Alleskönner KI? - Forschungszentrum Jülich

 
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3-19
DAS MAG A ZIN AUS DEM FORSCHUNGSZENTRUM JÜLICH

         Alleskönner KI?
             Künstliche Intelligenz ist vielseitig, muss aber noch viel lernen

    EINDEUTIG MACHBAR               EINFACH ANDERS               ECHT ERFOLGREICH
   Kosten für das Erreichen der       Nicht jeder Autist        Martin Winter setzt auf
      Klimaziele berechnet             fühlt sich krank         Lithium-Ionen-Batterien
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2   SO GESEHEN

                                    Unter Kontrolle
                    Alle starren gebannt auf „Igor“. Gleich wird der weiße Kasten einsatzbereit sein.
                Seine Messung der Neutronenstrahlung soll verraten: Wurde hier radioaktives Material
           beiseitegeschafft? Internationale Experten haben den tragbaren Detektor bei der Übung „Nuclear
          Disarmament Verification“ (NuDiVe) im Jülicher Institut für Energie- und Klimaforschung (IEK-6)
             eingesetzt, bei der sie neue Verfahren zur Überwachung der nuklearen Abrüstung erprobten.
        Die Verfahren könnten künftig aufklären, ob ein Nuklearsprengkopf ordnungsgemäß vernichtet wurde.
               Bisher ist dieser Nachweis kaum möglich, denn Kontrolleure dürfen Waffensysteme nicht
                    direkt untersuchen. Das soll das militärische Know-how eines Staates schützen.
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THEMEN                   3

        NACHRICHTEN
                                                                              Freier Zugriff
                 5                                                             auf Wissen
                                                                            Das Lesen wissenschaftlicher
                                                                           Zeitschriften soll künftig nichts
                                                                                    mehr kosten.
         T I T E LT H E M A

       Lernende
       Maschinen
                                           Turbotest für
                                           Trinkwasser
                                            Bei Epidemien und nach
                                        Katastrophen ist sauberes Wasser
                                          wichtig. Ein neues Gerät soll
                                                Tests verkürzen.

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                                             Einfach nur
                                               anders
Künstliche Intelligenz weckt hohe
                                                                                         29
 Erwartungen – und bietet viele
Chancen. Sie ist aber noch weit von
   echter Intelligenz entfernt.
                                                                                    RUBRIKEN
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                                                                                Aus der Redaktion
                                                                                        4

          FORSCHUNG
                                                                                    Impressum
                                                                                        4
   Energiegeladen                          Menschen mit Autismus:
                                       Wenn Umarmungen Angst einjagen.           Woran forschen
Hält sich an Fakten und folgt seinem                                              Sie gerade?
  Bauchgefühl – Batterieforscher                      20                               19
      Martin Winter im Porträt.

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                                                                                       28
                                         Klimaneutralität
                                          klar kalkuliert                           Gefällt uns
                                                                                        31
                                        Wie die Umstellung des Energie­
                                        systems bis 2050 mit möglichst         Forschung in einem
                                           geringen Kosten gelingt.                  Tweet
                                                                                      32
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4                AUS DER REDAK TION

                                                                                      Musterstücke
                                                                          Kennen Sie das? Da haben Sie neulich diesen Song gehört, den Sie
  Noch
                                                                          auf Anhieb mochten. Doch weder Titel noch Name des Interpreten
mehr drin!
   Jetzt das                                                              blieben hängen. Ärgerlich. Aber dann, Wochen später, erklingt genau
Online-Magazin
     lesen                                                                dieses Lied bei der Musikapp auf dem eigenen Smartphone. Ein Zufall?
                                                                          Vielleicht, vielleicht auch nicht. Denn eventuell hat Künstliche Intel-
                                                                          ligenz (KI) das Geheimnis Ihres Musikgeschmacks enträtselt. KI wird
                                                                          nämlich auch genutzt, um auszuwerten, welche Musik man hört, und
                                                                          daraufhin dem Muster entsprechend neue Songs vorzuschlagen. Dieser
                                                                          Vorschlag war dann jedenfalls mustergültig. Warten Sie mal ab, was
                                                                          die KI das nächste Mal vorschlägt. In der Zwischenzeit können Sie in
                                                                          unserer Titelgeschichte nachlesen, welche Muster die KI für die Wissen-
                                                                          schaft suchen soll: etwa in Wetterdaten, um vor lokalen Wetterextre-
                                                                          men zu warnen, oder in Bildern von Gehirnscans, um den langfristigen
                                                                          Verlauf einer Krankheit zu prognostizieren.

                                                                          Jülicher Forscher arbeiten auch in anderen Bereichen an Lösungen
    Die effzett können Sie auf allen
    Endgeräten lesen – vom Smartphone                                     für unsere Zukunft: Zum Beispiel berechnen sie, wie Deutschland den
    bis zum PC. Einfach online aufrufen:                                  CO2-Ausstoß bis 2050 kostengünstig um 95 Prozent senken kann, und
    effzett.fz-juelich.de
                                                                          sie entwickeln unterschiedliche Batteriesysteme. Lesen Sie außerdem,
                                                                          warum für Menschen mit Autismus eine Umarmung so schwer ist wie
                                                                          für andere eine komplizierte Grammatik. Wir hoffen, dass das eine oder
                                                                          andere Musterstück für Sie dabei ist. Viel Vergnügen wünscht …

                                                                          Ihre effzett-Redaktion

                 Impressum
                 effzett Magazin des Forschungszentrums Jülich, ISSN 1433-7371                   GmbH (5 o.), SeitenPlan ­(18 (Grafik)), Bernd Struckmeyer (Tite, 3 li. o., 8,
                                                                                                 10, 13), alle im Folgenden genannten Motive sind von Shutterstock.com:
                 Herausgeber: Forschungszentrum Jülich GmbH, 52425 Jülich
                                                                                                 DariaRen (7 ­­ u.), LightField Studios (3 Mitte u.), Macrovector (31), ONYXprj
                 Konzeption und Redaktion: Annette Stettien, Dr. Barbara Schunk,                 (15 (kleine Illustrationen)), Rakic (4 (Montage: SeitenPlan)), spacezerocom
                 Christian Hohlfeld, Dr. Anne Rother (V.i.S.d.P.)                                (28 (Hintergrund)), Tonktiti (3 Mitte o.)
                 Autoren: Marcel Bülow, Dr. Frank Frick, Christian Hohlfeld, Jannis              Kontakt: Geschäftsbereich Unternehmenskommuni­kation,
                 Lindner, Katja Lüers, Dr. Regine Panknin, Martha Peters, Dr. Arndt              Tel.: 02461 61-4661, Fax: 02461 61-4666, ­E-Mail: info@fz-juelich.de
                 Reuning, Tobias Schlößer, Dr. Barbara Schunk, Annette Stettien,
                                                                                                 Druck: Schloemer Gruppe GmbH
                 Angela Wenzik, Erhard Zeiss
                                                                                                 Auflage: 3.500
                 Grafik und Layout: SeitenPlan GmbH, Dortmund
                 Bildnachweise: Forschungszentrum Jülich (25, 32), Forschungszentrum
                 Jülich/Sascha Kreklau (2, 3 li. u., 6 o., 12 li., 16-17, 19, 22), Forschungs-   * Alle in der effzett verwendeten Bezeichnungen sind geschlechts-
                 zentrum Jülich/Ralf-Uwe Limbach (3 re, 6 u., 7 o., 11, 12 re., 14, 23 u., 27,     neutral zu verstehen. Auf eine Nennung verschiedener Varianten
                 30), Forschungszentrum Jülich/Tobias Schlößer (5 u.), Diana Köhne (28             der Bezeichnungen wird allein aus Gründen der besseren Lesbar-
                 (Illustrationen/Handschrift)), Ruf Lanz, Zürich (20, 23 o.), SUNfarming           keit verzichtet.
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NACHRICHTEN                   5

                                                                     B I O Ö KO N O M I E

                                                        Doppelter Vorteil
                            Gleichzeitig die Versorgung mit Strom und Lebensmitteln sicherstellen – das sollen Food & Energy Anlagen
                      in Afrika. Solardächer über Anbauflächen für Obst und Gemüse erzeugen Strom, der in das örtliche Versorgungsnetz
                       fließt. Unter den Photovoltaikanlagen lässt sich in „offenen Gewächshäusern“ Ackerbau betreiben. Die Kombination
                          soll Landnutzungskonflikte zwischen Landwirtschaft und Energiegewinnung reduzieren. Experten aus Nigeria,
                           Benin und Deutschland beschäftigen sich neben der Produktion auch mit der Konservierung von Feldfrüchten,
                              etwa in modernen Trocknungsanlagen. Ziel ist es Obst- und Gemüseüberschüsse aus der Erntezeit länger
                                haltbar zu machen und so eine gleichbleibende Versorgung zu sichern. Jülich koordiniert das Projekt.

