AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...

 
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AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AMNESTY
                                                                               Nr. 105
                                                                             März 2021

MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE

 RASSISMUS:
 ZUHÖREN,
 ERKENNEN,
 HANDELN

IN ACTION                KENIA                   50 JAHRE FRAUENSTIMMRECHT
Guantánamo schliessen!   Verschwundene Stimmen   Eine moralische Debatte
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
Die Generalversammlung findet am Abend des 10. Mai 2021 virtuell statt.
                                                 Anmeldung: bis am 31. März 2021 unter amnesty.ch/gv
                                                 Motionen, Postulate und Resolutionen bis am 15. März 2021
                                                 an gv@amnesty.ch

                                                 Wir laden herzlich zur virtuellen Generalversammlung 2021 ein! Sie bietet
                                                 die ideale Gelegenheit, mitzubestimmen und die Zukunft von Amnesty
                                                 International mitzugestalten. Stimmberechtigt sind alle, die bis spätestens
                                                 10. Januar 2021 Mitglied von Amnesty Schweiz geworden sind.
                                                 Sie können den Kurs unserer Sektion auch mit einer Motion, einem
                                                 Postulat oder einer Resolution mitbestimmen. Alle Informationen zu den
                                                 Bedingungen finden Sie unter amnesty.ch/gv. Im Vorfeld zur GV werden
                                                 wir an Online-Veranstaltungen gemeinsam über die eingereichten Motio-
                                                 nen und Postulate diskutieren. Für alle unter 26 Jahren findet das
                                                 virtuelle Youth Meeting am Mittwochabend, 5. Mai 2021, statt. Engagier-
                                                 te junge Menschen haben dort die Möglichkeit, sich über Amnesty
                                                 auszutauschen und die GV gemeinsam vorzubereiten.
                                                 Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!

   EINLADUNG GENERALVERSAMMLUNG 2021
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                                                                            WEITERE NACHHALTIGE UND FAIRE PRODUKTE
Unsere Produkte werden nachhaltig,
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AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
Titelbild                                                                                                                                                                             INHALT_MÄRZ 2021
Schild mit dem Text «Genug mit dem Rassismus»
während des Black Womxn's Empowerment March
in New York, 12. Juni 2020.
© Ira L. Black/Corbis via Getty Images

        AKTUELL                                                                                                              THEMA
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                                                                                                                                                                  Der Weg über den Atlantik
        DOSSIER                                                                                                                                                   ist der gefährlichste.
        Rassismus:
        Zuhören, erkennen, handeln                                                                                   26       Kenia
                                                                                                                              Verdächtigt, verschwunden, verscharrt
                                                                                                                     28       Schweiz
                                                                                                                              «Als ob es einen richtigen Zeitpunkt
                                                                                                                              geben würde»

                                                                                                                             KULTUR
                                                                                                                     30       Buch
                                                                                                                              «Die Hoffnungslosigkeit zu Hause
10      Gegen Rassismus: Es braucht uns alle                                                                                  war schlimmer»
                                                                                                                     32       Film
12      «Black Lives Matter hat den Kampf neu belebt»                                                                         Schmerzvolle Erinnerungen
        Zwei Expert*innen über veränderte Formen des Rassismus,
        die aktuelle Bewegung und Forderungen für mehr                                                               33       Buch
        Gerechtigkeit.                                                                                                        Der Lachs, der Wald, der Tod
                                                                                                                     34       Film
15      Weiterlesen
                                                                                                                              Europas Evangelium
        Literatur und mehr zum Thema Rassismus.

16      Hört uns zu
        Vier engagierte Menschen erzählen, wie sie Rassismus
                                                                                                                             CARTE BLANCHE
        in der Schweiz erleben und was sie sich wünschen.                                                            35       Petra Volpe
20      Ich, wir und die anderen                                                                                              Von Mensch zu Mensch
        Die Sozialpsychologie hat Antworten auf die Frage,
        wie Rassismus in unseren Köpfen entsteht und welche
        Formen er heute annimmt.                                                                                             IN ACTION
                                                                                                                     37       Das Jahr der Frauenrechte
                                                                                                                              Den Appell weitertragen
                                                                                                                              Ausserdem: Guantánamo schliessen –
                                                                                                                              Appell an Präsident Joe Biden.

Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 105, März 2021. Redaktion: Carole Scheidegger (cas.), Manuela Reimann Graf (mre). Mitarbeiter*innen dieser Nummer: Boris Bögli, Lars Bünger,
Fabienne Engler, Chiara Horber, Jonathan Hoppler, Cyrielle Huguenot, Julie Jeannet, Jürgen Kiontke, Emilie Mathys, Bettina Rühl, Jojo Schulmeister, Sebastian Sele, Petra Volpe, Pascal Wagner-Egger. Korrek-
torat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffabfällen
hergestellt. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der
nächsten Nummer: 23. April 2021. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sek­tion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen.
Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty Inter­national, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion,
3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktions­adresse: Magazin «AMNESTY», Redak­tion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 85 000 (dt.).

www.amnesty.ch            facebook.com/amnesty.schweiz              twitter.com/amnesty_schweiz            www.instagram.com/amnesty_switzerland            International: www.amnesty.org

                                                                                                                                                                                                                3
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N

                                             «I can’t breathe», ich bekom-

                                                                                       GOO
                                                                             © Tomás Ramírez Labrousse / AI
                                             me keine Luft: Diese letzten
                                             Worte von George Floyd werde
                                             ich nie mehr vergessen. Sein
                                             Tod empörte Menschen auf der
                                             ganzen Welt. Es wurde sicht-
                                             bar, wie akut Rassismus noch
               immer ist, nicht nur in den USA, sondern auch bei
               uns. Ein knappes Jahr später berichten in diesem Ma-
               gazin Menschen aus der antirassistischen Bewegung,
               was sich mit Black Lives Matter verändert hat – und
               was nicht. Bei der Arbeit an diesem Heft wurde sehr
                                                                                                              Tausende Unterstützer*innen des Gesetzes, darunter viele Amnesty-Aktivistin-
               deutlich, wie wichtig Zuhören ist, damit wir rassisti-                                         nen, feierten nach der Abstimmung im Kongress ein spontanes Strassenfest.

               sche Strukturen auf allen Ebenen überwinden können.                                            Historisches Gesetz
               Nur wenn ich zuhöre, kann ich die Erfahrungen ande-                                            ARGENTINIEN – Der argentinische Senat hat Ende Dezember der Legali-
                                                                                                              sierung von Schwangerschaftsabbrüchen zugestimmt, eine Woche
               rer Menschen verstehen und selbst aktiv werden gegen
                                                                                                              nach dem Unterhaus. Schwangerschaften können nun bis zur
               Rassismus und Diskriminierung.                                                                 14. Woche straffrei beendet werden. Schwangerschaftsabbrüche wa-
                                                                                                              ren seit Anfang der 1920er-Jahre verboten und wurden mit Gefängnis
               Unser Magazin wird sprachlich ein Stück inklusiver.                                            bestraft. Ausnahmen waren nur nach Vergewaltigungen zulässig oder
               Mehr darüber lesen Sie auf Seite 8.                                                            wenn das Leben der Mutter in Gefahr war. «Es ist ein Sieg für alle, die
                                                                                                              sich jahrelang für dieses Anliegen eingesetzt haben», sagte Mariela
               In der Rubrik «In Action» ab Seite 37 erfahren Sie,                                            Belski von Amnesty Argentinien. «Legale Schwangerschaftsabbrüche
                                                                                                              sind ein wichtiger Bestandteil der reproduktiven Rechte.»
               welche Themen bei Amnesty Schweiz aktuell im
               Vorder­
                     grund stehen und was Sie tun können: zum                                                                                          wurde 2016 von der Polizei miss-
                                                                                © Amnesty International

