Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Angelpunkte
                               Evangelische Gemeinde zu Beirut
                                      Jahrbuch 2020 - 2021

Besinnung

Rückblick:
Ein Gang durch das Jahr

Berichte und Bilder:
Die Lage im Lande
und die Not der Maids
Die Explosion und die Folgen
Einsatz der Spenden
Ein Stück Normalität -
Tripoli und Broumanna,
unser Kindertreff
Nachrufe
Auf Lilo und Edel
Engagement für andere:
Die Flüchtlingsschule
in Naàme
BorderLess Lebanon

Zum guten Schluss:
Pfingsten
in der Gemeinde
und Pfingsten
für den Libanon

                                  „Er ist der lebendige Gott; er lebt in Ewigkeit.
                                                  Sein Reich geht niemals unter;
                                                seine Herrschaft hat kein Ende“.
                                                                         Daniel 6,27

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Inhalt
   Besinnung                                 3
   Rückblick: Ein Gang durch das Jahr        4
   Berichte und Bilder:
   Lieber von Corona sterben als vor Hunger
   Die Lage im Lande und die Not der Maids 10
   Beirut nach der Explosion                11
   Einsatz der Spenden nach der Explosion   13
   Immer noch ein Stück Normalität
   Tripoli und Broumanna                    17
   Advent und Weihnachten bei uns
   - Corona zum Trotz                       18
   Unser Kindertreff in Coronazeiten        19
   Nachruf
   Abschied von Lilo                        21
   Trauer um unsere Edel                    22
   Engagement für andere:
   Projekte, die wir unterstützen
   Unser Hilfsprojekt:
   Die Flüchtlingsschule von Naàme          24
   BorderLess Lebanon                       25

   Zum guten Schluss:
   Rückblick auf das Pfingstfest                 Impressum:
   in der Evangelischen Gemeinde Beirut          Redaktion, layout und V.i.S.d.P. Pfarrer Jürgen Henning
   und Gedanken zur Relevanz von Pfingsten
                                                 Ev. Gemeinde Beirut
   für die Menschen im Libanon             27
                                                 Pierre Aboukhater Bldg.
                                                 Rue Mansour Jurdak 429
                                                 Manara- Beirut 2036 – 8041 / Lebanon
                                                 Tel. 00961-1-740 318
                                                 (mobil Pfr. 00961-3-839196)
                                                 Email:
                                                 info@evangelische-gemeinde-beirut.org
                                                 pfarrer@evangelische-gemeinde-beirut.org
                                                 Homepage:
                                                 www.evangelische-gemeinde-beirut.org
                                                 Youtube-Kanal:
                                                 www.youtube.com
                                                 „Evangelische Gemeinde zu Beirut“
                                                 Bankkonten:
                                                 Evangelische Gemeinde zu Beirut
                                                 Deutschland: Evangelische Bank eG,
                                                 IBAN: DE92 5206 0410 0006 4286 73,
                                                 BIC: GENODEF1EK1
                                                 Für Spendenquittung Name und Anschrift angeben
                                                 Libanon: BLOM Bank (Beirut, Bliss Branch)
                                                 LBP: IBAN: LB32 0014 0000 3301 3000 8804 9113
                                                 USD: IBAN: LB67 0014 0000 3302 3000 8804 9112
 Redaktionsschluss: 20.06.2021