                                  – INSTITU T FÜR ENERGIE- UND KLIMAFORSCHUNG/INSTITU T FÜR BIO- UND GEOWISSENSCHAF TEN –

                                                                                                                                          SUNfarming GmbH
                                                 QUANTENCOMPUTING

                Schrödingers Katze aus 20 Atomen
         Im berühmten Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger aus dem Jahr 1935 ist eine Katze in einer
  geschlossenen Kiste gemäß den Regeln der Quantenmechanik gleichzeitig lebendig und tot. Dieser überlagerte Zustand endet
 erst, wenn jemand nachsieht. Einem internationalen Team mit Jülicher Beteiligung ist es gelungen, 20 Atome mithilfe geschickt
eingesetzter Laser in einen solchen überlagerten „Katzenzustand“ zu versetzen. Der bisherige Höchstwert lag bei 14 überlagerten
        Atomen. Der neue Rekord ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem Quantencomputer, der klassische Rechner
                                  bei der Lösung bestimmter Aufgaben weit übertreffen könnte.
                                                 – PETER GRÜNBERG INSTITUT –
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6          NACHRICHTEN

              700Millionen Euro . . .
             stellen das Bundesforschungsministerium
     und das Land Nordrhein-Westfalen für die „Forschungs­
    fertigung Batteriezelle“ in Münster zur Verfügung, an der
    das Helmholtz-Institut Münster beteiligt ist, eine Außen­
       stelle des Forschungszentrums Jülich. Die Fabrik soll
       den Einstieg Deutschlands in eine Serienproduktion
               von großen Batteriezellen vorbereiten.
                 – H E L M H O LT Z- I N S T I T U T M Ü N S T E R –
                                                                                            BIOPHYSIK

                                                                            Volle Kraft voraus
                                                                             Der Jülicher Physiker Dr. Benedikt Sabass erhält
                   M AT E R I A L F O R S C H U N G                     einen „Starting Grant“ des Europäischen Forschungsrates

           Auf dem
                                                                          in Höhe von rund 1,5 Millionen Euro. Der Nachwuchs­
                                                                         wissenschaftler will mechanische Kräfte von Bakterien

      nationalen Fahrplan
                                                                        untersuchen, etwa von Krankenhauskeimen. Diese Kräfte
                                                                                 beeinflussen, wie sich Zellen verhalten.
                                                                                   – INSTITUTE OF COMPLEX SYSTEMS –
        Das Bundesforschungsministerium hat das geplante
Ernst Ruska-Centrum 2.0 auf dem Jülicher Campus in die Nationale
  Roadmap für große Forschungsinfrastrukturen aufgenommen.
In dem Zentrum sollen ab 2022 mit weltweit einzigartigen Elektro-

                                                                                Puzzle mit
nenmikroskopen der nächsten Generation zum Beispiel Materialien
 für die Energie­wende oder biologisch aktive Moleküle untersucht
   werden. Ebenfalls aufgenommen wurde der deutsche Beitrag
     an der Europäischen Forschungsinfrastruktur für Aerosol,
    Wolken und Spurengase (ACTRIS-D), an dem auch Jülicher
                   Klimaforscher beteiligt sind.
                                                                                 Atomen
             – ERNST RUSK A-CENTRUM FÜR MIKROSKOPIE                         Energiesparende Datenspeicher aus
           UND SPEK TROSKOPIE MIT ELEK TRONEN/INSTIT U T
                FÜR ENERGIE- UND KLIMAFORSCHUNG –                         einzelnen Atomen sind noch Zukunfts­
                                                                       musik. Ein Grund dafür ist ihre mangelnde
                                                                          magnetische Stabilität. Diese lässt sich
                                                                       durch bestimmte symmetrische Anordnung
                                                                       der Atome verbessern, haben Forscher aus
                                                                       Hamburg, Jülich und dem niederländischen
                                                                         Leiden herausgefunden. Sie hatten dazu
                                                                        systematisch verschie­dene Positionen von
                                                                           drei bis neun Eisenatomen auf einer
                                                                                  Oberfläche untersucht.
                                                                                      – PETER GRÜNBERG INSTITUT –
Alleskönner KI? - Forschungszentrum Jülich
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                         NACHGEFR AGT

         Schneller zum
          Durchbruch
       Das Forschungszentrum Jülich und Google
 forschen künftig gemeinsam an Quantencomputern.
Prof. Kristel Michielsen, Leiterin der Forschungsgruppe
  Quantum Information Processing am Jülich Super-
      computing Centre, erklärt die Hintergründe.

           Frau Michielsen, warum ist Google
               ein interessanter Partner?
        Google arbeitet seit 2011 an einem eigenen
    Quantencomputer. Durch die Kooperation erhalten
  wir Zugriff auf Hardware und Know-how von Google.
Davon profitiert etwa, wenn auch indirekt, „OpenSuperQ“,
 ein Teilprojekt des europäischen Flagships zur Quanten­
          technologie, an dem Jülich beteiligt ist.

       Was bringt Jülich in die Kooperation ein?
     Unsere Supercomputer-Infrastruktur und unser
  Know-how zu Soft- und Hardware. Ich selbst teste auf
Supercomputern Algorithmen, die auf Quanten­computern
    ablaufen könnten. Neben dem wissenschaftlichen
 Austausch wollen wir uns gegenseitig b­ ei der Ausbildung
   von Spezialisten unterstützen. Wobei Google nicht
                 der einzige Partner ist.

                      Wer ist noch im Boot?
Wir arbeiten mit D-Wave zusammen und sind im Gespräch
mit IBM. Um Quantenrechnern schneller zum Durchbruch
      zu verhelfen, müssen wir uns enger vernetzen.
         D I E F R A G E N S T E L LT E C H R I S T I A N H O H L F E L D .

                                                                                        I N F O R M AT I O N S T E C H N O L O G I E

                                                                                    Ungewöhnliche
                                                                                   Magnetstrukturen
                                                                                      Ein internationales Forscherteam mit Jülicher
                                                                              Beteiligung hat einen neuen Weg entdeckt, wie die kleinsten
                                                                              magnetischen Elemente in einem Material – die Elektronen-
                                                                                     spins – aufeinander einwirken. Dies führt dazu,
                                                                                  dass die Spins über viele Materialschichten hinweg
                                                                                Strukturen ausbilden, die sich wie die linke und rechte
                                                                              Hand voneinander unterscheiden. Diese chirale („händige“)
                                                                               Anordnung von Spins ist interessant für die Entwicklung
                                                                                                 künftiger Datenspeicher.
                                                                                             – PETER GRÜNBERG INSTITUT –
Alleskönner KI? - Forschungszentrum Jülich
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Alleskönner KI? - Forschungszentrum Jülich
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                   Lernende
                   Maschinen
              Sie macht das Licht aus, übersetzt Texte und schlägt Schnäppchen
        beim Online-Einkauf vor: Künstliche Intelligenz hat längst ihren Platz im Alltag.
      Auch in der Wissenschaft entwickelt sie sich zu einer wichtigen Basis. Denn obwohl
         Maschinen noch weit von echter Intelligenz entfernt sind, sind sie in einigen
      Bereichen dem Menschen klar überlegen – etwa im Erkennen verborgener Muster.