               Beispiel die Petition unterzeichnen, mit der wir von                                                                                    handelt, als er zufällig bei einer
                                                                                                                                                       Schlägerei vorbeikam. Seine El-
               US-Präsident Biden die Schliessung des Gefangenen­                                                                                      tern mussten danach eine Geld-
               lagers Guantánamo fordern.                                                                                                              strafe zahlen, die sie sich nicht
                                                                                                                                                       leisten konnten, und die Kosten
               Zum Schluss ein Ausblick auf die nächste Ausgabe:                                                                                       für die Reparatur des Polizeiau-
                                                                                                                                                       tos übernehmen. Nach dem
               Amnesty International wird 60 Jahre alt! Haben Sie
                                                                                                                                                       Übergriff musste José Adrián die
               eine spannende Amnesty-Geschichte zu erzählen?                                                 Endlich erhält José Adrián eine          Schule für ein Jahr unterbrechen.
                                                                                                              Entschädigung für die schwere
               Bitte kontaktieren Sie uns!                                                                    Misshandlung durch die Polizei.          Im Januar wurde José Adriáns
                                                                                                                                                       Wiedergutmachung nun offiziell
                       Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin                                        José Adrián erhält                       vom Staat genehmigt.
                                                                                                              Entschädigung
                                                                                                              MEXIKO − Erinnern Sie sich an            David gegen Goliath
               Kontakt: redaktion@amnesty.ch, Tel. 031 307 22 22                                              José Adrián, für den wir uns im          NIGERIA − Seit Jahrzehnten leiden
               Redaktion «AMNESTY», Amnesty International,                                                    Briefmarathon 2019 eingesetzt            Millionen von Menschen im Ni-
               Schweizer Sektion, Postfach, 3001 Bern                                                         hatten? Der jugendliche Maya             gerdelta unter den Folgen von

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                                                                                                                                                                             AMNESTY März 2021
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_GOOD NEWS

D NEWS
grossflächig ausgelaufenem
                                                                                                                                                 IN KÜRZE

                                                                                                                       © KEYSTONE/Marcel Bieri
Shell-Öl, das die Felder und
Fischteiche unbrauchbar ge-                                                                                                                      ÄGYPTEN – Am 3. Dezember
macht hat und die Gesundheit                                                                                                                     2020 wurden drei Vertreter
der Anwohner*innen belastet −                                                                                                                    der Menschenrechtsorganisation
und es tritt immer noch neues Öl                                                                                                                 Egyptian Initiative for Personal
aus. Vier Bauern und Milieu­                                                                                                                     Rights (EIPR), Gasser Abdel-
defensie/Friends of the Earth                                                                                                                    Razek, Karim Ennarah und
Niederlande hatten 2008 geklagt                                                                                                                  Mohamed Basheer, dank inter-
und erhielten Ende Januar 2021                                                                                                                   nationalem Druck auf Kaution
Recht: Das Berufungsgericht in                                                                                                                   freigelassen. Sie waren nach
Den Haag entschied in den meis-                                                                                                                  einem Treffen mit Diplomat*in­
ten Punkten zugunsten der Klä-                                                                                                                   nen, darunter dem Schweizer
ger: Der Konzern mit Sitz in Den                                                                                                                 Botschafter Paul Garnier, ver­
Haag habe die Sorgfaltspflicht                                                                                                                   haftet worden. Die EIPR ist eine
verletzt, und die Dorfbevölkerung     Aktion «Gleiche Liebe – gleiche Rechte!» des nationalen Komitees Ehe für alle                              der angesehensten unabhängi-
muss für den entstandenen             vom 14. Oktober 2020 in Bern.                                                                              gen Menschenrechtsorganisatio-
Schaden entschädigt werden.                                                                                                                      nen in Ägypten und war nicht
Shell muss künftig sicherstellen,     Endlich Ehe für alle                                                                                       das erste Mal Ziel staatlicher
dass alte Ölleitungen mit Senso-      SCHWEIZ − Mit den historischen Entscheiden des Nationalrats im Juni                                        Repression.
ren zur Entdeckung von Lecks          und des Ständerats Anfang Dezember 2020 wird die Ehe für alle nun
ausgerüstet werden.                   endlich auch in der Schweiz Realität – Jahre später als in vielen                                          NIGERIA – Yahaya Sharif-Aminus
                                      anderen Ländern Europas. Vor fast genau sieben Jahren hatte                                                Fall wird erneut verhandelt wer-
«Stansted 15»                         Nationalrätin Kathrin Bertschy mit einer parlamentarischen Initiative                                      den. Das Berufungsgremium an-
freigesprochen                        die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gefordert. Mögli-                                      erkannte, dass er während seines
GROSSBRITANNIEN − 15 Aktivist*in-     cherweise wird der Parlamentsentscheid noch eine Referendums­                                              gesamten Prozesses keine an-
nen hatten 2017 friedlich ver-        abstimmung zu bestehen haben; Meinungsumfragen lassen ein                                                  waltschaftliche Vertretung hatte.
sucht, die Ausschaffung von           deutliches Volksmehr für die Ehe für alle erwarten.                                                        Yahaya wurde im August 2020
60 Menschen am Flughafen                                                                                                                         wegen Blasphemie zum Tode
Stansted zu verhindern. Ur-           Verteidiger der tibetischen Sprache frei                                                                   durch den Strang verurteilt, weil
sprünglich waren sie wegen            CHINA − Tashi Wangchuk war 2016 festgenommen worden, nachdem                                               er ein Lied in Umlauf gebracht
schweren Landfriedensbruchs           er sich in einem Video der «New York Times» für die tibetische Spra-                                       hatte, das angeblich abfällige
angeklagt, vier Monate später         che eingesetzte hatte. Er hatte gefordert, dass in tibetischen Schulen                                     Kommentare gegen den Prophe-
wurde dies in «Gefährdung der         mehr in tibetischer Sprache gelehrt werde. Chinesisch ist in Tibet zu-                                     ten Mohammed enthielt.
Sicherheit auf Flugplätzen» ge-       nehmend zur vorherrschenden Unterrichtssprache geworden. Am
ändert – eine schwere terroris-       22. Mai 2018 wurde er wegen «Anstiftung zum Separatismus» zu fünf                                          JAPAN/MYANMAR – Der japanische
musbezogene Anklage, die als          Jahren Gefängnis                                                                                           Brauerei-Riese Kirin hat Ende
                                                                                                                      © privat

Höchststrafe eine lebenslange         verurteilt. Ende                                                                                           Januar ein sechs Jahre altes
Haftstrafe vorsieht. Im Februar       Januar wurde er                                                                                            Joint Venture mit einer Holding-
2019 wurden drei der Gruppe zu        nun nach Been­                                                                                             gesellschaft in Myanmar been-
Gefängnis auf Bewährung verur-        digung seiner Haft-                                                                                        det, die mit dem Militär des Lan-
teilt, die anderen 12 erhielten ge-   strafe aus dem Ge-                                                                                         des verbunden ist. Im Bericht
meinnützige Auflagen. Die «Stan-      fängnis entlassen.                                                                                         «Military Ltd.» vom September
sted 15» legten im November                                                                                                                      2020 hatte Amnesty aufgezeigt,
vergangenen Jahres Berufung           War wegen «An­                                                                                             wie internationale Unternehmen,
ein. Am 29. Januar 2021 ent-          stiftung zum Separa-                                                                                       darunter Kirin, in die Finanzie-
                                      tismus» in Haft und
schied das Berufungsgericht,                                                                                                                     rung von Myanmars Militärein-
                                      kam endlich frei: Der
dass die Urteile nichtig seien.       Tibeter Tashi Wang-                                                                                        heiten verstrickt sind.
Alle 15 wurden freigesprochen.        chuk.

                                                                                                                                                                                     5
AMNESTY März 2021
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_IM BILD

                                                                                                                                                   © Myat Thu Kyaw/NurPhoto via Getty Images
       MYANMAR – Mit lauten Schlägen auf Töpfe und Pfannen protestierten die Bürger*innen Myanmars gegen die Machtübernahme des Militärs
       vom 3. Februar. Jeden Abend um 20 Uhr, genau mit Beginn der von der Junta verhängten Ausgangssperre, ging der Lärm los. Indem die
       Menschen auf Balkonen oder am Fenster auf die Töpfe schlugen, verstiessen sie nicht gegen das Ausgehverbot. Im Internet wurde passend
       dazu mit dem Slogan «Soup not Coup» (Suppe statt Putsch) ein «einfaches Rezept für die Demokratiesuppe in drei Schritten» veröffentlicht:
       «Topf mit dem Willen des Volkes füllen, fest draufhauen, überschüssiges Militär abgiessen, fertig.» #SoupNotCoup

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                                                                                                                                   AMNESTY März 2021
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_NACHRICHTEN

                                                                                                                                    Neuer EGMR-Richter für                 war davor Oberrichter in Aarau.
                                                                                                                                    die Schweiz                            Die Wahl der neuen Schweizer
                                                                                                                                    SCHWEIZ – Andreas Zünd ist als         Richterin oder des neuen
                                                                                                                                    Richter an den Europäischen            Schweizer Richters war für den
                                                                                                                                    Gerichtshof für Menschenrechte         Sommer 2020 geplant gewesen,
                                                                                                                                    (EGMR) gewählt worden. Der             verzögerte sich aber coronabe-
                                                                                                                                    Aargauer übernimmt die Nach-           dingt. Der EGMR setzt sich aus
                                                                                                                                    folge von Helen Keller. Andreas        einer Richterin oder einem Rich-
                                                                                                                                    Zünd ist seit 17 Jahren am Bun-        ter aus jedem der 47 Mitglied-
                                                                                                                                    desgericht in Lausanne tätig und       staaten zusammen.

