarara, West-Uganda, her-
    vorging. Das Milk Mobile Museum war ein Bildungspro-
    gramm auf Rädern, das abgelegene Städte und Dörfer         Nelson A. Abiti und Amon A.T. Mugume sind Kuratoren für die
                                                               Kultur- und Naturgeschichte Ugandas, sowie am Uganda Museum
    in Uganda besuchte, um einen Einblick in ugandische        für internationale Zusammenarbeitsprojekte zuständig. Kontakt:
    und schweizerische Molkereipraktiken zu geben. Die         abdenel@gmail.com und ammeamon@gmail.com.
Afrika in Kürze

         Äthiopien                                                                            Vermischtes

         Eskalation in Tigray                   welchem über 600 nicht-tigrayische            Wahlen
         Am 3. November 2020 eskalierten        Saisonarbeiter hingemetzelt wurden.           Nicht weniger als neun afrikanische
     die seit Monaten bestehenden Span-         Für die Tat wird Samri, die Jugend-       Staaten hielten im Verlaufe der letzten
     nungen zwischen der äthiopischen           organisation der TPLF verantwortlich      Monate Parlaments- und Präsident-
     Zentralregierung und der Provinzre-        gemacht.                                  schaftswahlen ab oder stehen kurz
     gierung von Tigray zu einem bewaffne-          Die Regionalregierung von Tigray      davor. Ein Querschnitt zeigt jedoch
     ten Konflikt. Bereits mit der Wahl von     versuchte, den Konflikt zu internatio-    eine eher beunruhigende Entwicklung
     Ahmed Abiy im Frühjahr 2019 und            nalisieren. Dreimal erfolgten Raketen-    dieser demokratischen Institution. Das
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     dem überraschenden Friedensschluss         angriffe auf die eritreische Hauptstadt   seit Beginn der 1990er Jahre «obliga-
     mit Eritrea im Sommer 2019 nahmen          Asmara. Eritrea reagierte nicht;          torische» Mehrparteiensystem zeigte
     die Spannungen zu. Hintergrund: Die        international wurden diese Angriffe       vielerorts seinen Pferdefuss: Die eine
     Befreiungsfront von Tigray war die         unisono verurteilt. Damit war die         siegreiche Partei nimmt sämtliche
     wesentliche Kraft, die 1981 der            TPLF weiter isoliert. Nach knapp einem    politischen Ämter ein und verteilt Jobs
     äthiopischen Militärherrschaft des         Monat nahm die äthiopische Armee          nach Parteizugehörigkeit. Bei der
     DERG ein Ende bereitete. Pikantes          Mekelle ohne grossen Widerstand ein.      geringen Entwicklung der Privatwirt-
     Detail: Am damaligen Vorstoss und          Doch damit kehrte keine Ruhe in           schaft sind Anstellungen beim Staat
     der Einnahme der Hauptstadt Adis           Tigray ein. Zwar kontrolliert die         aber der Schlüssel zu etwas Wohlstand.
     Abeba waren auch Panzertruppen der         äthiopische Armee Städte und Dörfer,      Die Angst der zuvor herrschenden
     eritreischen Volksbefreiungsfron EPLF      nicht jedoch das Land. Im Dezember        Partei, respektive ihrer Mitglieder, vor
     beteiligt. Die TPFL übte seither mit der   ereignete sich ein weiteres Massaker,     einem Wechsel, der enorme Druck
     von ihr kontrollierten «Revolutionäre      welchem wiederum über hundert             oppositioneller Parteigänger, die auch
     Demokratischen Front der Äthiopi-          Menschen zum Opfer fielen.                mal ein Stück vom Kuchen wollen,
     schen Völker» (EPRDF) die Macht in             Verschiedentlich wird Ahmed           entlädt sich häufig in Aufruhr. Diese
     Äthiopien aus. Das Mehrheitsvolk der       Abiy für sein Vorgehen kritisiert, als    Tendenz wird noch gesteigert, wenn
     Oromo wie auch die Amharen hatten          Aggressor bezeichnet und für un-          Langzeitherrscher und Präsidenten, für
