Alleskönner KI? - Forschungszentrum Jülich
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3-19 DAS MAG A ZIN AUS DEM FORSCHUNGSZENTRUM JÜLICH Alleskönner KI? Künstliche Intelligenz ist vielseitig, muss aber noch viel lernen EINDEUTIG MACHBAR EINFACH ANDERS ECHT ERFOLGREICH Kosten für das Erreichen der Nicht jeder Autist Martin Winter setzt auf Klimaziele berechnet fühlt sich krank Lithium-Ionen-Batterien
2 SO GESEHEN Unter Kontrolle Alle starren gebannt auf „Igor“. Gleich wird der weiße Kasten einsatzbereit sein. Seine Messung der Neutronenstrahlung soll verraten: Wurde hier radioaktives Material beiseitegeschafft? Internationale Experten haben den tragbaren Detektor bei der Übung „Nuclear Disarmament Verification“ (NuDiVe) im Jülicher Institut für Energie- und Klimaforschung (IEK-6) eingesetzt, bei der sie neue Verfahren zur Überwachung der nuklearen Abrüstung erprobten. Die Verfahren könnten künftig aufklären, ob ein Nuklearsprengkopf ordnungsgemäß vernichtet wurde. Bisher ist dieser Nachweis kaum möglich, denn Kontrolleure dürfen Waffensysteme nicht direkt untersuchen. Das soll das militärische Know-how eines Staates schützen.
THEMEN 3 NACHRICHTEN Freier Zugriff 5 auf Wissen Das Lesen wissenschaftlicher Zeitschriften soll künftig nichts mehr kosten. T I T E LT H E M A Lernende Maschinen Turbotest für Trinkwasser Bei Epidemien und nach Katastrophen ist sauberes Wasser wichtig. Ein neues Gerät soll Tests verkürzen. 18 Einfach nur anders Künstliche Intelligenz weckt hohe 29 Erwartungen – und bietet viele Chancen. Sie ist aber noch weit von echter Intelligenz entfernt. RUBRIKEN 8 Aus der Redaktion 4 FORSCHUNG Impressum 4 Energiegeladen Menschen mit Autismus: Wenn Umarmungen Angst einjagen. Woran forschen Hält sich an Fakten und folgt seinem Sie gerade? Bauchgefühl – Batterieforscher 20 19 Martin Winter im Porträt. Besserwissen 28 Klimaneutralität klar kalkuliert Gefällt uns 31 Wie die Umstellung des Energie systems bis 2050 mit möglichst Forschung in einem geringen Kosten gelingt. Tweet 32 24 16
4 AUS DER REDAK TION Musterstücke Kennen Sie das? Da haben Sie neulich diesen Song gehört, den Sie Noch auf Anhieb mochten. Doch weder Titel noch Name des Interpreten mehr drin! Jetzt das blieben hängen. Ärgerlich. Aber dann, Wochen später, erklingt genau Online-Magazin lesen dieses Lied bei der Musikapp auf dem eigenen Smartphone. Ein Zufall? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Denn eventuell hat Künstliche Intel- ligenz (KI) das Geheimnis Ihres Musikgeschmacks enträtselt. KI wird nämlich auch genutzt, um auszuwerten, welche Musik man hört, und daraufhin dem Muster entsprechend neue Songs vorzuschlagen. Dieser Vorschlag war dann jedenfalls mustergültig. Warten Sie mal ab, was die KI das nächste Mal vorschlägt. In der Zwischenzeit können Sie in unserer Titelgeschichte nachlesen, welche Muster die KI für die Wissen- schaft suchen soll: etwa in Wetterdaten, um vor lokalen Wetterextre- men zu warnen, oder in Bildern von Gehirnscans, um den langfristigen Verlauf einer Krankheit zu prognostizieren. Jülicher Forscher arbeiten auch in anderen Bereichen an Lösungen Die effzett können Sie auf allen Endgeräten lesen – vom Smartphone für unsere Zukunft: Zum Beispiel berechnen sie, wie Deutschland den bis zum PC. Einfach online aufrufen: CO2-Ausstoß bis 2050 kostengünstig um 95 Prozent senken kann, und effzett.fz-juelich.de sie entwickeln unterschiedliche Batteriesysteme. Lesen Sie außerdem, warum für Menschen mit Autismus eine Umarmung so schwer ist wie für andere eine komplizierte Grammatik. Wir hoffen, dass das eine oder andere Musterstück für Sie dabei ist. Viel Vergnügen wünscht … Ihre effzett-Redaktion Impressum effzett Magazin des Forschungszentrums Jülich, ISSN 1433-7371 GmbH (5 o.), SeitenPlan (18 (Grafik)), Bernd Struckmeyer (Tite, 3 li. o., 8, 10, 13), alle im Folgenden genannten Motive sind von Shutterstock.com: Herausgeber: Forschungszentrum Jülich GmbH, 52425 Jülich DariaRen (7 u.), LightField Studios (3 Mitte u.), Macrovector (31), ONYXprj Konzeption und Redaktion: Annette Stettien, Dr. Barbara Schunk, (15 (kleine Illustrationen)), Rakic (4 (Montage: SeitenPlan)), spacezerocom Christian Hohlfeld, Dr. Anne Rother (V.i.S.d.P.) (28 (Hintergrund)), Tonktiti (3 Mitte o.) Autoren: Marcel Bülow, Dr. Frank Frick, Christian Hohlfeld, Jannis Kontakt: Geschäftsbereich Unternehmenskommunikation, Lindner, Katja Lüers, Dr. Regine Panknin, Martha Peters, Dr. Arndt Tel.: 02461 61-4661, Fax: 02461 61-4666, E-Mail: info@fz-juelich.de Reuning, Tobias Schlößer, Dr. Barbara Schunk, Annette Stettien, Druck: Schloemer Gruppe GmbH Angela Wenzik, Erhard Zeiss Auflage: 3.500 Grafik und Layout: SeitenPlan GmbH, Dortmund Bildnachweise: Forschungszentrum Jülich (25, 32), Forschungszentrum Jülich/Sascha Kreklau (2, 3 li. u., 6 o., 12 li., 16-17, 19, 22), Forschungs- * Alle in der effzett verwendeten Bezeichnungen sind geschlechts- zentrum Jülich/Ralf-Uwe Limbach (3 re, 6 u., 7 o., 11, 12 re., 14, 23 u., 27, neutral zu verstehen. Auf eine Nennung verschiedener Varianten 30), Forschungszentrum Jülich/Tobias Schlößer (5 u.), Diana Köhne (28 der Bezeichnungen wird allein aus Gründen der besseren Lesbar- (Illustrationen/Handschrift)), Ruf Lanz, Zürich (20, 23 o.), SUNfarming keit verzichtet.
