AMNESTY - RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
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AMNESTY Nr. 105 März 2021 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE RASSISMUS: ZUHÖREN, ERKENNEN, HANDELN IN ACTION KENIA 50 JAHRE FRAUENSTIMMRECHT Guantánamo schliessen! Verschwundene Stimmen Eine moralische Debatte
Die Generalversammlung findet am Abend des 10. Mai 2021 virtuell statt. Anmeldung: bis am 31. März 2021 unter amnesty.ch/gv Motionen, Postulate und Resolutionen bis am 15. März 2021 an gv@amnesty.ch Wir laden herzlich zur virtuellen Generalversammlung 2021 ein! Sie bietet die ideale Gelegenheit, mitzubestimmen und die Zukunft von Amnesty International mitzugestalten. Stimmberechtigt sind alle, die bis spätestens 10. Januar 2021 Mitglied von Amnesty Schweiz geworden sind. Sie können den Kurs unserer Sektion auch mit einer Motion, einem Postulat oder einer Resolution mitbestimmen. Alle Informationen zu den Bedingungen finden Sie unter amnesty.ch/gv. Im Vorfeld zur GV werden wir an Online-Veranstaltungen gemeinsam über die eingereichten Motio- nen und Postulate diskutieren. Für alle unter 26 Jahren findet das virtuelle Youth Meeting am Mittwochabend, 5. Mai 2021, statt. Engagier- te junge Menschen haben dort die Möglichkeit, sich über Amnesty auszutauschen und die GV gemeinsam vorzubereiten. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung! EINLADUNG GENERALVERSAMMLUNG 2021 AMNESTY-BOUTIQUE WEITERE NACHHALTIGE UND FAIRE PRODUKTE Unsere Produkte werden nachhaltig, AUF SHOP.AMNESTY.CH ethisch und ökologisch korrekt hergestellt. NECESSAIRE Aus alten, ungebrauchten Postsäcken SIGG-FLASCHE IN AQUABLAU hergestellt. Handgefertigt in der Schweiz. Klassische Sigg-Flasche aus Aluminium Gross (22 x 15 x 8 cm): (0,6 Liter). Aquablaue Mattlackierung mit Art. 2200.084.G / Fr. 55.– griffiger Oberfläche. Klein (19 x 12 x 6 cm): Art. 2300.021.A / Fr. 25.– Art. 2200.084.K / Fr. 47.– Andere Farben unter shop.amnesty.ch erhältlich. ICH BESTELLE FOLGENDE ARTIKEL Anzahl Artikelbezeichnung Grösse Art.-Nr. Preis Name: Strasse: Bestellungen an: Ort: E-Mail: Amnesty International, Postfach, 3001 Bern Tel.: Unterschrift: oder auf Mitgliedernummer/Kundennummer (wenn bekannt): shop.amnesty.ch
Titelbild INHALT_MÄRZ 2021 Schild mit dem Text «Genug mit dem Rassismus» während des Black Womxn's Empowerment March in New York, 12. Juni 2020. © Ira L. Black/Corbis via Getty Images AKTUELL THEMA 4 Good News 22 Flüchtlinge 6 Aktuell im Bild Neuer Weg nach Europa 7 Nachrichten 9 Brennpunkt Kein Tag ohne Protest Der Weg über den Atlantik DOSSIER ist der gefährlichste. Rassismus: Zuhören, erkennen, handeln 26 Kenia Verdächtigt, verschwunden, verscharrt 28 Schweiz «Als ob es einen richtigen Zeitpunkt geben würde» KULTUR 30 Buch «Die Hoffnungslosigkeit zu Hause 10 Gegen Rassismus: Es braucht uns alle war schlimmer» 32 Film 12 «Black Lives Matter hat den Kampf neu belebt» Schmerzvolle Erinnerungen Zwei Expert*innen über veränderte Formen des Rassismus, die aktuelle Bewegung und Forderungen für mehr 33 Buch Gerechtigkeit. Der Lachs, der Wald, der Tod 34 Film 15 Weiterlesen Europas Evangelium Literatur und mehr zum Thema Rassismus. 16 Hört uns zu Vier engagierte Menschen erzählen, wie sie Rassismus CARTE BLANCHE in der Schweiz erleben und was sie sich wünschen. 35 Petra Volpe 20 Ich, wir und die anderen Von Mensch zu Mensch Die Sozialpsychologie hat Antworten auf die Frage, wie Rassismus in unseren Köpfen entsteht und welche Formen er heute annimmt. IN ACTION 37 Das Jahr der Frauenrechte Den Appell weitertragen Ausserdem: Guantánamo schliessen – Appell an Präsident Joe Biden. Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 105, März 2021. Redaktion: Carole Scheidegger (cas.), Manuela Reimann Graf (mre). Mitarbeiter*innen dieser Nummer: Boris Bögli, Lars Bünger, Fabienne Engler, Chiara Horber, Jonathan Hoppler, Cyrielle Huguenot, Julie Jeannet, Jürgen Kiontke, Emilie Mathys, Bettina Rühl, Jojo Schulmeister, Sebastian Sele, Petra Volpe, Pascal Wagner-Egger. Korrek- torat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffabfällen hergestellt. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 23. April 2021. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 85 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N «I can’t breathe», ich bekom- GOO © Tomás Ramírez Labrousse / AI me keine Luft: Diese letzten Worte von George Floyd werde ich nie mehr vergessen. Sein Tod empörte Menschen auf der ganzen Welt. Es wurde sicht- bar, wie akut Rassismus noch immer ist, nicht nur in den USA, sondern auch bei uns. Ein knappes Jahr später berichten in diesem Ma- gazin Menschen aus der antirassistischen Bewegung, was sich mit Black Lives Matter verändert hat – und was nicht. Bei der Arbeit an diesem Heft wurde sehr Tausende Unterstützer*innen des Gesetzes, darunter viele Amnesty-Aktivistin- deutlich, wie wichtig Zuhören ist, damit wir rassisti- nen, feierten nach der Abstimmung im Kongress ein spontanes Strassenfest. sche Strukturen auf allen Ebenen überwinden können. Historisches Gesetz Nur wenn ich zuhöre, kann ich die Erfahrungen ande- ARGENTINIEN – Der argentinische Senat hat Ende Dezember der Legali- sierung von Schwangerschaftsabbrüchen zugestimmt, eine Woche rer Menschen verstehen und selbst aktiv werden gegen nach dem Unterhaus. Schwangerschaften können nun bis zur Rassismus und Diskriminierung. 14. Woche straffrei beendet werden. Schwangerschaftsabbrüche wa- ren seit Anfang der 1920er-Jahre verboten und wurden mit Gefängnis Unser Magazin wird sprachlich ein Stück inklusiver. bestraft. Ausnahmen waren nur nach Vergewaltigungen zulässig oder Mehr darüber lesen Sie auf Seite 8. wenn das Leben der Mutter in Gefahr war. «Es ist ein Sieg für alle, die sich jahrelang für dieses Anliegen eingesetzt haben», sagte Mariela In der Rubrik «In Action» ab Seite 37 erfahren Sie, Belski von Amnesty Argentinien. «Legale Schwangerschaftsabbrüche sind ein wichtiger Bestandteil der reproduktiven Rechte.» welche Themen bei Amnesty Schweiz aktuell im Vorder grund stehen und was Sie tun können: zum wurde 2016 von der Polizei miss- © Amnesty International Beispiel die Petition unterzeichnen, mit der wir von handelt, als er zufällig bei einer Schlägerei vorbeikam. Seine El- US-Präsident Biden die Schliessung des Gefangenen tern mussten danach eine Geld- lagers Guantánamo fordern. strafe zahlen, die sie sich nicht leisten konnten, und die Kosten Zum Schluss ein Ausblick auf die nächste Ausgabe: für die Reparatur des Polizeiau- tos übernehmen. Nach dem Amnesty International wird 60 Jahre alt! Haben Sie Übergriff musste José Adrián die eine spannende Amnesty-Geschichte zu erzählen? Endlich erhält José Adrián eine Schule für ein Jahr unterbrechen. Entschädigung für die schwere Bitte kontaktieren Sie uns! Misshandlung durch die Polizei. Im Januar wurde José Adriáns Wiedergutmachung nun offiziell Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin José Adrián erhält vom Staat genehmigt. Entschädigung MEXIKO − Erinnern Sie sich an David gegen Goliath Kontakt: redaktion@amnesty.ch, Tel. 031 307 22 22 José Adrián, für den wir uns im NIGERIA − Seit Jahrzehnten leiden Redaktion «AMNESTY», Amnesty International, Briefmarathon 2019 eingesetzt Millionen von Menschen im Ni- Schweizer Sektion, Postfach, 3001 Bern hatten? Der jugendliche Maya gerdelta unter den Folgen von 4 AMNESTY März 2021