                                                                                                                                    Gesichtserkennungssysteme verstossen
                                                                                                                                    gegen Menschenrechte
                                                                                                                                    ÜBERWACHUNG – Gesichtserkennungssysteme verstossen gegen das
                                                                                                                                    Recht auf Privatsphäre und bedrohen die Rechte auf friedliche Ver-
                                                                               © Ajdin Kamber / shutterstock

                                                                                                                                    sammlung und freie Meinungsäusserung. Für die Entwicklung von Ge-
                                                                                                                                    sichtserkennungstechnologie werden unter anderem Millionen Bilder
                                                                                                                                    ohne die Einwilligung der Betroffenen aus Social-Media-Profilen und
                                                                                                                                    Ausweisdokumenten zusammengetragen. Amnesty International for-
                                                                                                                                    dert ein Verbot von Gesichtserkennungstechnik, wo diese zum Zweck
Hungrig, frierend, ohne Hoffnung: Migranten stehen im Lager Lipa bei Bihać
für Essen an.                                                                                                                       der Massenüberwachung durch die Polizei oder andere staatliche
                                                                                                                                    Stellen eingesetzt werden soll. Diese Technologie leistet ausserdem
Humanitäre Hilfe sofort!                                                                                                            systemischem Rassismus Vorschub, da People of Color häufig am
BOSNIEN-HERZEGOWINA – Nach wie vor harren etwa 2500 Migrant*in­                                                                     stärksten von ihrem Einsatz betroffen sind. Schwarze Menschen lau-
nen und Asylsuchende in Bosnien-Herzegowina im Freien aus; sie                                                                      fen darüber hinaus am stärksten Gefahr, von Gesichtserkennungs­
verbrachten den Winter in eisiger Kälte. Darunter sind auch 900 Men-                                                                systemen falsch identifiziert zu werden.
schen, die im behelfsmässigen Lager in Lipa in Bihać untergebracht
                                                                                                       © DedMityay / shutterstock

sind. Die bosnischen Behörden stellen ihnen keine angemessene
Unterkunft zur Verfügung, und die EU-Agenturen setzen auch weiter-
hin nur auf kurzfristige Lösungen. Menschenrechtsorganisationen –
darunter Amnesty International – rufen angesichts der akuten Notlage
zu sofortiger humanitärer Hilfe auf. Die Organisationen fordern ausser-
dem dauerhafte institutionelle Lösungen zur Unterstützung der Men-
schen auf der Durchreise.

Neue Generalsekretärin                   sie als Direktorin das Projekt Glo-
AMNESTY INTERNATIONAL – Agnès            bal Freedom of Expression an der
Callamard ist zur neuen General-         Columbia University in New York
sekretärin von Amnesty Internati-        City. Ab 2016 fungierte Agnès
onal ernannt worden. Sie wird            Callamard auch als Sonderbe-
das Amt am 29. März 2021 an-             richterstatterin für aussergericht-
treten und ihr Büro in London            liche, standrechtliche oder will-
haben. Die Französin war wäh-            kürliche Hinrichtungen im Amt
rend ihrer bisherigen Karriere im        des Hohen Kommissars der Ver-
Bereich der Menschenrechte               einten Nationen für Menschen-
und der humanitären Hilfe in ver-        rechte. Von 1995 bis 2001 hat
schiedenen NGOs, in der Wis-             sie bei Amnesty gearbeitet und
senschaft und bei den Vereinten          Menschenrechtsuntersuchungen                                                               Überwachungskameras: Gesichtsmerkmale können analysiert und mit Bildern in
Nationen tätig. Seit 2013 leitete        in mehr als 30 Ländern geleitet.                                                           Datenbanken abgeglichen werden.

                                                                                                                                                                                                                 7
AMNESTY März 2021
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
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                                                                                                                                                                 IN EIGENER SACHE

                                                                                                                          EIN NEUER STERN

                                                                                                                          Als Menschenrechtsorganisation, die sich gegen Men-
                                                                                                                          schenrechtsverletzungen, Diskriminierung und Aus-
                                                                                                                          grenzung engagiert, ist uns eine gendersensible und
                                                                                                                          diskriminierungsfreie Kommunikation ein Anliegen. So
                                                                                                                          haben wir vor Jahren mit der Verwendung des Binnen-I
                                                                                                                          eine frauengerechtere Sprache eingeführt. Diese
                                                                                                                          binäre Definition von Geschlecht schliesst allerdings
                                                                                                                          Menschen aus.

                                                                                                                          Mit dieser Ausgabe des Magazins führen wir deshalb
                                                                                                                          das Gender-Sternchen (Asterisk) ein: Es soll Platz
                                                                                                                          schaffen für alle, deren Geschlechtsidentität über
                                                                                                                          das binäre Konstrukt von Mann und Frau hinausgeht.

                                                                                                                          Diskriminierungsfreie, inklusive Sprache beschränkt
       Alaa Abdel Fattah und sein ebenfalls festgenommener Anwalt wurden im
                                                                                                                          sich aber nicht auf Geschlechter. Wir möchten in un-
       Gefängnis misshandelt.
                                                                                                                          serer Kommunika­tion alle Menschen unabhängig von
       Folter in Haft                                                                                                     beispielsweise Herkunft, Hautfarbe, Behinderung, se-
       ÄGYPTEN – Politische Gefangene wie Alaa Abdel Fattah sind im Gefäng-                                               xueller Orientierung einbeziehen.
       nis Folter und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt, auch                                                     Eine diskriminierungsfreie, non-binäre Sprache ist
       wird vielen überlebenswichtige medizinische Versorgung verweigert.                                                 ein Anspruch, den umzusetzen Zeit und Erfahrung
       Ein neuer Amnesty-Bericht zeigt auf, dass die Gefängnisbehörden                                                    braucht. Wir werden bestimmt auch künftig noch da-
       beim Schutz von Häftlingen vor Covid-19 versagt haben und Gefange-                                                 zulernen müssen und sind froh um Hinweise. Schrei-
       ne aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen regelmässig                                                  ben Sie uns: redaktion@amnesty.ch
       diskriminieren. Amnesty International erhob schwere Foltervorwürfe
       gegen die ägyptischen Sicherheitskräfte. Es liegen Beweise vor, dass
       Gefängnisbehörden bestimmte Gefangene wie Alaa Abdel Fattah ins
       Visier nehmen, um sie für ihre Kritik an der Regierung zu bestrafen.
       Alaas Mutter Laila Soueif, die wir im Magazin vom Dezember 2018
       porträtiert hatten, protestierte mit ihren Töchtern gegen die Haftbedin-
       gungen und wurde dabei verprügelt. Alaas Schwester wurde festge-
                                                                                                                       JETZT ONLINE
       nommen und vor Gericht gestellt, weil sie «fälschlicherweise» behaup-
                                                                                                                          Amnesty-Kurse – Bis Ende Mai 2021 kann Amnesty
       tet habe, Covid-19 würde sich in Gefängnissen verbreiten.                                                       Schweiz coronabedingt keine Menschenrechts-Kurse
                                                                                                                       und Workshops im Präsenzmodus durchführen. Aber es
       Zuhause gefangen                        cherchen von Amnesty zeigen                                             gibt Ersatz! Das ganze spannende Online-Angebot
       SÜDLICHES AFRIKA – Für viele            auch, dass Frauen und Mäd-                                              finden Sie auf unserer Website.
       Frauen und Mädchen in Län-              chen gesellschaftliche Ausgren-
                                                                                                                          Amnesty-Talks – Hören Sie rein in unseren Podcast auf
       dern des südlichen Afrikas wur-         zung riskieren, wenn sie die Ge-
                                                                                                                       Spotify. Jeden Monat führen wir mit Expert*innen und
       de das eigene Zuhause während           walt melden, weil sie damit aus
                                                                                                                       Betroffenen Gespräche über aktuelle Menschenrechts­
       des Corona-Lockdowns zu einem           ihrer traditionellen Geschlechter-                                      themen. So wurde in den letzten Episoden Bilanz gezogen
       Ort der Angst, Gewalt und Ver­          rolle ausbrechen. Und wenn sie                                          über die Entwicklung der Menschenrechtssituation unter
       gewaltigung. Aufgrund der Aus-          ihre Stimme dennoch erheben,                                            der Trump-Administration und darüber diskutiert, was ein
       gangssperren konnten sie nicht          werden ihre Beschwerden von                                             Burka-Verbot in der Schweiz bedeuten würde.
       vor gewalttätigen Partnern flie-        den Behörden oft nicht ernst                                            Jetzt online unter www.amnesty.ch/magazin-maerz21
       hen und Schutz suchen. Die Re-          genommen.