D
            ie Flut trifft den Ort ohne Vorwarnung. Am 29. Mai    RECHNEN NACH VORSCHRIFT
            2016 entlädt sich innerhalb kürzester Zeit eine       KI ist ein Ansatz, intelligentes Verhalten mithilfe von
            Gewitterzelle über Braunsbach. In einer Stunde        Computern nachzubilden. Dafür lernen die Maschinen,
            fällt so viel Regen wie sonst in Monaten. Eine        ziehen Schlussfolgerungen und korrigieren sich selbst. An
            gewaltige Flutwelle bahnt sich ihren Weg durch        das menschliche Gehirn reichen sie aber noch längst nicht
den Ort und reißt alles mit, was ihr im Wege steht: Bäume,        heran. Unser Gehirn arbeitet so energieeffizient wie keine
Autos, Hauswände. Sie hinterlässt rund 50.000 Tonnen Schutt       Maschine bisher, es kann bereits aus wenigen Beispielen
und Geröll in dem Örtchen nordöstlich von Schwäbisch Hall.        sinnvolle Schlüsse ziehen, ist besonders gut in der Lage,
Gesamtschaden: über 100 Millionen Euro.                           flexibel zu denken, unkonventionelle Lösungen zu finden
                                                                  und Beziehungen zwischen völlig unterschiedlichen Sach­
Auch wenn die Wettervorhersage im Lauf der Jahre immer            verhalten herzustellen.
präziser geworden ist: Einzelne Orte wie Braunsbach früh-
zeitig vor Starkregen oder lokalen Gewitterzellen zu warnen,      Maschinen hingegen sind im Vorteil, wenn es darum geht, sich
fällt den Meteorologen noch immer schwer. Das liegt unter         stoisch durch Datenberge zu ackern und in einem Wust von
anderem an der relativ groben Auflösung der regionalen            Informationen verborgene Muster aufzuspüren oder sehr viel
Wettermodelle des Deutschen Wetterdienstes (DWD). „Alles,         komplexere Muster zu erkennen, als der Mensch es kann.
was kleiner als zwei Kilometer ist, fällt durch das Raster. Das
Modell sagt dann zum Beispiel, es regnet in einem zwei mal        Ein simples Beispiel sind klassische Verfahren der Gesichts-
zwei Kilometer großen Gebiet – auch wenn sich in der Realität     erkennung: Die KI sortiert die Fotos verschiedener Men-
in dem Gebiet blauer Himmel und Regen abwechseln. Um Nie-         schen beispielsweise nach Augenabstand, Gesichtsform und
derschläge lokal verlässlich vorherzusagen, genügt das meist      Nasengröße – je nachdem, was die Programmierer vorgegeben
nicht“, erklärt Dr. Martin Schultz.                               haben. Sie legt dann für jedes Gesicht ein Muster an. Ihr Wis-
                                                                  sen setzt sie anschließend bei neuen Bildern ein: Sie vergleicht
Der Physiker vom Jülich Supercomputing Centre versucht            ein Bild dann mit dem bisherigen Fotobestand und schlägt vor,
daher im Projekt DeepRain, die Vorhersagen zu verbessern,         wer auf dem Bild zu sehen ist. Ihr wird also beigebracht, unbe-
so dass den Behörden genügend Zeit bleibt, vor lokalen Gewit-     kannte Datensätze zu beurteilen. Dies ist eine der einfachsten
tern und Starkregen zu warnen. Möglich machen soll das            Formen des maschinellen Lernens.
Künstliche Intelligenz (KI). Sie soll dafür in Wetterdaten nach
Mustern suchen, die lokale Wetterextreme ankündigen.
Alleskönner KI? - Forschungszentrum Jülich
10   T I T E LT H E M A

     DAS MUSTER DES REGENS                                              „Wir wissen nicht, welche Muster sich die KI sucht. Das kön-
     Für die Mustererkennung bei der verbesserten Wettervorher-         nen Dinge sein, an die wir nicht einmal ansatzweise gedacht
     sage, die Martin Schultz anstrebt, müssen die Maschinen et-        haben oder die wir vielleicht auch nie erkannt hätten“, so
     was mehr können. „Die Wetterdaten tragen komplexe zeitliche        Schultz. Er und seine Kollegen können aber am Ende prüfen,
     und räumliche Muster in sich. Welche davon typisch für Stark­      ob die Prognose der KI korrekt ist, es also an dem Tag heftig
     regen sind, wissen wir nicht. Wir füttern daher die Software       regnete, und das der Software zurückmelden. Durch ständi-
     mit möglichst vielen Daten, sie sucht selbst nach Mustern und      ges Wiederholen „lernt“ die KI so, welche Muster Starkregen
     erstellt dann Prognosen.“                                          am besten vorhersagen.

     Martin Schultz setzt dabei auf eine fortgeschrittene Art des       Die Funktionsweise des Deep Learning ähnelt grob den
     maschinellen Lernens, das Deep Learning: Auch hierbei              Lernprozessen unseres Gehirns. Dort sind Abermilliarden von
     durchsuchen KI-Systeme große Datenmengen, im Fall von              Nervenzellen untereinander verknüpft. So leiten sie Informa-
     DeepRain Wetterdaten aus den vergangenen Jahren – aller-           tionen weiter und verarbeiten sie. Wenn wir lernen, nutzen
     dings geben die Forscher nicht vor, was charakteristisch ist für   wir bestimmte Verbindungen zwischen Nervenzellen immer
     Extremwetter. Stattdessen trainieren sie die Maschine darauf,      wieder und verändern so die Vernetzung zwischen den Zellen:
     das selbst herauszufinden.                                         Bei Kindern, die viel lesen, verstärken sich beispielsweise die
11

                                                                  KI auf dem Vormarsch
                                                                  Der Begriff der Künstlichen Intelligenz wurde bereits
                                                                  im Jahr 1956 auf einem mehrwöchigen Workshop am
                                                                  Dartmouth College in New Hampshire geprägt. Erste
                                                                  Konzepte zu künstlichen neuronalen Netzwerken
                                                                  existierten zu dieser Zeit bereits. In den 1970er Jahren
                                                                  setzte dann allerdings der lange „KI-Winter“ ein: Die
                                                                  Forschung stagnierte, da es sowohl an Rechenleistung
                                                                  als auch an ausreichenden Trainingsdaten mangelte.
                                                                  Ungefähr zur Jahrtausendwende begann dann die
                                                                  Renaissance des maschinellen Lernens.

        Martin Schultz möchte mithilfe von KI lokale              „Erst Big Data und die Fortschritte bei lernenden
        Wetterprognosen verbessern.                               Algorithmen haben die gegenwärtigen Fortschritte der
                                                                  künstlichen neuronalen Netzwerke möglich gemacht“,
                                                                  sagt der Deep-Learning-Experte Dr. Jenia Jitsev vom
                                                                  Jülich Supercomputing Centre. Denn je mehr Daten,
                                                                  desto mehr Beispiele, mit denen ein künstliches
                                                                  neuronales Netzwerk trainiert werden kann. Und
Verbindungen zwischen den Bereichen im Gehirn, die für            je intensiver das Training, desto besser kann ein
Sehen, Hören und Sprache zuständig sind. Bei professionellen      Netzwerk neue Beispiele korrekt einordnen, die es
Badmintonspielern verändert sich die Vernetzung der Gehirn-       zuvor noch nie gesehen hat. Solche selbstlernenden
regionen, die Sehen und Bewegung koordinieren.                    ­K I-­A lgorithmen sind allerdings sehr rechenintensiv.
                                                                   „Hier profitieren wir von der gestiegenen Leistungs-
Deep Learning nutzt einfache mathematische Einheiten, deren        fähigkeit und der gewachsenen Speicherkapazität
Aktivität grob der von Nervenzellen im Gehirn entspricht: Sie      moderner Hochleistungscomputer, die speziell für
sind ebenfalls über Ein- und Ausgabeverbindungen mitein-           den Umgang mit solchen Algorithmen und riesigen
ander verknüpft und empfangen Informationen von anderen            Datenmengen entwickelt wurden.“ In solchen Hoch-
Einheiten, die sie verarbeiten und weiterleiten. Sie funktio-      leistungscomputern stecken neben herkömmlichen
nieren aber erheblich einfacher als die biologischen Vorbilder.    Prozessoren (CPUs) viele Grafikprozessoren (GPUs).
Organisiert sind die mathematischen Einheiten in Schichten.        GPUs haben zwar langsamere Rechenkerne als CPUs,
                                                                   aber dennoch einen entscheidenden Vorteil: Sie
TAUSENDE SCHICHTEN                                                 verfügen anders als CPUs über Tausende von Rechen-
„Tiefe Netze fürs Deep Learning besitzen mitunter Hunderte         kernen, die einfache Rechenoperationen parallel mit
bis Tausende Schichten, in denen die Daten verarbeitet wer-        großer Effizienz durchführen können. Ideal für die
den“, erklärt Dr. Jenia Jitsev, der sich am Jülich Supercompu-     Arbeitsweise der neuronalen Netzwerke und des Deep
ting Centre mit der Architektur solcher Modelle beschäftigt.       Learnings: bei diesen müssen während des Trainings
Bei der Gesichtserkennung ist es beispielsweise so, als würde      eine Vielzahl solcher Operationen immer wieder
das Eingangsbild eine Vielzahl von Filtern durchlaufen, die        durchgeführt werden.
auf immer komplexere Muster ansprechen. Die erste Schicht
nimmt zum Beispiel nur Helligkeitswerte wahr. Tiefere Layer       Zu den immer leistungsfähigeren Rechnern kommt
reagieren auf Kanten, Konturen und Formen – ganz tiefe            hochwertige Software: „Mittlerweile stehen viele
Schichten schließlich auf individuelle Merkmale von mensch-       unterschiedliche Open-Source-Werkzeuge zur Ver-
lichen Gesichtern.                                                fügung.“ Die drei Voraussetzungen Big Data, leis-
                                                                  tungsfähige Hardware und passende Software haben
Das Netzwerk lernt, ein Gesicht zu identifizieren, indem es       die KI nun endgültig aus ihrem langen Winterschlaf
sich merkt, welche Kombination aus Helligkeitswerten, Kan-        erwachen lassen.
ten, Formen und Details dieses Gesicht charakterisieren: Wie
bei den Nervenzellen im Gehirn verstärken und schwächen
sich bestimmte Verbindungen zwischen den Netzwerkeinhei-
ten. Durch den Lernprozess werden Verbindungsmuster ge-
schaffen, die zum korrekten Ergebnis führen. „Tiefe neuronale
12   T I T E LT H E M A

             Hofft, mithilfe von KI Muster im Gehirn von Men-                  Jenia Jitsev beschäftigt sich mit der Architektur
             schen mit psychologischen und neurologischen                      von tiefen neuronalen Netzwerken für Deep
             Erkrankungen zu finden: Simon Eickhoff.                           Learning.