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS grossflächig ausgelaufenem IN KÜRZE © KEYSTONE/Marcel Bieri Shell-Öl, das die Felder und Fischteiche unbrauchbar ge- ÄGYPTEN – Am 3. Dezember macht hat und die Gesundheit 2020 wurden drei Vertreter der Anwohner*innen belastet − der Menschenrechtsorganisation und es tritt immer noch neues Öl Egyptian Initiative for Personal aus. Vier Bauern und Milieu Rights (EIPR), Gasser Abdel- defensie/Friends of the Earth Razek, Karim Ennarah und Niederlande hatten 2008 geklagt Mohamed Basheer, dank inter- und erhielten Ende Januar 2021 nationalem Druck auf Kaution Recht: Das Berufungsgericht in freigelassen. Sie waren nach Den Haag entschied in den meis- einem Treffen mit Diplomat*in ten Punkten zugunsten der Klä- nen, darunter dem Schweizer ger: Der Konzern mit Sitz in Den Botschafter Paul Garnier, ver Haag habe die Sorgfaltspflicht haftet worden. Die EIPR ist eine verletzt, und die Dorfbevölkerung Aktion «Gleiche Liebe – gleiche Rechte!» des nationalen Komitees Ehe für alle der angesehensten unabhängi- muss für den entstandenen vom 14. Oktober 2020 in Bern. gen Menschenrechtsorganisatio- Schaden entschädigt werden. nen in Ägypten und war nicht Shell muss künftig sicherstellen, Endlich Ehe für alle das erste Mal Ziel staatlicher dass alte Ölleitungen mit Senso- SCHWEIZ − Mit den historischen Entscheiden des Nationalrats im Juni Repression. ren zur Entdeckung von Lecks und des Ständerats Anfang Dezember 2020 wird die Ehe für alle nun ausgerüstet werden. endlich auch in der Schweiz Realität – Jahre später als in vielen NIGERIA – Yahaya Sharif-Aminus anderen Ländern Europas. Vor fast genau sieben Jahren hatte Fall wird erneut verhandelt wer- «Stansted 15» Nationalrätin Kathrin Bertschy mit einer parlamentarischen Initiative den. Das Berufungsgremium an- freigesprochen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gefordert. Mögli- erkannte, dass er während seines GROSSBRITANNIEN − 15 Aktivist*in- cherweise wird der Parlamentsentscheid noch eine Referendums gesamten Prozesses keine an- nen hatten 2017 friedlich ver- abstimmung zu bestehen haben; Meinungsumfragen lassen ein waltschaftliche Vertretung hatte. sucht, die Ausschaffung von deutliches Volksmehr für die Ehe für alle erwarten. Yahaya wurde im August 2020 60 Menschen am Flughafen wegen Blasphemie zum Tode Stansted zu verhindern. Ur- Verteidiger der tibetischen Sprache frei durch den Strang verurteilt, weil sprünglich waren sie wegen CHINA − Tashi Wangchuk war 2016 festgenommen worden, nachdem er ein Lied in Umlauf gebracht schweren Landfriedensbruchs er sich in einem Video der «New York Times» für die tibetische Spra- hatte, das angeblich abfällige angeklagt, vier Monate später che eingesetzte hatte. Er hatte gefordert, dass in tibetischen Schulen Kommentare gegen den Prophe- wurde dies in «Gefährdung der mehr in tibetischer Sprache gelehrt werde. Chinesisch ist in Tibet zu- ten Mohammed enthielt. Sicherheit auf Flugplätzen» ge- nehmend zur vorherrschenden Unterrichtssprache geworden. Am ändert – eine schwere terroris- 22. Mai 2018 wurde er wegen «Anstiftung zum Separatismus» zu fünf JAPAN/MYANMAR – Der japanische musbezogene Anklage, die als Jahren Gefängnis Brauerei-Riese Kirin hat Ende © privat Höchststrafe eine lebenslange verurteilt. Ende Januar ein sechs Jahre altes Haftstrafe vorsieht. Im Februar Januar wurde er Joint Venture mit einer Holding- 2019 wurden drei der Gruppe zu nun nach Been gesellschaft in Myanmar been- Gefängnis auf Bewährung verur- digung seiner Haft- det, die mit dem Militär des Lan- teilt, die anderen 12 erhielten ge- strafe aus dem Ge- des verbunden ist. Im Bericht meinnützige Auflagen. Die «Stan- fängnis entlassen. «Military Ltd.» vom September sted 15» legten im November 2020 hatte Amnesty aufgezeigt, vergangenen Jahres Berufung War wegen «An wie internationale Unternehmen, ein. Am 29. Januar 2021 ent- stiftung zum Separa- darunter Kirin, in die Finanzie- tismus» in Haft und schied das Berufungsgericht, rung von Myanmars Militärein- kam endlich frei: Der dass die Urteile nichtig seien. Tibeter Tashi Wang- heiten verstrickt sind. Alle 15 wurden freigesprochen. chuk. 5 AMNESTY März 2021
AKTUELL_IM BILD © Myat Thu Kyaw/NurPhoto via Getty Images MYANMAR – Mit lauten Schlägen auf Töpfe und Pfannen protestierten die Bürger*innen Myanmars gegen die Machtübernahme des Militärs vom 3. Februar. Jeden Abend um 20 Uhr, genau mit Beginn der von der Junta verhängten Ausgangssperre, ging der Lärm los. Indem die Menschen auf Balkonen oder am Fenster auf die Töpfe schlugen, verstiessen sie nicht gegen das Ausgehverbot. Im Internet wurde passend dazu mit dem Slogan «Soup not Coup» (Suppe statt Putsch) ein «einfaches Rezept für die Demokratiesuppe in drei Schritten» veröffentlicht: «Topf mit dem Willen des Volkes füllen, fest draufhauen, überschüssiges Militär abgiessen, fertig.» #SoupNotCoup 6 AMNESTY März 2021
