ALTERNATIVANSÄTZE ZUR SENKUNG ÜBERLANGER VERWEILDAUERN IM MAßREGELVOLLZUG GEMÄß 63 STGB - KRIPOZ
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16 KriPoZ 1 | 2021 Alternativansätze zur Senkung überlanger Verweildauern im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB Ein Überblick aus Sicht der Versorgungsepidemiologie und Behandlungspraxis von Dr. Jan Querengässer und Prof. Dr. Boris Schiffer* Abstract implementation of the new regulations for forensic psychi- Die 2016 erfolgte und damit jüngste Novellierung des atric hospitals and aftercare facilities. Quite a few of these Maßregelrechts zielte primär darauf, die Verweildauern fears have since materialized, without any sustainable re- im Rahmen einer Unterbringung im psychiatrischen duction in lengths of stay, which results in occupancy Krankenhaus gem. § 63 StGB zu reduzieren. Dies geschah pressures in the inpatient psychiatric hospital, having in erster Linie durch die Stärkung des Verhältnismäßig- been achieved to date. Therefore, this paper summarizes keitsgrundsatzes bei der jährlichen Überprüfung der wei- alternative approaches to reducing excessively long teren Vollstreckung der Maßregel durch die Strafvollstre- lengths of stay, which relate to the adjudicatory process, ckungskammern. Bereits kurz nach der Novelle wurden the ongoing enforcement or execution of the measure, and vermutete Probleme und zu überwindende Herausforde- treatment after placement pursuant to Section 63 of the rungen benannt, die sich durch die rechtspraktische Um- Criminal Code, but also addresses the legislative, judi- setzung der Neuregelungen für Maßregelvollzugskliniken cial, and correctional and treatment practice aspects. All und Nachsorgeeinrichtungen ergaben. Nicht wenige die- the proposals discussed, which are based on the authors' ser Befürchtungen traten mittlerweile ein, ohne dass bis- epidemiological and therapeutic perspectives, have in her eine nachhaltige Verringerung der Verweildauern – common that they are more complex than the amendment und damit des Belegungsdruckes im stationären Maßre- of individual paragraphs of criminal law, but that they gelvollzug – erreicht werden konnte. Der vorliegende Auf- would presumably achieve the declared goal of reducing satz fasst daher Alternativansätze zur Senkung überlanger the occupancy rate and length of stay in forensic psychi- Verweildauern zusammen, die sich auf das erkennende atric hospitals more sustainably and with fewer "side ef- Verfahren, die laufende Vollstreckung bzw. den Vollzug fects". der Maßregel sowie die Behandlung nach der Unterbrin- gung gem. § 63 StGB beziehen, aber auch auf der Ebene I. Ausgangslage der Gesetzgebung, der Rechtsprechung sowie der Voll- zugs- und Behandlungspraxis ansetzen. Allen diskutierten 1. Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung Vorschlägen, die aus der versorgungsepidemiologischen in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB und therapeutischen Perspektive der Autoren hervorge- und zur Änderung anderer Vorschriften von 2016 hen, ist gemein, dass sie zwar komplexer daherkommen als die Novelle einzelner Strafrechtsparagraphen – dass Die letzte größere Novellierung der Maßregelparagraphen sie aber mutmaßlich nachhaltiger und mit weniger „Ne- und ihrer Begleitvorschriften in 2016 erfolgte nicht zuletzt benwirkungen“ versehen das erklärte Ziel der Senkung mit dem Ziel, den ansteigenden Verweildauern und der von Belegung und Verweildauern im psychiatrischen Belegungszunahme in den Kliniken des Maßregelvoll- Maßregelvollzug bewirken würden. zugs (MRV) gemäß § 63 StGB Einhalt zu gebieten.1 Über- lange Unterbringungen sollten insbesondere durch die The 2016 amendment to the German law on special Stärkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes deutlich measures, which is the most recent, was primarily aimed erschwert werden. Die normative Umsetzung in § 67d at reducing the length of stay in psychiatric hospitals pur- Abs. 6 StGB erfolgte in Form einer Etablierung zweier suant to Section 63 of the German Criminal Code (StGB). Zeitschwellen, ab deren Überschreitung die Fortdauer ei- This was predominantly accomplished by strengthening ner Unterbringung durch die zuständige Strafvollstre- the principle of proportionality in the annual review of the ckungskammer regelhaft für unverhältnismäßig zu erklä- further enforcement of the detention measure by the ren ist, sofern vom Untergebrachten außerhalb des MRV Chambers for the Execution of Sentences. Shortly after the keine Straftaten mehr drohen, die mit einer schweren kör- amendment, suspected problems and challenges to over- perlichen oder seelischen Schädigung der potentiellen Op- come were identified that arose from the practical legal fer einhergingen (Zeitschwelle 10 Jahre) oder diese zu- mindest in die Gefahr einer solch schweren Schädigung brächten (Zeitschwelle 6 Jahre). * Dr. Jan Querengässer und Prof. Dr. Boris Schiffer koordinieren und Psychotherapie am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Uni- bzw. leiten den Fachbereich Versorgungsforschung der LWL-Aka- versität Bochum. 1 demie für forensische Psychiatrie (LWL-AFoPs). Prof. Dr. Boris BT-Drs. 18/7244. Schiffer ist zudem Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie
Querengässer/Schiffer – Senkung überlanger Verweildauern im MRV KriPoZ 1 | 2021 17 2. Vermutete und beobachtete Folgen der Novellierung NRW führt. Dies sei in Ermangelung der Werte für Ge- samt-NRW mit Zahlen aus den Kliniken des Landschafts- Während große Zustimmung und Einigkeit hinsichtlich verbandes Westfalen-Lippe (LWL) illustriert: Der Patien- des Ziels der Senkung der Unterbringungszahlen und tenbestand aller gem. § 63 StGB (Anzahl zzgl. gem. -dauern vorherrschte, erhob sich doch deutliche Kritik an § 126a StPO Untergebrachter) untergebrachter Patienten der Art und Weise, wie dieses Ziel vom Gesetzgeber zu betrug dort am 31.12.2016, also ein knappes halbes Jahr erreichen versucht wurde.2 Insbesondere auf das – im Ver- nach in Krafttreten des Gesetzes, n = 671 (n = 720), blieb gleich zu Bewährungsaussetzungen gemäß § 67d Abs. 2 auch 2 ½ Jahre nach Inkrafttreten mit n = 654 (n = 721) StGB – eingeschränkte Arsenal an Reaktionsmöglichkei- am 31.12.2018 in Summe stabil und steigt aufgrund der ten auf Krisen oder problematischen Entwicklungen nach relativ hohen Zahl bei den vorläufig Untergebrachten so- einer Erledigung der Maßregel wurde eindringlich hinge- gar an; zum Stichtag 31.12.2019 auf n = 657 (n = 747) wiesen3 und weitere Herausforderungen für Therapie und bzw. zum Stichtag 31.12.2020 auf n = 667 (n = 774). Die Sozialarbeit im Maßregelvollzug wurden beschrieben und Anzahl der gem. § 63 StGB Untergebrachten erscheint zu problematisiert.4 den Stichtagen also recht stabil (zw. 654 und 689), wäh- rend sich die Zahl der vorläufig Untergebrachten in den Eine umfassende empirische Evaluation der Reform steht 4 ½ Jahren nach Novellierung mehr als verdoppelt hat zwar noch aus, jedoch werden mittlerweile erste versor- (von 49 zum 31.12.2016 auf 107 zum 31.12.2020). gungsepidemiologische Folgen sichtbar. Während sich in einigen Bundesländern offenkundig nichts oder nur wenig Unabhängig von den Zahlen bleibt im Einzelfall auch of- an der gerichtlichen Entlasspraxis änderte,5 erlebte insbe- fen, ob ein Teil der auf Grundlage der Verhältnismäßig- sondere Nordrhein-Westfalen mit dem bundesweit höchs- keitsregelung entlassen Patienten nicht ohnehin entlassen ten Patientenbestand und vergleichsweise langen Unter- worden wäre – nach der Novelle nun aber eben auf einer bringungsdauern in den ersten beiden Jahren nach der No- anderen Rechtsgrundlage. velle eine „Welle“ an Erledigungen aus Gründen der Ver- hältnismäßigkeit: Kamen in 2014 und 2015 nur je rund Insofern stellt sich die Frage, ob es nicht andere und mög- 15% (n = 28 bzw. 26) der entlassenen Patienten im Rah- licherweise effektivere Wege geben könnte, das Ziel eines men einer Verhältnismäßigkeitserledigung frei, so ver- Rückgangs der Verweildauern und des Bestandes an Maß- doppelte sich dieser Anteil (nach einem moderaten An- regelvollzugspatienten gem.§ 63 StGB insgesamt zu errei- stieg auf 23% bzw. n = 38 in 20166) auf 32% (n = 83) in chen. 2017 und 30% (n = 72) in 2018.7 Der Gesamtpatientenbe- stand wurde im selben Zeitraum (2014 – 2018) um knapp II. Alternativvorschläge 9% (n = 177) Patienten reduziert. Hieraus eine nachhaltige Zielerreichung abzuleiten, wäre jedoch verfrüht. Erstens Der vorliegende Text soll daher einen Überblick über Al- lag der Bestand an Patienten gemäß § 63 StGB in NRW ternativvorschläge geben, wie das Ziel einer Senkung der 2018 – also nach der „Entlassungswelle“ – immer noch Verweildauern im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB er- um 3% über jenem von 2008, während er bundesweit im reicht werden könnte. Nicht alle Vorschläge oder Ansatz- selben Zeitraum um gut 5% zurückging. Zweitens scheint punkte sind neu oder innovativ (im Gegenteil: vieles wird die Welle an Verhältnismäßigkeitserledigungen zuletzt seit mehreren Jahren gefordert), doch erscheint es auch in auch in NRW wieder abzuebben. Vorläufigen Zahlen des Anbetracht der oben beschriebenen Belegungsentwick- Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des lung wichtig, dem Thema erneut die nötige Aufmerksam- Landes Nordrhein-Westfalen zufolge sank die Zahl ent- keit zu schenken. Als Gliederung wurde eine konsekutive sprechender Erledigungsentscheidungen von je über 70 in Form gewählt – beginnend mit dem erkennenden Verfah- 2017 und 2018 auf 41 in 2019 und auf unter 20 in 2020.8 ren, über die Ausgestaltung der Unterbringung, bis hin zur Entlassung – auch wenn sich die Ebenen, auf die sich die Hinzukommt, dass v.a. die Zunahme vorläufiger Unter- Vorschläge beziehen (z.B. Gesetzgebung, Rechtspre- bringungen gemäß § 126a StPO den Belegungsrückgang chung, Vollzugs- und Behandlungspraxis), teilweise mi- der letzten Jahre in NRW zuletzt nicht nur kompensierte, schen bzw. in schneller Abfolge abwechseln. sondern gemeinsam mit dem weiterhin ungebrochenen Wachstum bei Neueinweisungen gem. § 64 StGB sogar zu einer dramatischen Überbelegung im MRV des Landes 2 6 Baur, JR 2017, 413 (419); Schmidt-Quernheim, Kerbe 4 2017, 28 Das Gesetz trat am 1. August 2016 in Kraft. 7 (31); Baur/Querengässer, MSchrKrim 2017, 313 (327). Alle Daten entstammen dem Kerndatensatz von CEUS. 3 8 A.a.O. Persönliche Emailkorrespondenz mit dem Referat Therapie und Si- 4 Querengässer/Jörges/Schiffer, R&P 2019, 68 (74). cherheit (IV B2) des MAGS NRW vom 15. Januar 2021. 5 Dies betrifft beispielsweise Bayern, Hessen und Baden-Württem- berg. Die Ursachen sind jedoch mutmaßlich verschieden: Während Baden-Württemberg wegen seiner insgesamt kurzen Verweildauern weniger Patienten „im kritischen Bereich“ aufweist, wurde in Hes- sen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits vor der Novelle durch die Rechtsprechung konsequenter als anderswo umgesetzt. Dass in Bayern trotz eher längerer durchschnittlicher Verweildauern (bislang) kaum von § 67d Abs. 6 StGB Gebrauch gemacht wurde, hängt wohl mit den Besonderheiten der freistaatlichen Justizkultur zusammen.
18 KriPoZ 1 | 2021 1. Im erkennenden Verfahren daraufhin, dass zuletzt zwei weitere Gruppen zunehmend häufiger gem. § 126a StPO untergebracht werden: Wohn- a) Vermeidung des § 126a StPO als „verdeckte forensi- sitzlose und Migranten, die als Flüchtlinge in den letzten sche Krisenintervention“ Jahren erst nach Deutschland zugewandert sind. Bei aller Vorläufigkeit der Befunde und der noch offenen Frage, ob Dass es in den letzten Jahren offenbar zu einer Zunahme sie auf das gesamte Bundesgebiet generalisierbar sind, bei den Anordnungen einer einstweiligen Unterbringung könnten diese Phänomene ebenfalls so interpretiert wer- gem. § 126a StPO kommt, darf überraschen, da die Ver- den, dass die Forensik zunehmend eine gesamtgesell- schärfung der Anforderung an eine Unterbringung im psy- schaftliche Aufgabe übernimmt, die ihr nicht zugedacht chiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB im Rahmen der ist – nämlich jene der (Re-)Integration eher sozial rand- Gesetzesnovellierung von 2016 eher auch einen Rück- ständiger Menschen. gang bei den Anordnungen gem. § 126a StPO hätten ver- muten lassen. Denn in der entsprechenden Vorschrift wird Neben der Frage einer möglicherweise kritikwürdigen in Absatz 1 explizit Bezug auf die zu erwartende Anord- Auslegung des Gesetzes zur einstweiligen Unterbringung nung einer Unterbringung genommen: „Sind dringende durch die jeweiligen Gerichte, stellt sich zum einen die Gründe für die Annahme vorhanden, daß jemand eine gesellschaftliche Frage, ob eine solche Integration durch rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder eine zunächst einmal hoch desintegrativ ausgelegte Insti- verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 des Strafgesetz- tution gelingen kann und zum anderen auch die individu- buches) begangen hat und daß seine Unterbringung in ei- elle Frage, ob es nicht doch andere Behandlungsmöglich- nem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entzie- keiten und -settings für diese Menschen geben könnte hungsanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht oder sogar geben müsste. Denn selbst wenn (v.a. kurzfris- durch Unterbringungsbefehl die einstweilige Unterbrin- tig) nach § 126a StPO behandelte Patienten zunächst in gung in einer dieser Anstalten anordnen, wenn die öffent- keinem Kontext zu überlangen Behandlungsdauern im liche Sicherheit es erfordert“ (kursive