     Netzwerke benötigen möglichst viele verschiedene Beispiele         handeln zu können. Computerprogramme sollen in Hirnscans
     fürs Training: je mehr unterschiedliche Beispiele, desto erfolg-   zum Beispiel nach Mustern fahnden, die Aufschluss darüber
     reicher das Lernen“, sagt Jitsev.                                  geben, wie wahrscheinlich ein Rückfall bei einem Patienten
                                                                        mit Depressionen ist. KI könnte prognostizieren, wie schnell
     Genau hier liegt ein Problem, das Schultz im DeepRain-Projekt      die Beeinträchtigungen einer Person mit Morbus Parkinson
     noch lösen muss: Das Trainingsmaterial fehlt. „Wir transfe-        voranschreitet oder ob ein Patient besser mit Medikament A
     rieren vom Deutschen Wetterdienst für unsere Berechnungen          oder Medikament B behandelt werden sollte.
     insgesamt 600 Terabyte an Daten. Das klingt erst einmal nicht
     nach einem Mangel.“ Allerdings: Starkregen ist selten. „Laut       DAS GESAMTMUSTER ZÄHLT
     einer Statistik des Deutschen Wetterdienstes gab es zwischen       Bis dahin ist der Weg aber noch weit. Eickhoff und sein Team
     1996 und 2005 an keiner Station mehr als acht solcher Ereig-       sind schon dabei, KI mithilfe der Mustererkennung bestimm-
     nisse“, sagt Schultz. Entsprechend rar sind Datensätze, aus        te Informationen aus Hirnscans gewinnen zu lassen: Im
     denen sich ein Muster für die KI herauskristallisieren könnte.     Augenblick stehen kognitive Leistungen und Persönlichkeits-
                                                                        eigenschaften wie Offenheit, Geselligkeit und emotionale
     Hinzu kommt: Die Daten werden nicht nur zum Trainieren be-         Stabilität im Mittelpunkt. Dazu haben Eickhoff und sein
     nötigt, sondern auch für die abschließende Qualitätsprüfung.       Team Maschinenlern-Programme mit den Gehirnscans von
     Deep-Learning-Experte Jenia Jitsev: „Für die Trainingsphase        Hunderten Personen trainiert. Von diesen Probanden werden
     werden typischerweise nur 80 Prozent der Daten genutzt. Die        bestimmte psychologische Kenngrößen mit eingegeben, etwa
     restlichen 20 Prozent fassen wir zunächst einmal gar nicht an.     die Reaktionszeit in einem standardisierten Test. Hat das
     Dieser Testdatensatz wird erst nach dem Training herausge-         Modell genügend Daten gesehen, kann es allein anhand der
     holt, um daran die Fähigkeiten des neuronalen Netzwerkes ­         Gehirnbilder auf die Reaktionszeit eines neuen Individuums
     zu überprüfen.“                                                    schließen. „Unsere Algorithmen suchen allerdings nicht nach
                                                                        Einzelaspekten in den Bilddaten. Wir können nicht sagen: Bei
     INDIVIDUELLE PROGNOSEN                                             Menschen mit einem guten Arbeitsgedächtnis sind bestimmte
     Besonders wichtig ist diese Testphase, wenn es um sensible         Areale im Gehirn überdurchschnittlich groß. Vielmehr ist das
     Daten geht – Daten, die über das Schicksal von Menschen            Gesamtmuster ausschlaggebend“, sagt Eickhoff.
     entscheiden: etwa Auswahlverfahren bei Bewerbungen, die
     Einschätzung der Kreditwürdigkeit oder ärztliche Diagnosen.        Komplexere kognitive Fähigkeiten, wie etwa Reaktionszei-
     Mit Letzteren beschäftigt sich der Mediziner Prof. Simon           ten oder die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, lassen sich
     Eickhoff vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin          relativ verlässlich mit KI aus den Gehirnscans ableiten, so der
     (INM-7). Er hofft, irgendwann mithilfe von KI Muster im Ge-        Hirnforscher. Bei Persönlichkeitseigenschaften stimme die
     hirn von Menschen mit psychologischen und neurologischen           Vorhersage zwar auch tendenziell, aber die Genauigkeit sei
     Erkrankungen zu finden, um sie gezielt und individuell be-         hier noch nicht so gut. Das zeigt die Qualitätssicherung mit
13

                         Daten, die die KI noch nicht kennt: Sie trainiert nämlich im-
                         mer nur mit einem Teil eines Datensatzes, den Rest nutzen die
    „Tiefe neuronale     Forscher, um zu prüfen, wie gut die KI nach einer Lernphase

 Netzwerke benötigen     die Persönlichkeitsmerkmale vorhersagt.

     möglichst viele     Bereits sehr gute Ergebnisse liefert die KI bei der Vorhersage
                         von Alter und Geschlecht: „Hier kann unser Programm mit
verschiedene Beispiele   neunzigprozentiger Sicherheit angeben, ob das Gehirn einer
                         Frau oder einem Mann gehört. Beim Alter liegen wir in einem
      fürs Training:     Bereich von plus/minus vier Jahren“, berichtet Eickhoff.

   je mehr Beispiele,    LICHT INS DUNKEL BRINGEN
  desto erfolgreicher    Die Überprüfbarkeit von Daten wie Alter oder Geschlecht ist
                         vergleichsweise einfach. Schwieriger wird es bei Diagnosen

      das Lernen.“       und Prognosen. „Die Akzeptanz der Künstlichen Intelligenz im
                         Gesundheitswesen steht und fällt mit dem Vertrauen, das ihr
        JENIA JITSEV     entgegengebracht wird – sowohl von den Patienten als auch
                         von den Ärzten“, glaubt der Jülicher Experte. Vertrauen basiert
                         zum Teil darauf, dass nachvollziehbar ist, wie eine Diagnose
                         oder ein Ergebnis zustande kommt. KI-Experten vergleichen
                         jedoch ein neuronales Netzwerk beim Deep Learning gerne
14   T I T E LT H E M A

     mit einer Black Box: Man kennt die Eingabedaten und erhält       nis auch die Kriterien mit, wie sie zu ihrem Schluss gelangt
     eine Ausgabe. Doch die Vorgänge in den informationsverarbei- ist. Nicht nur Medizin und Neurowissenschaften würden von
     tenden Schichten dazwischen sind so komplex, dass sich meist solchen Algorithmen profitieren, auch Wettervorhersage, Spra-
     nicht nachvollziehen lässt, wie das Netzwerk zu seinen Ergeb-    cherkennung oder die Steuerung autonomer Autos. „Erst wenn
     nissen gelangt. Eine wichtige Aufgabe für die KI-Fachleute sei   wir erklären können, warum ein Algorithmus seine Entschei-
     es daher, in den kommenden Jahren ein wenig Licht in dieses      dung getroffen hat, werden wir von Maschinen vorgeschlage-
     Dunkel zu bringen und die komplexen Muster für uns sichtbar      ne Lösungen akzeptieren, die unser Gehirn nicht findet“, so
     zu machen, die den Ergebnissen der KI zugrunde liegen, sagt      Eickhoff.
     Simon Eickhoff. Hoffnung setzen viele Fachleute in dieser
     Hinsicht auf „Explainable AI“, also die erklärbare Künstliche    ARNDT REUNING

     Intelligenz. Solch eine KI liefert neben dem eigentlichen Ergeb-

       Daten und Wissen vernetzen
       Medizin, Klimaforschung, Luft- und Raumfahrt: Die Vielfalt
       der Disziplinen, für die KI eine Rolle spielt, findet sich
       auch innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft wieder. Um
       Zusammenarbeit und Austausch von Wissen und Daten
       innerhalb des Forschungsverbundes zu unterstützen, baut
       die Helmholtz-Gemeinschaft zurzeit eine interdisziplinäre
       Plattform auf, die sie dauerhaft mit einem jährlichen Betrag
       von 11,4 Millionen Euro fördert: die Helmholtz AI – Helm-
       holtz Artificial Intelligence Cooperation Unit.