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                                                                                                                                                                     AMNESTY März 2021
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_BRENNPUNKT

KEIN TAG OHNE PROTEST
                                                                                                    Die Bilder der Misshandelten      Wahllokalen machten den

                                                                           © AFP via Getty Images
                                                                                                    sind kaum zu ertragen und zei-    Wunsch nach Veränderung für
                                                                                                    gen Körper mit Blutergüssen,      alle Welt sichtbar. Das Luka-
                                                                                                    Wunden, Schwellungen und          schenko-Regime holte umge-
                                                                                                    Knochenbrüchen.                   hend zum gewaltsamen Gegen-
                                                                                                                                      schlag aus. Zepkalo hatte
                                                                                                    Die bis heute andauernden         bereits kurz vor den Wahlen
                                                                                                    Proteste haben das gesamte        das Land verlassen müssen,
                                                                                                    Land, alle Gesellschaftsschich-   Tichanowskaja wurde kurz da-
                                                                                                    ten und Generationen erfasst.     nach ins Exil nach Litauen ge-
                                                                                                    Rentner*in­nen, Menschen mit      zwungen. Kolesnikowa wider-
                                                                                                    Behinderung, Studierende,         setzte sich Anfang September
                                                                                                    Ärzt*innen oder Arbeiter*innen    ihrer zwangsweisen Ausschaf-
                                                                                                    – sie alle organisieren regel­    fung und zerriss ihren Pass an
                                                                                                    mässig Demonstrationen und        der Grenze zur Ukraine. Seit-
                                                                                                    Streiks. Nach den Grosskundge-    dem ist sie als eine der politi-
                                                                                                    bungen der ersten Monate hat      schen Gefangenen inhaftiert.
In den Farben der ehemaligen weiss-
rot-weissen Flagge von Belarus pro-                                                                 sich die Form der organisierten
testieren Frauen gegen die Ergebnisse
der Präsidentschaftswahlen 2020.        M      ehr als 40 000 Tage oder
                                               110 Jahre − so lange sit-
                                        zen alle politischen Gefangenen
                                                                                                    Proteste im Winter 2020 verän-
                                                                                                    dert. Um den Sicherheitskräften
                                                                                                    Verhaftungen zu erschweren,
                                                                                                                                      Bereits einen Tag nach der Ver-
                                                                                                                                      haftung von Maria Kolesnikowa
                                                                                                                                      hatte sich Claudia Roth, die
                                        in Belarus zusammengezählt                                  treffen sich die Menschen nun     Vizepräsidentin des Deutschen
                                        schon im Gefängnis. Die Zahl                                zu Hunderten in ihren Quartie-    Bundestags, dazu bereit erklärt,
                                        der politischen Häftlinge explo-                            ren zu Protest-Spaziergängen      eine Gefangenen-Patenschaft
                                        dierte im Jahr 2020. Aktuell                                statt zu einer Grosskundgebung.   für Kolesnikowa zu überneh-
                                        liegt sie bei circa 250 politi-                             Es vergeht in Belarus kein Tag,   men. Wie sie haben bereits
                                        schen Langzeit-Gefangenen.                                  ohne dass an unzähligen Orten     über 170 Abgeordnete aus
                                                                                                    im ganzen Land gegen das Lu-      13 Ländern Patenschaften für
                                        Seit den umstrittenen und mut-                              kaschenko-Regime demonstriert     politische Gefangene in Belarus
                                        masslich gefälschten Präsident-                             wird.                             übernommen, um deren Frei-
                                        schaftswahlen im Sommer                                                                       lassung zu fordern. Unter dem
                                        2020 hat eine massive Welle                                 All das begann im vergangenen     Motto #WeStandBYyou machen
                                        der politischen Repression                                  Sommer, als Zehntausende zu       die Abgeordneten darauf auf-
                                        Belarus erfasst. Alexander Lu-                              den Wahlveranstaltungen der       merksam, das hinter jeder Ge-
                                        kaschenko will auch nach fast                               oppositionellen Präsident-        fangenenstatistik einzelne
                                        27 Jahren nicht von der Macht                               schaftskandidatin Swetlana        Schicksale stehen, einzelne
                                        lassen. Sein Sicherheitsapparat                             Tichanowskaja strömten, die       Menschen mit all ihren Hoffnun-
                                        geht erbarmungslos gegen die                                sich mit Weronika Zepkalo und     gen und Ängsten, ihren
Auf www.libereco.org finden Sie         friedlichen Proteste vor. Mehr                              Maria Kolesnikowa verbündet       Familien und Freund*innen −
mehr Informationen zu den               als 33 000 Menschen wurden                                  hatte. Diese drei Frauen wur-     und mit dem Wunsch nach
Gefangenen-Patenschaften sowie
eine Postkarten-Aktion für die          allein im Jahr 2020 willkürlich                             den quasi über Nacht zu Hoff-     Freiheit und Achtung der Men-
politischen Gefangenen.                 festgenommen. Das belarussi-                                nungsträgerinnen für ein Ende     schenrechte in einem demokra-
                                        sche Menschenrechtszentrum                                  der Diktatur und einen demo-      tischen Belarus.
Berichte zur Lage in Belarus von
Amnesty International finden Sie        Viasna hat mehr als 1000 Fälle                              kratischen Neuanfang. Die kilo-                Lars Bünger, Präsident der
auf www.amnesty.ch.                     staatlicher Folter dokumentiert.                            meterlangen Schlangen vor den           Menschenrechtsorganisation Libereco

                                                                                                                                                                                   9
AMNESTY März 2021
AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
© Reuters/Caitlin Ochs

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AMNESTY März 2021
Gegen Rassismus:
                    Es braucht uns alle
                      2020 war ein Wendepunkt: Mit der Ermordung von George Floyd
                      in den USA und dem Erstarken der Bewegung Black Lives Matter
                      rückte der Rassismus weltweit ins öffentliche Bewusstsein.
                      Welche Formen er heute annimmt und wie sich strukturelle
                      Diskriminierung auch in der Schweiz auswirkt, ist Thema dieses
                      Dossiers. Das Engagement gegen Rassismus braucht uns alle.

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DOSSIER_RASSISMUS

       «Black Lives Matter hat
       den Kampf neu belebt»
       Wie sich Rassismus verändert hat und was Black Lives Matter bewirkt, diskutieren Pap Ndiaye und
       Rokhaya Diallo mit uns. Die beiden Expert*innen der antirassistischen Bewegung sprechen über
       Ungleichheiten in der Pandemie, umstrittene Statuen und Ideen für eine gerechtere Zukunft.
       Interview: Julie Jeannet

                  E AMNESTY: Während der Kolonialzeit stützte sich der Rassis-       das Wort «Rasse» aus der Verfassung zu streichen.
                  mus auf angeblich biologische Argumente. Heute ist dieser          F Rokhaya Diallo: Die Idee von biologischen Menschenrassen
                  Rassismus durch den sogenannten kulturellen oder religiösen        wurde dekonstruiert. Es gibt nur eine menschliche Rasse.
                  Rassismus ersetzt worden. Können Sie dies erklären?                1958 kam der Begriff in die Verfassung, um eine unterschied-
                  F Pap Ndiaye: Die Verschiebung von biologischen zu kultu-          liche Behandlung auf der Grundlage vermeintlicher Rassen
                  rellen Argumenten fand Mitte des 20. Jahrhunderts statt, be-       zu verhindern. Mit der Streichung des Begriffs beseitigen wir
                  einflusst von zwei historischen Ereignissen: einerseits dem        Rassismus allerdings nicht. Ich befürchte, dass damit einfach
                  Zerfall des Nationalsozialismus, dessen auf biologischem           die Untätigkeit kaschiert wird. Ohne Massnahmen zur Be-
                  Rassismus basierende Ideologie in einem Genozid endete,            kämpfung des systemischen Rassismus bringt es nichts.
                  andererseits dem Ende der Kolonialreiche in den 1950er-Jah-
                  ren, als sich die Idee einer universellen Menschlichkeit           E In den letzten Jahren verbreiteten sich diskriminierende
                  durchgesetzt hat. Der biologische Rassismus, der im 19. und        Diskurse wieder – so durch Donald Trump, Jair Bolsonaro und
                  frühen 20. Jahrhundert so mächtig gewesen war, wich dem            weiteren Populisten.
                  heute dominanten «kulturellen» Rassismus.                          F Rokhaya Diallo: Ich interpretiere die Wahlerfolge der rech-