Hervorhebungen MRV stehen – sie erhöhen die ohnehin schon bestehende durch die Autoren). § 63 StGB spricht von erheblichen Überbelegungssituation in den Kliniken und binden dabei rechtswidrigen Taten, die vom Täter zu erwarten sind und überproportional viele Ressourcen. Dies hängt einerseits die mit erheblichem körperlichen oder seelischen Schaden mit der oftmals eher akut imponierenden Psychopatholo- für die Opfer oder mit schwerem Sachschaden einherge- gie und andererseits mit den rechtlichen Besonderheiten hen. § 126a StPO ist damit nicht nur eine Kann-Regelung des Status zusammen: vorläufig Untergebrachte haben (und keine Soll- oder gar Muss-Vorschrift), sie stellt keine Mitwirkungspflicht bei Behandlungsangeboten und durch die Beziehung zu § 63 StGB auch relativ hohe Hür- unterliegen zugleich höheren Sicherungsauflagen. den für ihre Anwendung auf. Neben der mutmaßlich gesunkenen Schwelle, gewalttäti- Dem klinischen Eindruck zufolge werden diese Anforde- ges oder auch anderweitig deviantes Verhalten in anderen rungen jedoch zunehmend liberaler ausgelegt.9 Es steigt Behandlungs- oder Versorgungssettings zu dulden, drängt nicht nur die Anzahl der Untergebrachten nach § 126a sich der Verdacht auf, dass der MRV in diesen Fällen sys- StPO,10 sondern tendenziell auch der Anteil jener, deren temisch bedingte Probleme auffängt v.a. in Bezug auf die vorläufige Unterbringung in der folgenden Hauptverhand- Möglichkeiten einer längerfristigen öffentlich-rechtlichen lung nicht in einer Verurteilung gem. § 63 StGB resultiert. Unterbringung,13 die eine konsequente Behandlung der Dies kann primär zwei Gründe haben: Entweder lagen die z.T. sehr „schwierigen“ Patienten mit einer geringen Voraussetzungen gem. § 63 StGB bereits zu Beginn der Compliance über einen längeren Zeitraum erlauben vorläufigen Unterbringung nicht vor (s.o.) – oder aber be- würde. Die Tatsache, dass die Erforderlichkeit der weite- reits die während der vorläufigen Unterbringung erfolgten ren Unterbringung täglich aufs Neue überprüft, begründet Behandlungsinterventionen reichten aus, um die Gefähr- und dokumentiert werden muss (vgl. § 17 Abs. 3 lichkeit des vorläufig Untergebrachten unter die gefor- PsychKG NRW, das seit dem 1.1.2017 eine tägliche derte Erheblichkeit der zu besorgenden zukünftigen Taten Überprüfung vorsieht – in der zuvor gültigen Fassung war zu drücken. Man könnte in diesen Fällen auch von ver- lediglich eine „fortlaufende“ Prüfung vorgesehen), führt deckten „forensischen Kriseninterventionen“ sprechen, i.d.R. zu insuffizienten Behandlungen und dem bekannten die sich oft auf Patienten mit psychotischen Störungen be- Drehtürpatientenphänomen, welches vermutlich Gerichte ziehen, die in Allgemeinpsychiatrien oder anderen institu- wie zuständige Kliniken im Ergebnis gleichermaßen re- tionellen Settings (auch im Rahmen öffentlich-rechtlicher signieren lässt. Unterbringung nach den Landesgesetzen über die Unter- bringung psychisch Kranker) nicht ausreichend behandel- Natürlich kann es sinnvoll sein, die Möglichkeit oder Not- bar erscheinen oder als „untragbar“ gelten.11 Eine neuere wendigkeit forensischer Kriseninterventionen als Pri- Auswertung12 aus Baden-Württemberg deutet zusätzlich märsanktion14 zu diskutieren. Dies sollte dann aber auch 9 11 Um mit den Worten von Garlipp/Ziegenbein/Haltenhof, Nerven- Siehe dazu auch Saimeh, Kerbe 4 2013, 19 (21). 12 heilkunde 2013, 514 (519) zu sprechen, scheint sich das Spannungs- Traub, Digitaler Vortag auf der virtuellen 35. Münchner Herbstta- feld zwischen Forensifizierung (gewalttätiges Verhalten wird vor- gung der AGFP am 8. Oktober 2020. 13 rangig als Delikt verstanden) und Neglect (gewalttätiges Verhalten Je nach Bundesland wird eine solche Unterbringung zumeist gere- wird vorrangig als Symptom im psychopathologischen und -dyna- gelt durch ein eigenständiges PsychKG oder PsychKHG. 14 mischen Zusammenhang gesehen) zugunsten von ersterem aufzulö- Als solche zu unterscheiden von einer Krisenintervention gem. sen. § 67h StGB, die erst nach Aussetzung einer erfolgten Unterbringung 10 Schmidt-Quernheim, Bewährungshilfe 2020, 253 (268). gem. § 63 StGB angeordnet werden kann.
Querengässer/Schiffer – Senkung überlanger Verweildauern im MRV KriPoZ 1 | 2021 19 so benannt werden, anstatt dass es unter dem Deckmantel zen Verfahrenswegen die Umwandlung in eine eingriffs- einer Rechtsvorschrift erfolgt, die zu einem ganz anderen intensivere Maßregel anregen könnten (bei deren Durch- Zweck konzipiert wurde. Diese Überlegungen stellen führung sie selbst im Sinne einer Behandlungskontinuität auch eine passende Überleitung zum zweiten Punkt dar. dem Betreffenden als Therapeut im Idealfall erhalten blie- ben). b) Ausdifferenzierung der forensisch-psychiatrischen Maßregel Eine andere Form der ambulanten Maßregel (die v.a. für Patienten in Frage kommen dürfte, die in einem instituti- Gegenwärtig ist die Behandlung psychisch kranker und onellen Setting straffällig wurden) könnte die Etablierung gem. §§ 20, 21 StGB mindestens als erheblich vermindert forensischer „Task-Force“-Teams sein, die – bestehend schuldfähig eingestufter Straftäter im deutschen Recht- aus erfahrenen forensischen Therapeuten, Sozialarbeitern system dichotom geregelt: entweder es erfolgt die zeitlich und/oder Pflegekräften – die bereits involvierte Institution unbefristete stationäre Unterbringung gemäß § 63 StGB beraten, unterstützen und in Form einer Geh-Struktur17 oder sie erfolgt nicht.15 Dieses Regelsystem ist historisch Patienten in dem ihnen bekannten Umfeld aufsuchen und erklärbar, spiegelt den aktuellen Wissensstand über stö- behandeln. rungs- und deliktspezifische Behandlungsnotwendigkei- ten jedoch nur unzureichend wider. Dabei geht es weniger Der Vorteil beider Regelungen wäre, dass Patienten in ih- um Behandlungsinhalte, denn selbstverständlich gilt es in rem gewohnten Lebensumfeld und der etablierten Tages- MRV-Kliniken als state of the art individuelle Behand- struktur verbleiben könnten. Denn für viele Patienten be- lungspläne zu erstellen und -elemente anzubieten. Doch deutet allein die Aufnahme in eine forensische Klinik – der starre Rahmen des § 63 StGB setzt enge Grenzen und ein Umfeld mit eigenen Regeln und Strukturen, und die es sollte überlegt werden, wie auch strukturell ein indivi- damit einhergehende Notwendigkeit, sich neu zurechtzu- duelleres Eingehen auf Behandlungsnotwendigkeiten im finden – eine Destabilisierung, d.h. der Patient ist oftmals forensischen Kontext möglich werden könnte. Dazu lohnt mehrere Monate vor allem damit beschäftigt, sich in der auch ein Blick auf die Regelungen anderer Länder, wie neuen Situation zurecht zu finden. Hinzu kommt, dass etwa der Schweiz. nach erfolgter MRV-Behandlung in der Regel wieder mit viel Aufwand ein