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Liebe Freundinnen                       Gott, mächtiger als die vermeintliche Unentrinn-
                    und Freunde in Christus.                barkeit jedweder Gesetze!
                                                                 Einer meiner theologischen Lehrer, nach der
                          „Der alte Gott lebet
                                                            Vorsehung Gottes befragt, erklärte uns einmal: Den
                     noch!“ - so habe ich hin und
                                                            Lauf der Welt und ihrer Geschichte müssen wir uns
                     wieder die Worte einer alten
                                                            vorstellen wie einen Webteppich, der im Entstehen
                     Frau im Ohr, die ich in meiner
                                                            ist. Wir schauen darauf und sehen Fäden, Muster,
                     ersten Gemeinde oft besuchte.
                                                            vielleicht nur Flecken. Wir sehen das Ganze noch
                     Sie war, wie man so sagt, „ein
                                                            nicht, begreifen vielleicht das Einzelne vor uns nur
                     ganz besonderes Kaliber“, et-
                                                            ansatzweise. Auch der Künstler selbst geht mit dem
                     was ruppig vielleicht, ein we-
                                                            Werden des Werkes mit, nimmt dieses und jenes
nig sonderbar und vor allem: sie nahm kein Blatt
                                                            Material dazu, folgt Eingebungen und Anregungen,
vor den Mund. Sie hatte wohl auch schon viel
                                                            webt dieses und jenes noch mit hinein, das zu-
Schweres mitgemacht im Leben und manche un-
                                                            nächst nicht einmal sehr passend erscheint. Das
liebsame Erfahrung mit Menschen gemacht, sogar
                                                            Entstehen des Teppichs ist ein lebendiger Prozess.
mit den engsten Angehörigen. So konnte sie mir
                                                            Fast scheint es so, als hätte er sogar ein Eigenleben.
bei meinen Besuchen auch tüchtig die Ohren voll
                                                            Doch der Webkünstler weiß gewiss, dass es am
schimpfen. Und ihre Themenkreise wurden weiter
                                                            Ende ein wunderbares Kunstwerk geworden sein
und weiter. Am Ende war oft ein Rundumschlag
                                                            wird, in dem jeder Faden, jedes Stück Stoff, jede
getan, bei dem an kaum etwas in der Welt ein gutes
                                                            Farbe, auch die dunklen, genau den rechten Ort hat.
Haar gelassen schien. Selbst Gott musste sich da
                                                            Er ist es ja, der webt, auch einwebt, was irgendwie
manche harsche Kritik gefallen lassen. Doch am
                                                            hinzukommt, und korrigiert, was einen unguten
Ende folgte stets ihr Ausspruch, in den sie ihre
                                                            Lauf zu nehmen droht. Sein Werk wird ihm nicht
ganze Hoffnung und ihr großes Dennoch packte,
                                                            misslingen. Dafür ist er zu gut. Er ist der Beste sei-
ihre Zuversicht noch in den aussichtslosesten Stun-
                                                            ner Art. Darauf kann man sich verlassen.
den: „Aber der alte Gott lebet noch!“ Gott hat
                                                                 Wie sehr brauchen wir doch solches Vertrauen
nicht abgedankt. Er sitzt im Regiment, auch wenn
                                                            in unseren Tagen, zumal hier im Libanon! Ange-
es manchmal auf dieser Welt noch so drunter und