       „Das Helmholtz Zentrum München verbindet als zentrale
       Einheit mehrere Helmholtz-Zentren, die lokale Einheiten
       mit thematischen Schwerpunkten bilden. Jülich deckt ins-
       besondere den Bereich Schlüsseltechnologien/Information
       ab“, sagt Dr. Timo Dickscheid, KI-Experte vom Institut für
       Neurowissenschaften und Medizin (INM-1). „Jede lokale
       Einheit besteht aus einer vollausgestatteten Nachwuchs-
       gruppe und einem High-Level-Support-Team, das andere
       Wissenschaftler in ihren Projekten durch AI-Expertise                 Timo Dickscheid entwickelt Deep-Learning-
       unterstützt.“                                                         Verfahren, um Modelle des menschlichen Gehirns
                                                                             zu verbessern.
       Dickscheids Arbeitsgruppe „Big Data Analytics“ wird eine
       wichtige Rolle für das Jülicher Segment spielen. Sie erstellt
       ein hochgenaues Modell des menschlichen Gehirns, dessen         Auch die Forschungsgruppe „Cross-Sectional Team Deep
       Auflösung bis zu einzelnen Nervenzellen herunterreichen         Learning“ vom Jülich Supercomputing Centre (JSC), die
       wird. Dazu baut die Gruppe Deep-Learning-Verfahren              Prof. Morris Riedel und Dr. Jenia Jitsev leiten, ist an der
       weiter aus, um mikroskopische Bilddaten in der Größenord-       Jülicher Einheit von Helmholtz AI beteiligt. Sie wird ge-
       nung mehrerer Terabyte zu analysieren. Die KI soll lernen,      meinsam mit dem neuen High-Level-Support-Team des JSC
       automatisch Mikrostrukturen zu detektieren, Hirnareale zu       die Machine- und Deep-Learning-Forschung vorantreiben
       kartieren und Tausende Gewebeschnitte zu 3-D-Ansichten          und unterstützen. Schwerpunkt werden großskalige lern-
       des Gehirns zusammenzusetzen. Dabei will die Gruppe             fähige neuronale Netzwerke sein. Diese können aus einem
       Lösungen entwickeln, die auch andere Forschungsbereiche         kontinuierlichen Datenstrom über Wochen oder Monate
       nutzen können – wie etwa das Lernen mit nur wenigen             hinweg lernen und das Gelernte auf verschiedene Aufga-
       Trainingsbeispielen.                                            ben übertragen, die nur aus wenigen Beispielen bestehen.
                                                                       Mithilfe dieses Transfer-Learnings lassen sich etwa in der
                                                                       Physik aufwendige klassische Simulationen verbessern.
                   Hören Sie mehr zu der Forschung                     Dazu werden die lernenden neuronalen Netzwerke an die
                   von Timo Dickscheid unter                           Simulationen gekoppelt, um deren Modelle durch erzeugte
                   effzett.fz-juelich.de                               und beobachtete Daten immer weiter zu optimieren.
15

                    Was ist was?
                                                MASCHINELLES LERNEN
                                                KI-Algorithmen, die aus Daten und
                                                Beis­pielen lernen und so Aufgaben lösen.
ALGORITHMUS
                                                Anhand von Beispielen (Trainingsdaten)          Beim Lernen werden die Verknüpfun-
Eine Folge von Anweisungen, um ein
                                                oder durch eigenständige Erkennung von          gen zwischen einzelnen Zellen gestärkt,
bestimmtes Problem zu lösen (siehe auch
                                                Mustern in Daten eignen sie sich „Wissen“       geschwächt oder verändert. Fortschritte in
Besserwissen, S. 28).
                                                an. Damit können sie anschließend unbe-         der Computertechnik und die Verfügbar-
Die einzelnen Befehle müssen eindeutig sein     kannte Daten ähnlicher Art beurteilen. Bei      keit großer Datenmengen haben das Deep
und Schritt für Schritt ausgeführt werden.      der Identifikation von Gesichtern kann ein      Learning in solchen künstlichen Netzwerken
Üblicherweise verlangt ein Algorithmus eine     Algorithmus beispielsweise lernen, dass Au-     ermöglicht.
Eingabe und liefert eine Ausgabe. Beispiele     genabstand, Gesichtsform und Nasengröße
für Algorithmen sind Computerprogramme          entscheidende Faktoren für die Erkennung
und elektronische Schaltkreise, aber auch       sind. Er extrahiert für das Konzept „Gesicht“
Bauanleitungen oder Kochrezepte. Bestimm-       so ein charakteristisches Muster aus jedem
te Algorithmen werden der Künstlichen           Bild. Die Erkennung wird umso präziser, je
Intelligenz zugerechnet.                        mehr Daten dem Algorithmus vorliegen.
                                                Erhebliche Fortschritte wurden in den
                                                vergangenen Jahren mithilfe künstlicher
                                                                                                DEEP LEARNING
                                                neuronaler Netzwerke erzielt.
                                                                                                Maschinelles Lernen in neuronalen Netzen
                                                                                                mit vielen Schichten, sogenannten „tiefen“
                                                                                                Netzwerken.

                                                                                                Auch hierbei analysieren Algorithmen
                                                                                                große Datensätze und können anschließend
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
                                                                                                unbekannte Daten ähnlicher Art beurteilen.
Maschinen, die auf der Basis von Algorith-
                                                                                                Allerdings sind die Netzwerkmodelle durch
men intelligentes Verhalten nachbilden.
                                                                                                die vielen Schichten sehr viel komplexer.
Eine genaue Eingrenzung fällt schwer,                                                           Dadurch hat der Algorithmus viele Freiheits-
                                                KÜNSTLICHE NEURONALE
da der Begriff der Intelligenz selbst nicht                                                     grade sich zu vernetzen und kann so für die
                                                NETZWERKE
eindeutig definiert ist. KI umfasst daher ein                                                   Lösung einer Aufgabe eigenständig lernen,
                                                Mathematische Modelle, die von der
ganzes Spektrum von Methoden, Disziplinen                                                       optimale und möglicherweise sehr komplexe
                                                Arbeitsweise des Gehirns inspiriert sind.
und Anwendungen: Computerprogramme,                                                             Merkmale zu extrahieren. Bei der Identi-
die Schach spielen können. Oder Chatbots,       Signale, die Eingabedaten des Algorithmus,      fizierung von Gesichtern kann er auf diese
die sich mit Nutzern sozialer Netzwerke         werden in untereinander vernetzte Ein-          Weise feinere Kriterien als Augenabstand
unterhalten. Bestimmte Teilbereiche der         heiten – „mathematische Nervenzellen“ –         oder Nasengröße entdecken, die hilfreich
Robotik zählen ebenso zur KI wie Experten-      eingespeist. Die künstlichen Nervenzellen       für die Erkennung sind. Programmierer
systeme, die dabei helfen sollen, in einem      verarbeiten die Informationen und erzeugen      helfen der Software zu „lernen“, indem sie
begrenzten Bereich optimale Entscheidun-        durch einfache mathematische Gleichungen        Rückmeldung geben, ob ein Ergebnis richtig
gen zu treffen. Zunehmend zählen auch           weitere Signale, die sie an nachgeordnete       oder falsch ist. Sie korrigieren aber nicht den
ethische, soziale oder rechtliche Betrach-      „Zellen“ weitergeben. Am Ende erzeugt           Weg dorthin.
tungen zur KI. Als Schlüsseltechnologie in-     eine Ausgabeschicht ein Ergebnis. Zwischen
nerhalb der KI wird das Maschinelle Lernen      der Eingabe- und Ausgabeschicht können
angesehen.                                      mehrere Lagen dieser Nervenzellen liegen,
                                                die auf unterschiedliche Weise miteinander
                                                verknüpft sind.
16           FORSCHUNG