institutioneller Empfangsraum geschaf- Schon die Ausdifferenzierung in eine ambulante, teilstati- fen werden muss. onäre, befristet stationäre (im Sinne einer Kriseninterven- tion s.o.) und wie gehabt unbefristet stationäre Maßregel bb) Teilstationäre Maßregel – etwa im Sinne eines gestuften Maßregelsanktionensys- Eine andere Gruppe forensischer Patienten mit ebenfalls tems – würde wesentlich individuellere Behandlungsver- eher moderatem Gefährdungspotential wiederum dürfte läufe ermöglichen, die sicherlich mit einem deutlich posi- von teilstationären Maßregeln gut profitieren. Auch hier- tiven Effekt auf die Behandlungsdauern insgesamt einher- bei wären zwei Varianten denkbar. Einerseits forensische gehen würden ohne dabei die Sicherheit der Allgemein- tagesstationäre Angebote wie sie in der Allgemeinpsychi- heit unverhältnismäßig stark zu gefährden. Wie entspre- atrie inzwischen zum Standard gehören. Patienten würden chend differenzierte Maßregelstufen genau aussehen hier nur tagsüber spezifische forensisch-psychiatrische könnten, soll im Folgenden exemplarisch kurz skizziert Behandlungsangebote wahrnehmen und abends wieder in werden: ihr gewohntes Lebens- und Wohnumfeld zurückkehren. Andererseits forensische Wohneinrichtungen, in denen aa) Ambulante Maßregel Patienten wohnen, aber zu geregelten Tätigkeiten oder Hierunter könnte zweierlei verstanden werden. Zunächst auch ausgewählten Freizeitaktivitäten die Einrichtung eine „klassische“ Behandlungsauflage, bei der ein psy- verlassen können. Natürlich fände in beiden Formen die- chisch kranker Strafffälliger mit eher moderatem Gefähr- ser teilstationären Maßregel spezifisch forensische, mithin dungspotential initial zunächst unbefristet dazu verurteilt deliktpräventive Behandlung statt. Während tagesstatio- wird, regelmäßig (ggf. auch hochfrequent) an forensi- näre Angebote für jene Patienten gedacht wären, die über schen Einzel- und/oder Gruppentherapien im Sinne einer ein stabiles Wohnumfeld und/oder gute familiäre Anbin- Komm-Struktur16 teilzunehmen. Das Novum an einer sol- dung verfügen, aber durch mangelnde Tagesstruktur (ein- chen Maßregel wäre, dass die Therapeuten als Angehörige hergehend mit ihrer psychischen Erkrankung) ein mani- des MRV-Systems über das nötige forensische Wissen festes Delinquenzrisiko aufweisen, wären forensisch ge- und Verständnis verfügten, direkt der Strafvollstreckungs- führte Wohnheime eher für jene Patienten geeignet, die kammer (StVK) berichtspflichtig wären und ggf. auf kur- Unterstützungsbedarf im Alltag aufweisen, aber schon etablierten tagesstrukturierten Tätigkeiten nachgehen. Ein 15 17 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auf die Möglichkeit Der Betreffende wird von seinen Behandlern aufgesucht. verwiesen, die stationäre MRV-Unterbringung initial zur Bewäh- rung auszusetzen (gem. § 67b StGB) und das Wahrnehmen anderer Behandlungen als Bewährungsauflage auszusprechen. Praktisch wird davon aber nur selten Gebrauch gemacht, was sicherlich auch an hohen Hürden hinsichtlich Zuständigkeit, Finanzierbarkeit und Kontrollierbarkeit liegt. Siehe dazu auch Schmidt-Quernheim (Fn. 10), der nicht zu Unrecht häufigere Entlassungen gem. § 67b StGB anmahnt und dabei auch die Gerichtshilfe in die Pflicht nimmt. 16 Der Betreffende kommt zu seinen Behandlern.
20 KriPoZ 1 | 2021 typischer Fall wäre ein chronifiziert psychotischer Patient, Gefährlichkeit oder (nicht zu vermeidenden) prognosti- der bei seinen Eltern lebt, mit denen es aber – resultierend schen Unschärfen gerecht zu werden, könnten und sollten aus gegenseitiger Überforderung – immer häufiger zu in Form von verfahrensrechtlichen Begleitregelungen handgreiflichen Streitereien kommt, während er in einer klare Kriterien definiert werden, unter welchen Voraus- Werkstatt für Menschen mit Behinderung eigentlich ganz setzungen ggf. auch eingriffsintensivere Maßnahmen ein- gut eingegliedert ist. gesetzt werden könnten. cc) Befristet stationäre Maßregel Vor allem die ersten beiden ausdifferenzierten Maßregel- Für jene Patienten mit (akut) höherem Gefährdungspoten- stufen dürften sich wesentlich weniger als der aktuelle tial sollte die Möglichkeit einer (initial ausgesprochenen) § 63 StGB in einem Spannungsfeld zum individuellen zeitlich befristeten Krisenintervention geschaffen werden, Freiheitsgrundrecht bewegen, was Bedenken hinsichtlich bei der im Rahmen der bestehenden MRV-Strukturen Pa- der (Un-) Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßre- tienten mit klar umschriebenen Behandlungsauftrag zu- gel sicherlich abschwächt. nächst nur für eine gewisse Zeit behandelt werden. Ein solcher Zeitrahmen könnte beispielsweise 6 oder auch 12 Es ist daher wahrscheinlich, dass im Vergleich zu heute Monate darstellen, verbunden mit einer Möglichkeit einer zwar sogar häufiger von den weniger eingriffsintensiven weiteren befristeten Verlängerung um weitere max. 6 oder Maßregeln Gebrauch gemacht würde. Doch dürfte deren 12 Monate. Für den prototypischen Fall eines ausschließ- geringere Dauer und der niedrigere Platz- und Personal- lich im Rahmen einer schizophrenen Erkrankung zu Ge- bedarf unterm Strich dennoch auf eine monetäre Entlas- walttaten neigenden Patienten ohne komorbide Störungen tung des Steuerzahlers hinauslaufen. oder im engeren Sinne dissozialen bzw. kriminellen Ent- wicklung sollte dieser Zeitrahmen in der Regel ausrei- Natürlich könnte eine Ausdifferenzierung der psychiatri- chen, eine rückfallpräventive Behandlung sowohl im Hin- schen Maßregel auch anders aussehen, als die vorstehende blick auf die Grunderkrankung als auch im Hinblick auf grobe (und sicherlich nicht zu Ende gedachte) Skizze,18 die damit in Zusammenhang stehende Gefährlichkeit zum grundsätzlich würde sich durch eine derartige Differenzie- Ziel zu führen. rung jedoch auch ein anderer Webfehler des deutschen Sanktionensystems, der oben bereits angeklungen ist, be- Dass auch diese (eigentlich recht unkompliziert zu behan- heben lassen: Die schuldstrafrechtrechtliche Spur folgt delnde) Gruppe von Patienten auch in Kliniken mit spezi- selbstverständlich einem Äquivalenzprinzip, die Höhe der ell auf diese Klientel zugeschnitten sog. Schnellläufersta- verhängten Strafe (sei es Geld- oder Freiheitsstrafe) wird tionen wesentlich länger in der Maßregel verbleibt, hängt direkt nach der Höhe der Schuld bemessen. Eine entspre- vielleicht ein Stück an der Eigenlogik des Systems chende Äquivalenz fehlt bislang in der maßregelrechtli- § 63 StGB, das mit seinen relativ starren Überprüfungs- chen Spur. Denn unabhängig von Art und Höhe der Ge- und Behandlungsplanungsfristen sowie auch Lockerungs- fährdung, die von dem psychisch kranken Straffälligen anforderungen nicht auf kürzere Verweildauern ausgelegt ausgeht, steht genau eine Interventionsform