AKTUELL_NACHRICHTEN Neuer EGMR-Richter für war davor Oberrichter in Aarau. die Schweiz Die Wahl der neuen Schweizer SCHWEIZ – Andreas Zünd ist als Richterin oder des neuen Richter an den Europäischen Schweizer Richters war für den Gerichtshof für Menschenrechte Sommer 2020 geplant gewesen, (EGMR) gewählt worden. Der verzögerte sich aber coronabe- Aargauer übernimmt die Nach- dingt. Der EGMR setzt sich aus folge von Helen Keller. Andreas einer Richterin oder einem Rich- Zünd ist seit 17 Jahren am Bun- ter aus jedem der 47 Mitglied- desgericht in Lausanne tätig und staaten zusammen. Gesichtserkennungssysteme verstossen gegen Menschenrechte ÜBERWACHUNG – Gesichtserkennungssysteme verstossen gegen das Recht auf Privatsphäre und bedrohen die Rechte auf friedliche Ver- © Ajdin Kamber / shutterstock sammlung und freie Meinungsäusserung. Für die Entwicklung von Ge- sichtserkennungstechnologie werden unter anderem Millionen Bilder ohne die Einwilligung der Betroffenen aus Social-Media-Profilen und Ausweisdokumenten zusammengetragen. Amnesty International for- dert ein Verbot von Gesichtserkennungstechnik, wo diese zum Zweck Hungrig, frierend, ohne Hoffnung: Migranten stehen im Lager Lipa bei Bihać für Essen an. der Massenüberwachung durch die Polizei oder andere staatliche Stellen eingesetzt werden soll. Diese Technologie leistet ausserdem Humanitäre Hilfe sofort! systemischem Rassismus Vorschub, da People of Color häufig am BOSNIEN-HERZEGOWINA – Nach wie vor harren etwa 2500 Migrant*in stärksten von ihrem Einsatz betroffen sind. Schwarze Menschen lau- nen und Asylsuchende in Bosnien-Herzegowina im Freien aus; sie fen darüber hinaus am stärksten Gefahr, von Gesichtserkennungs verbrachten den Winter in eisiger Kälte. Darunter sind auch 900 Men- systemen falsch identifiziert zu werden. schen, die im behelfsmässigen Lager in Lipa in Bihać untergebracht © DedMityay / shutterstock sind. Die bosnischen Behörden stellen ihnen keine angemessene Unterkunft zur Verfügung, und die EU-Agenturen setzen auch weiter- hin nur auf kurzfristige Lösungen. Menschenrechtsorganisationen – darunter Amnesty International – rufen angesichts der akuten Notlage zu sofortiger humanitärer Hilfe auf. Die Organisationen fordern ausser- dem dauerhafte institutionelle Lösungen zur Unterstützung der Men- schen auf der Durchreise. Neue Generalsekretärin sie als Direktorin das Projekt Glo- AMNESTY INTERNATIONAL – Agnès bal Freedom of Expression an der Callamard ist zur neuen General- Columbia University in New York sekretärin von Amnesty Internati- City. Ab 2016 fungierte Agnès onal ernannt worden. Sie wird Callamard auch als Sonderbe- das Amt am 29. März 2021 an- richterstatterin für aussergericht- treten und ihr Büro in London liche, standrechtliche oder will- haben. Die Französin war wäh- kürliche Hinrichtungen im Amt rend ihrer bisherigen Karriere im des Hohen Kommissars der Ver- Bereich der Menschenrechte einten Nationen für Menschen- und der humanitären Hilfe in ver- rechte. Von 1995 bis 2001 hat schiedenen NGOs, in der Wis- sie bei Amnesty gearbeitet und senschaft und bei den Vereinten Menschenrechtsuntersuchungen Überwachungskameras: Gesichtsmerkmale können analysiert und mit Bildern in Nationen tätig. Seit 2013 leitete in mehr als 30 Ländern geleitet. Datenbanken abgeglichen werden. 7 AMNESTY März 2021
AKTUELL_NACHRICHTEN © wikimedia commons /manalaa.net IN EIGENER SACHE EIN NEUER STERN Als Menschenrechtsorganisation, die sich gegen Men- schenrechtsverletzungen, Diskriminierung und Aus- grenzung engagiert, ist uns eine gendersensible und diskriminierungsfreie Kommunikation ein Anliegen. So haben wir vor Jahren mit der Verwendung des Binnen-I eine frauengerechtere Sprache eingeführt. Diese binäre Definition von Geschlecht schliesst allerdings Menschen aus. Mit dieser Ausgabe des Magazins führen wir deshalb das Gender-Sternchen (Asterisk) ein: Es soll Platz schaffen für alle, deren Geschlechtsidentität über das binäre Konstrukt von Mann und Frau hinausgeht. Diskriminierungsfreie, inklusive Sprache beschränkt Alaa Abdel Fattah und sein ebenfalls festgenommener Anwalt wurden im sich aber nicht auf Geschlechter. Wir möchten in un- Gefängnis misshandelt. serer Kommunikation alle Menschen unabhängig von Folter in Haft beispielsweise Herkunft, Hautfarbe, Behinderung, se- ÄGYPTEN – Politische Gefangene wie Alaa Abdel Fattah sind im Gefäng- xueller Orientierung einbeziehen. nis Folter und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt, auch Eine diskriminierungsfreie, non-binäre Sprache ist wird vielen überlebenswichtige medizinische Versorgung verweigert. ein Anspruch, den umzusetzen Zeit und Erfahrung Ein neuer Amnesty-Bericht zeigt auf, dass die Gefängnisbehörden braucht. Wir werden bestimmt auch künftig noch da- beim Schutz von Häftlingen vor Covid-19 versagt haben und Gefange- zulernen müssen und sind froh um Hinweise. Schrei- ne aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen regelmässig ben Sie uns: redaktion@amnesty.ch diskriminieren. Amnesty International erhob schwere Foltervorwürfe gegen die ägyptischen Sicherheitskräfte. Es liegen Beweise vor, dass Gefängnisbehörden bestimmte Gefangene wie Alaa Abdel Fattah ins Visier nehmen, um sie für ihre Kritik an der Regierung zu bestrafen. Alaas Mutter Laila Soueif, die wir im Magazin vom Dezember 2018 porträtiert hatten, protestierte mit ihren Töchtern gegen die Haftbedin- gungen und wurde dabei verprügelt. Alaas Schwester wurde festge- JETZT ONLINE nommen und vor Gericht gestellt, weil sie «fälschlicherweise» behaup- Amnesty-Kurse – Bis Ende Mai 2021 kann Amnesty tet habe, Covid-19 würde sich in Gefängnissen verbreiten. Schweiz coronabedingt keine Menschenrechts-Kurse und Workshops im Präsenzmodus durchführen. Aber es Zuhause gefangen cherchen von Amnesty zeigen gibt Ersatz! Das ganze spannende Online-Angebot SÜDLICHES AFRIKA – Für viele auch, dass Frauen und Mäd- finden Sie auf unserer Website. Frauen und Mädchen in Län- chen gesellschaftliche Ausgren- Amnesty-Talks – Hören Sie rein in unseren Podcast auf dern des südlichen Afrikas wur- zung riskieren, wenn sie die Ge- Spotify. Jeden Monat führen wir mit Expert*innen und de das eigene Zuhause während walt melden, weil sie damit aus Betroffenen Gespräche über aktuelle Menschenrechts des Corona-Lockdowns zu einem ihrer traditionellen Geschlechter- themen. So wurde in den letzten Episoden Bilanz gezogen Ort der Angst, Gewalt und Ver rolle ausbrechen. Und wenn sie über die Entwicklung der Menschenrechtssituation unter gewaltigung. Aufgrund der Aus- ihre Stimme dennoch erheben, der Trump-Administration und darüber diskutiert, was ein gangssperren konnten sie nicht werden ihre Beschwerden von Burka-Verbot in der Schweiz bedeuten würde. vor gewalttätigen Partnern flie- den Behörden oft nicht ernst Jetzt online unter www.amnesty.ch/magazin-maerz21 hen und Schutz suchen. Die Re- genommen. 8 AMNESTY März 2021