NACHRICHTEN 5 B I O Ö KO N O M I E Doppelter Vorteil Gleichzeitig die Versorgung mit Strom und Lebensmitteln sicherstellen – das sollen Food & Energy Anlagen in Afrika. Solardächer über Anbauflächen für Obst und Gemüse erzeugen Strom, der in das örtliche Versorgungsnetz fließt. Unter den Photovoltaikanlagen lässt sich in „offenen Gewächshäusern“ Ackerbau betreiben. Die Kombination soll Landnutzungskonflikte zwischen Landwirtschaft und Energiegewinnung reduzieren. Experten aus Nigeria, Benin und Deutschland beschäftigen sich neben der Produktion auch mit der Konservierung von Feldfrüchten, etwa in modernen Trocknungsanlagen. Ziel ist es Obst- und Gemüseüberschüsse aus der Erntezeit länger haltbar zu machen und so eine gleichbleibende Versorgung zu sichern. Jülich koordiniert das Projekt. – INSTITU T FÜR ENERGIE- UND KLIMAFORSCHUNG/INSTITU T FÜR BIO- UND GEOWISSENSCHAF TEN – SUNfarming GmbH QUANTENCOMPUTING Schrödingers Katze aus 20 Atomen Im berühmten Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger aus dem Jahr 1935 ist eine Katze in einer geschlossenen Kiste gemäß den Regeln der Quantenmechanik gleichzeitig lebendig und tot. Dieser überlagerte Zustand endet erst, wenn jemand nachsieht. Einem internationalen Team mit Jülicher Beteiligung ist es gelungen, 20 Atome mithilfe geschickt eingesetzter Laser in einen solchen überlagerten „Katzenzustand“ zu versetzen. Der bisherige Höchstwert lag bei 14 überlagerten Atomen. Der neue Rekord ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem Quantencomputer, der klassische Rechner bei der Lösung bestimmter Aufgaben weit übertreffen könnte. – PETER GRÜNBERG INSTITUT –
6 NACHRICHTEN 700Millionen Euro . . . stellen das Bundesforschungsministerium und das Land Nordrhein-Westfalen für die „Forschungs fertigung Batteriezelle“ in Münster zur Verfügung, an der das Helmholtz-Institut Münster beteiligt ist, eine Außen stelle des Forschungszentrums Jülich. Die Fabrik soll den Einstieg Deutschlands in eine Serienproduktion von großen Batteriezellen vorbereiten. – H E L M H O LT Z- I N S T I T U T M Ü N S T E R – BIOPHYSIK Volle Kraft voraus Der Jülicher Physiker Dr. Benedikt Sabass erhält M AT E R I A L F O R S C H U N G einen „Starting Grant“ des Europäischen Forschungsrates Auf dem in Höhe von rund 1,5 Millionen Euro. Der Nachwuchs wissenschaftler will mechanische Kräfte von Bakterien nationalen Fahrplan untersuchen, etwa von Krankenhauskeimen. Diese Kräfte beeinflussen, wie sich Zellen verhalten. – INSTITUTE OF COMPLEX SYSTEMS – Das Bundesforschungsministerium hat das geplante Ernst Ruska-Centrum 2.0 auf dem Jülicher Campus in die Nationale Roadmap für große Forschungsinfrastrukturen aufgenommen. In dem Zentrum sollen ab 2022 mit weltweit einzigartigen Elektro- Puzzle mit nenmikroskopen der nächsten Generation zum Beispiel Materialien für die Energiewende oder biologisch aktive Moleküle untersucht werden. Ebenfalls aufgenommen wurde der deutsche Beitrag an der Europäischen Forschungsinfrastruktur für Aerosol, Wolken und Spurengase (ACTRIS-D), an dem auch Jülicher Klimaforscher beteiligt sind. Atomen – ERNST RUSK A-CENTRUM FÜR MIKROSKOPIE Energiesparende Datenspeicher aus UND SPEK TROSKOPIE MIT ELEK TRONEN/INSTIT U T FÜR ENERGIE- UND KLIMAFORSCHUNG – einzelnen Atomen sind noch Zukunfts musik. Ein Grund dafür ist ihre mangelnde magnetische Stabilität. Diese lässt sich durch bestimmte symmetrische Anordnung der Atome verbessern, haben Forscher aus Hamburg, Jülich und dem niederländischen Leiden herausgefunden. Sie hatten dazu systematisch verschiedene Positionen von drei bis neun Eisenatomen auf einer Oberfläche untersucht. – PETER GRÜNBERG INSTITUT –
7 NACHGEFR AGT Schneller zum Durchbruch Das Forschungszentrum Jülich und Google forschen künftig gemeinsam an Quantencomputern. Prof. Kristel Michielsen, Leiterin der Forschungsgruppe Quantum Information Processing am Jülich Super- computing Centre, erklärt die Hintergründe. Frau Michielsen, warum ist Google ein interessanter Partner? Google arbeitet seit 2011 an einem eigenen Quantencomputer. Durch die Kooperation erhalten wir Zugriff auf Hardware und Know-how von Google. Davon profitiert etwa, wenn auch indirekt, „OpenSuperQ“, ein Teilprojekt des europäischen Flagships zur Quanten technologie, an dem Jülich beteiligt ist. Was bringt Jülich in die Kooperation ein? Unsere Supercomputer-Infrastruktur und unser Know-how zu Soft- und Hardware. Ich selbst teste auf Supercomputern Algorithmen, die auf Quantencomputern ablaufen könnten. Neben dem wissenschaftlichen Austausch wollen wir uns gegenseitig b ei der Ausbildung von Spezialisten unterstützen. Wobei Google nicht der einzige Partner ist. Wer ist noch im Boot? Wir arbeiten mit D-Wave zusammen und sind im Gespräch mit IBM. Um Quantenrechnern schneller zum Durchbruch zu verhelfen, müssen wir uns enger vernetzen. D I E F R A G E N S T E L LT E C H R I S T I A N H O H L F E L D . I N F O R M AT I O N S T E C H N O L O G I E Ungewöhnliche Magnetstrukturen Ein internationales Forscherteam mit Jülicher Beteiligung hat einen neuen Weg entdeckt, wie die kleinsten magnetischen Elemente in einem Material – die Elektronen- spins – aufeinander einwirken. Dies führt dazu, dass die Spins über viele Materialschichten hinweg Strukturen ausbilden, die sich wie die linke und rechte Hand voneinander unterscheiden. Diese chirale („händige“) Anordnung von Spins ist interessant für die Entwicklung künftiger Datenspeicher. – PETER GRÜNBERG INSTITUT –
9 Lernende Maschinen Sie macht das Licht aus, übersetzt Texte und schlägt Schnäppchen beim Online-Einkauf vor: Künstliche Intelligenz hat längst ihren Platz im Alltag. Auch in der Wissenschaft entwickelt sie sich zu einer wichtigen Basis. Denn obwohl Maschinen noch weit von echter Intelligenz entfernt sind, sind sie in einigen Bereichen dem Menschen klar überlegen – etwa im Erkennen verborgener Muster. D ie Flut trifft den Ort ohne Vorwarnung. Am 29. Mai RECHNEN NACH VORSCHRIFT 2016 entlädt sich innerhalb kürzester Zeit eine KI ist ein Ansatz, intelligentes Verhalten mithilfe von Gewitterzelle über Braunsbach. In einer Stunde Computern nachzubilden. Dafür lernen die Maschinen, fällt so viel Regen wie sonst in Monaten. Eine ziehen Schlussfolgerungen und korrigieren sich selbst. An gewaltige Flutwelle bahnt sich ihren Weg durch das menschliche Gehirn reichen sie aber noch längst nicht den Ort und reißt alles mit, was ihr im Wege steht: Bäume, heran. Unser Gehirn arbeitet so energieeffizient wie keine Autos, Hauswände. Sie hinterlässt rund 50.000 Tonnen Schutt Maschine bisher, es kann bereits aus wenigen Beispielen und Geröll in dem Örtchen nordöstlich von Schwäbisch Hall. sinnvolle Schlüsse ziehen, ist besonders gut in der Lage, Gesamtschaden: über 100 Millionen Euro. flexibel zu denken, unkonventionelle Lösungen zu finden und Beziehungen zwischen völlig unterschiedlichen Sach Auch wenn die Wettervorhersage im Lauf der Jahre immer verhalten herzustellen. präziser geworden ist: Einzelne Orte wie Braunsbach früh- zeitig vor Starkregen oder lokalen Gewitterzellen zu warnen, Maschinen hingegen sind im Vorteil, wenn es darum geht, sich fällt den Meteorologen noch immer schwer. Das liegt unter stoisch durch Datenberge zu ackern und in einem Wust von anderem an der relativ groben Auflösung der regionalen Informationen verborgene Muster aufzuspüren oder sehr viel Wettermodelle des Deutschen Wetterdienstes (DWD). „Alles, komplexere Muster zu erkennen, als der Mensch es kann. was kleiner als zwei Kilometer ist, fällt durch das Raster. Das Modell sagt dann zum Beispiel, es regnet in einem zwei mal Ein simples Beispiel sind klassische Verfahren der Gesichts- zwei Kilometer großen Gebiet – auch wenn sich in der Realität erkennung: Die KI sortiert die Fotos verschiedener Men- in dem Gebiet blauer Himmel und Regen abwechseln. Um Nie- schen beispielsweise nach Augenabstand, Gesichtsform und derschläge lokal verlässlich vorherzusagen, genügt das meist Nasengröße – je nachdem, was die Programmierer vorgegeben nicht“, erklärt Dr. Martin Schultz. haben. Sie legt dann für jedes Gesicht ein Muster an. Ihr Wis- sen setzt sie anschließend bei neuen Bildern ein: Sie vergleicht Der Physiker vom Jülich Supercomputing Centre versucht ein Bild dann mit dem bisherigen Fotobestand und schlägt vor, daher im Projekt DeepRain, die Vorhersagen zu verbessern, wer auf dem Bild zu sehen ist. Ihr wird also beigebracht, unbe- so dass den Behörden genügend Zeit bleibt, vor lokalen Gewit- kannte Datensätze zu beurteilen. Dies ist eine der einfachsten tern und Starkregen zu warnen. Möglich machen soll das Formen des maschinellen Lernens. Künstliche Intelligenz (KI). Sie soll dafür in Wetterdaten nach Mustern suchen, die lokale Wetterextreme ankündigen.