                  F Rokhaya Diallo: Von einem moralischen Standpunkt aus             ten Regierungen als eine Reaktion der weissen Mittelschicht
                  gesehen, wurde es immer schwieriger, sich auf eine Hierar-         auf politische und soziale Fortschritte zugunsten von Min-
                  chie angeblicher «Rassen» zu berufen. Es hat eine semanti-         derheiten. Bolsonaros Aufstieg in Brasilien folgte auf wichti-
                  sche Verschiebung stattgefunden: Der heutige Rassismus             ge politische Erfolge für Schwarze Minderheiten in den Nul-
                  beruft sich auf die Kultur und die Idee der Zivilisation. Er ist   lerjahren. In den Vereinigten Staaten kam Trump ins Amt,
                  im politischen Diskurs sehr präsent. Noch 2012 sagte Claude        nachdem ein Schwarzer Präsident, Barack Obama, acht Jahre
                  Guéant, ehemaliger französischer Innenminister, nicht alle         regiert hatte.
                  Kulturen seien gleichwertig.                                       Die Verbreitung rassistischer Sprache ist Ausdruck einer
                                                                                     Angst. Ein Teil der Bevölkerung hat jahrelang aus seiner Vor-
                  E Ist
                      kultureller Rassismus schwieriger zu bekämpfen?                herrschaft Kapital geschlagen und Minderheiten, insbeson-
                  F Pap Ndiaye: Ja, weil er akzeptabler zu sein scheint bezie-       dere Schwarze, ausgebeutet. Wenn diese nun mehr Rechte
                  hungsweise von vielen Menschen gar nicht als Rassismus             erhalten, sehen das Privilegierte als Bedrohung.
                  erkannt wird. Tatsächlich geben in Umfragen nur wenige             F Pap Ndiaye: Diese rechten Anführer kultivieren Rassismus
                  Menschen zu, rassistisch zu sein. Dieser zeitgenössische           als politische Waffe. Sie tun dies natürlich auf verschlüsselte
                  Rassismus richtet sich heute gegen verschiedene Gruppen,           Art und Weise, indem sie bestimmte Wörter verwenden. Ihre
                  insbesondere auch Muslim*innen. Seine Tarnung macht es             Art zu politisieren hat rassistische Haltungen legitimiert und
                  besonders schwierig, ihn zu bekämpfen.                             zu ihrer weltweiten Verbreitung beigetragen, insbesondere
                                                                                     über die sozialen Medien. Trotzdem ist die Situation nicht
                  E In   Frankreich hat die Nationalversammlung beschlossen,         ausweglos. Seit vier Jahren organisiert sich die Zivilgesell-

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DOSSIER_RASSISMUS
 © zvg

                                                                                                                                                                           © Brigitte Sombié
© Thomas Arrivé

                  Pap Ndiaye ist Professor an der Sciences Po in Paris. Der Experte für die     Rokhaya Diallo ist Journalistin, Autorin und Regisseurin. Sie hat
                  Geschichte von Minderheiten in den USA arbeitet derzeit an einer              sich auf Gerechtigkeitsfragen zu Rassifizierung, Religion und
                  Weltgeschichte der bürgerlichen Rechte im 20. Jahrhundert.                    Geschlecht spezialisiert und ist Initiatorin des Podcasts «Kiffe ta
                                                                                                race». Ihre Kolumnen werden regelmässig in der «Washington
                                                                                                Post» veröffentlicht.

                  schaft in den Vereinigten Staaten, um Rassismus zu bekämp-            Beispiel. Doch wie konnte der Mord an George Floyd eine so
                  fen. Die Bewegung Black Lives Matter war sehr sichtbar und            massive weltweite Protestwelle auslösen? Es gibt einen
                  hat zweifellos zu Trumps Niederlage bei den letzten Wahlen            Punkt, an dem ein einziger Wassertropfen das Fass zum
                  beigetragen.                                                          Überlaufen bringt. Der Mord an George Floyd erinnert mich
                                                                                        an Emmett Till, einen Teenager, der 1955 in Mississippi ge-
                  E 2020  war ein wichtiges Jahr, was die Mobilisierung angeht,         lyncht wurde. Er war nicht der erste, aber sein Tod war ein
                  trotz Pandemie. Black Lives Matter (BLM) wurde zu einer               entscheidender Auslöser für die Bürgerrechtsbewegung. Was
                  globalen Bewegung. Ein Durchbruch?                                    2020 neu war, ist die Diversität der Demonstrationsteilneh-
                  F Rokhaya Diallo: Für mich ist es nicht wirklich ein Durch-           menden: Es gab eine grosse Beteiligung der weissen Bevölke-
                  bruch. Die Bewegung entstand 2014 nach der Ermordung                  rung. Das war ein Wendepunkt.
                  von Trayvon Martin, dessen Mörder freigesprochen wurde.
                  BLM hat gezeigt, wie gewalttätig die gesellschaftliche Realität       E Die Proteste veranlassten nicht nur die Amerikaner*innen,
                  für Schwarze Menschen ist. Die Welt wurde zu spät auf die             sich mit Polizeigewalt und institutionellem Rassismus
                  Bewegung aufmerksam. Seit Jahren prangern Menschen Po-                auseinanderzusetzen…
                  lizeigewalt an, ohne dass man ihnen glaubt...                         F Pap Ndiaye: Die Demonstrationen weltweit unterstützen

                  F Pap Ndiaye: BLM ist gleichzeitig eine Fortsetzung und ein           nicht nur die amerikanische Bewegung, sondern prangern
                  Wendepunkt. Seit mehr als einem Jahrhundert protestieren              auch den lokalen Rassismus an. Obwohl sich die Umstände
                  Schwarze in den USA gegen die Gewalt und den Rassismus                unterscheiden, ist der Rassismus von Ordnungskräften über-
                  der Polizei. Es ist eine lange Geschichte, die von wichtigen          all präsent. In Genf haben an der Einwohnerzahl gemessen
                  Bewegungen geprägt wurde. Zum Beispiel von den Black                  die grössten Demonstrationen Europas stattgefunden. Diese
                  Panthers in den 1960er-Jahren, die sich organisierten, um             starke Protestbewegung richtet sich gegen eine ganze Band-
                  die rassistische Polizei einzuschüchtern. BLM ist das jüngste         breite diskriminierender Verhaltensweisen in der Gesell-

                                                                                                                                                                      13
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© Amnesty International / Jarek Godlewski
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                                                                                                                                 Einige Begriffe und ihre Schreibweise, die in diesem Dossier
                                                                                                                                 verwendet werden:
                                                                                                                                   Schwarz: Schwarz ist eine politisch gewählte Selbstbe-
                                                                                                                                 zeichnung, die eine von Rassismus betroffene gesellschaftli-
                                                                                                                                 che Position beschreibt. Es ist somit kein Adjektiv und keine
                                                                                                                                 Hautfarbe und wird gross geschrieben.
                                                                                                                                   weiss: Wird kursiv geschrieben, um die Konstruktion des
                                                                                                                                 Begriffs hervorzuheben. Er bezeichnet keine biologische
                                                                                                                                 Eigenschaft, sondern eine politische und soziale Position,
                                                                                                                                 die mit Privilegien und Dominanz verbunden ist.
     «Black Lives Matter ist gleichzeitig eine Fortsetzung und ein Wendepunkt.»                                                    Person of Color, People of Color (PoC): Menschen, die von
     Demonstration in Berlin, Juni 2020.                                                                                         Rassismus betroffen sind, bezeichnen sich selbst häufig als
                                                                                                                                 Person of Color (PoC). Im Deutschen gibt es derzeit keine
                                                                                                                                 Übersetzung für den Begriff PoC.
                  schaft. So werden auch die Bereiche Kunst und Kultur infra-                                                      Kultureller Rassismus versucht, eine Ungleichheit und
                  ge gestellt. Wir sehen heute eine allumfassende Bewegung,                                                      Ungleichbehandlung mit angeblichen Unterschieden zwi-
                  die vielleicht einen historischen Wandel markiert.                                                             schen den »Kulturen« zu begründen.
                                                                                                                                   Bei institutionellem oder auch strukturellem Rassismus
                  E Dank  BLM überdenken bestimmte Länder, darunter die                                                          geht es um Rassismus in den Strukturen, Institutionen, Nor-
                  Schweiz, ihre koloniale Vergangenheit. Was sollte man mit                                                      men und Entscheidungsabläufen der Gesellschaft – unab-
                  Denkmälern für Persönlichkeiten tun, die am Sklavenhandel                                                      hängig davon, ob er beabsichtigt ist oder nicht.
                  beteiligt waren?                                                                                                 Rassifizierung: Bezeichnet einen Prozess und eine Struk-
                  F Rokhaya Diallo: Das Entfernen einer Statue löscht die Per-                                                   tur, in denen Menschen nach rassistischen Merkmalen kate-
                  son nicht aus der Geschichte. Aber wir können die Statuen                                                      gorisiert, stereotypisiert und hierarchisiert werden.
                  sehr wohl in Museen verbannen. Nach dem Zweiten Welt-                                                          Weitere Informationen: amnesty.ch/rassismus
                  krieg wurden alle Statuen von Philippe Pétain entfernt, der                                                    Quellen: neue deutsche medienmacher*innen, Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismus-
                  im Ersten Weltkrieg als Held gegolten hatte, im Zweiten aber                                                   arbeit e. V. (IDA), bla.sh.netzwerk, diversity-arts-culture.berlin et al.