     faktisch nichts zu sagen. Die Führungs-    würdig erklärt, Träger des Friedens-      welche die verfassungsmässige Zahl
     riege der TPLF kontrollierte fortan        nobelpreises zu sein. Diese Kritik        der Amtszeiten abläuft, ihre Wieder-
     die Macht und die Finanzen. Während        übersieht die wesentliche Frage: Wie      wahl durchsetzen wollen. Der Drang
     Jahren spitzten sich die Widersprüche      soll ein bewaffneter Aufstand gegen       zum Machterhalt dieser meist sehr
     zwischen einzelnen Ethnien und der         die Zentralregierung beantwortet          alten Männer lässt sie zu Mitteln wie
     Machtelite der TPLF stetig zu.             werden?                                   Verfassungsänderungen greifen, die
         Mit der Wahl Abiys zum neuen               Und Eritrea? Der Raketenbeschuss      den Zorn der Ausgetricksten weiter
     Premierminister und der von ihm            von Asmara ist von der eritreischen       steigert: Riesige, in Gewalt über-
     eingeleiteten Reformpolitik verlor die     Regierung nicht kommentiert worden.       schwappende Demonstrationen,
     TPLF politisch wie auch wirtschaftlich     In der eritreischen Regierungsbericht-    exorbitante Repression durch Polizei-
     an Macht. Die Reaktion: Die TPLF-          erstattung fand der Krieg nicht statt.    kräfte, Verhaftungen von Gegen-
     Führung igelte sich in Mekelle, der        Doch die Gerüchteküche sprudelt. Von      kandidaten und Oppositionsführern,
     Provinzhauptstadt von Tigray ein und       über zwanzig, ja vierzig eritreischen     Nicht-Anerkennung der Wahlresultate
     distanzierte sich immer mehr von           Divisionen war die Rede, die zusam-       waren auch in den jüngsten Wahlen
     er Zentralregierung. Die von ihr kon-      men mit den äthiopischen Streitkräften    beinahe die Regel. In Uganda, wo
     trollierten Streitkräfte entzogen sich     in Tigray kämpfen würden, also weit       Museveni (76 Jahre alt und seit 34
     dem Militärkommando der Zentral-           über hunderttausend Mann. Verwunde-       Jahren im Amt) die Altersbegrenzung
     regierung.                                 te äthiopische Soldaten würden in         aus der Verfassung streichen liess,
         Der Konflikt eskalierte weiter,        eritreischen Spitälern gepflegt.          verunmöglichte die Polizei mit zahl-
     als die TPLF im Sommer 2020 entgegen       Eritreische Truppen seien an Plünde-      reichen Erschiessungen Gegenkampag-
     den Vorgaben der Zentralregierung          rungen in Tigray beteiligt. Was davon     nen. Das gleiche Bild mit massiver
     für ihre Provinz Tigray eine eigene        zutrifft, bleibt jedoch vorerst noch      Repression und Toten zeigt sich in
     Wahlkommission einberief, ein Wahl-        im Dunkeln. •                             Guinea, wo Condé (82) eine dritte
     gesetz erliess und Wahlen durchführte.                                               Amtszeit durchsetzte, und in Côte
     Kurz darauf wurde von TPLF-treuen                                                    d’Ivoire, wo die dritte Amtszeit für
     Streitkräften ein Angriff auf das                                                    Ouattara 85 Tote kostete. In Tanzania,
     Kommando der äthiopischen Nord-                                                      Uganda, Zentralafrika und Togo
     streitkräfte geführt und dabei umfang-                                               wurden die wichtigsten Gegenkandida-
     reiches Kriegsmaterial erobert. Damit                                                ten verhaftet und angeklagt. Relativ
     war die rote Linie überschritten: Am                                                 ruhige Wahlen gab es hingegen in
     3. November 2020 marschierten Streit-                                                Ghana und Burkina Faso. •
     kräfte der äthiopischen Armee in
     Tigray ein. Sechs Tage später kam es
     in Mai-Kadra zu einem Massaker, bei
Westsahara