                              Energiegeladen
                                 Seine Chemielehrerin bescheinigte ihm in der Schule lediglich gute
                               Leistungen – nicht mehr und nicht weniger. Heute ist Martin Winter das
                               Gesicht der deutschen Batterieforschung. Die Erfolgsgeschichte eines
                                 Mannes, der sich an die Fakten hält und seinem Bauchgefühl folgt.
        Woran er gerade
      forscht und was ihn
     an Deutschland stört,    Der Nachbar brachte den Stein ins Rollen: Der       hohe Stirn, wache Augen, die sein Gegenüber im
     verrät Martin Winter     war mit Herzblut Lebensmittelchemiker und be-       Blick behalten. Ehrenprofessorwürden, Urkun-
       im Interview in der    geisterte den Oberstufenschüler Martin Winter so    den und Auszeichnungen an den Wänden erzäh-
         Online-Ausgabe       sehr für die Zusammensetzung von Nahrungsmit-       len von Leistungsbereitschaft, Engagement und
           der effzett:       teln, dass der sich nach dem Abitur für Lebens-     einer gehörigen Portion Ehrgeiz: „Ich habe immer
      effzett.fz-juelich.de   mittelchemie in Münster einschrieb. Doch der        viel gearbeitet, das gebe ich zu. Aber der Einsatz
                              anfängliche Funke erlosch irgendwann im Stu-        hat sich rentiert: Die Zahl der Erfolge überwiegt
                              dium: Winter merkte, dass ihm die Analytik von      die der Misserfolge bei Weitem!“
                              Lebensmitteln allein nicht interessant genug war.
                              „Und in Botanik musste ich sehr viel auswendig      Der blütenweiße Kittel hängt ordentlich an der
                              lernen, das war so gar nicht meins“, erzählt er,    Garderobe, eine sortierte Bücherwand, dane-
                              lehnt sich zurück und lacht. Der 54-Jährige sitzt   ben ein übersichtlicher Schreibtisch, alles wirkt
                              in der „Besucherecke“ seines Büros. Jeans, Hemd,    aufgeräumt. Da passt es ins Bild, dass Winter ein
17

                                                    Vielfach ausgezeichnet: Zahlreiche Urkunden
                                                    und Ehrungen schmücken die Wände von Martin
                                                    Winters Büro.

                                                    Energiewandlung setzt: Nach dem Abschluss
                                                    in Lebensmittelchemie studiert er Allgemeine
                                                    Chemie und setzt sich in seiner Diplomarbeit und
                                                    Promotion mit Lithium-Ionen-Batterien (LIB)
                                                    auseinander. Er bewältigt Probleme, die andere
                                                    zuvor nicht lösen konnten, seine berufliche Karri-
                                                    ere nimmt Fahrt auf – ähnlich wie die Erfolgsge-
                                                    schichte des „Wunder-Akkus“: Dieser entwickelt
                                                    sich vom handgefertigten Akku über eine serien-
                                                    reife Produktion bis hin zum Marktführer in der
                                                    Batterietechnik. Winter hat zu dieser Erfolgsstory
                                                    beigetragen. „Als Begründer der modernen
                                                    Lithium-Ionen-Chemie sehe ich mich ganz vorne
                                                    mit dabei: was die Elektrolyte und Anodenma-
                                                    terialien betrifft, und auch mit unserem syste-
                                                    mischen Ansatz, dass man die Materialien nicht
                                                    einzeln betrachtet, sondern in Wechselwirkung“,      Zur Person
                                                    erklärt der Professor für Physikalische Chemie.      Martin Winter, Jahrgang 1965,
                                                    Heute ist er für viele dieser Themen das Gesicht     ist Gründungsdirektor des
                                                    in Deutschland und weltweit.                         Helmholtz-Instituts Münster (HI
                                                                                                         MS), einer Außenstelle des For-
                                                    OFFENHEIT ERWÜNSCHT                                  schungszentrums Jülich. Das HI
                                                    Kritiker werfen Winter vor, dass er immer noch       MS umfasst drei Partner: Neben
                                                    auf eine Technologie setzt, deren Potenzial ausge-   dem Forschungszentrum Jülich
                                                    schöpft sei. Winter sieht das anders: Für ihn gibt   sind das die RWTH Aachen und
                                                    es noch Forschungs- und Entwicklungsbedarf,          die Westfälische Wilhelms-Uni-
                                                    etwa um Energiedichte und Kapazität der LIB zu       versität (WWU) Münster. Der
Faible für Briefmarken hat – der Chemiker muss      steigern. Dennoch sei es wichtig, offen für andere   wissenschaftliche Leiter des 2009
angesichts des Eindrucks schmunzeln: „Ich bin       Ansätze zu sein. „Diese ,Entweder-oder-Perspek-      gegründeten „MEET“- Batterie-
eigentlich kein Ordnungsmensch, ich mache mir       tive‘ führt am Thema vorbei und schränkt uns         forschungszentrums der WWU
nur selten Notizen und versuche das Wichtige        im Gesamtblick ein. Je nach Anwendung werden         lehrt Physikalische Chemie. Im
im Kopf zu behalten.“ Schubladendenken ist          wir künftig unterschiedliche Batteriesysteme         Juni 2019 gab das Bundesminis-
nicht seins. Das beschränke den Blick aufs große    benötigen. Daher sollten wir Neues erforschen        terium für Bildung und Forschung
Ganze. Für ihn sei es eine Lebenseinstellung,       und Bestehendes besser, sicherer und günstiger       bekannt, dass die Wahl für den
Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu        machen“, so Winter und fügt hinzu, „diese Offen-     Standort der geplanten „For-
beleuchten, Pro und Contra aufzuzeigen, um die      heit in der Technologiediskussion wünsche ich        schungsfertigung Batteriezelle“
beste Lösung zu finden. Auf dieser Basis zeichnet   mir auch von Kollegen in der Batterieszene“.         auf Münster gefallen ist. Winter
er die großen Forschungslinien sowohl am Helm-                                                           hatte den Antrag maßgeblich
holtz-Institut Münster, einer Jülicher Außenstel-   Nur mit Offenheit sei es möglich, gemeinsam eine     vorbereitet.
le, als auch am „Münster Electrochemical Energy     nationale Batteriezellproduktion aufzubauen, die
Technology“-Institut (MEET). Sein wichtigster       in jedem Tortendiagramm für Batteriezellpro-
und treuester Begleiter neben seinem glasklaren     duktion auftaucht und nicht in der Rubrik „An-
Verstand: das Bauchgefühl. „Es gibt Situationen,    dere“ verschwindet, so Winter: „Am Ende meiner
in denen ich alle Fakten zusammengetragen           Karriere sollen die Menschen sagen können, dass
habe, aber doch nicht weiterkomme, da ist mein      die Batterieforschung allgemein von unserem
Bauchgefühl entscheidend.“ In 90 Prozent der        Engagement profitiert hat – bezüglich dessen,
Fälle habe er richtig gelegen, „über die übrigen    dass wir eine nationale Community aufgebaut
zehn Prozent ärgere ich mich!“                      haben und dass wir viel für die Gesellschaft
                                                    getan haben – auch um die Wirtschaftskraft und
Die Kombination aus Bauchgefühl und Wissen          Innovationsfähigkeit im Land zu halten und zu
hat dazu beigetragen, dass Winter schon in den      stärken.“
1990er Jahren den richtigen Riecher hat und
auf elektrochemische Energiespeicherung und         K ATJ A L Ü E R S
18              FORSCHUNG

Turbotest fürs Trinkwasser
                   Sauberes Wasser ist lebensnotwendig. Gerade nach Naturkatastrophen
             oder bei Epidemien gilt es, rasch festzustellen, ob eine Wasserquelle verunreinigt ist.
                Was bislang viele Stunden oder gar Tage dauerte, soll ein neues Gerät künftig
                                           auf 60 Minuten verkürzen.