zur Verfü- ist. Eine Befristung der Maßregel würde diese Logik um- gung sobald die Erheblichkeitsschwelle überschritten ist, kehren und die Schaffung entsprechend effizienter Be- unterhalb dieser Schwelle praktisch keine. Dass sich die handlungsstrukturen quasi erzwingen. Dauer der tatsächlich vollzogenen MRV-Unterbringung wiederum flexibel darstellt, ist dabei allenfalls als Notbe- dd) Unbefristet stationäre Maßregel, die der aktuellen helf zu sehen. Denn einerseits richtet sie sich nicht nach Form des § 63 StGB entspräche der initialen Gefährlichkeit, sondern nach der Gefährlich- keitsentwicklung; andererseits hängt sie am Ende des Ta- Mit einer solchen Ausdifferenzierung einhergehen würde ges eben nicht nur von dem Untergebrachten ab, sondern ein erweiterter Auftrag an gutachterliche Sachverständige, auch von Setting- und anderen institutionellen Faktoren die im erkennenden Verfahren nicht nur (wie bisher) da- sowie letztlich auch individuellen Behandlerfaktoren. Die rauf eingehen müssten, ob die Eingangskriterien für §§ 20, Ausdifferenzierung der psychiatrischen Maßregel in ver- 21 StGB und die Voraussetzung der Unterbringung gem. schiedene Eingriffsintensitäten würde daher auch erstmals § 63 StGB vorliegen. Sie müssten nun in Abhängigkeit eine Art Gefährlichkeitsäquivalenz dieser Spur ermögli- von Behandlungs-, Sozial- und Kriminalprognose beurtei- chen, was im Umkehrschluss aber eben auch bedeutet, len, welches das mildeste Sanktionsmittel darstellt, um die dass die Gesellschaft und die Verantwortlichen von der Behandlung der Anlasserkrankung zu gewährleisten und Prämisse maximaler initialer Sicherung abrücken müss- gleichzeitig die notwendige Sicherheit der Allgemeinheit ten. zu wahren. Somit könnte auch hier das erkennende Ge- richt die (normative) Entscheidung, welche der Maßregel- stufen geeignet erscheint, auf der Grundlage tatsächlicher Anknüpfungspunkte treffen. Um möglichen psychopatho- logischen Verschlechterungen und damit zunehmender 18 Mehr noch: Idealiter sollte eine derartige Differenzierung einherge- hen mit einer Neuordnung/-konzeptionierung des gesamten Sankti- onensystems, also unter Einbezug der §§ 64, 66 StGB und unter Re- vision des alleinigen Eingangskriteriums der Schuldfähigkeit für eine Maßregel gem. § 63 StGB.
Querengässer/Schiffer – Senkung überlanger Verweildauern im MRV KriPoZ 1 | 2021 21 2. Während der Vollstreckung bzw. dem Vollzug der Maß- zugsgesetzen würde aller Voraussicht nach Behandlungs- regel abläufe beschleunigen. Sie wäre daher ebenso wünschens- wert wie ein Mentalitätswandel bei Strafvollstreckungs- Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit Möglichkeiten, wie kammern dahingehend, dass sie im Rahmen der Überprü- im Rahmen einer laufenden unbefristeten Unterbringung fung der weiteren Unterbringung (gem. § 67e StGB) ver- gem. § 63 StGB überlange Unterbringungen verringert stärkt Informationen über Lockerungsmaßnahmen verlan- werden könnten. gen und Begründungen einfordern sollten, wenn diese hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. a) Verhältnismäßigkeitserwägungen im Lockerungsver- lauf Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf den tatsächlichen Grad an Freiheitsentzug, der bei weit- Seit der Gesetzesnovelle kommt es spätestens nach dem reichenden Lockerungen als wesentlich geringer einzu- Erreichen der 6-Jahresschwelle zu einem Auseinander- schätzen ist, als bei nicht gelockerten Patienten, hätte ei- driften der Anforderungen, die für die Gewährung von nen weiteren positiven Nebeneffekt: Er würde auch den Lockerungen einerseits und den Entscheid über die Fort- Druck mindern, eine rein dichotome Verhältnismäßig- dauer der Maßregel andererseits gestellt werden. Während keitsabwägung zu treffen: Bei einem als „moderat“ einge- bezüglich letzterer zunehmend Verhältnismäßigkeitser- schätzten Rückfallrisiko für i.S. des § 67d Abs. 6 StGB wägungen eine Rolle spielen, basieren Lockerungen nach definierte Straftaten wird ein Fortdauerbeschluss nach wie vor auf der Erreichung vorher definierter Behand- mehr als zehnjähriger Unterbringung wesentlich eher als lungsziele, sei es aufgrund klinischer Konvention oder gar unverhältnismäßig anzusehen sein, wenn er sich auf einen festgeschrieben in Vollzugsgesetzen.19 Anders ausge- Patienten bezieht, der im Rahmen von umfassenden Ein- drückt stehen sich Vollstreckungs- und Vollzugslogik zu- zelausgängen einer externen Arbeitstätigkeit nachgeht, als nehmend unverbunden gegenüber, was im Extremfall da- wenn er sich auf einen Patienten ohne jegliche Locke- rin resultiert, dass Patienten auf der Grundlage einer Erle- rung(sperspektive) bezieht. digung gem. § 67d Abs. 6 StGB entlassen werden, ohne vorher je einen Schritt (begleitet oder unbegleitet) vor die b) Verschlankung des Begutachtungs- und Dokumentati- Kliniktür gesetzt zu haben. Dies öffnet nicht nur der Chro- onswesens nifizierung von Hospitalisierungseffekten Tür und Tor, es unterbindet auch die Gelegenheit der Bewährung, die mit In der gegenwärtigen Praxis des Maßregelvollzugs wer- Vollzugslockerungen verbunden ist und die ihrerseits eine den Behandlungsprozesse nicht selten verzögert oder aus- wichtige Erkenntnisquelle für die Legalprognose darstellt gebremst durch formale Prozesse, die die MRV-Beschäf- (von der Motivationsquelle für den einzelnen Patienten, tigten sehr viel Zeit kosten. Zwar unterscheiden sich die der dann wieder „etwas zu verlieren“ hat, einmal ganz ab- formalen Vorgaben zur Dokumentation (beispielsweise gesehen). Insofern wäre es wünschenswert, wenn bereits von Behandlungsinhalten, -planungen oder Lockerungs- bei Lockerungsüberlegungen Verhältnismäßigkeitserwä- entscheidungen) nicht nur je nach Bundesland, sondern je gungen einbezogen würden. Mit anderen Worten müsste nach Klinikträger und sogar auf Ebene der einzelnen Kli- gerade bei einer im Raum stehenden Entlassung nach niken teilweise erheblich, doch finden sich mit hoher § 67d Abs. 6 StGB – auch und gerade im nachhaltigen Si- Wahrscheinlichkeit in jeder einzelner Klinik Beispiele für cherheitsinteresse der Allgemeinheit – eine höhere Risi- überzogene Anforderungen. Eine saubere Dokumentation kobereitschaft vonseiten der Verantwortlichen eingenom- der Behandlung und das Verfassen substanzieller Stel- men werden. Neben der Streichung entsprechender Passa- lungnahmen an die Justiz liegen fraglos auch im Interesse gen in Vollzugsgesetzen und internen Richtlinien, sollte der Untergebrachten und sind prinzipiell notwendig. Den- dabei auch diskutiert werden, inwiefern die Anordnung noch bemisst sich Behandlungsqualität nicht zwangsläu- von Vollzugslockerungen auch vonseiten der Justiz aus- fig im korrekten Ausfüllen zahlreicher Checklisten oder gehen könnte. Die gegenwärtige Haltung, Vollzugslocke- der