AKTUELL_BRENNPUNKT KEIN TAG OHNE PROTEST Die Bilder der Misshandelten Wahllokalen machten den © AFP via Getty Images sind kaum zu ertragen und zei- Wunsch nach Veränderung für gen Körper mit Blutergüssen, alle Welt sichtbar. Das Luka- Wunden, Schwellungen und schenko-Regime holte umge- Knochenbrüchen. hend zum gewaltsamen Gegen- schlag aus. Zepkalo hatte Die bis heute andauernden bereits kurz vor den Wahlen Proteste haben das gesamte das Land verlassen müssen, Land, alle Gesellschaftsschich- Tichanowskaja wurde kurz da- ten und Generationen erfasst. nach ins Exil nach Litauen ge- Rentner*innen, Menschen mit zwungen. Kolesnikowa wider- Behinderung, Studierende, setzte sich Anfang September Ärzt*innen oder Arbeiter*innen ihrer zwangsweisen Ausschaf- – sie alle organisieren regel fung und zerriss ihren Pass an mässig Demonstrationen und der Grenze zur Ukraine. Seit- Streiks. Nach den Grosskundge- dem ist sie als eine der politi- bungen der ersten Monate hat schen Gefangenen inhaftiert. In den Farben der ehemaligen weiss- rot-weissen Flagge von Belarus pro- sich die Form der organisierten testieren Frauen gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2020. M ehr als 40 000 Tage oder 110 Jahre − so lange sit- zen alle politischen Gefangenen Proteste im Winter 2020 verän- dert. Um den Sicherheitskräften Verhaftungen zu erschweren, Bereits einen Tag nach der Ver- haftung von Maria Kolesnikowa hatte sich Claudia Roth, die in Belarus zusammengezählt treffen sich die Menschen nun Vizepräsidentin des Deutschen schon im Gefängnis. Die Zahl zu Hunderten in ihren Quartie- Bundestags, dazu bereit erklärt, der politischen Häftlinge explo- ren zu Protest-Spaziergängen eine Gefangenen-Patenschaft dierte im Jahr 2020. Aktuell statt zu einer Grosskundgebung. für Kolesnikowa zu überneh- liegt sie bei circa 250 politi- Es vergeht in Belarus kein Tag, men. Wie sie haben bereits schen Langzeit-Gefangenen. ohne dass an unzähligen Orten über 170 Abgeordnete aus im ganzen Land gegen das Lu- 13 Ländern Patenschaften für Seit den umstrittenen und mut- kaschenko-Regime demonstriert politische Gefangene in Belarus masslich gefälschten Präsident- wird. übernommen, um deren Frei- schaftswahlen im Sommer lassung zu fordern. Unter dem 2020 hat eine massive Welle All das begann im vergangenen Motto #WeStandBYyou machen der politischen Repression Sommer, als Zehntausende zu die Abgeordneten darauf auf- Belarus erfasst. Alexander Lu- den Wahlveranstaltungen der merksam, das hinter jeder Ge- kaschenko will auch nach fast oppositionellen Präsident- fangenenstatistik einzelne 27 Jahren nicht von der Macht schaftskandidatin Swetlana Schicksale stehen, einzelne lassen. Sein Sicherheitsapparat Tichanowskaja strömten, die Menschen mit all ihren Hoffnun- geht erbarmungslos gegen die sich mit Weronika Zepkalo und gen und Ängsten, ihren Auf www.libereco.org finden Sie friedlichen Proteste vor. Mehr Maria Kolesnikowa verbündet Familien und Freund*innen − mehr Informationen zu den als 33 000 Menschen wurden hatte. Diese drei Frauen wur- und mit dem Wunsch nach Gefangenen-Patenschaften sowie eine Postkarten-Aktion für die allein im Jahr 2020 willkürlich den quasi über Nacht zu Hoff- Freiheit und Achtung der Men- politischen Gefangenen. festgenommen. Das belarussi- nungsträgerinnen für ein Ende schenrechte in einem demokra- sche Menschenrechtszentrum der Diktatur und einen demo- tischen Belarus. Berichte zur Lage in Belarus von Amnesty International finden Sie Viasna hat mehr als 1000 Fälle kratischen Neuanfang. Die kilo- Lars Bünger, Präsident der auf www.amnesty.ch. staatlicher Folter dokumentiert. meterlangen Schlangen vor den Menschenrechtsorganisation Libereco 9 AMNESTY März 2021
Gegen Rassismus: Es braucht uns alle 2020 war ein Wendepunkt: Mit der Ermordung von George Floyd in den USA und dem Erstarken der Bewegung Black Lives Matter rückte der Rassismus weltweit ins öffentliche Bewusstsein. Welche Formen er heute annimmt und wie sich strukturelle Diskriminierung auch in der Schweiz auswirkt, ist Thema dieses Dossiers. Das Engagement gegen Rassismus braucht uns alle. 11 AMNESTY März 2021
DOSSIER_RASSISMUS «Black Lives Matter hat den Kampf neu belebt» Wie sich Rassismus verändert hat und was Black Lives Matter bewirkt, diskutieren Pap Ndiaye und Rokhaya Diallo mit uns. Die beiden Expert*innen der antirassistischen Bewegung sprechen über Ungleichheiten in der Pandemie, umstrittene Statuen und Ideen für eine gerechtere Zukunft. Interview: Julie Jeannet E AMNESTY: Während der Kolonialzeit stützte sich der Rassis- das Wort «Rasse» aus der Verfassung zu streichen. mus auf angeblich biologische Argumente. Heute ist dieser F Rokhaya Diallo: Die Idee von biologischen Menschenrassen Rassismus durch den sogenannten kulturellen oder religiösen wurde dekonstruiert. Es gibt nur eine menschliche Rasse. Rassismus ersetzt worden. Können Sie dies erklären? 1958 kam der Begriff in die Verfassung, um eine unterschied- F Pap Ndiaye: Die Verschiebung von biologischen zu kultu- liche Behandlung auf der Grundlage vermeintlicher Rassen rellen Argumenten fand Mitte des 20. Jahrhunderts statt, be- zu verhindern. Mit der Streichung des Begriffs beseitigen wir einflusst von zwei historischen Ereignissen: einerseits dem Rassismus allerdings nicht. Ich befürchte, dass damit einfach Zerfall des Nationalsozialismus, dessen auf biologischem die Untätigkeit kaschiert wird. Ohne Massnahmen zur Be- Rassismus basierende Ideologie in einem Genozid endete, kämpfung des systemischen Rassismus bringt es nichts. andererseits dem Ende der Kolonialreiche in den 1950er-Jah- ren, als sich die Idee einer universellen Menschlichkeit E In den letzten Jahren verbreiteten sich diskriminierende durchgesetzt hat. Der biologische Rassismus, der im 19. und Diskurse wieder – so durch Donald Trump, Jair Bolsonaro und frühen 20. Jahrhundert so mächtig gewesen war, wich dem weiteren Populisten. heute dominanten «kulturellen» Rassismus. F Rokhaya Diallo: Ich interpretiere die Wahlerfolge der rech- F Rokhaya Diallo: Von einem moralischen Standpunkt aus ten Regierungen als eine Reaktion der weissen Mittelschicht gesehen, wurde es immer schwieriger, sich auf eine Hierar- auf politische und soziale Fortschritte zugunsten von Min- chie angeblicher «Rassen» zu berufen. Es hat eine semanti- derheiten. Bolsonaros Aufstieg in Brasilien folgte auf wichti- sche Verschiebung stattgefunden: Der heutige Rassismus ge politische Erfolge für Schwarze Minderheiten in den Nul- beruft sich auf die Kultur und die Idee der Zivilisation. Er ist lerjahren. In den Vereinigten Staaten kam Trump ins Amt, im politischen Diskurs sehr präsent. Noch 2012 sagte Claude nachdem ein Schwarzer Präsident, Barack Obama, acht Jahre Guéant, ehemaliger