10 T I T E LT H E M A DAS MUSTER DES REGENS „Wir wissen nicht, welche Muster sich die KI sucht. Das kön- Für die Mustererkennung bei der verbesserten Wettervorher- nen Dinge sein, an die wir nicht einmal ansatzweise gedacht sage, die Martin Schultz anstrebt, müssen die Maschinen et- haben oder die wir vielleicht auch nie erkannt hätten“, so was mehr können. „Die Wetterdaten tragen komplexe zeitliche Schultz. Er und seine Kollegen können aber am Ende prüfen, und räumliche Muster in sich. Welche davon typisch für Stark ob die Prognose der KI korrekt ist, es also an dem Tag heftig regen sind, wissen wir nicht. Wir füttern daher die Software regnete, und das der Software zurückmelden. Durch ständi- mit möglichst vielen Daten, sie sucht selbst nach Mustern und ges Wiederholen „lernt“ die KI so, welche Muster Starkregen erstellt dann Prognosen.“ am besten vorhersagen. Martin Schultz setzt dabei auf eine fortgeschrittene Art des Die Funktionsweise des Deep Learning ähnelt grob den maschinellen Lernens, das Deep Learning: Auch hierbei Lernprozessen unseres Gehirns. Dort sind Abermilliarden von durchsuchen KI-Systeme große Datenmengen, im Fall von Nervenzellen untereinander verknüpft. So leiten sie Informa- DeepRain Wetterdaten aus den vergangenen Jahren – aller- tionen weiter und verarbeiten sie. Wenn wir lernen, nutzen dings geben die Forscher nicht vor, was charakteristisch ist für wir bestimmte Verbindungen zwischen Nervenzellen immer Extremwetter. Stattdessen trainieren sie die Maschine darauf, wieder und verändern so die Vernetzung zwischen den Zellen: das selbst herauszufinden. Bei Kindern, die viel lesen, verstärken sich beispielsweise die
11 KI auf dem Vormarsch Der Begriff der Künstlichen Intelligenz wurde bereits im Jahr 1956 auf einem mehrwöchigen Workshop am Dartmouth College in New Hampshire geprägt. Erste Konzepte zu künstlichen neuronalen Netzwerken existierten zu dieser Zeit bereits. In den 1970er Jahren setzte dann allerdings der lange „KI-Winter“ ein: Die Forschung stagnierte, da es sowohl an Rechenleistung als auch an ausreichenden Trainingsdaten mangelte. Ungefähr zur Jahrtausendwende begann dann die Renaissance des maschinellen Lernens. Martin Schultz möchte mithilfe von KI lokale „Erst Big Data und die Fortschritte bei lernenden Wetterprognosen verbessern. Algorithmen haben die gegenwärtigen Fortschritte der künstlichen neuronalen Netzwerke möglich gemacht“, sagt der Deep-Learning-Experte Dr. Jenia Jitsev vom Jülich Supercomputing Centre. Denn je mehr Daten, desto mehr Beispiele, mit denen ein künstliches neuronales Netzwerk trainiert werden kann. Und Verbindungen zwischen den Bereichen im Gehirn, die für je intensiver das Training, desto besser kann ein Sehen, Hören und Sprache zuständig sind. Bei professionellen Netzwerk neue Beispiele korrekt einordnen, die es Badmintonspielern verändert sich die Vernetzung der Gehirn- zuvor noch nie gesehen hat. Solche selbstlernenden regionen, die Sehen und Bewegung koordinieren. K I-A lgorithmen sind allerdings sehr rechenintensiv. „Hier profitieren wir von der gestiegenen Leistungs- Deep Learning nutzt einfache mathematische Einheiten, deren fähigkeit und der gewachsenen Speicherkapazität Aktivität grob der von Nervenzellen im Gehirn entspricht: Sie moderner Hochleistungscomputer, die speziell für sind ebenfalls über Ein- und Ausgabeverbindungen mitein- den Umgang mit solchen Algorithmen und riesigen ander verknüpft und empfangen Informationen von anderen Datenmengen entwickelt wurden.“ In solchen Hoch- Einheiten, die sie verarbeiten und weiterleiten. Sie funktio- leistungscomputern stecken neben herkömmlichen nieren aber erheblich einfacher als die biologischen Vorbilder. Prozessoren (CPUs) viele Grafikprozessoren (GPUs). Organisiert sind die mathematischen Einheiten in Schichten. GPUs haben zwar langsamere Rechenkerne als CPUs, aber dennoch einen entscheidenden Vorteil: Sie TAUSENDE SCHICHTEN verfügen anders als CPUs über Tausende von Rechen- „Tiefe Netze fürs Deep Learning besitzen mitunter Hunderte kernen, die einfache Rechenoperationen parallel mit bis Tausende Schichten, in denen die Daten verarbeitet wer- großer Effizienz durchführen können. Ideal für die den“, erklärt Dr. Jenia Jitsev, der sich am Jülich Supercompu- Arbeitsweise der neuronalen Netzwerke und des Deep ting Centre mit der Architektur solcher Modelle beschäftigt. Learnings: bei diesen müssen während des Trainings Bei der Gesichtserkennung ist es beispielsweise so, als würde eine Vielzahl solcher Operationen immer wieder das Eingangsbild eine Vielzahl von Filtern durchlaufen, die durchgeführt werden. auf immer komplexere Muster ansprechen. Die erste Schicht nimmt zum Beispiel nur Helligkeitswerte wahr. Tiefere Layer Zu den immer leistungsfähigeren Rechnern kommt reagieren auf Kanten, Konturen und Formen – ganz tiefe hochwertige Software: „Mittlerweile stehen viele Schichten schließlich auf individuelle Merkmale von mensch- unterschiedliche Open-Source-Werkzeuge zur Ver- lichen Gesichtern. fügung.“ Die drei Voraussetzungen Big Data, leis- tungsfähige Hardware und passende Software haben Das Netzwerk lernt, ein Gesicht zu identifizieren, indem es die KI nun endgültig aus ihrem langen Winterschlaf sich merkt, welche Kombination aus Helligkeitswerten, Kan- erwachen lassen. ten, Formen und Details dieses Gesicht charakterisieren: Wie bei den Nervenzellen im Gehirn verstärken und schwächen sich bestimmte Verbindungen zwischen den Netzwerkeinhei- ten. Durch den Lernprozess werden Verbindungsmuster ge- schaffen, die zum korrekten Ergebnis führen. „Tiefe neuronale