                                                                                                                              Afrika in Kürze
    Hunger                                   Ende des Waffenstillstandes               In dieser gespannten Situation
    Mit Regenstürmen im September            Was sich seit einiger Zeit abzeich-   erklärte der damalige amerikanische
(Senegal erhielt in einem Tag die        nete, ist eingetreten: Noch Anfang        Präsident Trump Mitte Dezember 2020,
durchschnittliche Regenmenge eines       Oktober 2020 legte UN-Generalsekre-       die USA würden den marokkanischen
Jahres) und entsprechenden Über-         tär António Guterres dem Weltsicher-      Hoheitsanspruch über die Westsahara
schwemmungen quer durch den Sahel        heitsrat wie jedes Jahr einen neuen       anerkennen. Dies als Gegenleistung zu
bis in den Sudan, mit Heuschrecken-      Bericht über die Situation in der         Marokkos Aufnahme von diplomati-
schwärmen an der Ostküste von            Westsahara vor, ohne dass auch nur        schen Beziehungen mit Israel.
                                                                                                                             11
Äthiopien bis Kenya wie seit 70 Jahren   ansatzweise Perspektiven zur Lösung           Die Sahrauis sahen seit 1991 66
nicht mehr sind die Speicher im Jahr     des Konflikts aufgezeigt wurden.          Resolutionen des UN-Sicherheitsrates,
2020 kaum voll geworden. Südwärts        Um auf ihre unhaltbare Situation          15 UN-Sonderbeauftragte, fünf
zehrten erneute Dürren die verbliebe-    aufmerksam zu machen, blockierten         UN-Generalsekretäre und vier Sonder-
nen Vorräte auf. In Madagaskar ist für   just zu diesem Zeitpunkt Sahrauis die     gesandte für die Westsahara und
1,5 Millionen, in Zimbabwe für           «Route nationale no. 1». Diese Küsten-    hörten das Versprechen, dass über die
geschätzte vier Millionen, im Südsudan   strasse verbindet Marokko mit             Zukunft der Westsahara ein Referen-
für gegen sechs Millionen Einwohner      Mauretanien und führt unmittelbar vor     dum abgehalten würde. Doch ihrer
dringend Hungerhilfe notwendig.          der mauretanischen Grenze durch           Freiheit sind sie keinen Schritt näher-
Die riesigen Flüchtlingslager in         einen kaum fünf Kilometer breiten         gekommen. Weit schlimmer: Unter dem
Nordkenya werden vom Welt-Ernäh-         Landstreifen, der von der der Unabhän-    Schutz des Waffenstillstandsabkom-
rungsprogramm (WFP) mit Essen            gigkeitsbewegung Frente Polisario         mens hat Marokko Tatsachen geschaf-
versehen – doch die Organisation         kontrolliert wird. Hunderte von           fen. Die Verbitterung ist gross. «Die
beklagte jüngst, dass sie aufgrund von   Lastwagen waren blockiert, der Waren-     UNO ist gescheitert. Sie hat mit ihrer
Unterfinanzierung die Rationen           verkehr kam zum Erliegen. Am              Mission nichts Anderes gemacht, als
schmälern muss. Die finanzkräftigen      Morgen des 13. Novembers 2020 drang       den Status quo aufrechtzuerhalten. Sie
Mitgliedstaaten haben ihre Beiträge      die marokkanische Armee über den          wurde zum Garanten der Besatzung
gekürzt. •                               Sandwall in den von der Frente            und der Ausbeutung der Rohstoffe
                                         Polisario kontrollierten Landstreifen     unseres Landes durch Marokko», sagt
                                         vor. Damit war der Waffenstillstand,      der Vertreter der Frente Polisario in
                                         den die UNO mit der eben verlängerten     Madrid, Abdulah Arabi. •
                                         Minurso-Blauhelmmission schützen
                                         sollte, Geschichte. Brahim Ghalil,
                                         Generalsekretär der Frente Polisario,
                                         erklärte das Waffenstillstandabkom-
                                         men für beendet. «Wir nehmen den
                                         bewaffneten Kampf wieder auf».
                                         Seither kommt es täglich entlang des
                                         Sandwalls zum Beschuss marokkani-
                                         scher Stellungen.