Ein Zyklon in Mosambik, ein Erdbeben auf       das ändern. Mit dem Gerät, das etwa so groß       kümmern, also um die Messung der Magnet-
Haiti, aber auch Hochwasser in Bayern – eine   wie eine Milchpackung ist, können Hilfs-          partikel und ihre Auswertung, entwickeln
der ersten Maßnahmen ist es, möglichst         organisationen oder Wasserversorger vor           die Biologen vom IME neue Antikörper.“
schnell eine stabile Trinkwasserversorgung     Ort Proben innerhalb einer Stunde testen.
sicherzustellen. Jedoch muss jede Wasser-      AquaNANO ist ein Gemeinschaftsprojekt:            FÜR DEN EINSATZ OPTIMIERT
quelle zunächst auf Verunreinigungen und       Beteiligt sind Hans-Joachim Krause und sein       In einem Folgeprojekt soll aus dem Prototyp
Krankheitserreger überprüft werden. Bisher     Doktorand Stefan Achtsnicht sowie Forscher        nun ein robustes Werkzeug werden. „Wir
bringen Experten dafür Proben ins Labor,       des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiolo-      haben das Technische Hilfswerk bei mehreren
züchten Bakterienkulturen und analysieren.     gie und Angewandte Oekologie IME und das          Übungen begleitet und so erfahren, welche
Die Prozedur dauert mehrere Stunden, für       Medizintechnik-Unternehmen DITABIS AG.            Anforderungen ein mobiles Trinkwasserlabor
Cholera-Bakterien sogar Tage, für Legionel-    Um Art und Menge eines Schadstoffs festzu-        im Einsatz erfüllen muss, zum Beispiel muss
len mehr als eine Woche.                       stellen, setzen die Forscher magnetische Na-      das Gerät sowohl bei großer Hitze als auch bei
                                               nosonden ein, die mit Antikörpern gegen den       Kälte funktionieren“, führt Achtsnicht aus. In
JE EHER, DESTO BESSER                          Schadstoff beschichtet sind. Diese Nanoson-       Zukunft soll AquaNANO außerdem mit einem
„Diese Zeit fehlt, wenn man nach einer         den lassen sich einfach und schnell nachwei-      Akku betrieben werden können, intuitiver
Katastrophe eine Trinkwasserversorgung         sen. Eine Einschränkung gibt es allerdings:       zu bedienen sein und eine Probe auf mehrere
aus dem Boden stampfen muss“, weiß Prof.       „Es können nur Stoffe gefunden werden, für        Kontaminationen gleichzeitig testen können.
Hans-Joachim Krause vom Jülicher Institute     die es bereits Antikörper gibt“, so Achtsnicht.
of Complex Systems (ICS-8). AquaNANO soll      „Während wir uns um die Auslesetechnik            JANNIS LINDNER UND MARTHA PETERS

                        So funktioniert die Trinkwasseranalyse
            1                       2                          3                          4                               5

      Entnahme einer       Zugabe magnetischer           Bindung der                 Magnetische                    Andocken der
     Trinkwasserprobe      Nanosonden, die mit        Schadstoffe an die           Abtrennung der                Schadstoff-Nanoson-
                          Antikörpern beschichtet    Antikörper und damit        Nanosonden und der             den-Komplexe an einen
                                   sind                 an die Sonden             daran gebundenen                 speziellen Filter,
                                                                                     Schadstoffe                anschließend Nachweis
                                                                                                                    im Messgerät
19

                   Woran forschen Sie gerade, Frau Ripoll?
                                 Dr. Marisol Ripoll, Institute of Complex Systems,
                         Bereich Theorie der Weichen Materie und Biophysik (ICS-2 / IAS-2)

   „Ich untersuche Janus-Partikel, winzige Teilchen, die zwei ,Gesichter‘ haben – wie der römische
     Gott Janus. Die Teilchen vereinen verschiedene Eigenschaften. Ein Beispiel: die Reaktion auf
 Hitze. Bestrahlt man eine Flüssigkeit, die solche Teilchen enthält, mit Laserlicht, erwärmt sich die
      eine Hälfte eines Teilchens, die andere versetzt das Teilchen in Bewegung. Die erwärmten
  Hälften beeinflussen zusätzlich die Nachbarteilchen. Zudem entstehen Wirbel und Strömungen.
Alles zusammen verändert die Eigenschaften der Flüssigkeit. Mit solchen Mikromotoren könnte man
     das Verhalten von Flüssigkeiten gezielt steuern und so intelligente Materialien entwickeln.“
20   FORSCHUNG

                     Einfach
                    nur anders
       Das Thema Autismus erhitzt die Gemüter: Die einen sehen darin eine schwere
     Krankheit, andere einfach nur ein Anderssein. Kai Vogeley hat Verständnis für beide
        Perspektiven. Der Psychiater widmet sich dem Thema seit Jahren – in Jülich
            als Forscher, in der Uniklinik Köln als Arzt und Leiter der Ambulanz
                              „Autismus im Erwachsenenalter“.
21

                                                   „Soziale Kontakte können Menschen mit
                                                   Autismus Angst einjagen“ – Um die Öffentlichkeit
                                                   für das Thema Autismus zu sensibilisieren, hat die
                                                   Agentur Ruf Lanz, Zürich, im Auftrag des Autismus
                                                   Forums Schweiz eine langfristige Kampagne entwi-     Der Begriff
                                                   ckelt. Dazu gehören die beiden Plakate auf dieser    Das Wort „Autismus“ stammt
                                                   und der folgenden Seite.                             vom griechischen Wort „autos“,
                                                                                                        was so viel wie „selbst“ bezie-
                                                                                                        hungsweise „auf sich selbst
                                                                                                        bezogen“ bedeutet.
                                                   Menschen mit Autismus fällt es schwer, diesen
                                                   „unsichtbaren Datenstrom“ wahrzunehmen, die
                                                   Gefühle ihrer Mitmenschen zu deuten und ange-
                                                   messen zu reagieren. Eine Umarmung jagt ihnen
                                                   Angst ein und löst oft Stress und Unwohlsein aus.
                                                   Das bedeute jedoch nicht, dass keine Gefühle
                                                   vorhanden sind, sondern dass derjenige sie nur
                                                   sehr schwer identifizieren und kommunizieren
                                                   kann. Nonverbale Kommunikationsbotschaften
                                                   können Menschen mit Autismus nicht entschlüs-
                                                   seln – vielleicht vergleichbar mit einem Text, bei
                                                   dem wir nur jede zehnte Zeile lesen dürfen. Der
                                                   Inhalt würde sich wohl niemandem erschließen.
                                                   Kein Wunder also, dass eines Tages eine Person
                                                   mit Autismus vor Vogeley in der Praxis stand und
                                                   ihn um eine Gebrauchsanweisung für eine Umar-
                                                   mung bat. „Seitdem betrachte ich Umarmungen
                                                   aus einem neuen Blickwinkel, das ist wie eine
                                                   komplizierte Grammatik“, so Vogeley.
                                                                                                        Die Historie
                                                   UNKLARE URSACHEN                                     Der Amerikaner Leo Kanner (Bild)
                                                   Schätzungen zufolge lebt weltweit ein Prozent        beschrieb im Jahre 1943 als erster
                                                   aller Menschen mit Autismus. Demnach sind            das Symptom des frühkindlichen
                                                   allein in Deutschland 800.000 Frauen und Männer      Autismus als eine Untergruppe
                                                   betroffen. Die genauen Ursachen für Autismus sind    innerhalb der Schizo­phrenien
                                                   noch immer ungeklärt. In der Forschung besteht       im Kindesalter. Die von ihm un-
                                                   Einigkeit, dass es keine allgemeingültige Ursache    tersuchten autistischen Kinder
                                                   für Autismus gibt und dass erbliche Faktoren eine    wehrten jeden Kontakt ab, spra-
                                                   entscheidende Rolle spielen. „Doch welche und wie    chen nicht oder nur in eigentümli-
                                                   viel Gene verantwortlich sind, bleibt unklar“, so    cher Weise und waren in extremer
                                                   Vogeley. Manche Wissenschaftler gehen von 100        Weise um die Gleicherhaltung
Wir tun es regelmäßig, ohne darüber nachzu-        beteiligten Genen aus, andere von Tausenden – das    ihrer Umwelt bemüht. Kanners
denken: jemanden in die Arme nehmen. Intuitiv      menschliche Genom umfasst 25.000 Gene.               diagnostische Kriterien zur Be-
wissen wir, wann der richtige Zeitpunkt ist, wie                                                        stimmung dieser ungewöhnlichen
lange die Umarmung dauern darf und wie nah         Das diagnostische Handbuch der Weltgesund-           Verhaltensstörung sind noch
wir einander kommen dürfen, ob wir uns trös-       heitsorganisation WHO, die „International Clas-      heute von Bedeutung. Unabhän-
tend drücken oder nur freundschaftlich herzen.     sification of Disease“ (ICD), definiert Autismus     gig von Kanner beschrieb der
„Bei einer Umarmung senden und empfangen           als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Dazu        Wiener Kinderarzt Hans Asperger
wir ständig nonverbale Signale über Blickkon-      zählen Formen wie Frühkindlicher Autismus,           zur gleichen Zeit ein ähnliches
takt, Gesichtsausdruck und den Abstand zum         Atypischer Autismus und das Asperger-Syndrom.        Erscheinungsbild und nannte es
Gegenüber. Das läuft ohne Nachdenken ab, wie       In Deutschland sind Kassenärzte verpflichtet,        Autistische Psychopathie.
ein kontinuierlicher, unsichtbarer Datenstrom im   ihre Diagnosen entsprechend der ICD-Klassifika-
Hintergrund“, erklärt Kai Vogeley. Der Professor   tionen zu stellen. Was irgendwie nach schwarz
für Psychiatrie und Psychotherapie leitet an der   und weiß oder krank und gesund klingt, sorgt
Uniklinik Köln die Spezialambulanz „Autis-         sowohl unter Medizinern als auch Betroffenen
mus im Erwachsenenalter“ und am Institut für       immer wieder für Unmut, Diskussionen und
Neurowissenschaften und Medizin (INM-3) die        Missverständnisse. „Es ist zwar sachlich korrekt,
Arbeitsgruppe „Soziale Kognition“.                 Autismus als eine genetisch bedingte Störung des
22           FORSCHUNG

                                                                                                         Anders sei es bei jenen, die ihm eröffnen, dass
                                                                                                         es ihnen nicht gut geht, dass sie im Alltag nicht
                                                                                                         zurechtkommen, keine Freunde haben und nicht
                                                                                                         mehr zur Arbeit gehen können. Laut Vogeley
                                                                                                         leiden 40 bis 50 Prozent der Autisten unter
                                                                                                         Depressionen. Sie wissen, dass sie anders denken
                                                                                                         und fühlen, und arbeiten permanent an sich,
                                                                                                         um den üblichen Gesellschaftsvorstellungen zu
                                                                                                         entsprechen und zu funktionieren – oft mit sehr
                                                                                                         hohem Aufwand und oft vergebens.