12 T I T E LT H E M A Hofft, mithilfe von KI Muster im Gehirn von Men- Jenia Jitsev beschäftigt sich mit der Architektur schen mit psychologischen und neurologischen von tiefen neuronalen Netzwerken für Deep Erkrankungen zu finden: Simon Eickhoff. Learning. Netzwerke benötigen möglichst viele verschiedene Beispiele handeln zu können. Computerprogramme sollen in Hirnscans fürs Training: je mehr unterschiedliche Beispiele, desto erfolg- zum Beispiel nach Mustern fahnden, die Aufschluss darüber reicher das Lernen“, sagt Jitsev. geben, wie wahrscheinlich ein Rückfall bei einem Patienten mit Depressionen ist. KI könnte prognostizieren, wie schnell Genau hier liegt ein Problem, das Schultz im DeepRain-Projekt die Beeinträchtigungen einer Person mit Morbus Parkinson noch lösen muss: Das Trainingsmaterial fehlt. „Wir transfe- voranschreitet oder ob ein Patient besser mit Medikament A rieren vom Deutschen Wetterdienst für unsere Berechnungen oder Medikament B behandelt werden sollte. insgesamt 600 Terabyte an Daten. Das klingt erst einmal nicht nach einem Mangel.“ Allerdings: Starkregen ist selten. „Laut DAS GESAMTMUSTER ZÄHLT einer Statistik des Deutschen Wetterdienstes gab es zwischen Bis dahin ist der Weg aber noch weit. Eickhoff und sein Team 1996 und 2005 an keiner Station mehr als acht solcher Ereig- sind schon dabei, KI mithilfe der Mustererkennung bestimm- nisse“, sagt Schultz. Entsprechend rar sind Datensätze, aus te Informationen aus Hirnscans gewinnen zu lassen: Im denen sich ein Muster für die KI herauskristallisieren könnte. Augenblick stehen kognitive Leistungen und Persönlichkeits- eigenschaften wie Offenheit, Geselligkeit und emotionale Hinzu kommt: Die Daten werden nicht nur zum Trainieren be- Stabilität im Mittelpunkt. Dazu haben Eickhoff und sein nötigt, sondern auch für die abschließende Qualitätsprüfung. Team Maschinenlern-Programme mit den Gehirnscans von Deep-Learning-Experte Jenia Jitsev: „Für die Trainingsphase Hunderten Personen trainiert. Von diesen Probanden werden werden typischerweise nur 80 Prozent der Daten genutzt. Die bestimmte psychologische Kenngrößen mit eingegeben, etwa restlichen 20 Prozent fassen wir zunächst einmal gar nicht an. die Reaktionszeit in einem standardisierten Test. Hat das Dieser Testdatensatz wird erst nach dem Training herausge- Modell genügend Daten gesehen, kann es allein anhand der holt, um daran die Fähigkeiten des neuronalen Netzwerkes Gehirnbilder auf die Reaktionszeit eines neuen Individuums zu überprüfen.“ schließen. „Unsere Algorithmen suchen allerdings nicht nach Einzelaspekten in den Bilddaten. Wir können nicht sagen: Bei INDIVIDUELLE PROGNOSEN Menschen mit einem guten Arbeitsgedächtnis sind bestimmte Besonders wichtig ist diese Testphase, wenn es um sensible Areale im Gehirn überdurchschnittlich groß. Vielmehr ist das Daten geht – Daten, die über das Schicksal von Menschen Gesamtmuster ausschlaggebend“, sagt Eickhoff. entscheiden: etwa Auswahlverfahren bei Bewerbungen, die Einschätzung der Kreditwürdigkeit oder ärztliche Diagnosen. Komplexere kognitive Fähigkeiten, wie etwa Reaktionszei- Mit Letzteren beschäftigt sich der Mediziner Prof. Simon ten oder die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, lassen sich Eickhoff vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin relativ verlässlich mit KI aus den Gehirnscans ableiten, so der (INM-7). Er hofft, irgendwann mithilfe von KI Muster im Ge- Hirnforscher. Bei Persönlichkeitseigenschaften stimme die hirn von Menschen mit psychologischen und neurologischen Vorhersage zwar auch tendenziell, aber die Genauigkeit sei Erkrankungen zu finden, um sie gezielt und individuell be- hier noch nicht so gut. Das zeigt die Qualitätssicherung mit
13 Daten, die die KI noch nicht kennt: Sie trainiert nämlich im- mer nur mit einem Teil eines Datensatzes, den Rest nutzen die „Tiefe neuronale Forscher, um zu prüfen, wie gut die KI nach einer Lernphase Netzwerke benötigen die Persönlichkeitsmerkmale vorhersagt. möglichst viele Bereits sehr gute Ergebnisse liefert die KI bei der Vorhersage von Alter und Geschlecht: „Hier kann unser Programm mit verschiedene Beispiele neunzigprozentiger Sicherheit angeben, ob das Gehirn einer Frau oder einem Mann gehört. Beim Alter liegen wir in einem fürs Training: Bereich von plus/minus vier Jahren“, berichtet Eickhoff. je mehr Beispiele, LICHT INS DUNKEL BRINGEN desto erfolgreicher Die Überprüfbarkeit von Daten wie Alter oder Geschlecht ist vergleichsweise einfach. Schwieriger wird es bei Diagnosen das Lernen.“ und Prognosen. „Die Akzeptanz der Künstlichen Intelligenz im Gesundheitswesen steht und fällt mit dem Vertrauen, das ihr JENIA JITSEV entgegengebracht wird – sowohl von den Patienten als auch von den Ärzten“, glaubt der Jülicher Experte. Vertrauen basiert zum Teil darauf, dass nachvollziehbar ist, wie eine Diagnose oder ein Ergebnis zustande kommt. KI-Experten vergleichen jedoch ein neuronales Netzwerk beim Deep Learning gerne
14 T I T E LT H E M A mit einer Black Box: Man kennt die Eingabedaten und erhält nis auch die Kriterien mit, wie sie zu ihrem Schluss gelangt eine Ausgabe. Doch die Vorgänge in den informationsverarbei- ist. Nicht nur Medizin und Neurowissenschaften würden von tenden Schichten dazwischen sind so komplex, dass sich meist solchen Algorithmen profitieren, auch Wettervorhersage, Spra- nicht nachvollziehen lässt, wie das Netzwerk zu seinen Ergeb- cherkennung oder die Steuerung autonomer Autos. „Erst wenn nissen gelangt. Eine wichtige Aufgabe für die KI-Fachleute sei wir erklären können, warum ein Algorithmus seine Entschei- es daher, in den kommenden Jahren ein wenig Licht in dieses dung getroffen hat, werden wir von Maschinen vorgeschlage- Dunkel zu bringen und die komplexen Muster für uns sichtbar ne Lösungen akzeptieren, die unser Gehirn nicht findet“, so zu machen, die den Ergebnissen der KI zugrunde liegen, sagt Eickhoff. Simon Eickhoff. Hoffnung setzen viele Fachleute in dieser Hinsicht auf „Explainable AI“, also die erklärbare Künstliche ARNDT REUNING Intelligenz. Solch eine KI liefert neben dem eigentlichen Ergeb- Daten und Wissen vernetzen Medizin, Klimaforschung, Luft- und Raumfahrt: Die Vielfalt der Disziplinen, für die KI eine Rolle spielt, findet sich auch innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft wieder. Um Zusammenarbeit und Austausch von Wissen und Daten innerhalb des Forschungsverbundes zu unterstützen, baut die Helmholtz-Gemeinschaft zurzeit eine interdisziplinäre Plattform auf, die sie dauerhaft mit einem jährlichen Betrag von 11,4 Millionen Euro fördert: die Helmholtz AI – Helm- holtz Artificial Intelligence Cooperation Unit. „Das Helmholtz Zentrum München verbindet als zentrale Einheit mehrere Helmholtz-Zentren, die lokale Einheiten mit thematischen Schwerpunkten bilden. Jülich deckt ins- besondere den Bereich Schlüsseltechnologien/Information ab“, sagt Dr. Timo Dickscheid, KI-Experte vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1). „Jede lokale Einheit besteht aus einer vollausgestatteten Nachwuchs- gruppe und einem High-Level-Support-Team, das andere Wissenschaftler in ihren Projekten durch AI-Expertise Timo Dickscheid entwickelt Deep-Learning- unterstützt.