                                                            sichts der uns alle so sehr bedrückenden politischen
drüber zu gehen scheint, in den Turbulenzen des
                                                            und wirtschaftlichen Situation, die kein Anzeichen
persönlichen Lebens wie in den Ungereimtheiten
                                                            einer Veränderung zum Positiven zeigt, geht vielen
des großen Ganzen. Gott behält die Herrschaft!
                                                            die Geduld aus und die Hoffnung. Sie verlassen das
     Das ist auch die Botschaft des Danielbuches.
                                                            Land, suchen sich anderswo ein neues Leben auf-
Viele kennen die Geschichte von Daniel in der Lö-
                                                            zubauen. Andere wollen bewusst bleiben, nicht
wengrube seit Kindertagen. Da ist ein Herrscher,
                                                            kapitulieren vor einer korrupten Klasse, suchen hier
der sich durch seine Eitelkeit in eine Falle locken
                                                            neu anzufangen gegen alle Widerstände.
lässt und per Gesetz für sich allein göttliche Vereh-
                                                                 „Er ist der lebendige Gott; er lebt in Ewigkeit.
rung beansprucht. Er wird zum Gefangenen seiner
                                                            Sein Reich geht niemals unter; seine Herrschaft hat
eigenen Regeln, als er meint, es hilflos geschehen
                                                            kein Ende“. - Für viele Menschen wurde die Ret-
lassen zu müssen, dass dieses Gesetz seinen fähigs-
                                                            tung Daniels aus der Löwengrube zum Hoffnungs-
ten Minister vernichtet: Daniel, der dem Gott Isra-
                                                            zeichen und hat sie in schwierigen Situationen er-
els folgt und ihn allein anbetet. Doch in der Lö-
                                                            mutigt, sich auf Gott zu verlassen, auch wenn in
wengrube wird Daniel aus der Todesgefahr errettet.
                                                            ihrem Leben von seiner helfenden und befreienden
In höchster Gefährdung hat sich Daniel im Glauben
                                                            Kraft noch gar nichts zu spüren war. Und es ist
Gott ganz anvertraut. Und nicht nur er erfährt Be-
                                                            dann erstaunlich, was Menschen darüber berichten
freiung aus der Not, auch der König wird von sei-
                                                            können, wie Gott schließlich geholfen, bewahrt,
ner Angst um den geliebten Mitarbeiter und von
                                                            weitergeführt und gerettet hat. Wir vergessen diese
der Verstrickung im eigenen Gesetz erlöst. „Er ist
                                                            Erfahrungen nur oft so schnell in all den anderen
der lebendige Gott; er lebt in Ewigkeit. Sein Reich
                                                            Nachrichten, die täglich neu auf uns eindringen und
geht niemals unter; seine Herrschaft hat kein En-
                                                            bewältigt werden wollen. Gegen dieses Vergessen
de“, lässt ihn das Danielbuch über Gott am Ende
                                                            steht uns solch ein Wort der heiligen Schrift. Gott
ausrufen. Und darum geht es - zu erkennen: Wir
                                                            bleibt Herr! - Oder wie die alte Frau es immer sag-
haben einen Gott, der hilft! Und dieser Gott, dessen
                                                            te: „Aber der alte Gott lebet noch!“
Herrschaft kein Ende hat, ist kein unabänderliches
Gesetz, nach dem das Räderwerk der Geschichte
                                                                             Ihr / Euer Pfarrer Jürgen Henning
abläuft. Es ist vielmehr der lebendige, der rettende