pünktlichen Ablieferung oftmals redundanter Inhalte. rungen lägen im Entscheidungsbereich der Behandler Grundsätzlich gilt auch im MRV: Wer schreibt, behandelt (und werden allenfalls abgestimmt mit der Staatsanwalt- nicht. Jede Minute, die im Dokumentations- und Berichts- schaft) führt u.E. jedenfalls vielerorts zu einer nicht uner- wesen eingespart wird, kann direkt in die Patientenbe- heblichen Risikoaversion. Denn allzu oft fühlen sich Maß- handlungen investiert werden. Hinzukommt, dass der Ab- regelvollzugseinrichtungen und deren Aufsichtsbehörden bau teilweiser überbordender formaler Anforderungen das genauso wie die vollzugsüberwachenden Staatsanwalt- Berufsfeld Maßregelvollzug für Berufseinsteiger und schaften ausschließlich dem Sicherheitsinteresse der All- -wechsler attraktiver machen würde. Dies hätte wiederum gemeinheit verpflichtet – nicht aber dem Freiheitsan- den Effekt, dass freie Stellen schneller und mit motivier- spruch der Untergebrachten. Die Einführung von Verhält- ten Mitarbeitern besetzt werden könnten. Dies vor allem nismäßigkeitsklauseln in Lockerungsrichtlinien und Voll- dann, wenn der Eindruck entstünde, dass Dokumentation tatsächlich in erster Linie der Reflexion und Optimierung 19 Dies trifft beispielsweise auf das aktuell gültige Maßregelvollzugs- gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (MRVG NRW) zu, das bald abgelöst werden soll durch ein gänzlich neu gestaltetes und in „Strafrechts-bezogenes Unterbringungsgesetz“ (StrUG NRW) um- benanntes Gesetz. Der aktuell vorliegende Gesetzentwurf rückt er- freulicherweise bereits ab von der beklagten Koppelung an den „Er- folg der Therapie“.
22 KriPoZ 1 | 2021 von Behandlungsprozessen diene – und nicht primär der Es steht außer Frage, dass im Falle kritischer oder kom- rechtlichen Absicherung im Falle etwaiger kritischer Vor- plexer Behandlungsverläufe die Einholung externen fälle. Sachverstands nicht nur nützlich, sondern unabdingbar ist. Durch Regelgutachten (seien sie zeitlich oder an Behand- Ein ähnlicher Verdacht drängt sich auf bei dem Versuch, lungsschritte gebunden), werden diese Ausnahmefälle je- die Motivation des Gesetzgebers zu ergründen, wieso in doch zur Regel erklärt. In der Mehrzahl der Fälle sollte die den letzten Jahren immer häufiger externe Gutachten vor- Einschätzung und Erfahrung der behandelnden Klinik im gesehen wurden (z.B. durch die neuen Fristen des § 463 Zusammenspiel mit der kritischen Reflexion durch Auf- Abs. 4 StPO). Der Nutzen von Pflichtgutachten ist bei Pa- sichts- und vollzugsüberwachende Behörden, durch den tienten, die einen „normalen“ Verlauf aufweisen, fachlich Rechtsbeistand des Untergebrachten und durch die StVK sehr umstritten.20 Dem steht gegenüber, dass jedes externe ausreichen, um verantwortungsbewusst und vernünftig Gutachten einen hohen organisatorischen und zeitlichen über Fragen nach Lockerungen oder gar der Fortdauer der Aufwand für die behandelnde Klinik bedeutet und dass Vollstreckung zu befinden. der Zeitraum zwischen Beauftragung und Erstattung eines Gutachtens mehrere Monate (erfahrungsgemäß bis hin zu Insofern wäre es sicherlich nicht gänzlich abwegig, dar- einem ganzen Jahr) umfasst. Für Patienten bedeuten Be- über nachzudenken, Regelgutachten gänzlich zu strei- gutachtungen auch eine Belastung. Neben der physischen chen. Stattdessen könnte überlegt werden, interdisziplinär Belastung durch umfangreiche Explorationstermine emp- klare Kriterienkataloge zu entwickeln, in welchen Einzel- finden viele Patienten einen großen Druck, sich dabei gut fällen externer Sachverstand wichtig bzw. unabdingbar „präsentieren“ zu wollen, bei gleichzeitigem Unverständ- sein sollte. Eine solche Änderung dürfte mit hoher Wahr- nis nun schon wieder einer weiteren Person die gesamte scheinlichkeit die Senkung der Behandlungsdauern in der Lebensgeschichte erzählen zu müssen. Nicht zuletzt stellt Breite zur Folge haben – ob sie durchsetzbar wäre, bleibt das Warten auf (und die Unsicherheit über) das Gutach- jedoch fraglich. Denn es drängt sich der Eindruck auf, tenergebnis für viele Patienten psychischen Stress dar. dass vom gegenwärtigen System hochfrequenter Begut- achtungen zu viele der Beteiligten auf die eine oder andere In der Zeit zwischen Beauftragung und Gutachtenerstat- Weise profitieren (eben mit Ausnahme des Patienten). tung werden selten Behandlungsänderungen vorgenom- men oder Lockerungen eingesetzt, da die Verantwortli- c) (Erneute) Etablierung von Bewährungsaussetzungen chen nachvollziehbarerweise dem externen Sachverstand als reguläre Entlassungsform nicht vorgreifen wollen. Außerdem sehen einige Maßre- gelvollzugsgesetze es dezidiert vor, Lockerungsentschei- Vor dem Hintergrund schlagkräftigerer Ausgestaltungs- dungen erst nach Hinzuziehung externen Sachverstandes möglichkeiten der Führungsaufsicht sind Bewährungs- umzusetzen. In diesem Fall verführen Regelgutachten aussetzungen aus präventiver Sicht grundsätzlich als dazu, anstehende Entscheidungen bis zum nächsten regu- günstiger zu betrachten als Erledigungen einer Unterbrin- lär anstehenden Gutachten aufzuschieben. gung.21 Seit der angesprochenen Novelle 2016 sind Ver- hältnismäßigkeitserledigungen jedoch – spätestens nach Aber auch Gutachten, die anlassbezogen erstattet werden, Erreichung der zehn-Jahres-Schwelle – der gesetzlich vor- sollten nicht unkritisch betrachtet werden. Der Wunsch, gesehene Regelfall für eine Entlassung aus dem psychiat- die Verantwortung (v.a. für Lockerungsentscheidungen) rischen Maßregelvollzug. Diese „ungünstige“ Entlass- auf mehrere Schultern zu verteilen, erscheint verständlich form trifft dabei also regelhaft jene langjährig unterge- – geht jedoch zeitlich betrachtet zulasten des Unterge- brachten Patienten, bei denen Hospitalisierungen und un- brachten. Denn die Gutachtenvergabe erfolgt meist erst günstige Behandlungsverläufe gehäuft vorkommen. Auch dann, wenn zumindest die Klinik eine Lockerung guthei- bezüglich Diagnosen, Eingangsdelikten und soziodemo- ßen würde. Erfahrungsgemäß dienen Gutachten damit sel- graphischem Hintergrund legen neuere Auswertungen ei- ten einer Entscheidungsfindung, sondern oft der Absiche- nes NRW-weiten Forschungsprojekts zum Thema nahe, rung einer bereits getroffenen Entscheidung. Zu der Zeit dass bestimmte Patientengruppen ein größeres Risiko für der Findung addiert sich somit die Zeit der Absicherung. lange Unterbringungsdauern und eine Entlassung auf dem Sowohl Regel- als auch anlassbezogene Gutachten kön- Wege der Erledigungsentscheidung aufweisen als an- nen damit zu einem Hemmnis für Lockerungsmaßnahmen dere.22 werden – obwohl sie eigentlich dazu gedacht sind, dass die Freiheitsperspektive des Untergebrachten verlässlich Zwar ist es prinzipiell möglich, auch nach Überschreiten und objektiv im Behandlungsprozess Beachtung findet. der zehn-Jahres-Schwelle eine Bewährungsaussetzung 20 22 Schalast/Lindemann, R&P 2015, 72 (84); Pfäfflin, Sexual Offender Hein/Querengässer/Schiffer, eingereicht bei Forensische Psychia- Treatment 2014, 1 (9); Pfäfflin, R&P 2014, 62 (63). trie, Psychologie, Kriminologie (FPPK). 21 Vgl. Baur, JR 2017, 413 (419) sowie Baur/Querengässer, MSchr- Krim 2017, 313 (327): Bei einer Erledigung können im Rahmen der Führungsaufsicht nur Weisungen nach § 68b Abs. 1 StGB (darunter z.B. eine „Vorstellungsweisung“) ausgesprochen werden, bei Be- währungsentlassungen auch solche nach § 68b Abs. 2 StGB (z.B. eine „Therapieweisung“). Auch bestehen ausschließlich bei letzte- rem die Möglichkeiten einer Krisenintervention gem. § 67h StGB oder eines Widerrufs der Maßregelaussetzung gem. § 67g StGB.