                  am Holocaust beteiligt war. Warum nicht auch die Statuen
                  von Menschen, die sich am Sklavenhandel oder in Kolonial-
                  kriegen beteiligten? Sie verkörpern die Unterdrückung der                                                   rung Frankreichs, mit überdurchschnittlich vielen nicht-weis-
                  Vorfahren eines wichtigen Teils der heutigen Bevölkerung.                                                   sen Personen. Es sind Menschen, die während der Krise nie
                  Anscheinend wird als unwichtig betrachtet, wie diese natio-                                                 aufgehört haben zu arbeiten, sich nicht isolieren konnten und
                  nalen Symbole auf einen Teil der Bevölkerung wirken.                                                        keinen Zugang zu guten Spitälern haben. Es müssen Mass-
                  F Pap Ndiaye: Der Status quo ist aus meiner Sicht nicht mehr                                                nahmen ergriffen werden, die den Zugang zur Gesundheits-
                  haltbar. Es gibt jedoch viele Alternativen, die sich nicht dar-                                             versorgung für die ärmere Bevölkerung sicherstellen. Krisen
                  auf beschränken, die Statue stehen zu lassen oder zu beseiti-                                               müssen von den Institutionen antizipiert werden, um Un-
                  gen. Eine Möglichkeit ist, an einer Tafel inhaltliche Erklärun-                                             gleichheiten auszugleichen.
                  gen anzubringen.
                                                                                                                              E Wie  soll der Einsatz gegen Rassismus im Jahr 2021
                  E Die Covid-Pandemie hat die Ungleichheiten aufgezeigt, die                                                 weitergehen?
                  es in unserer Gesellschaft gibt. Was können wir aus dieser                                                  F Pap Ndiaye: Die BLM-Bewegung war ein Aufbruch. Natür-
                  Krise lernen?                                                                                               lich können nicht ständig Demonstrationen stattfinden, aber
                  F Rokhaya Diallo: Die Krise zeigt uns, wie wichtig es ist, sozio-                                           das Mobilisierungspotenzial bleibt. Die Organisationen müs-
                  ökonomische Kriterien beim Umgang mit einer Pandemie zu                                                     sen einen Weg finden, dieses Potenzial zu nutzen, um den
                  berücksichtigen. Wir sehen das zum Beispiel im Departement                                                  antirassistischen Kampf aufrechtzuerhalten. Jene, die nichts
                  Seine-Saint-Denis in Frankreich, das eine erhöhte Sterblich-                                                ändern wollen, werden versuchen, sich national abzugrenzen.
                  keitsrate hat. Hier lebt die jüngste, aber auch ärmste Bevölke-                                             Aber Rassismus kennt keine Ländergrenzen, er ist überall. 

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                                                                                                                                                                                                              AMNESTY März 2021
DOSSIER_RASSISMUS

Möchten Sie sich weiter mit Rassismus und
Diskriminierung beschäftigen, sich mehr Wissen                             Weiterlesen
aneignen und vielleicht auch Ihren eigenen
Vorurteilen und Handlungen nachspüren? Hier
ein paar empfehlenswerte Bücher für Ihre Reise.                            Warum?
                                                                           Anne Otto fragt nach                      Anne Otto
                                                                           den psychologischen                       Woher kommt der Hass?
                                                                           Mechanismen, die                          Die psychologischen
                                              Wir müssen reden:            dazu beitragen, dass
                                                                                                                     Ursachen von Rechtsruck
                                              Rassismus im Alltag          Menschen nach
                                                                                                                     und Rassismus
                    Alice Hasters                                                                                    Guetersloher Verlagshaus, 2019
                    Was weiße Menschen   «Selten fühlen sich               Autoritäten verlangen                     270 Seiten
                    nicht über Rassismus weisse Menschen so                und zu rechtsextre-
                    hören wollen, aber   angegriffen, wie wenn             men und rassistischen Einstellungen gelangen. In ihrem Buch geht
                    wissen sollten
                                         man sie oder ihre                 es zwar nicht zentral um Rassismus, und der Fokus liegt klar auf
                    hanserblau-Verlag, 2019
                    208 Seiten           Handlungen rassistisch            dem Erstarken rechter Bewegungen in Deutschland. Die leicht
                                         nennt»: Alice Hasters             verständlich geschriebenen Artikel der Psychologin helfen aber zu
hält in ihrem Buch Weissen den Spiegel vor, indem sie den                  verstehen, was Menschen auch hierzulande dazu führen kann,
Alltagsrassismus aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen aufzeigt               rechten und rechtsextremistischen Bewegungen zu folgen. Mit
und auch über den institutionalisierten und strukturellen                  Tipps, wie man rechter Rede entgegenhalten und sich selbst zu
Rassismus spricht. Dabei wird deutlich: Rassismus ist nicht nur ein        verschiedenen Themen befragen kann.
Problem am rechten Rand der Gesellschaft.

                                                                                                                  Gegen Dogmatismus,
Nicht rassistisch sein                                                                                            für Vielstimmigkeit
Das Buch begleitet uns bei der Auseinandersetzung mit Rassismus                                                    Woher kommt es, dieses
und tut dies ohne erhobenen Zeigefinger. Vielmehr werden die                                                       Denken, das Zweifel nur an
Leser*innen auf eine rassismuskritische Reise mitgenommen, in              Carolin Emcke                           den Positionen der anderen,
deren Verlauf sie nicht nur konkretes Wissen über die Geschichte           Gegen den Hass
                                                                                                                   aber nicht an den eigenen
des Rassismus und dessen Wirkungsweisen erhalten, sondern                  Fischer-Verlag, 2019
                                                                           272 Seiten                              zulässt? Wie können
auch Unterstützung                                                                                                 Menschen sich so sicher
in der emotionalen                                                         sein, dass sie keine Schattierungen mehr erkennen? Dem Dogmatis-
Auseinandersetzung mit                                                     mus, der zu Hass führen kann, setzt die Autorin Carolin Emcke die
dem Thema. Die Autorin                                                     Vielstimmigkeit, das Abweichende entgegen – denn es ist genau die
unterhält mit «Tupod-                         Tupoka Ogette
                                              exit Racism – rassismus­
                                                                           Differenzierung, der genaue Blick, was Dogmatismus nicht aushält.
cast» auch einen Podcast.
                                                  kritisch denken lernen
Podcast:                                          Unrast-Verlag, 2020
tupodcast.podigee.io                              136 Seiten
                                                                            Weiterlernen
                                                                            Weitere Informationen, Literatur und Texte finden Sie auch im
                                                                            Themenportal auf unserer Webseite: amnesty.ch/rassismus
Tangram                                                                     Lesen Sie unter anderem Tipps dazu, was Sie tun können, wenn Sie
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) publiziert              einen rassistischen Angriff beobachten.
einmal im Jahr das Bulletin TANGRAM, das über Untersuchungen                Ausserdem publizieren wir Kursangebote und Workshops zu Dis-
und Analysen des Rassismus in der Schweiz berichtet. Jede                   kriminierung, Zivilcourage und weiteren Themen für Erwachsene
Nummer befasst sich mit einem spezifischen Thema.                           und für Schulen aus unserer Bildungsabteilung:
                                                                            www.amnesty.ch/bildung
Kostenlos erhältlich auf der Webseite des EKR: www.ekr.admin.ch

                                                                                                                                                      15
AMNESTY März 2021
© Aline Bovard Rudaz
DOSSIER_RASSISMUS

                                                                                                        Hört uns zu
                                                                                                        Vier engagierte Menschen schildern ihre Sicht
                                                                                                        auf die Rassismusdebatte in der Schweiz
                                                                                                        und sagen, was sie sich von der Gesellschaft
                                                                                                         wünschen.