                                                                                   Zusammengestellt von Susy Greuter und
                                                                                   Hans-Ulrich Stauffer
Mit Fussball gegen die Hoffnungslosigkeit
                                     Eine schweizerisch-kapverdische Initiative

                                    Die Academia do Desporto, Educação e Cultura             rinnen und Lehrer leisten Aufgabenhilfe und Stützunter-
                                    (ADEC) auf der kapverdischen Insel Santiago ist          richt. Zwei Köchinnen und eine Reinigungsperson run-
                                                                                             den das Betreuungsteam ab. Sie alle arbeiten freiwillig
                                    eine Erfolgsgeschichte schreibt Gertrud Baud.            und mit grossem Engagement mit, erhalten aber je nach
                                    Fussballbegeisterte Mädchen und Jungen finden            Budgetsituation eine monatliche Gratifikation. Die Aus-
                                    hier eine zweite Heimat.                                 rüstung besteht aus Spenden von Schweizer Fussball-
                                                                                             vereinen.
                                                                                                 Der Schweizer Fussballspieler Beat Clerc begann vor
                                      Die Fussballschule in Calheta do São Miguel bietet     zehn Jahren zusammen mit seiner ebenfalls fussball-
                                 Trainings auf den Stufen U-7 bis U-17 an. Gegenwärtig       begeisterten kapverdischen Frau Nischi die Academia
                                 nehmen 180 Kinder und Jugendliche – Mädchen und             mit 16 Kindern aufzubauen. Beide arbeiten als Traine-
                                 Jungen – an den täglichen Fussballtrainings teil. Dane-     rin und Trainer mit. Calheta ist eine arme Gegend. Die
12
                                 ben bietet die Academia eine schulergänzende Tages-         Academia soll helfen, den Kreislauf von Armut, Gleich-
                                 struktur an mit Aufgabenhilfe, Stützunterricht und ei-      gültigkeit, fehlenden Perpektiven und Hoffnungslosig-
                                 nem ausgewogenen warmen Mittagessen, was ein nicht          keit zu durchbrechen. Der Fussball lehrt Zuverlässig-
                                 unwesentlicher Motivator ist. Abgestimmt auf die Zei-       keit, Fairplay und Toleranz. Mädchen und Jungen trai-
                                 ten der staatlichen Schulen trainieren die älteren Kin-     nieren zusammen und leben so die Gleichberechtigung
                                 der am Morgen, die jüngeren am Nachmittag. Wer bei          der Geschlechter.
                                 der Academia mitmachen will, muss sich zur regelmäs-
                                 sigen Teilnahme an Aufgabenhilfe und Training ver-              Sportliche und schulische Erfolge
                                 pflichten. Letzteres wird von neun Trainerinnen und Trai-       Die Fussballschule war 2019 sehr erfolgreich. Sie ge-
                                 nern geleitet. Mädchen und Jungen trainieren gemein-        wann zahlreiche Auszeichnungen, die Frauen wurden
                                 sam, was in der immer noch sehr patriarchal geprägten       Meisterinnen der Region Santiago Norte und konnten
                                 Gesellschaft nicht selbstverständlich ist. Sechs Lehre-     sich für die nationale Endrunde qualifizieren. Eine Fuss-

                        oben:
          Die Fussballschule
    «Academia do Desporto,
         Educação e Cultura»
befindet sich im kleinen Ort
  Calheta do São Miguel, an
 der Nordostküste der Insel
   Santiago. Erwerbszweige
   sind Fischfang und Land-
  wirtschaft. Die Gegend ist
   geprägt von Trockenheit,
   Armut und Perspektiven-
    losigkeit. Deshalb ist die
        Academia so wichtig
 (Bild: Gertrud Baud, 2018).

                        unten:
      Die Republik Kap Verde
       liegt auf der Höhe von
Senegal etwa 500 Kilometer
  vor der westafrikanischen
          Küste. Auf den neun
      bewohnten Inseln leben
     rund 500 000 Menschen,
    mindestens nochmals so
      viele leben im Ausland,
      viele in den USA und in
        Europa. Seit der Jahr-
 tausendwende gewinnt der
   Tourismus an Bedeutung.
 Touristische Hotspots sind
    die beiden Inseln Sal und
    Boa Vista, die mit breiten                                                               ballerin ist Mitglied des Nationalteams, ebenso ein U-
         und kilometerlangen
   Sandstränden locken. Die                                                                  17-Spieler. Die Academia hat die meisten weiblichen
  gebirgigen Inseln Santiago                                                                 Fussballspielerinnen von Kap Verde.
    und Santo Antão sind für
                                                                                                 Aufgabenhilfe und Stützunterricht haben auch Aus-
         Wanderferien beliebt
   (Karte: Mysid, Wikimedia,                                                                 wirkungen auf die schulischen Leistungen. Viele Mit-
                        2008.)                                                               glieder der Academia sind gute oder sehr gute Schüle-
                                                                                             rinnen und Schüler auf Grundstufe und Oberstufe, eini-
                                                                                             ge wurden sogar ausgezeichnet. Die Academia ermög-
                                                                                             lichte einigen Jugendlichen, welche sonst nie die Chan-
                                                                                             ce dazu gehabt hätten, den Besuch der Sekundarschule
                                                                                             in Assomada. Diese kommt der Academia entgegen
                                                                                             und reduziert die Gebühren. Dank einer Schweizer Stif-
                                                                                             tung und mit Unterstützung der Academia konnte im
                                                                                             März dieses Jahres in Calheta eine Berufsschule für Me-
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