Querengässer/Schiffer – Senkung überlanger Verweildauern im MRV KriPoZ 1 | 2021 23 auszusprechen,23 doch wird hiervon praktisch kaum Ge- menspiel unterschiedlicher (mehr oder weniger krank- brauch gemacht. Sicherlich hängt dies mit dem hohen ar- heitswertiger) intrapsychischer und situationaler Fakto- gumentativen Aufwand und der verbleibenden Rechtsun- ren. Ein sozial-psychiatrischer oder auch systemischer sicherheit zusammen. Blickwinkel wird dieser Gemengelage viel eher gerecht. Im Idealfall sollten die mit „der Behandlung“ betrauten Es wäre daher wünschenswert, wenn es gelänge, bereits Personen ein ganzheitliches Verständnis anstreben. Denn vor der Erreichung der Zeitschwellen mehr Patienten gem. erst auf dessen Grundlage können die unterschiedlichsten § 67d Abs. 2 StGB zu entlassen. In diesem Zusammen- Maßnahmen des Risikomanagements nachhaltig etabliert hang wirkt es wie eine verpasste Chance des Gesetzgebers werden. An dieser Stelle sei nochmals auf die eingangs im Zuge der Novelle 2016 nicht auch die Hürden dieser aufgeführten forensischen „Task-Forces“ verwiesen, die Entlassvorschrift abgesenkt zu haben bzw. die Verschär- auch und gerade nach erfolgter Entlassung aus stationä- fung aus dem Jahre 1998 nicht revidiert zu haben.24 Bis rem Maßregelvollzug das weitere Leben des ehemaligen dato lautete die wesentlich bewährungsfreundlichere Ge- Patienten (und wenn es auch nur übergangsweise wäre) setzesfassung, dass die Vollstreckung bereits zur Bewäh- begleiten. Solche Task-Forces, die im Idealfall auch per- rung ausgesetzt werden kann, sobald „…verantwortet sonell eine Behandlerkonstanz ermöglichen könnten, werden kann zu erproben, ob der Untergebrachte außer- müssten jedoch personell, finanziell und von den Ein- halb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten griffsbefugnissen her gestärkt werden im Vergleich zum mehr begehen wird.“25 gegenwärtigen System der forensischen Nachsorge. Auch wenn es bundesweit erhebliche Unterschiede gibt, wie fo- Doch selbst solch eine wünschenswerte Senkung der An- rensische Nachsorgeeinrichtungen organisiert sind und forderungen würde wohl weitgehend folgenlos bleiben, auf welche Ressourcen sie zurückgreifen können, würden wenn sich die oft beschworene Verantwortungsgemein- alle Beteiligten von einheitlich höheren Standards profi- schaft aus Strafvollstreckungskammer, MRV-Klinik, tieren. Staatsanwaltschaft und den externen Sachverständigen weiterhin nicht selten als „Verantwortungsdiffusionsge- So sollte eine interdisziplinäre Zusammensetzung der meinschaft“ präsentierte. Nicht nur in Einzelfällen drängt Teams zur Regel werden, in denen neben sozialarbeiteri- sich der Eindruck auf, dass sich im Sinne eines falsch ver- scher auch ärztliche und psychotherapeutische Kompeten- standenen Konsensprinzips ein unausgesprochenes Veto- zen vertreten sind. Neben der empfangenden und aufsu- Prinzip etabliert hat – in dem Sinne, dass die Fortdauer chenden Behandlung und Betreuung der (ehemaligen) ausgemacht ist, sobald eine der beteiligten Parteien leise MRV-Patienten sollten die Teams dadurch auch Zusatz- Zweifel an einer im Raum stehenden Entlassung äußert. aufgaben übernehmen können, wie etwa die Beratung an- An dieser Stelle kann daher erneut nur an den Mut zu einer derer professioneller (z.B. Wohnheime, Arbeitgeber) oder weniger risikoaversiven Grundhaltung appelliert und auf privater Beteiligter im Ausgliederungsprozess (z.B. An- die Nutzung anderer Instrumente des Risikomanagements gehörigengruppen, Vermieter). Zudem könnte überlegt verwiesen werden. werden, weitere hoheitliche Aufgaben an diese Task- Force-Teams zu übertragen – bis hin zu der Möglichkeit, 3. Nach Entlassung aus dem (stationären) Maßregelvoll- dass das Team in Akutfällen (und selbstverständlich unter zug klar definierten Rahmenbedingungen) eigenständig eine stationäre Behandlung anordnen und durchsetzen kann, a) Ganzheitliches Verständnis deliktpräventiver Interven- jedenfalls solange, bis die zuständige StVK über einen Si- tionen bei psychisch kranken Straftätern cherungshaftbefehl oder eine Krisenintervention gem. § 67h StGB entschieden hat. Im Moment vergeht in ent- Mit diesem Punkt sollen weniger konkrete Vorschläge an- sprechenden Fällen nämlich oftmals wertvolle Zeit, bis es gesprochen, als vielmehr ein Haltungswechsel angemahnt zu einer juristischen Entscheidung kommt. werden. Weder das (akut-)medizinische Paradigma, eine Erkrankung könne behandelt werden, danach sei sie über- Eine entsprechende Stärkung und Kompetenzerweiterung standen, noch die Metapher einer chronischen Erkran- der poststationären Institutionen, dürfte in vielen Fällen kung, die immerwährender Behandlung bedarf, passen auf die Bereitschaft erhöhen, die (stationäre) MRV-Unter- Straftäter, die aufgrund einer psychischen Problematik bringung zu einem früheren Zeitpunkt als heute zu been- „gefährlich“ sind. Ersteres resultiert in der falschen Er- den. Erfreulicherweise deutet sich auch in der Politik ein wartung, Patienten seien nach der Behandlung eben nicht entsprechender Paradigmenwechsel an, wie er etwa aus mehr gefährlich, letzteres in der ebenso falschen An- nahme, sie bräuchten „ewig“ Behandlung. Bei den we- nigsten forensischen Patienten beruht die Gefährlichkeit ausschließlich auf der psychiatrischen Komponente, son- dern auf einem mehr oder weniger komplexen Zusam- 23 25 Vgl. Koller, in: Schmidt-Quernheim/Hax-Schoppenhorst, Praxis- Seither lautet die Vorschrift: „[…] setzt das Gericht die weitere buch Forensische Psychiatrie, Behandlung und ambulante Nach- Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu er- sorge im Maßregelvollzug, 3. Aufl. (2018), 2. Kap. warten ist, daß der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs 24 Vgl. Baur, JR 2017, 413 (414); Schöch, NJW 1998, 1257 (1258); keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird.“ Veh, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2016), § 67d Rn. 18.