                                                        3
Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Ein                   die nach dem Rücktritt des Kabinetts Hariris als
                                                          Folge der Proteste vom Herbst 2019 gebildet worden
                                    Gang                  war und im Grunde nur noch das Land in seinen
                                    durch                 finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Ruin
                                                          hinein begleitete. Am 10. August trat sie nach hefti-
                                    das                   gen Protestdemonstrationen und gewaltsamen Aus-
                                    zurück-               einandersetzungen in der Folge der Explosion zu-
                                                          rück. Was sollte nun werden? –
                                    liegende                   Ein „Witz“ machte die Runde, der den Seelen-
                                    Jahr                  zustand der Menschen bestens zum Ausdruck brach-
                                                          te: „Sitzt ein Mann in seinem fensterlosen Büro in
                                    in                    Beirut. Kommt einer und fragt: „Was machen Sie
                                    unserer               denn noch hier?“ Antwortet der: „Ich weiß, mein
                                                          Büro ist hin, es riecht nach Rauch, meine Firma ist
                                    Gemeinde              Pleite, es gibt keine Pads für die Kaffeemaschine
                                                          mehr zu kaufen ... Der einzige Grund, warum ich
                                                          hier noch sitze, ist: Ich möchte wissen, was als
                                                          Nächstes kommt.“ - Aber da waren auch die vielen
     Das „alte Gemeindejahr“ hatten wir mit Ab-           jungen Leute, die sofort Besen in die Hand nahmen,
standsfest und Gemeindeversammlung hoffnungs-             und die Scherben zusammenkehrten, die nicht auf
froh abgeschlossen. Nach der langen Zeit des ersten       die Regierung warteten, die noch meinten, etwas
Lockdowns war alles wieder offen, vieles unter Ein-       zum Positiven verändern, etwas wiederaufbauen,
haltung der Vorsichtsmaßnahmen wieder möglich.            etwas neu aufbauen zu können. Und da war die
Die Infektionszahlen waren auf sehr niedrigem Ni-         Spendenbereitschaft in aller Welt: Auch wir erhiel-
veau. Fast konnte man meinen, die Covid 19 Pan-           ten als Gemeinde Spenden aus Deutschland für den
demie sei überstanden. Und solche positive Stim-          Wiederaufbau und zur Linderung der Not der Men-
mung stärkte auch die Hoffnung darauf, dass die           schen, die wir in den folgenden Monaten zum Ein-
Wirtschafts- und Finanzkrise bald überwunden wer-         satz bringen konnten. Vor allem unterstützten wir
den könnte. So gestimmt begaben sich viele in die         libanesische Hilfsorganisationen, denen der Wieder-
Sommerferien, reisten zu Besuchen nach Deutsch-           aufbau vollkommen überlassen, wurde in von der
land, in die Schweiz, dorthin, wo immer ihre Kinder       Armee zugeteilten Bezirken – Bezirke einteilen:
ansässig geworden waren. Und ich freute mich, end-        darauf beschränkte sich das Engagement des Staates!
lich auch die meinen und meine                                                    Während weder der Staatsprä-
Frau nach so langer Zeit in Deutsch-                                         sident noch der Premierminister
land wiedersehen zu können.                                                  nach der Explosion die betroffe-
     Dann kam der Tag, den wir                                               nen Gebiete aufsuchten und sich
alle nicht mehr vergessen und                                                den Menschen in ihrer Not zu-
der wie zu einem Gedenktag für                                               wendeten, um ein wenig Mitge-
die Misere dieses Landes wurde:                                              fühl und Betroffenheit zu zeigen,
Der 4. August mit der Explosion                                              tat das der französische (!!) Präsi-
im Hafen! Wie manche ereilte                                                 dent Macron am 7. August: Er
mich die unglaubliche Nachricht                                              besucht den krisengeschüttelten
in Deutschland. Bei meiner                                                   Libanon, geht in die betroffenen
Rückkehr wenig später konnte                                                 Gebiete zu den Menschen, ver-
ich das Ausmaß der Zerstörung                                                spricht internationale Hilfe zu
mit eigenen Augen sehen und die                                              koordinieren, mahnt, die Regie-
Not wahrnehmen: der vollkom-                                                 rung, die versprochenen Refor-
men zerstörte Hafen, eingestürz-                                             men durchzuführen und bringt
te Häuser, verwüstete Wohnun-                                                unmissverständlich zum Aus-
gen, ganze Stadtteile in Trümmern wie nach einem          druck, dass die Auszahlung der Hilfe davon abhängt.
Bombenangriff im Krieg – über 200 Tote, 6000 Ver-         Nach dem Rücktritt der erfolglosen Regierung stellte
letzte, 300.000 Menschen, die ihr Zuhause verloren        Macron ein Ultimatum, bis zu seinem erneuten Be-
hatten. Die Explosion war wie ein „I-Tüpfelchen“          such am 1. September einen neuen Premierminister
auf die erfolglosen Bemühungen einer Regierung,           zu bestimmen. Am Tag vor Ablauf, am 31. August