französischer Innenminister, nicht alle regiert hatte. Kulturen seien gleichwertig. Die Verbreitung rassistischer Sprache ist Ausdruck einer Angst. Ein Teil der Bevölkerung hat jahrelang aus seiner Vor- E Ist kultureller Rassismus schwieriger zu bekämpfen? herrschaft Kapital geschlagen und Minderheiten, insbeson- F Pap Ndiaye: Ja, weil er akzeptabler zu sein scheint bezie- dere Schwarze, ausgebeutet. Wenn diese nun mehr Rechte hungsweise von vielen Menschen gar nicht als Rassismus erhalten, sehen das Privilegierte als Bedrohung. erkannt wird. Tatsächlich geben in Umfragen nur wenige F Pap Ndiaye: Diese rechten Anführer kultivieren Rassismus Menschen zu, rassistisch zu sein. Dieser zeitgenössische als politische Waffe. Sie tun dies natürlich auf verschlüsselte Rassismus richtet sich heute gegen verschiedene Gruppen, Art und Weise, indem sie bestimmte Wörter verwenden. Ihre insbesondere auch Muslim*innen. Seine Tarnung macht es Art zu politisieren hat rassistische Haltungen legitimiert und besonders schwierig, ihn zu bekämpfen. zu ihrer weltweiten Verbreitung beigetragen, insbesondere über die sozialen Medien. Trotzdem ist die Situation nicht E In Frankreich hat die Nationalversammlung beschlossen, ausweglos. Seit vier Jahren organisiert sich die Zivilgesell- 12 AMNESTY März 2021
DOSSIER_RASSISMUS © zvg © Brigitte Sombié © Thomas Arrivé Pap Ndiaye ist Professor an der Sciences Po in Paris. Der Experte für die Rokhaya Diallo ist Journalistin, Autorin und Regisseurin. Sie hat Geschichte von Minderheiten in den USA arbeitet derzeit an einer sich auf Gerechtigkeitsfragen zu Rassifizierung, Religion und Weltgeschichte der bürgerlichen Rechte im 20. Jahrhundert. Geschlecht spezialisiert und ist Initiatorin des Podcasts «Kiffe ta race». Ihre Kolumnen werden regelmässig in der «Washington Post» veröffentlicht. schaft in den Vereinigten Staaten, um Rassismus zu bekämp- Beispiel. Doch wie konnte der Mord an George Floyd eine so fen. Die Bewegung Black Lives Matter war sehr sichtbar und massive weltweite Protestwelle auslösen? Es gibt einen hat zweifellos zu Trumps Niederlage bei den letzten Wahlen Punkt, an dem ein einziger Wassertropfen das Fass zum beigetragen. Überlaufen bringt. Der Mord an George Floyd erinnert mich an Emmett Till, einen Teenager, der 1955 in Mississippi ge- E 2020 war ein wichtiges Jahr, was die Mobilisierung angeht, lyncht wurde. Er war nicht der erste, aber sein Tod war ein trotz Pandemie. Black Lives Matter (BLM) wurde zu einer entscheidender Auslöser für die Bürgerrechtsbewegung. Was globalen Bewegung. Ein Durchbruch? 2020 neu war, ist die Diversität der Demonstrationsteilneh- F Rokhaya Diallo: Für mich ist es nicht wirklich ein Durch- menden: Es gab eine grosse Beteiligung der weissen Bevölke- bruch. Die Bewegung entstand 2014 nach der Ermordung rung. Das war ein Wendepunkt. von Trayvon Martin, dessen Mörder freigesprochen wurde. BLM hat gezeigt, wie gewalttätig die gesellschaftliche Realität E Die Proteste veranlassten nicht nur die Amerikaner*innen, für Schwarze Menschen ist. Die Welt wurde zu spät auf die sich mit Polizeigewalt und institutionellem Rassismus Bewegung aufmerksam. Seit Jahren prangern Menschen Po- auseinanderzusetzen… lizeigewalt an, ohne dass man ihnen glaubt... F Pap Ndiaye: Die Demonstrationen weltweit unterstützen F Pap Ndiaye: BLM ist gleichzeitig eine Fortsetzung und ein nicht nur die amerikanische Bewegung, sondern prangern Wendepunkt. Seit mehr als einem Jahrhundert protestieren auch den lokalen Rassismus an. Obwohl sich die Umstände Schwarze in den USA gegen die Gewalt und den Rassismus unterscheiden, ist der Rassismus von Ordnungskräften über- der Polizei. Es ist eine lange Geschichte, die von wichtigen all präsent. In Genf haben an der Einwohnerzahl gemessen Bewegungen geprägt wurde. Zum Beispiel von den Black die grössten Demonstrationen Europas stattgefunden. Diese Panthers in den 1960er-Jahren, die sich organisierten, um starke Protestbewegung richtet sich gegen eine ganze Band- die rassistische Polizei einzuschüchtern. BLM ist das jüngste breite diskriminierender Verhaltensweisen in der Gesell- 13 AMNESTY März 2021
© Amnesty International / Jarek Godlewski Antirassistische Sprache Einige Begriffe und ihre Schreibweise, die in diesem Dossier verwendet werden: Schwarz: Schwarz ist eine politisch gewählte Selbstbe- zeichnung, die eine von Rassismus betroffene gesellschaftli- che Position beschreibt. Es ist somit kein Adjektiv und keine Hautfarbe und wird gross geschrieben. weiss: Wird kursiv geschrieben, um die Konstruktion des Begriffs hervorzuheben. Er bezeichnet keine biologische Eigenschaft, sondern eine politische und soziale Position, die mit Privilegien und Dominanz verbunden ist. «Black Lives Matter ist gleichzeitig eine Fortsetzung und ein Wendepunkt.» Person of Color, People of Color (PoC): Menschen, die von Demonstration in Berlin, Juni 2020. Rassismus betroffen sind, bezeichnen sich selbst häufig als Person of Color (PoC). Im Deutschen gibt es derzeit keine Übersetzung für den Begriff PoC. schaft. So werden auch die Bereiche Kunst und Kultur infra- Kultureller Rassismus versucht, eine Ungleichheit und ge gestellt. Wir sehen heute eine allumfassende Bewegung, Ungleichbehandlung mit angeblichen Unterschieden zwi- die vielleicht einen historischen Wandel markiert. schen den »Kulturen« zu begründen. Bei institutionellem oder auch strukturellem Rassismus E Dank BLM überdenken bestimmte Länder, darunter die geht es um Rassismus in den Strukturen, Institutionen, Nor- Schweiz, ihre koloniale Vergangenheit. Was sollte man mit men und Entscheidungsabläufen der Gesellschaft – unab- Denkmälern für Persönlichkeiten tun, die am Sklavenhandel hängig davon, ob er beabsichtigt ist oder nicht. beteiligt waren? Rassifizierung: Bezeichnet einen Prozess und eine Struk- F Rokhaya Diallo: Das Entfernen einer Statue löscht die Per- tur, in denen Menschen nach rassistischen Merkmalen kate- son nicht aus der Geschichte. Aber wir können die Statuen gorisiert, stereotypisiert und hierarchisiert werden. sehr wohl in Museen verbannen. Nach dem Zweiten Welt- Weitere Informationen: amnesty.ch/rassismus krieg wurden alle Statuen von Philippe Pétain entfernt, der Quellen: neue deutsche medienmacher*innen, Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismus- im Ersten Weltkrieg als Held gegolten hatte, im Zweiten aber arbeit e. V. (IDA), bla.sh.netzwerk, diversity-arts-culture.berlin et al. am Holocaust beteiligt war. Warum nicht auch