24 KriPoZ 1 | 2021 den Empfehlungen der sogenannten Bosbach-Kommis- plätze durch dieselben Träger, in deren Händen sich auch sion26 zur Sicherheit in NRW hervorgeht. die MRV-Kliniken befinden, könnte dabei ebenso einen Ansatzpunkt darstellen, wie die (Mit-)Finanzierung oder b) Ausbau der nachsorgenden Wohninfrastruktur die Abschließung von Rahmenverträgen über kontingen- tierte Plätze mit externen Trägern. Finanzielle Anreize für Zu guter Letzt soll auf die Notwendigkeit eingegangen die Aufnahme forensischer Patienten werden aber nicht werden, dass viele ehemalige MRV-Patienten auch nach ausreichen, die angesprochenen Vorbehalte hinsichtlich einer erfolgreichen forensischen Behandlung (im Sinne des Klientels aufzulösen. Diese Ebene könnte durch enge einer Gefährlichkeitsreduktion) auf Unterstützung ange- Begleitung der ehemaligen Patienten und der Mitarbeiter wiesen sind. Patienten, die in Wohnheime oder andere der nachsorgenden Betreuungseinrichtungen durch foren- professionell betreute Wohnformen entlassen werden, sisches Fachpersonal erfolgen. Unbürokratische, verbind- stellen sogar die Mehrheit aller Entlassungen aus einer liche und rasch umzusetzende Absprachen über die Rück- Unterbringung gem. § 63 StGB dar. Meist bezieht sich de- nahme der ehemaligen Patienten im Falle von Krisen oder ren Unterstützungsbedarf neben forensischen Themen Zuspitzungen sowie Schulungen, Hospitationen und ge- auch auf sozialpsychiatrische oder lebenspraktische Be- genseitiges Kennenlernen dürften ebenfalls einen Teil reiche. Oftmals hat auch die jahrelange Unterbringung dazu beitragen, gewisse Vorbehalte abzubauen. selbst mit dazu beigetragen, dass entsprechende Fertigkei- ten verlorengingen oder nicht weiter ausgebaut werden III. Fazit und Ausblick konnten. Dass es nicht in jedem Fall gelingen wird, lange Unter- Die Vermittlung forensischer Patienten in geeignete bringungen zu verhindern – mehr noch: dass es in Einzel- Nachsorgeeinrichtungen gestaltet sich aber vor allem in fällen auch weiterhin zu jahrzehntelangen Unterbringun- Ballungsräumen und erst recht in Bezug auf gewisse Tä- gen kommen wird, ist den Autoren klar. Es wird immer tergruppen leider oft sehr schwierig, was wiederum dazu einen Anteil an Patienten geben, deren störungsbedingte führen kann, dass sich Entlassungen länger als nötig hin- hohe Gefährlichkeit trotz zahlreicher Interventionsversu- ziehen. Es sind dabei nicht nur faktische Probleme bezüg- che und -ansätze nicht hinreichend gesenkt werden kann. lich zu geringer Platzkapazitäten, unklarer Kostenträger- Aus Sicht der Versorgungsepidemiologie und der (Be- schaft oder widersprüchlicher Stoßrichtungen der Rechts- handlungs-)Praxis ergeben sich dennoch viele Punkte, an grundlagen (Strafrecht vs. Sozialrecht), die gelöst werden denen angesetzt werden könnte, um die Behandlungsdau- müssen27. Regelmäßig steht auch eine mangelnde Bereit- ern im MRV gemäß § 63 StGB und damit indirekt auch schaft externer Einrichtungen, entsprechende Patienten den Patientenbestand in der Breite nachhaltig zu reduzie- aufzunehmen, einer erfolgreichen Vermittlung entgegen. ren. Die dabei zutage tretenden Vorbehalte nur auf unreflek- tierte Vorurteile zu attribuieren, würde jedoch zu kurz Allerdings sind all die beschriebenen Vorschläge nicht al- greifen. Oftmals fehlt es Einrichtungen, insbesondere je- lein mit Gesetzesänderungen umzusetzen, sondern impli- nen in freier oder kirchlicher Trägerschaft, an Kenntnissen zieren einen mehr oder weniger umfassenden Paradig- über das MRV-System und/oder an erfahrenem Personal, menwechsel in MRV und Justiz. Inwiefern dieser reali- dass sich den Umgang mit vormals forensischen Patienten siert werden kann, wird sich herausstellen. Sicher ist aber zutraut. jetzt schon, dass das Ziel nur dann zu erreichen sein wird, wenn sich zu der in Fachkreisen erkannten Handlungsnot- Wollte man dieses Problem nachhaltig abmildern, müsste wendigkeit ein politischer Handlungswille gesellt. Da der also auf zwei Ebenen angesetzt werden. Zunächst sollte MRV in der jüngeren Vergangenheit vor allem dann einen sich auch die Justiz und der Maßregelvollzug an Anstren- Platz auf der politischen Bühne einnehmen durfte, wenn gungen beteiligen, geeignete Nachsorgeeinrichtungen zu es zu gravierenden Zwischenfällen kam oder höchstrich- schaffen. Schließlich endet die Resozialisierung nicht mit terliche Entscheidungen es unumgänglich machten, darf dem Ende der formalen Zuständigkeit (siehe auch den man diesbezüglich gespannt sein. letzten Unterabschnitt). Die Errichtung neuer Wohnheim- 26 27 Bosbach, Online-Dokument „Abschlussbericht der Regierungs- Vgl. ausführlich Querengässer/Jörges/ Schiffer, R&P 2019, 68 (74). kommission Mehr Sicherheit für Nordrhein-Westfalen 2020“. Dezi- diert erwähnt werden hierin die Begriffe Task-Force-Team und Be- handlerkonstanz – zwar in Bezug auf suchtkranke Straftäter, die ge- mäß § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt untergebracht sind, aber damit eben dennoch im Kontext des Maßregelvollzugs.
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