                                                                                                  Licia Chery
                                                                                                  wurde vor 35 Jahren als Tochter haitianischer Eltern in
                                                                                                  Genf geboren. Sie ist Sängerin, Autorin, Marketing- und
                                                                                                  Kommunikationsassistentin und seit August 2020
                                                                                                  Moderatorin der Spielshow «C’est ma question» auf RTS 1.

       «Nutzt eure Privilegien, um uns eine                                                                              ben wird, zu verstehen. «Aber Sie waren doch kei-
                                                                                                                         ne Sklavin», wurde mir schon gesagt. Diese Men-
       Stimme zu geben»                                                                                                  schen sehen nicht, wie «Schwarz» überall auf der
                                                                                                                         Welt wahrgenommen wird und welche Auswir-
                                                                                                                         kungen diese Wahrnehmung hat. Einmal erzählte
       «Heute ist es in Genf selten, dass jemand an der Schule die einzige                            ich einem Psychiater, was mein Vater mir sagte, als ich jünger war:
       nicht-weisse Person ist. Als ich so alt war wie mein Sohn heute, war                           «Du bist eine Frau und du bist Schwarz in einer Welt des weissen
       das aber noch der Fall.                                                                        Mannes. Bei allem, was du tust, musst du doppelt so hart kämpfen.»
          Rassismus bedeutet, auf den ersten Blick gehasst zu werden,                                 Er antwortete: «Kein sehr netter Papa.»
       ohne dass dich das Gegenüber kennt. In meinem Buch «Tichéri a les                                 Wenn ich sage, dass Rassismus existiert, konfrontiere ich weisse
       cheveux crépus» («Tichéri hat krauses Haar») geht es um diese klei-                            Menschen mit einer Realität, die sie nicht sehen wollen. Es geht um
       nen Angriffe, die in ihrer Summe im Alltag so schwer wiegen. Das                               das Unbewusste: Auch wenn Sie keine rassistischen Absichten ha-
       Buch richtet sich an Eltern und Kinder. Letztere verstehen Dinge                               ben, können Ihre Worte rassistisch sein. Die Bewegung Black Lives
       sehr schnell, wenn man sie ihnen erklärt – im Gegensatz zu man-                                Matter hat einige Tatsachen in den Vordergrund gerückt. Wie bei
       chen Erwachsenen.                                                                              #MeToo wagen es nun manche Betroffene, sich zu äussern. Ande-
          Bewusstsein entsteht durch Bildung und Repräsentation: Im                                   ren wird das Ausmass des Problems bewusst. Und schliesslich gibt
       Sommer 2020 habe ich als erste Schwarze Moderatorin beim West-                                 es diejenigen, die schimpfen, dass alles übertrieben sei und «man ja
       schweizer Fernsehsender RTS angefangen. Das hätte ich mir als                                  nichts mehr sagen darf».
       Kind nie vorstellen können. Viele Kommentare auf meiner Face-                                     Solange manche Weisse verkennen, dass der Rassismus nicht von
       book-Seite sind nicht eindeutig rassistisch, es wurde mir aber vorge-                          uns, sondern von ihnen ausgeht, wird sich nichts ändern. Unterneh-
       worfen, «zu laut zu lachen», zu laut zu sein. Sie dürfen nicht verges-                         men, Institutionen, Regierungen betonen regelmässig, dass wir Ras-
       sen, dass für manche Menschen allein meine Hautfarbe eine                                      sismus bekämpfen müssen. Schön, aber dann stellt Leute ein, die die
       Provokation ist. Glücklicherweise erhalte ich auch viele positive                              Vielfalt repräsentieren! Wir wollen Institutionen mit Frauen, Trans-
       Nachrichten, darunter von Müttern, die mir sagen, dass es ihre Kin-                            menschen, People of Color, Menschen mit Behinderung – kurz, ein
       der dank mir wagen, Träume zu haben.                                                           Abbild der Gesellschaft. Jenen, die sich mit uns verbünden wollen,
          In der Schweiz ist es immer noch schwierig, über Rassismus zu                               gebe ich folgenden Rat: Fragt uns, was ihr tun könnt. Äussert nicht
       reden. Wir hören regelmässig, dass «wir hier ja nicht in den USA                               immer eure Meinung, hört einfach zu! Und statt zu bestreiten, dass
       seien». Es fällt den Menschen schwer, die Themen Herkunft und                                  es weisse Privilegien gibt, nutzt ihr sie besser, um unserer Stimme
       kollektives Denken, das von Generation zu Generation weitergege-                               Gehör zu verschaffen.»                  Protokolliert von Emilie Mathys

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                                                                                                                                                               AMNESTY März 2021
© Eleni Kougionis
                                                                                                                         DOSSIER_RASSISMUS

Denis Sorie
ist 23 Jahre alt, studiert Kommunikations­
wissenschaften in Freiburg i. Ue. und arbeitet
nebenbei in einer Kommunikationsagentur. Er ist
Mitglied der Unigruppe Fribourg von Amnesty
International und im Vorstand der Operation
Libero Nordwestschweiz.

«Das Problem anerkennen»                                               bei Amnesty International und mit der Operation Libero für eine
                                                                       liberale und gerechte Gesellschaft ein, für Menschenrechte, Frei-
                                                                       heit, Vielfalt. Das schliesst für mich ein, dass alle Menschen gleich
«Während der Black-Lives-Matter-Demonstrationen habe ich               an Würde und Rechten sind. Ich habe mich aber bewusst dagegen
selbst viel gelernt und mir Gedanken gemacht über Vorfälle in der      entschieden, mich ausschliesslich gegen Rassismus zu engagieren,
Vergangenheit. Zum Beispiel darüber, dass ich innerhalb von zwei       denn ich möchte, dass People of Color auch bei Themen repräsen-
Wochen zwei Mal von der Polizei kontrolliert wurde.                    tiert sind, die nichts mit der Hautfarbe zu tun haben.
   Ich bin ziemlich weiss sozialisiert worden, ich bin in Basel mit        Manche werfen Black Lives Matter vor, dass die Bewegung ja
einer weissen Mutter aufgewachsen. Immer wieder werde ich auf          gerade die Hautfarbe betone; so werde die Gesellschaft weiter ge-
Hochdeutsch oder sogar Englisch angesprochen. Verletzend finde         spalten. Meine Meinung dazu ist: Um die Probleme mit dem Ras-
ich, wenn die Gesprächspartner*innen auf Hochdeutsch bezie-            sismus aufzuzeigen, ist es notwendig, auf die Hautfarbe hinzu­
hungsweise Englisch weiterfahren, selbst wenn ich auf Schweizer-       weisen. Idealerweise würde Hautfarbe oder Herkunft keine Rolle
deutsch antworte. Ich weiss, die meisten meinen es ja nicht böse.      spielen, doch derzeit spielen sie noch eine Rolle. Ein Beispiel: Seit
Aber wenn das dauernd geschieht, nervt es trotzdem. Ähnlich ist es     2014 habe ich neben dem Schweizer Pass auch jenen von Sierra
mit der Frage: «Woher kommst du?» Weil ich diese Frage so oft          Leone, wo mein Vater herkommt. Bei Bewerbungen überlege ich
höre, gibt sie mir mittlerweile das Gefühl, dass ich eben nicht ganz   aber sehr genau, ob ich dieses Bürger*innenrecht erwähnen soll
dazugehöre in der Schweiz. Dabei spielt der Kontext eine grosse        oder ob es ein Nachteil sein könnte. Und ich glaube, ich bin bei
Rolle. Wenn «Woher kommst du?» die zweite Frage ist bei einer          weitem nicht der Einzige, der sich solche Sorgen macht.
neuen Begegnung und die Antwort «Aus Basel» nicht ausreicht,               Von meinen weissen Mitmenschen wünsche ich mir, dass sie zu-
dann finde ich es verletzend. Fragt mich eine gute Freundin, ist es    hören und versuchen, das Problem anzuerkennen, auch wenn sie
natürlich anders.                                                      es nicht auf den ersten Blick sehen. Dass manche sich fragen, ob es
   Mir ist Sprache generell sehr wichtig, und ich glaube, dass ein     überhaupt Rassismus gebe in der Schweiz, ist für mich ziemlich
sorgfältiger Umgang mit der Sprache etwas verändern kann. Dane-        unverständlich. Wertschätzung für die Erfahrung von anderen
ben braucht es politische und gesellschaftliche Veränderungen.         wäre ein erster Schritt gegen Rassismus.»
Wichtig finde ich Aufklärungsarbeit in der Bildung. Ich setze mich                                      Protokolliert von Carole Scheidegger

                                                                                                                                                17
AMNESTY März 2021
© Aline Bovard Rudaz
DOSSIER_RASSISMUS

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                                                                                                                           ist Dozentin am Institut für Politikwissenschaft
                                                                                                                           der Universität Genf und Mitglied des Kollektivs
                                                                                                                           Faites des Vagues und von ERIF (European Race
                                                                                                                           and Imagery Foundation). Die 37-Jährige forscht
                                                                                                                           zu den Erfahrungen von Minderheitengruppen
                                                                                                                           in der Demokratie.