                                                                                                         NICHT JEDER BRAUCHT HILFE
                                                                                                         „Diese Menschen benötigen dringend Unterstüt-
                                                                                                         zung“, resümiert Vogeley. Und dann sind da noch
                                                                                                         jene, die sich vorstellen in der Hoffnung, dass die
                                                                                                         Diagnose Autismus ihr absonderliches Verhalten
                                                                                                         erkläre könne. „Aber: Jemand, der erst mit 15
                                                                                                         oder 16 Jahren Eigenheiten entwickelt, braucht
                                                                                                         vielleicht Hilfe, jedoch hat er keine tiefgreifende
                                                                                                         Entwicklungsstörung“, bringt es der Forscher auf
                                                                                                         den Punkt. Er stellt nur für etwa ein Drittel seiner
                                                                                                         Patienten die Diagnose Autismus. Und so hat der
                                                                                                         Arzt es durchaus schon erlebt, dass Menschen
                                                                                                         sich darüber beklagt haben, dass sie die Diagnose
                                                                                                         nicht bekommen haben.
        „Es kommen Menschen mit
     Autismus zu mir, die ein erfolgrei-                                                                 Mit seiner Jülicher Arbeitsgruppe untersucht
                                                                                                         Vogeley, inwiefern nonverbale Kommunikation

     ches Leben führen. Da fällt es mir                                                                  die Vorgänge im Gehirn messbar beeinflusst. So
                                                                                                         haben sich die Wissenschaftler in einer Stu-
     als Arzt schwer, diese Menschen                                                                     die mit dem „sozialen Blick“ beschäftigt: Wie
                                                                                                         interpretieren Menschen mit und ohne Autismus
         als krank zu bezeichnen.“                                                                       den Blick eines Gegenübers? Eingesetzt wurde
                                                                                                         ein virtueller Charakter, der weder redet noch
                                               K A I V O G E L E Y,
                   P R O F E S S O R F Ü R P S Y C H I AT R I E U N D P S Y C H O T H E R A P I E
                                                                                                         nonverbal kommuniziert, sondern die Testper-
                                                                                                         son nur anschaut. Verändert wurde lediglich die
                                                                                                         Blickdauer des virtuellen Charakters – bis auf
                                                                                                         maximal vier Sekunden.

                                                                                                         „Wir konnten zeigen, dass bei Menschen ohne Au-
                                                                                                         tismus mit anhaltender Blickdauer die Sympathie
                                                   Nervensystems zu bezeichnen“, räumt Vogeley           für das künstliche Gegenüber steigt“, sagt Voge-
                                                   ein. Aber aus seiner langjährigen Erfahrung aus       ley. Bei ihnen wird das „soziale Gehirn“ aktiviert,
                                                   der Ambulanz, die seit 2005 existiert, weiß der       jene Hirnareale, die für das Erleben von Mitge-
                                                   Psychiater, dass die Wahrheit individuell ausfällt:   fühl und sozialer Interaktion verantwortlich sind.
                                                   „Es kommen Menschen mit Autismus zu mir, die          Das bildgebende Verfahren der funktionellen
                                                   ein erfolgreiches Leben führen: Lehrer, Kranken-      Magnetresonanztomografie (fMRT) hatte die Ge-
                                                   schwestern, Psychologen, Versicherungsmakler.         hirnaktivitäten aufgezeichnet. „Bei Menschen mit
                                                   Sie merken zwar, dass sie in bestimmten Situa-        Autismus hingegen blieb die Messkurve in Regio-
                                                   tionen anders reagieren als ihre Mitmenschen,         nen des ,sozialen Gehirns‘ flach. Die ausbleibende
                                                   kommen damit aber gut klar und benötigen              Reaktion kann als neurobiologischer Indikator
       Mehr zum Thema                              lediglich die Diagnose, um für sich Klarheit zu       dafür gewertet werden, dass es Betroffenen
     Autismus lesen Sie in                         schaffen“, sagt der Mediziner. Diese Menschen         schwererfällt, Gefühle und Absichten anderer
      der Online-Ausgabe                           stünden mitten im Leben und haben einen Weg           intuitiv zu deuten“, erklärt Vogeley.
          der effzett:                             für sich und ihr Umfeld gefunden, um mit ihren
      effzett.fz-juelich.de                        Denk- und Lebensstilen umzugehen. „Da fällt es        Darüber hinaus könnte es sein, dass die soge-
                                                   mir als Arzt schwer, diese Menschen als krank zu      nannte soziale Motivation von Personen mit
                                                   bezeichnen“, so Vogeley.                              Autismus verringert ist. „Das würde bedeuten,
23

dass Menschen mit Autismus soziale Kontakte         senschaften und Medizin, mit Kollegen aus der
weniger interessant und weniger kurzweilig oder     Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien
unterhaltend empfinden könnten. Das ist bislang     bestimmte sich wiederholende Aktivitätsmuster
aber nur eine Vermutung“, betont der Wissen-        im Gehirn entdeckt, die nur bei Menschen mit
schaftler.                                          Autismus vorkommen. Dieses konsistente Muster
                                                    sogenannter funktioneller Konnektivitäten könn-
Die Jülicher interessieren sich auch für die Ge-    te langfristig als Biomarker für künftige Thera­
schlechterverteilung bei der Autismus-Diagnose:     pien eingesetzt werden.
Sind Jungen oder Mädchen stärker betroffen? Bei
Kindern mit Asperger-Syndrom – also Autismus,       Die Idee: Mediziner könnten künftig über Medi-
bei dem die Betroffenen einen IQ höher als 70       kamente das Hirnmuster in Richtung „gesundes“
aufweisen – kommen auf ein Mädchen bis zu           Muster verschieben und damit den Gesundheits-
zehn Jungen, bei den Erwachsenen sind es nur        zustand verbessern. „Die Ergebnisse der Studie,
noch etwa zwei Männer auf eine Frau. Mit Ge-        die mehr als 800 Autisten in vier Kohorten
netik lässt sich dieses Phänomen nicht erklären.    berücksichtigt, könnten dazu beitragen, bishe-
„Momentan gehen wir davon aus, dass Mädchen         rige Therapieformen zu optimieren oder neue         Jürgen Dukart hat Aktivitäts-
unterdiagnostiziert werden. Ihnen gelingt es of-    Behandlungswege zu finden“, resümiert Dukart.       muster im Gehirn entdeckt,
fensichtlich besser, sich anzupassen und weniger    Denn auch wenn es viele Menschen mit Autismus       die nur bei Menschen mit
aufzufallen“, erklärt Vogeley. „Camouflage“ heißt   gibt, die der Forschung kritisch gegenüberstehen    Autismus vorkommen.
der Fachbegriff. Das bestätigen auch Studien­       und die Ansicht vertreten, sie seien zwar anders,
ergebnisse der Jülicher Forscher.                   aber durchaus gesund, darf die Wissenschaft
                                                    nicht jene Menschen aus dem Fokus verlieren, die
HEILBAR ODER NICHT?                                 in ihrem Leben mit Autismus nicht zurechtkom-
Nach dem derzeitigen Wissensstand ist Autismus      men.
nicht heilbar. Therapeutische und pädagogische
Förderung und Unterstützung helfen jedoch,          K ATJ A L Ü E R S

positive Veränderungen zu erreichen. So hat
Dr. Jürgen Dukart vom INM-7, einem anderen
Forschungsbereich im Institut für Neurowis-
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