die Statuen von Menschen, die sich am Sklavenhandel oder in Kolonial- kriegen beteiligten? Sie verkörpern die Unterdrückung der rung Frankreichs, mit überdurchschnittlich vielen nicht-weis- Vorfahren eines wichtigen Teils der heutigen Bevölkerung. sen Personen. Es sind Menschen, die während der Krise nie Anscheinend wird als unwichtig betrachtet, wie diese natio- aufgehört haben zu arbeiten, sich nicht isolieren konnten und nalen Symbole auf einen Teil der Bevölkerung wirken. keinen Zugang zu guten Spitälern haben. Es müssen Mass- F Pap Ndiaye: Der Status quo ist aus meiner Sicht nicht mehr nahmen ergriffen werden, die den Zugang zur Gesundheits- haltbar. Es gibt jedoch viele Alternativen, die sich nicht dar- versorgung für die ärmere Bevölkerung sicherstellen. Krisen auf beschränken, die Statue stehen zu lassen oder zu beseiti- müssen von den Institutionen antizipiert werden, um Un- gen. Eine Möglichkeit ist, an einer Tafel inhaltliche Erklärun- gleichheiten auszugleichen. gen anzubringen. E Wie soll der Einsatz gegen Rassismus im Jahr 2021 E Die Covid-Pandemie hat die Ungleichheiten aufgezeigt, die weitergehen? es in unserer Gesellschaft gibt. Was können wir aus dieser F Pap Ndiaye: Die BLM-Bewegung war ein Aufbruch. Natür- Krise lernen? lich können nicht ständig Demonstrationen stattfinden, aber F Rokhaya Diallo: Die Krise zeigt uns, wie wichtig es ist, sozio- das Mobilisierungspotenzial bleibt. Die Organisationen müs- ökonomische Kriterien beim Umgang mit einer Pandemie zu sen einen Weg finden, dieses Potenzial zu nutzen, um den berücksichtigen. Wir sehen das zum Beispiel im Departement antirassistischen Kampf aufrechtzuerhalten. Jene, die nichts Seine-Saint-Denis in Frankreich, das eine erhöhte Sterblich- ändern wollen, werden versuchen, sich national abzugrenzen. keitsrate hat. Hier lebt die jüngste, aber auch ärmste Bevölke- Aber Rassismus kennt keine Ländergrenzen, er ist überall. 14 AMNESTY März 2021
DOSSIER_RASSISMUS Möchten Sie sich weiter mit Rassismus und Diskriminierung beschäftigen, sich mehr Wissen Weiterlesen aneignen und vielleicht auch Ihren eigenen Vorurteilen und Handlungen nachspüren? Hier ein paar empfehlenswerte Bücher für Ihre Reise. Warum? Anne Otto fragt nach Anne Otto den psychologischen Woher kommt der Hass? Mechanismen, die Die psychologischen Wir müssen reden: dazu beitragen, dass Ursachen von Rechtsruck Rassismus im Alltag Menschen nach und Rassismus Alice Hasters Guetersloher Verlagshaus, 2019 Was weiße Menschen «Selten fühlen sich Autoritäten verlangen 270 Seiten nicht über Rassismus weisse Menschen so und zu rechtsextre- hören wollen, aber angegriffen, wie wenn men und rassistischen Einstellungen gelangen. In ihrem Buch geht wissen sollten man sie oder ihre es zwar nicht zentral um Rassismus, und der Fokus liegt klar auf hanserblau-Verlag, 2019 208 Seiten Handlungen rassistisch dem Erstarken rechter Bewegungen in Deutschland. Die leicht nennt»: Alice Hasters verständlich geschriebenen Artikel der Psychologin helfen aber zu hält in ihrem Buch Weissen den Spiegel vor, indem sie den verstehen, was Menschen auch hierzulande dazu führen kann, Alltagsrassismus aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen aufzeigt rechten und rechtsextremistischen Bewegungen zu folgen. Mit und auch über den institutionalisierten und strukturellen Tipps, wie man rechter Rede entgegenhalten und sich selbst zu Rassismus spricht. Dabei wird deutlich: Rassismus ist nicht nur ein verschiedenen Themen befragen kann. Problem am rechten Rand der Gesellschaft. Gegen Dogmatismus, Nicht rassistisch sein für Vielstimmigkeit Das Buch begleitet uns bei der Auseinandersetzung mit Rassismus Woher kommt es, dieses und tut dies ohne erhobenen Zeigefinger. Vielmehr werden die Denken, das Zweifel nur an Leser*innen auf eine rassismuskritische Reise mitgenommen, in Carolin Emcke den Positionen der anderen, deren Verlauf sie nicht nur konkretes Wissen über die Geschichte Gegen den Hass aber nicht an den eigenen des Rassismus und dessen Wirkungsweisen erhalten, sondern Fischer-Verlag, 2019 272 Seiten zulässt? Wie können auch Unterstützung Menschen sich so sicher in der emotionalen sein, dass sie keine Schattierungen mehr erkennen? Dem Dogmatis- Auseinandersetzung mit mus, der zu Hass führen kann, setzt die Autorin Carolin Emcke die dem Thema. Die Autorin Vielstimmigkeit, das Abweichende entgegen – denn es ist genau die unterhält mit «Tupod- Tupoka Ogette exit Racism – rassismus Differenzierung, der genaue Blick, was Dogmatismus nicht aushält. cast» auch einen Podcast. kritisch denken lernen Podcast: Unrast-Verlag, 2020 tupodcast.podigee.io 136 Seiten Weiterlernen Weitere Informationen, Literatur und Texte finden Sie auch im Themenportal auf unserer Webseite: amnesty.ch/rassismus Tangram Lesen Sie unter anderem Tipps dazu, was Sie tun können, wenn Sie Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) publiziert einen rassistischen Angriff beobachten. einmal im Jahr das Bulletin TANGRAM, das über Untersuchungen Ausserdem publizieren wir Kursangebote und Workshops zu Dis- und Analysen des Rassismus in der Schweiz berichtet. Jede kriminierung, Zivilcourage und weiteren Themen für Erwachsene Nummer befasst sich mit einem spezifischen Thema. und für Schulen aus unserer Bildungsabteilung: www.amnesty.ch/bildung Kostenlos erhältlich auf der Webseite des EKR: www.ekr.admin.ch 15 AMNESTY März 2021
© Aline Bovard Rudaz DOSSIER_RASSISMUS Hört uns zu Vier engagierte Menschen schildern ihre Sicht auf die Rassismusdebatte in der Schweiz und sagen, was sie sich von der Gesellschaft wünschen. Licia Chery wurde vor 35 Jahren als Tochter haitianischer Eltern in Genf geboren. Sie ist Sängerin, Autorin, Marketing- und Kommunikationsassistentin und seit August 2020 Moderatorin der Spielshow «C’est ma question» auf RTS 1. «Nutzt eure Privilegien, um uns eine ben wird, zu verstehen. «Aber Sie waren doch kei- ne Sklavin», wurde mir schon gesagt. Diese Men- Stimme zu geben» schen sehen nicht, wie «Schwarz» überall auf der Welt wahrgenommen wird und welche Auswir- kungen diese Wahrnehmung hat. Einmal erzählte «Heute ist es in Genf selten, dass jemand an der Schule die einzige ich einem Psychiater, was mein Vater mir sagte, als ich jünger war: nicht-weisse Person ist. Als ich so alt war wie mein Sohn heute, war «Du bist eine Frau und du bist Schwarz in einer Welt des weissen das aber noch der Fall. Mannes. Bei allem, was du tust, musst du doppelt so hart kämpfen.» Rassismus bedeutet, auf den