“ Verfahren, um Modelle des menschlichen Gehirns zu verbessern. Dickscheids Arbeitsgruppe „Big Data Analytics“ wird eine wichtige Rolle für das Jülicher Segment spielen. Sie erstellt ein hochgenaues Modell des menschlichen Gehirns, dessen Auch die Forschungsgruppe „Cross-Sectional Team Deep Auflösung bis zu einzelnen Nervenzellen herunterreichen Learning“ vom Jülich Supercomputing Centre (JSC), die wird. Dazu baut die Gruppe Deep-Learning-Verfahren Prof. Morris Riedel und Dr. Jenia Jitsev leiten, ist an der weiter aus, um mikroskopische Bilddaten in der Größenord- Jülicher Einheit von Helmholtz AI beteiligt. Sie wird ge- nung mehrerer Terabyte zu analysieren. Die KI soll lernen, meinsam mit dem neuen High-Level-Support-Team des JSC automatisch Mikrostrukturen zu detektieren, Hirnareale zu die Machine- und Deep-Learning-Forschung vorantreiben kartieren und Tausende Gewebeschnitte zu 3-D-Ansichten und unterstützen. Schwerpunkt werden großskalige lern- des Gehirns zusammenzusetzen. Dabei will die Gruppe fähige neuronale Netzwerke sein. Diese können aus einem Lösungen entwickeln, die auch andere Forschungsbereiche kontinuierlichen Datenstrom über Wochen oder Monate nutzen können – wie etwa das Lernen mit nur wenigen hinweg lernen und das Gelernte auf verschiedene Aufga- Trainingsbeispielen. ben übertragen, die nur aus wenigen Beispielen bestehen. Mithilfe dieses Transfer-Learnings lassen sich etwa in der Physik aufwendige klassische Simulationen verbessern. Hören Sie mehr zu der Forschung Dazu werden die lernenden neuronalen Netzwerke an die von Timo Dickscheid unter Simulationen gekoppelt, um deren Modelle durch erzeugte effzett.fz-juelich.de und beobachtete Daten immer weiter zu optimieren.
15 Was ist was? MASCHINELLES LERNEN KI-Algorithmen, die aus Daten und Beispielen lernen und so Aufgaben lösen. ALGORITHMUS Anhand von Beispielen (Trainingsdaten) Beim Lernen werden die Verknüpfun- Eine Folge von Anweisungen, um ein oder durch eigenständige Erkennung von gen zwischen einzelnen Zellen gestärkt, bestimmtes Problem zu lösen (siehe auch Mustern in Daten eignen sie sich „Wissen“ geschwächt oder verändert. Fortschritte in Besserwissen, S. 28). an. Damit können sie anschließend unbe- der Computertechnik und die Verfügbar- Die einzelnen Befehle müssen eindeutig sein kannte Daten ähnlicher Art beurteilen. Bei keit großer Datenmengen haben das Deep und Schritt für Schritt ausgeführt werden. der Identifikation von Gesichtern kann ein Learning in solchen künstlichen Netzwerken Üblicherweise verlangt ein Algorithmus eine Algorithmus beispielsweise lernen, dass Au- ermöglicht. Eingabe und liefert eine Ausgabe. Beispiele genabstand, Gesichtsform und Nasengröße für Algorithmen sind Computerprogramme entscheidende Faktoren für die Erkennung und elektronische Schaltkreise, aber auch sind. Er extrahiert für das Konzept „Gesicht“ Bauanleitungen oder Kochrezepte. Bestimm- so ein charakteristisches Muster aus jedem te Algorithmen werden der Künstlichen Bild. Die Erkennung wird umso präziser, je Intelligenz zugerechnet. mehr Daten dem Algorithmus vorliegen. Erhebliche Fortschritte wurden in den vergangenen Jahren mithilfe künstlicher DEEP LEARNING neuronaler Netzwerke erzielt. Maschinelles Lernen in neuronalen Netzen mit vielen Schichten, sogenannten „tiefen“ Netzwerken. Auch hierbei analysieren Algorithmen große Datensätze und können anschließend KÜNSTLICHE INTELLIGENZ unbekannte Daten ähnlicher Art beurteilen. Maschinen, die auf der Basis von Algorith- Allerdings sind die Netzwerkmodelle durch men intelligentes Verhalten nachbilden. die vielen Schichten sehr viel komplexer. Eine genaue Eingrenzung fällt schwer, Dadurch hat der Algorithmus viele Freiheits- KÜNSTLICHE NEURONALE da der Begriff der Intelligenz selbst nicht grade sich zu vernetzen und kann so für die NETZWERKE eindeutig definiert ist. KI umfasst daher ein Lösung einer Aufgabe eigenständig lernen, Mathematische Modelle, die von der ganzes Spektrum von Methoden, Disziplinen optimale und möglicherweise sehr komplexe Arbeitsweise des Gehirns inspiriert sind. und Anwendungen: Computerprogramme, Merkmale zu extrahieren. Bei der Identi- die Schach spielen können. Oder Chatbots, Signale, die Eingabedaten des Algorithmus, fizierung von Gesichtern kann er auf diese die sich mit Nutzern sozialer Netzwerke werden in untereinander vernetzte Ein- Weise feinere Kriterien als Augenabstand unterhalten. Bestimmte Teilbereiche der heiten – „mathematische Nervenzellen“ – oder Nasengröße entdecken, die hilfreich Robotik zählen ebenso zur KI wie Experten- eingespeist. Die künstlichen Nervenzellen für die Erkennung sind. Programmierer systeme, die dabei helfen sollen, in einem verarbeiten die Informationen und erzeugen helfen der Software zu „lernen“, indem sie begrenzten Bereich optimale Entscheidun- durch einfache mathematische Gleichungen Rückmeldung geben, ob ein Ergebnis richtig gen zu treffen. Zunehmend zählen auch weitere Signale, die sie an nachgeordnete oder falsch ist. Sie korrigieren aber nicht den ethische, soziale oder rechtliche Betrach- „Zellen“ weitergeben. Am Ende erzeugt Weg dorthin. tungen zur KI. Als Schlüsseltechnologie in- eine Ausgabeschicht ein Ergebnis. Zwischen nerhalb der KI wird das Maschinelle Lernen der Eingabe- und Ausgabeschicht können angesehen. mehrere Lagen dieser Nervenzellen liegen, die auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft sind.