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
einigte man sich auf Mustafa Adib, Botschafter des          Kraft getreten waren. Wie es schien, alles halbherzi-
Libanon in Deutschland, als neuem Premierminister           ge unkoordinierte Panikreaktionen der Caretaker-
und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. -            Regierung bzw. zuständigen Behörden! - 24stündige
Wer ist Mustafa Adib?“ fragte sich damals jeder. -          Ausgangssperren in den betroffenen Gebieten, ganze
Macron verlängerte sein „Ultimatum“ bis zum 15.             Dörfer wurden abgesperrt, während in anderen wei-
September und leitete damit ein Jahr der „Verschie-         ter fröhlich Hochzeiten mit 1000 Gästen gefeiert
bungen“ ein: Die Regierungsbildung wird verscho-            wurden. Kann der Erntedankgottesdienst in Broum-
ben, die Hilfen werden verschoben,                          mana stattfinden? So fragten wir uns, als die Dörfer
die Reformen werden verscho-                                                  um Broummana in den wöchent-
ben, Lösungen werden verscho-                                                 lich herausgegebenen „Schließlis-
ben, das Regieren wird verscho-                                               ten“ erwähnt wurden. Aber am
ben, jedes Tun überhaupt wird                                                 Sonntag d. 4. Oktober konnten wir
verschoben. Anderes als Ver-                                                  wieder unseren Familiengottes-
schieben und Laufenlassen pas-                                                dienst zum Erntedankfest im Gar-
sierte bis heute nicht! Selbstver-                                            ten des Hotels Rüssli nach alter
ständlich konnte Adib sich nicht                                              Tradition feiern, mit weit ausei-
durchsetzen mit dem Plan, ein                                                 nander gestellten Stühlen, Masken
verkleinertes Kabinett aus 14                                                 … und doch dem gewohnten Buf-
„Technokraten“ unabhängig vom                                                 fet, auf dem all die leckeren Spei-
religiösen Proporz und den be-                                                sen standen, die wir jeweils mit-
stehenden Parteien zu bilden und                                              gebracht hatten wie in jedem Jahr.
trat am 26. September zurück.                                                 Es war richtig schön!! Ein biss-
     Derweil verschärfte sich die                                             chen Normalität, ein schwebender
Finanzkrise, die Inflation stiegt                                             Festtag im sonst bleiernen Alltag.
weiter, die Geldentwertung nahm                                               Ich hab noch das milde Sonnen-
ungebremst zu. Und dann war da doch noch etwas:             licht vor Augen, in dem wir am Nachmittag wieder
„Corona“! - „I don’t believe in Corona“, sagte mir          runter nach Beirut fuhren, spüre das beglückende
mein Barbier. Aber das Virus interessierte sich nicht       Gefühl, das mich an diesem Nachmittag erfüllte.
für unseren Glauben und schuf Tatsachen: Die In-                 Am nächsten Tag erlitt ich einen Herzinfarkt.
fektionen gerieten außer Kontrolle, täglich gab es im       Ich bin froh und dankbar, überlebt zu haben, Gott
September durchschnittlich über 1000 Neuinfizierte,         dankbar und meiner Frau, die, als mittags eigenarti-
mehr als 10 Tote. Wir blieben in                                              ge Krämpfe in der Brust auftraten,
der Gemeinde vorsichtig aktiv:                                                darauf bestand, in die Notauf-
Zwar fanden Veranstaltungen                                                   nahme des AUH zu fahren. Ali
statt, aber stets auf Abstand, mit                                            brachte uns hin. Noch im Auto
Maske, unter Einhaltung der                                                   kam ein so heftiger Krampf, dass
Hygieneregeln. In der Kirche                                                  ich dachte: „So sieht also der Ab-
waren 25 besetzbare Plätze ge-                                                schied aus!“ Der finale Verschluss
kennzeichnet, vor und nach den                                                ereignete sich in der Emergency:
Gottesdiensten ging Omar durch,                                               „Sie haben jetzt einen Infarkt,
putzte und desinfizierte alles.                                               aber seien Sie beruhigt: Sie sind
Klimaanlage und geöffnete Fens-                                               hier, und wir können alles für Sie
ter im Altarraum sorgten für                                                  tun“, hörte ich noch den Arzt …
ständige      Durchluftbewegung.                                              Ein libanesischer Amtsbruder
Die Gottesdienste feierten wir in                                             hatte zur selben Zeit ebenfalls
einer verkürzten Form, damit                                                  einen Herzinfarkt und starb auf
man nicht zu lange im geschlos-                                               dem Weg ins Krankenhaus. Nicht
senen Raum beieinander blieb.                                                 erst seitdem ist mir bewusst, dass
Das sollte für lange Zeit die neue „Normalliturgie“         unser Leben nur an einem seidenen Faden hängt.
werden. Der Kindertreff fand im Freien statt. Beim          Gehalten sind wir allein von den unsichtbaren Hän-
Frauentreff standen die Stühle mit 1,5 Meter Abstand.       den Gottes. Am 15.10. flog ich auch auf dringendes
     Mit Beginn des Oktobers wurden lokale totale           Anraten der EKD, meiner Hausärztin und des hinzu-
Lockdowns verhängt, nachdem schon am 23. Sep-               gezogenen deutschen Kardiologen nach Deutschland
tember neue Bestimmungen zur Eindämmung in                  zur Reha, musste meine Gemeinde ihren eigenen