ersten Blick gehasst zu werden, Er antwortete: «Kein sehr netter Papa.» ohne dass dich das Gegenüber kennt. In meinem Buch «Tichéri a les Wenn ich sage, dass Rassismus existiert, konfrontiere ich weisse cheveux crépus» («Tichéri hat krauses Haar») geht es um diese klei- Menschen mit einer Realität, die sie nicht sehen wollen. Es geht um nen Angriffe, die in ihrer Summe im Alltag so schwer wiegen. Das das Unbewusste: Auch wenn Sie keine rassistischen Absichten ha- Buch richtet sich an Eltern und Kinder. Letztere verstehen Dinge ben, können Ihre Worte rassistisch sein. Die Bewegung Black Lives sehr schnell, wenn man sie ihnen erklärt – im Gegensatz zu man- Matter hat einige Tatsachen in den Vordergrund gerückt. Wie bei chen Erwachsenen. #MeToo wagen es nun manche Betroffene, sich zu äussern. Ande- Bewusstsein entsteht durch Bildung und Repräsentation: Im ren wird das Ausmass des Problems bewusst. Und schliesslich gibt Sommer 2020 habe ich als erste Schwarze Moderatorin beim West- es diejenigen, die schimpfen, dass alles übertrieben sei und «man ja schweizer Fernsehsender RTS angefangen. Das hätte ich mir als nichts mehr sagen darf». Kind nie vorstellen können. Viele Kommentare auf meiner Face- Solange manche Weisse verkennen, dass der Rassismus nicht von book-Seite sind nicht eindeutig rassistisch, es wurde mir aber vorge- uns, sondern von ihnen ausgeht, wird sich nichts ändern. Unterneh- worfen, «zu laut zu lachen», zu laut zu sein. Sie dürfen nicht verges- men, Institutionen, Regierungen betonen regelmässig, dass wir Ras- sen, dass für manche Menschen allein meine Hautfarbe eine sismus bekämpfen müssen. Schön, aber dann stellt Leute ein, die die Provokation ist. Glücklicherweise erhalte ich auch viele positive Vielfalt repräsentieren! Wir wollen Institutionen mit Frauen, Trans- Nachrichten, darunter von Müttern, die mir sagen, dass es ihre Kin- menschen, People of Color, Menschen mit Behinderung – kurz, ein der dank mir wagen, Träume zu haben. Abbild der Gesellschaft. Jenen, die sich mit uns verbünden wollen, In der Schweiz ist es immer noch schwierig, über Rassismus zu gebe ich folgenden Rat: Fragt uns, was ihr tun könnt. Äussert nicht reden. Wir hören regelmässig, dass «wir hier ja nicht in den USA immer eure Meinung, hört einfach zu! Und statt zu bestreiten, dass seien». Es fällt den Menschen schwer, die Themen Herkunft und es weisse Privilegien gibt, nutzt ihr sie besser, um unserer Stimme kollektives Denken, das von Generation zu Generation weitergege- Gehör zu verschaffen.» Protokolliert von Emilie Mathys 16 AMNESTY März 2021
© Eleni Kougionis DOSSIER_RASSISMUS Denis Sorie ist 23 Jahre alt, studiert Kommunikations wissenschaften in Freiburg i. Ue. und arbeitet nebenbei in einer Kommunikationsagentur. Er ist Mitglied der Unigruppe Fribourg von Amnesty International und im Vorstand der Operation Libero Nordwestschweiz. «Das Problem anerkennen» bei Amnesty International und mit der Operation Libero für eine liberale und gerechte Gesellschaft ein, für Menschenrechte, Frei- heit, Vielfalt. Das schliesst für mich ein, dass alle Menschen gleich «Während der Black-Lives-Matter-Demonstrationen habe ich an Würde und Rechten sind. Ich habe mich aber bewusst dagegen selbst viel gelernt und mir Gedanken gemacht über Vorfälle in der entschieden, mich ausschliesslich gegen Rassismus zu engagieren, Vergangenheit. Zum Beispiel darüber, dass ich innerhalb von zwei denn ich möchte, dass People of Color auch bei Themen repräsen- Wochen zwei Mal von der Polizei kontrolliert wurde. tiert sind, die nichts mit der Hautfarbe zu tun haben. Ich bin ziemlich weiss sozialisiert worden, ich bin in Basel mit Manche werfen Black Lives Matter vor, dass die Bewegung ja einer weissen Mutter aufgewachsen. Immer wieder werde ich auf gerade die Hautfarbe betone; so werde die Gesellschaft weiter ge- Hochdeutsch oder sogar Englisch angesprochen. Verletzend finde spalten. Meine Meinung dazu ist: Um die Probleme mit dem Ras- ich, wenn die Gesprächspartner*innen auf Hochdeutsch bezie- sismus aufzuzeigen, ist es notwendig, auf die Hautfarbe hinzu hungsweise Englisch weiterfahren, selbst wenn ich auf Schweizer- weisen. Idealerweise würde Hautfarbe oder Herkunft keine Rolle deutsch antworte. Ich weiss, die meisten meinen es ja nicht böse. spielen, doch derzeit spielen sie noch eine Rolle. Ein Beispiel: Seit Aber wenn das dauernd geschieht, nervt es trotzdem. Ähnlich ist es 2014 habe ich neben dem Schweizer Pass auch jenen von Sierra mit der Frage: «Woher kommst du?» Weil ich diese Frage so oft Leone, wo mein Vater herkommt. Bei Bewerbungen überlege ich höre, gibt sie mir mittlerweile das Gefühl, dass ich eben nicht ganz aber sehr genau, ob ich dieses Bürger*innenrecht erwähnen soll dazugehöre in der Schweiz. Dabei spielt der Kontext eine grosse oder ob es ein Nachteil sein könnte. Und ich glaube, ich bin bei Rolle. Wenn «Woher kommst du?» die zweite Frage ist bei einer weitem nicht der Einzige, der sich solche Sorgen macht. neuen Begegnung und die Antwort «Aus Basel» nicht ausreicht, Von meinen weissen Mitmenschen wünsche ich mir, dass sie zu- dann finde ich es verletzend. Fragt mich eine gute Freundin, ist es hören und versuchen, das Problem anzuerkennen, auch wenn sie natürlich anders. es nicht auf den ersten Blick sehen. Dass manche sich fragen, ob es Mir ist Sprache generell sehr wichtig, und ich glaube, dass ein überhaupt Rassismus gebe in der Schweiz, ist für mich ziemlich sorgfältiger Umgang mit der Sprache etwas verändern kann. Dane- unverständlich. Wertschätzung für die Erfahrung von anderen ben braucht es politische und gesellschaftliche Veränderungen. wäre ein erster Schritt gegen Rassismus.» Wichtig finde ich Aufklärungsarbeit in der Bildung. Ich setze mich Protokolliert von Carole Scheidegger 17 AMNESTY März 2021