16 FORSCHUNG Energiegeladen Seine Chemielehrerin bescheinigte ihm in der Schule lediglich gute Leistungen – nicht mehr und nicht weniger. Heute ist Martin Winter das Gesicht der deutschen Batterieforschung. Die Erfolgsgeschichte eines Mannes, der sich an die Fakten hält und seinem Bauchgefühl folgt. Woran er gerade forscht und was ihn an Deutschland stört, Der Nachbar brachte den Stein ins Rollen: Der hohe Stirn, wache Augen, die sein Gegenüber im verrät Martin Winter war mit Herzblut Lebensmittelchemiker und be- Blick behalten. Ehrenprofessorwürden, Urkun- im Interview in der geisterte den Oberstufenschüler Martin Winter so den und Auszeichnungen an den Wänden erzäh- Online-Ausgabe sehr für die Zusammensetzung von Nahrungsmit- len von Leistungsbereitschaft, Engagement und der effzett: teln, dass der sich nach dem Abitur für Lebens- einer gehörigen Portion Ehrgeiz: „Ich habe immer effzett.fz-juelich.de mittelchemie in Münster einschrieb. Doch der viel gearbeitet, das gebe ich zu. Aber der Einsatz anfängliche Funke erlosch irgendwann im Stu- hat sich rentiert: Die Zahl der Erfolge überwiegt dium: Winter merkte, dass ihm die Analytik von die der Misserfolge bei Weitem!“ Lebensmitteln allein nicht interessant genug war. „Und in Botanik musste ich sehr viel auswendig Der blütenweiße Kittel hängt ordentlich an der lernen, das war so gar nicht meins“, erzählt er, Garderobe, eine sortierte Bücherwand, dane- lehnt sich zurück und lacht. Der 54-Jährige sitzt ben ein übersichtlicher Schreibtisch, alles wirkt in der „Besucherecke“ seines Büros. Jeans, Hemd, aufgeräumt. Da passt es ins Bild, dass Winter ein
17 Vielfach ausgezeichnet: Zahlreiche Urkunden und Ehrungen schmücken die Wände von Martin Winters Büro. Energiewandlung setzt: Nach dem Abschluss in Lebensmittelchemie studiert er Allgemeine Chemie und setzt sich in seiner Diplomarbeit und Promotion mit Lithium-Ionen-Batterien (LIB) auseinander. Er bewältigt Probleme, die andere zuvor nicht lösen konnten, seine berufliche Karri- ere nimmt Fahrt auf – ähnlich wie die Erfolgsge- schichte des „Wunder-Akkus“: Dieser entwickelt sich vom handgefertigten Akku über eine serien- reife Produktion bis hin zum Marktführer in der Batterietechnik. Winter hat zu dieser Erfolgsstory beigetragen. „Als Begründer der modernen Lithium-Ionen-Chemie sehe ich mich ganz vorne mit dabei: was die Elektrolyte und Anodenma- terialien betrifft, und auch mit unserem syste- mischen Ansatz, dass man die Materialien nicht einzeln betrachtet, sondern in Wechselwirkung“, Zur Person erklärt der Professor für Physikalische Chemie. Martin Winter, Jahrgang 1965, Heute ist er für viele dieser Themen das Gesicht ist Gründungsdirektor des in Deutschland und weltweit. Helmholtz-Instituts Münster (HI MS), einer Außenstelle des For- OFFENHEIT ERWÜNSCHT schungszentrums Jülich. Das HI Kritiker werfen Winter vor, dass er immer noch MS umfasst drei Partner: Neben auf eine Technologie setzt, deren Potenzial ausge- dem Forschungszentrum Jülich schöpft sei. Winter sieht das anders: Für ihn gibt sind das die RWTH Aachen und es noch Forschungs- und Entwicklungsbedarf, die Westfälische Wilhelms-Uni- etwa um Energiedichte und Kapazität der LIB zu versität (WWU) Münster. Der Faible für Briefmarken hat – der Chemiker muss steigern. Dennoch sei es wichtig, offen für andere wissenschaftliche Leiter des 2009 angesichts des Eindrucks schmunzeln: „Ich bin Ansätze zu sein. „Diese ,Entweder-oder-Perspek- gegründeten „MEET“- Batterie- eigentlich kein Ordnungsmensch, ich mache mir tive‘ führt am Thema vorbei und schränkt uns forschungszentrums der WWU nur selten Notizen und versuche das Wichtige im Gesamtblick ein. Je nach Anwendung werden lehrt Physikalische Chemie. Im im Kopf zu behalten.“ Schubladendenken ist wir künftig unterschiedliche Batteriesysteme Juni 2019 gab das Bundesminis- nicht seins. Das beschränke den Blick aufs große benötigen. Daher sollten wir Neues erforschen terium für Bildung und Forschung Ganze. Für ihn sei es eine Lebenseinstellung, und Bestehendes besser, sicherer und günstiger bekannt, dass die Wahl für den Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu machen“, so Winter und fügt hinzu, „diese Offen- Standort der geplanten „For- beleuchten, Pro und Contra aufzuzeigen, um die heit in der Technologiediskussion wünsche ich schungsfertigung Batteriezelle“ beste Lösung zu finden. Auf dieser Basis zeichnet mir auch von Kollegen in der Batterieszene“. auf Münster gefallen ist. Winter er die großen Forschungslinien sowohl am Helm- hatte den Antrag maßgeblich holtz-Institut Münster, einer Jülicher Außenstel- Nur mit Offenheit sei es möglich, gemeinsam eine vorbereitet. le, als auch am „Münster Electrochemical Energy nationale Batteriezellproduktion aufzubauen, die Technology“-Institut (MEET). Sein wichtigster in jedem Tortendiagramm für Batteriezellpro- und treuester Begleiter neben seinem glasklaren duktion auftaucht und nicht in der Rubrik „An- Verstand: das Bauchgefühl. „Es gibt Situationen, dere“ verschwindet, so Winter: „Am Ende meiner in denen ich alle Fakten zusammengetragen Karriere sollen die Menschen sagen können, dass habe, aber doch nicht weiterkomme, da ist mein die Batterieforschung allgemein von unserem Bauchgefühl entscheidend.“ In 90 Prozent der Engagement profitiert hat – bezüglich dessen, Fälle habe er richtig gelegen, „über die übrigen dass wir eine nationale Community aufgebaut zehn Prozent ärgere ich mich!“ haben und dass wir viel für die Gesellschaft getan haben – auch um die Wirtschaftskraft und Die Kombination aus Bauchgefühl und Wissen Innovationsfähigkeit im Land zu halten und zu hat dazu beigetragen, dass Winter schon in den stärken.“ 1990er Jahren den richtigen Riecher hat und auf elektrochemische Energiespeicherung und K ATJ A L Ü E R S