       «Mit der Vergangenheit auseinandersetzen»                                                                           Rassismus zu bekämpfen
                                                                                                                        bedeutet, sich mit der eigenen
                                                                                                                        Vergangenheit auseinander-
       Es war im Herbst 2012 auf dem Weg zu meinem Büro an der Uni-            zusetzen. Die Schweiz ist immer noch stark von einer «kolonialen
       versität Genf, als ich diesen Plakaten begegnete. Gerade hatte ich      Amnesie» betroffen. Wir feiern Henry Dunant, der nicht nur das
       meine Dissertation darüber beendet, wie Worte und Bilder im             Rote Kreuz gegründet hat, sondern auch am Ursprung einer koloni-
       öffentlichen Raum Rassismus reproduzieren. Die Plakate zeigten          alen Gesellschaft stand. Wir vergessen, dass es hierzulande bis Mitte
       die SVP-Politiker Oskar Freysinger und Christoph Blocher, die im        des 20. Jahrhunderts «Menschenzoos» gab. Diese Vergangenheit
       Rahmen einer Kampagne von Amnesty Schweiz gegen die                     klingt bis heute nach, sie ist die Quelle des heutigen Rassismus.
       Verschärfung des Asylrechts in Migranten «verwandelt» worden               Ich wuchs in einer politisierten Familie auf, die mir eine Kultur
       waren.                                                                  der Befreiung vermittelte. Vor allem durch meinen Vater wurden
          Ich stimme mit den politischen Zielen von Amnesty überein,           mir antikoloniale haitianische Geschichten weitergegeben. Der
       aber ich war schockiert, dass eine rassistische Tradition, das Black-   Kampf gegen Sklaverei und Kolonialismus ist aus meiner Sicht we-
       facing, in dieser Kampagne eingesetzt wurde. Schockiert darüber,        sentlich für das Verständnis von Menschenrechten. Schon im
       dass provokatives Marketing betrieben wurde auf Kosten derjeni-         Gymnasium hat mich beschäftigt, dass wir nur französische Litera-
       gen, deren äusserliche Merkmale instrumentalisiert werden. Am-          tur lasen, nicht aber frankophone Literatur. In dieser engen, euro-
       nesty tat sich schwer damit, die Kritik anzunehmen, die ich zusam-      zentrischen Sichtweise konnte ich mich nicht wiederfinden. Sie
       men mit einer Gruppe von Forscher*innen an die Organisation             entsprach nicht meinem Bild der Welt, wie ich es von meinen ein-
       gerichtet hatte. In einem kürzlich erschienenen Artikel bin ich auf     gewanderten Eltern und meinen Freund*innen im multikulturel-
       dieses Thema zurückgekommen: Für progressive Organisationen             len Genf geerbt hatte.
       und Akteur*innen ist es schwierig zuzugeben, dass sie selbst auch          Ich habe mich im letzten Sommer aktiv an der Black-Lives-Mat-
       Rassismus produzieren können.                                           ter-Bewegung beteiligt. Meine Brüder, Cousins und Cousinen in
          Antirassismus kann sich nicht mit einfachen Aussagen wie «Ras-       Europa und in den Vereinigten Staaten leben täglich mit Racial
       sismus ist falsch» oder der Verabschiedung einer Charta begnügen.       Profiling. Das Engagement für Antirassismus ist ein wichtiger Teil
       Der humanitäre Sektor reproduziert weiterhin eine visuelle Kultur,      meines Lebens. Dank Black Lives Matter finde ich wieder eine Ver-
       die eine Grenze zwischen dem «Wir» und «den anderen» schafft,           bindung zur Schönheit des Schwarzen Befreiungskampfes. Die
       denen man «helfen» will. Organisationen wie Amnesty würde es gut        Bewegung erinnert mich daran, dass wir lebendig sind.
       anstehen, Rassismus zuzugeben, sich selbst zu hinterfragen und             
       sich dem Unbehagen zu stellen.                                                                                                      Protokolliert von Emilie Mathys

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© Sabine Rock
                                                                                                                                 DOSSIER_RASSISMUS

                          Rispa Stephen
                          ist in Uster aufgewachsen und wohnt heute
                          in Winterthur. Sie hat sozio­kulturelle Animation
                          studiert und ist jetzt in einem Gemeinschafts­
                          zentrum in Zürich tätig. Daneben ist die 38-Jährige
                          im Vorstand des Frauenhauses Winterthur und
                          Mitorganisatorin des Black Film Festival Zurich,
                          das voraussichtlich vom 28. bis 30. Mai im Zürcher
                          Kino Houdini stattfinden wird.
                          www.blackfilmfestivalzurich.com

«Es braucht eine öffentliche                                                        Wir alle haben Privilegien, die einen mehr als die anderen. Der
                                                                                Unterschied bei der weissen Mehrheitsgesellschaft ist aber: Sie

und politische Debatte»                                                         muss sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen, sie darf.
                                                                                    Diese Privilegien bringen mit sich, dass man sich keine Sor-
                                                                                gen macht, wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, oder dass man bei
«Immer wieder höre ich, dass es in der Schweiz keinen Rassismus                 der Wohnungs- und Arbeitssuche nicht wegen des Aussehens
gebe, oder er wird einzig mit Rechtsextremismus in Verbindung                   diskriminiert wird. Black Lives Matter hat auf manches ein Licht
gebracht. Sage ich, dass wir in einem rassistischen und diskrimi-               geworfen, wie auch auf die vielen Leute, die sich schon davor mit
nierenden System leben und davon geprägt sind, dann wird rasch                  verschiedenen Projekten gegen Rassismus eingesetzt haben.
empfindlich darauf reagiert. Denn wer möchte schon gern als                         Mit zwei anderen Frauen habe ich 2019 das Black Film Festival
Rassist*in bezeichnet werden? Aber darum geht es ja nicht, wir soll-            Zurich gegründet. Wir wollen damit Schwarzen Filmemacher*innen
ten von diesem Opfer-Täter*innen-Schema wegkommen. Die                          eine Plattform geben und den Zugang zum Black Cinema ermögli-
Schweiz muss endlich einen offenen Diskurs über strukturellen                   chen. Nach wie vor spielen People of Color Rollen, die ein stereo­
und institutionellen Rassismus, über Diskriminierung und über                   types, kolonialistisches oder diskriminierendes Bild zeigen. Das
die Rolle des Landes in der Vergangenheit führen. Die Stichwörter               schafft keinen Wert für People of Color, sondern zementiert prob-
sind Kolonialismus, Sklavenhandel, Missionierung. Ich bin über-                 lematische Bilder weiter. Wir möchten ein anderes Filmschaffen
zeugt, dass dies zur Dekonstruktion von Rassismus und Diskrimi-                 mit differenzierteren Rollen zeigen. 2020 musste das Festival
nierung in der Schweiz beitragen würde.                                         wegen Corona leider ausfallen. Dieses Jahr kann es vom 28. bis
   Rassismus ist oft sehr subtil, was es umso schwieriger macht,                30. Mai hoffentlich wieder stattfinden.
darüber zu reden und ihn anzuprangern. Im Zürcher Ausgeh-                           Von der Mehrheitsgesellschaft wünsche ich mir, dass sie sich
Quartier Kreis 4 wurde ich auch schon gefragt, was ich denn koste.              stärker bemüht, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, und ver-
In der Öffentlichkeit wurde ich mal mit «huere Schoggichopf» und                sucht, unsere Perspektive einzunehmen. Gesellschaftlich und poli-
«Geh doch wieder dorthin, wo du herkommst» beschimpft. Als ich                  tisch wünsche ich mir einen breiteren Diskurs zu strukturellem
die Person zur Rede stellte, kassierte ich einen Ellbogenhieb; nie-             und institutionellem Rassismus sowie zu Diskriminierung, aber
mand von den Umstehenden reagierte. Als Kind wurde ich mit                      auch zur Rolle der Schweiz in der Vergangenheit. Die Schweiz ist
dem M-Wort beschimpft. Ich kann nicht nachvollziehen, wieso                     und war nie neutral!»
manche Leute immer noch darauf bestehen, diese Süssigkeit so zu                                                 Protokolliert von Carole Scheidegger
nennen. Bei vielen People of Color ruft dieses Wort nur verletzende
Erinnerungen hervor.

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AMNESTY März 2021
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