© Aline Bovard Rudaz DOSSIER_RASSISMUS Noémi Michel ist Dozentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Genf und Mitglied des Kollektivs Faites des Vagues und von ERIF (European Race and Imagery Foundation). Die 37-Jährige forscht zu den Erfahrungen von Minderheitengruppen in der Demokratie. «Mit der Vergangenheit auseinandersetzen» Rassismus zu bekämpfen bedeutet, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander- Es war im Herbst 2012 auf dem Weg zu meinem Büro an der Uni- zusetzen. Die Schweiz ist immer noch stark von einer «kolonialen versität Genf, als ich diesen Plakaten begegnete. Gerade hatte ich Amnesie» betroffen. Wir feiern Henry Dunant, der nicht nur das meine Dissertation darüber beendet, wie Worte und Bilder im Rote Kreuz gegründet hat, sondern auch am Ursprung einer koloni- öffentlichen Raum Rassismus reproduzieren. Die Plakate zeigten alen Gesellschaft stand. Wir vergessen, dass es hierzulande bis Mitte die SVP-Politiker Oskar Freysinger und Christoph Blocher, die im des 20. Jahrhunderts «Menschenzoos» gab. Diese Vergangenheit Rahmen einer Kampagne von Amnesty Schweiz gegen die klingt bis heute nach, sie ist die Quelle des heutigen Rassismus. Verschärfung des Asylrechts in Migranten «verwandelt» worden Ich wuchs in einer politisierten Familie auf, die mir eine Kultur waren. der Befreiung vermittelte. Vor allem durch meinen Vater wurden Ich stimme mit den politischen Zielen von Amnesty überein, mir antikoloniale haitianische Geschichten weitergegeben. Der aber ich war schockiert, dass eine rassistische Tradition, das Black- Kampf gegen Sklaverei und Kolonialismus ist aus meiner Sicht we- facing, in dieser Kampagne eingesetzt wurde. Schockiert darüber, sentlich für das Verständnis von Menschenrechten. Schon im dass provokatives Marketing betrieben wurde auf Kosten derjeni- Gymnasium hat mich beschäftigt, dass wir nur französische Litera- gen, deren äusserliche Merkmale instrumentalisiert werden. Am- tur lasen, nicht aber frankophone Literatur. In dieser engen, euro- nesty tat sich schwer damit, die Kritik anzunehmen, die ich zusam- zentrischen Sichtweise konnte ich mich nicht wiederfinden. Sie men mit einer Gruppe von Forscher*innen an die Organisation entsprach nicht meinem Bild der Welt, wie ich es von meinen ein- gerichtet hatte. In einem kürzlich erschienenen Artikel bin ich auf gewanderten Eltern und meinen Freund*innen im multikulturel- dieses Thema zurückgekommen: Für progressive Organisationen len Genf geerbt hatte. und Akteur*innen ist es schwierig zuzugeben, dass sie selbst auch Ich habe mich im letzten Sommer aktiv an der Black-Lives-Mat- Rassismus produzieren können. ter-Bewegung beteiligt. Meine Brüder, Cousins und Cousinen in Antirassismus kann sich nicht mit einfachen Aussagen wie «Ras- Europa und in den Vereinigten Staaten leben täglich mit Racial sismus ist falsch» oder der Verabschiedung einer Charta begnügen. Profiling. Das Engagement für Antirassismus ist ein wichtiger Teil Der humanitäre Sektor reproduziert weiterhin eine visuelle Kultur, meines Lebens. Dank Black Lives Matter finde ich wieder eine Ver- die eine Grenze zwischen dem «Wir» und «den anderen» schafft, bindung zur Schönheit des Schwarzen Befreiungskampfes. Die denen man «helfen» will. Organisationen wie Amnesty würde es gut Bewegung erinnert mich daran, dass wir lebendig sind. anstehen, Rassismus zuzugeben, sich selbst zu hinterfragen und sich dem Unbehagen zu stellen. Protokolliert von Emilie Mathys 18 AMNESTY März 2021
© Sabine Rock DOSSIER_RASSISMUS Rispa Stephen ist in Uster aufgewachsen und wohnt heute in Winterthur. Sie hat soziokulturelle Animation studiert und ist jetzt in einem Gemeinschafts zentrum in Zürich tätig. Daneben ist die 38-Jährige im Vorstand des Frauenhauses Winterthur und Mitorganisatorin des Black Film Festival Zurich, das voraussichtlich vom 28. bis 30. Mai im Zürcher Kino Houdini stattfinden wird. www.blackfilmfestivalzurich.com «Es braucht eine öffentliche Wir alle haben Privilegien, die einen mehr als die anderen. Der Unterschied bei der weissen Mehrheitsgesellschaft ist aber: Sie und politische Debatte» muss sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen, sie darf. Diese Privilegien bringen mit sich, dass man sich keine Sor- gen macht, wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, oder dass man bei «Immer wieder höre ich, dass es in der Schweiz keinen Rassismus der Wohnungs- und Arbeitssuche nicht wegen des Aussehens gebe, oder er wird einzig mit Rechtsextremismus in Verbindung diskriminiert wird. Black Lives Matter hat auf manches ein Licht gebracht. Sage ich, dass wir in einem rassistischen und diskrimi- geworfen, wie auch auf die vielen Leute, die sich schon davor mit nierenden System leben und davon geprägt sind, dann wird rasch verschiedenen Projekten gegen Rassismus eingesetzt haben. empfindlich darauf reagiert. Denn wer möchte schon gern als Mit zwei anderen Frauen habe ich 2019 das Black Film Festival Rassist*in bezeichnet werden? Aber darum geht es ja nicht, wir soll- Zurich gegründet. Wir wollen damit Schwarzen Filmemacher*innen ten von diesem Opfer-Täter*innen-Schema wegkommen. Die eine Plattform geben und den Zugang zum Black Cinema ermögli- Schweiz muss endlich einen offenen Diskurs über strukturellen chen. Nach wie vor spielen People of Color Rollen, die ein stereo und institutionellen Rassismus, über Diskriminierung und über types, kolonialistisches oder diskriminierendes Bild zeigen. Das die Rolle des Landes in der Vergangenheit führen. Die Stichwörter schafft keinen Wert für People of Color, sondern zementiert prob- sind Kolonialismus, Sklavenhandel, Missionierung. Ich bin über- lematische Bilder weiter. Wir möchten ein anderes Filmschaffen zeugt, dass dies zur Dekonstruktion von Rassismus und Diskrimi- mit differenzierteren Rollen zeigen. 2020 musste das Festival nierung in der Schweiz beitragen würde. wegen Corona leider ausfallen. Dieses Jahr kann es vom 28. bis Rassismus ist oft sehr subtil, was es umso schwieriger macht, 30. Mai hoffentlich wieder stattfinden. darüber zu reden und ihn anzuprangern. Im Zürcher Ausgeh- Von der Mehrheitsgesellschaft wünsche ich mir, dass sie sich Quartier Kreis 4 wurde ich auch schon gefragt, was ich denn koste. stärker bemüht, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, und ver- In der Öffentlichkeit wurde ich mal mit «huere Schoggichopf» und sucht, unsere Perspektive einzunehmen. Gesellschaftlich und poli- «Geh doch wieder dorthin, wo du herkommst» beschimpft. Als ich tisch wünsche ich mir einen breiteren Diskurs zu strukturellem die Person zur Rede stellte, kassierte ich einen Ellbogenhieb; nie- und institutionellem Rassismus sowie zu Diskriminierung, aber mand von den Umstehenden reagierte. Als Kind wurde ich mit auch zur Rolle der Schweiz in der Vergangenheit. Die Schweiz ist dem M-Wort beschimpft. Ich kann nicht nachvollziehen, wieso und war nie neutral!» manche Leute immer noch darauf bestehen, diese Süssigkeit so zu Protokolliert von Carole Scheidegger nennen. Bei vielen People of Color ruft dieses Wort nur verletzende Erinnerungen hervor. 19 AMNESTY März 2021
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