18 FORSCHUNG Turbotest fürs Trinkwasser Sauberes Wasser ist lebensnotwendig. Gerade nach Naturkatastrophen oder bei Epidemien gilt es, rasch festzustellen, ob eine Wasserquelle verunreinigt ist. Was bislang viele Stunden oder gar Tage dauerte, soll ein neues Gerät künftig auf 60 Minuten verkürzen. Ein Zyklon in Mosambik, ein Erdbeben auf das ändern. Mit dem Gerät, das etwa so groß kümmern, also um die Messung der Magnet- Haiti, aber auch Hochwasser in Bayern – eine wie eine Milchpackung ist, können Hilfs- partikel und ihre Auswertung, entwickeln der ersten Maßnahmen ist es, möglichst organisationen oder Wasserversorger vor die Biologen vom IME neue Antikörper.“ schnell eine stabile Trinkwasserversorgung Ort Proben innerhalb einer Stunde testen. sicherzustellen. Jedoch muss jede Wasser- AquaNANO ist ein Gemeinschaftsprojekt: FÜR DEN EINSATZ OPTIMIERT quelle zunächst auf Verunreinigungen und Beteiligt sind Hans-Joachim Krause und sein In einem Folgeprojekt soll aus dem Prototyp Krankheitserreger überprüft werden. Bisher Doktorand Stefan Achtsnicht sowie Forscher nun ein robustes Werkzeug werden. „Wir bringen Experten dafür Proben ins Labor, des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiolo- haben das Technische Hilfswerk bei mehreren züchten Bakterienkulturen und analysieren. gie und Angewandte Oekologie IME und das Übungen begleitet und so erfahren, welche Die Prozedur dauert mehrere Stunden, für Medizintechnik-Unternehmen DITABIS AG. Anforderungen ein mobiles Trinkwasserlabor Cholera-Bakterien sogar Tage, für Legionel- Um Art und Menge eines Schadstoffs festzu- im Einsatz erfüllen muss, zum Beispiel muss len mehr als eine Woche. stellen, setzen die Forscher magnetische Na- das Gerät sowohl bei großer Hitze als auch bei nosonden ein, die mit Antikörpern gegen den Kälte funktionieren“, führt Achtsnicht aus. In JE EHER, DESTO BESSER Schadstoff beschichtet sind. Diese Nanoson- Zukunft soll AquaNANO außerdem mit einem „Diese Zeit fehlt, wenn man nach einer den lassen sich einfach und schnell nachwei- Akku betrieben werden können, intuitiver Katastrophe eine Trinkwasserversorgung sen. Eine Einschränkung gibt es allerdings: zu bedienen sein und eine Probe auf mehrere aus dem Boden stampfen muss“, weiß Prof. „Es können nur Stoffe gefunden werden, für Kontaminationen gleichzeitig testen können. Hans-Joachim Krause vom Jülicher Institute die es bereits Antikörper gibt“, so Achtsnicht. of Complex Systems (ICS-8). AquaNANO soll „Während wir uns um die Auslesetechnik JANNIS LINDNER UND MARTHA PETERS So funktioniert die Trinkwasseranalyse 1 2 3 4 5 Entnahme einer Zugabe magnetischer Bindung der Magnetische Andocken der Trinkwasserprobe Nanosonden, die mit Schadstoffe an die Abtrennung der Schadstoff-Nanoson- Antikörpern beschichtet Antikörper und damit Nanosonden und der den-Komplexe an einen sind an die Sonden daran gebundenen speziellen Filter, Schadstoffe anschließend Nachweis im Messgerät
19 Woran forschen Sie gerade, Frau Ripoll? Dr. Marisol Ripoll, Institute of Complex Systems, Bereich Theorie der Weichen Materie und Biophysik (ICS-2 / IAS-2) „Ich untersuche Janus-Partikel, winzige Teilchen, die zwei ,Gesichter‘ haben – wie der römische Gott Janus. Die Teilchen vereinen verschiedene Eigenschaften. Ein Beispiel: die Reaktion auf Hitze. Bestrahlt man eine Flüssigkeit, die solche Teilchen enthält, mit Laserlicht, erwärmt sich die eine Hälfte eines Teilchens, die andere versetzt das Teilchen in Bewegung. Die erwärmten Hälften beeinflussen zusätzlich die Nachbarteilchen. Zudem entstehen Wirbel und Strömungen. Alles zusammen verändert die Eigenschaften der Flüssigkeit. Mit solchen Mikromotoren könnte man das Verhalten von Flüssigkeiten gezielt steuern und so intelligente Materialien entwickeln.“
20 FORSCHUNG Einfach nur anders Das Thema Autismus erhitzt die Gemüter: Die einen sehen darin eine schwere Krankheit, andere einfach nur ein Anderssein. Kai Vogeley hat Verständnis für beide Perspektiven. Der Psychiater widmet sich dem Thema seit Jahren – in Jülich als Forscher, in der Uniklinik Köln als Arzt und Leiter der Ambulanz „Autismus im Erwachsenenalter“.
21 „Soziale Kontakte können Menschen mit Autismus Angst einjagen“ – Um die Öffentlichkeit für das Thema Autismus zu sensibilisieren, hat die Agentur Ruf Lanz, Zürich, im Auftrag des Autismus Forums Schweiz eine langfristige Kampagne entwi- Der Begriff ckelt. Dazu gehören die beiden Plakate auf dieser Das Wort „Autismus“ stammt und der folgenden Seite. vom griechischen Wort „autos“, was so viel wie „selbst“ bezie- hungsweise „auf sich selbst bezogen“ bedeutet. Menschen mit Autismus fällt es schwer, diesen „unsichtbaren Datenstrom“ wahrzunehmen, die Gefühle ihrer Mitmenschen zu deuten und ange- messen zu reagieren. Eine Umarmung jagt ihnen Angst ein und löst oft Stress und Unwohlsein aus. Das bedeute jedoch nicht, dass keine Gefühle vorhanden sind, sondern dass derjenige sie nur sehr schwer identifizieren und kommunizieren kann. Nonverbale Kommunikationsbotschaften können Menschen mit Autismus nicht entschlüs- seln – vielleicht vergleichbar mit einem Text, bei dem wir nur jede zehnte Zeile lesen dürfen. Der Inhalt würde sich wohl niemandem erschließen. Kein Wunder also, dass eines Tages eine Person mit Autismus vor Vogeley in der Praxis stand und ihn um eine Gebrauchsanweisung für eine Umar- mung bat. „Seitdem betrachte ich Umarmungen aus einem neuen Blickwinkel, das ist wie eine komplizierte Grammatik“, so Vogeley. Die Historie UNKLARE URSACHEN Der Amerikaner Leo Kanner (Bild) Schätzungen zufolge lebt weltweit ein Prozent beschrieb im Jahre 1943 als erster aller Menschen mit Autismus. Demnach sind das Symptom des frühkindlichen allein in Deutschland 800.000 Frauen und Männer Autismus als eine Untergruppe betroffen. Die genauen Ursachen für Autismus sind innerhalb der Schizophrenien noch immer ungeklärt. In der Forschung besteht im Kindesalter. Die von ihm un- Einigkeit, dass es keine allgemeingültige Ursache tersuchten autistischen Kinder für Autismus gibt und dass erbliche Faktoren eine wehrten jeden Kontakt ab, spra- entscheidende Rolle spielen. „Doch welche und wie chen nicht oder nur in eigentümli- viel Gene verantwortlich sind, bleibt unklar“, so cher Weise und waren in extremer Vogeley. Manche Wissenschaftler gehen von 100 Weise um die Gleicherhaltung Wir tun es regelmäßig, ohne darüber nachzu- beteiligten Genen aus, andere von Tausenden – das ihrer Umwelt bemüht. Kanners denken: jemanden in die Arme nehmen. Intuitiv menschliche Genom umfasst 25.000 Gene. diagnostische Kriterien zur Be- wissen wir, wann der richtige Zeitpunkt ist, wie stimmung dieser ungewöhnlichen lange die Umarmung dauern darf und wie nah Das diagnostische Handbuch der Weltgesund- Verhaltensstörung sind noch wir einander kommen dürfen, ob wir uns trös- heitsorganisation WHO, die „International Clas- heute von Bedeutung. Unabhän- tend drücken oder nur freundschaftlich herzen. sification of Disease“ (ICD), definiert Autismus gig von Kanner beschrieb der „Bei einer Umarmung senden und empfangen als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Dazu Wiener Kinderarzt Hans Asperger wir ständig nonverbale Signale über Blickkon- zählen Formen wie Frühkindlicher Autismus, zur gleichen Zeit ein ähnliches takt, Gesichtsausdruck und den Abstand zum Atypischer Autismus und das Asperger-Syndrom. Erscheinungsbild und nannte es Gegenüber. Das läuft ohne Nachdenken ab, wie In Deutschland sind Kassenärzte verpflichtet, Autistische Psychopathie. ein kontinuierlicher, unsichtbarer Datenstrom im ihre Diagnosen entsprechend der ICD-Klassifika- Hintergrund“, erklärt Kai Vogeley. Der Professor tionen zu stellen. Was irgendwie nach schwarz für Psychiatrie und Psychotherapie leitet an der und weiß oder krank und gesund klingt, sorgt Uniklinik Köln die Spezialambulanz „Autis- sowohl unter Medizinern als auch Betroffenen mus im Erwachsenenalter“ und am Institut für immer wieder für Unmut, Diskussionen und Neurowissenschaften und Medizin (INM-3) die Missverständnisse. „Es ist zwar sachlich korrekt, Arbeitsgruppe „Soziale Kognition“. Autismus als eine genetisch bedingte Störung des
22 FORSCHUNG Anders sei es bei jenen, die ihm eröffnen, dass es ihnen nicht gut geht, dass sie im Alltag nicht zurechtkommen, keine Freunde haben und nicht mehr zur Arbeit gehen können. Laut Vogeley leiden 40 bis 50 Prozent der Autisten unter Depressionen. Sie wissen, dass sie anders denken und fühlen, und arbeiten permanent an sich, um den üblichen Gesellschaftsvorstellungen zu entsprechen und zu funktionieren – oft mit sehr hohem Aufwand und oft vergebens. NICHT JEDER BRAUCHT HILFE „Diese Menschen benötigen dringend Unterstüt- zung“, resümiert Vogeley. Und dann sind da noch jene, die sich vorstellen in der Hoffnung, dass die Diagnose Autismus ihr absonderliches Verhalten erkläre könne. „Aber: Jemand, der erst mit 15 oder 16 Jahren Eigenheiten entwickelt, braucht vielleicht Hilfe, jedoch hat er keine tiefgreifende Entwicklungsstörung“, bringt es der Forscher auf den Punkt. Er stellt nur für etwa ein Drittel seiner Patienten die Diagnose Autismus. Und so hat der Arzt es durchaus schon erlebt, dass Menschen sich darüber beklagt haben, dass sie die Diagnose nicht bekommen haben. „Es kommen Menschen mit Autismus zu mir, die ein erfolgrei- Mit seiner Jülicher Arbeitsgruppe untersucht Vogeley, inwiefern nonverbale Kommunikation ches Leben führen. Da fällt es mir die Vorgänge im Gehirn messbar beeinflusst. So haben sich die Wissenschaftler in einer Stu- als Arzt schwer, diese Menschen die mit dem „sozialen Blick“ beschäftigt: Wie interpretieren Menschen mit und ohne Autismus als krank zu bezeichnen.“ den Blick eines Gegenübers? Eingesetzt wurde ein virtueller Charakter, der weder redet noch K A I V O G E L E Y, P R O F E S S O R F Ü R P S Y C H I AT R I E U N D P S Y C H O T H E R A P I E nonverbal kommuniziert, sondern die Testper- son nur anschaut. Verändert wurde lediglich die Blickdauer des virtuellen Charakters – bis auf maximal vier Sekunden. „Wir konnten zeigen, dass bei Menschen ohne Au- tismus mit anhaltender Blickdauer die Sympathie Nervensystems zu bezeichnen“, räumt Vogeley für das künstliche Gegenüber steigt“, sagt Voge- ein. Aber aus seiner langjährigen Erfahrung aus ley. Bei ihnen wird das „soziale Gehirn“ aktiviert, der Ambulanz, die seit 2005 existiert, weiß der jene Hirnareale, die für das Erleben von Mitge- Psychiater, dass die Wahrheit individuell ausfällt: fühl und sozialer Interaktion verantwortlich sind. „Es kommen Menschen mit Autismus zu mir, die Das bildgebende Verfahren der funktionellen ein erfolgreiches Leben führen: Lehrer, Kranken- Magnetresonanztomografie (fMRT) hatte die Ge- schwestern, Psychologen, Versicherungsmakler. hirnaktivitäten aufgezeichnet. „Bei Menschen mit Sie merken zwar, dass sie in bestimmten Situa- Autismus hingegen blieb die Messkurve in Regio- tionen anders reagieren als ihre Mitmenschen, nen des ,sozialen Gehirns‘ flach. Die ausbleibende kommen damit aber gut klar und benötigen Reaktion kann als neurobiologischer Indikator Mehr zum Thema lediglich die Diagnose, um für sich Klarheit zu dafür gewertet werden, dass es Betroffenen Autismus lesen Sie in schaffen“, sagt der Mediziner. Diese Menschen schwererfällt, Gefühle und Absichten anderer der Online-Ausgabe stünden mitten im Leben und haben einen Weg intuitiv zu deuten“, erklärt Vogeley. der effzett: für sich und ihr Umfeld gefunden, um mit ihren effzett.fz-juelich.de Denk- und Lebensstilen umzugehen. „Da fällt es Darüber hinaus könnte es sein, dass die soge- mir als Arzt schwer, diese Menschen als krank zu nannte soziale Motivation von Personen mit bezeichnen“, so Vogeley. Autismus verringert ist. „Das würde bedeuten,
23 dass Menschen mit Autismus soziale Kontakte senschaften und Medizin, mit Kollegen aus der weniger interessant und weniger kurzweilig oder Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien unterhaltend empfinden könnten. Das ist bislang bestimmte sich wiederholende Aktivitätsmuster aber nur eine Vermutung“, betont der Wissen- im Gehirn entdeckt, die nur bei Menschen mit schaftler. Autismus vorkommen. Dieses konsistente Muster sogenannter funktioneller Konnektivitäten könn- Die Jülicher interessieren sich auch für die Ge- te langfristig als Biomarker für künftige Thera schlechterverteilung bei der Autismus-Diagnose: pien eingesetzt werden. Sind Jungen oder Mädchen stärker betroffen? Bei Kindern mit Asperger-Syndrom – also Autismus, Die Idee: Mediziner könnten künftig über Medi- bei dem die Betroffenen einen IQ höher als 70 kamente das Hirnmuster in Richtung „gesundes“ aufweisen – kommen auf ein Mädchen bis zu Muster verschieben und damit den Gesundheits- zehn Jungen, bei den Erwachsenen sind es nur zustand verbessern. „Die Ergebnisse der Studie, noch etwa zwei Männer auf eine Frau. Mit Ge- die mehr als 800 Autisten in vier Kohorten netik lässt sich dieses Phänomen nicht erklären. berücksichtigt, könnten dazu beitragen, bishe- „Momentan gehen wir davon aus, dass Mädchen rige Therapieformen zu optimieren oder neue Jürgen Dukart hat Aktivitäts- unterdiagnostiziert werden. Ihnen gelingt es of- Behandlungswege zu finden“, resümiert Dukart. muster im Gehirn entdeckt, fensichtlich besser, sich anzupassen und weniger Denn auch wenn es viele Menschen mit Autismus die nur bei Menschen mit aufzufallen“, erklärt Vogeley. „Camouflage“ heißt gibt, die der Forschung kritisch gegenüberstehen Autismus vorkommen. der Fachbegriff. Das bestätigen auch Studien und die Ansicht vertreten, sie seien zwar anders, ergebnisse der Jülicher Forscher. aber durchaus gesund, darf die Wissenschaft nicht jene Menschen aus dem Fokus verlieren, die HEILBAR ODER NICHT? in ihrem Leben mit Autismus nicht zurechtkom- Nach dem derzeitigen Wissensstand ist Autismus men. nicht heilbar. Therapeutische und pädagogische Förderung und Unterstützung helfen jedoch, K ATJ A L Ü E R S positive Veränderungen zu erreichen. So hat Dr. Jürgen Dukart vom INM-7, einem anderen Forschungsbereich im Institut für Neurowis-
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