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Kräften überlassen. Eine Vertretung aus Deutsch-               Ich blieb auch nach Beendigung meines Klini-
land wurde von der EKD erwogen, konnte aber nicht          kaufenthalts Mitte November weiter in Deutschland.
entsandt werden: Durch die Covid19-Bestimmungen            Ich sollte mich nicht vorzeitig einer im Libanon
war dies nicht möglich. - Wir sind kriegserprobt“,         stärker als in Deutschland gegebenen Gefährdung
hieß es von den Frauen. Damals hatten sie die Ge-          aussetzen. Zumal ich in Beirut auch nur in unserer
meinde erhalten, als der Pfarrer jenseits der Grenze       Wohnung hätte bleiben müssen. Gottesdienste und
im christlichen Teil bleiben musste                                          andere Versammlungen waren
und oft über längere Zeit nicht                                              untersagt. Schon während meines
nach Ras Beirut kommen konnte.                                               Klinikaufenthalts habe ich über
      Am 22. Oktober wurde der                                               WhatsApp-Nachrichten Kontakt
genau vor einem Jahr zurückge-                                               zu den Gemeindegliedern gehal-
tretene Premierminister Hariri als                                           ten. Und schließlich - obwohl wei-
neuer designierter Premierminis-                                             ter „krankgeschrieben“ - begann
ter mit der Regierungsbildung                                                ich damit, Onlinegottesdienste aus
beauftragt. Alles auf Anfang                                                 der in unserem umgebauten Stall
also! Er versprach eine Experten-                                            eingerichteten Kapelle in Esch-
regierung – und blieb selbstver-                                             wege zu senden, die über unseren
ständlich erfolglos in seinem                                                Youtube-Kanal am Bildschirm
Bemühen bis zum heutigen Ta-                                                 mitgefeiert werden konnten. Diese
ge! Es herrschen wieder die alten                                            Praxis hatten wir ja schon im ers-
Verhältnisse wie vor der „Revo-                                              ten großen Lockdown über Mona-
lution“, nur verschlechtert durch                                            te geübt. Im übrigen aber hatte das
die Finanz- und Wirtschaftskrise,                                            Virus unser Gemeindeleben wie-
die Explosion, Corona … Die Konstellationen blei-          der in einen Dornröschenschlaf versetzt. Auch unser
ben unter den 18 Konfessionen, die Gier, möglichst         Weihnachtsbasar musste zum ersten Mal ausfallen.
viel vom Kuchen abzubekommen, das Misstrauen                   Der Lockdown im Libanon wurde nach dem 30.
gegeneinander und gegenüber jeder Veränderung,             November nicht, wie die weiterhin hohen Infekti-
und die Furcht vor Verlust des persönlichen Reich-         onszahlen es erwarten ließen, verlängert, sondern
tums natürlich. Mit steter Regelmäßigkeit konnte           gegen alle Vernunft aufgehoben - damit die 80.000
man die nichtssagenden Berichte von den Treffen            libanesischen Expats heimkommen und ausländi-
Hariris mit Aoun lesen: Hariri auf dem Weg, Hariri         sches Geld vor Weihnachten ins Land spülen und
im Präsidentenpalast angekommen, sie trinken Kaf-          kräftig ausgeben konnten. Das sollte sich rächen mit
fee, Gespräche in ange-                                                               unwahrscheinlich rapide
nehmer Atmosphäre, Har-                                                               steigenden     Infektions-
iri unterbreitet Vorschläge                                                           und Todeszahlen und
zur      Kabinettsbildung,                                                            einer bis dahin nicht ge-
die Aoun ablehnt, Ge-                                                                 kannten Überlastung des
genvorschläge… Man ging                                                               Gesundheitssystems. Als
ergebnislos auseinander!                                                              die Zahlen nach Weih-
Derweil „wurschtelte“                                                                 nachten explodierten auf
die – wie Google transla-                                                             täglich bis zu fast 7000
te so schön übersetzt –                                                               Neuinfektionen und 70
die „Hausmeisterregie-                                                                Toten, die Krankenhäuser
rung“ weiter orientie-                                                                keine Patienten mehr auf-
rungs- und planlos vor                                                                nehmen konnten, Sauer-
sich hin, versuchte vor                                                               stoff in Autos hinein ver-
allem Corona konzeptlos in den Griff zu bekommen.          abreicht wurde, Cafeterien zu Notlazaretten umfunk-
Mal wurden lokale Lockdowns verhängt, mal lan-             tioniert wurden, wurde ab 14. Januar ein absoluter
desweite Teillockdowns mit blödsinnigen Aus-               Lockdown in nun beispielloser Strenge mit 24 stün-
gangssperren etwa zwischen 3 und 5 Uhr nachts, mal         diger Ausgangssperre verhängt. Notwendige Gänge
strenger, dann wieder mit Lockerungen, schließlich         zur Apotheke oder zum Supermarkt etwa mussten
gab es doch einen landesweiten totalen Lockdown            per SMS angemeldet und die Genehmigung musste
vom 4. bis zum 30. November.                               abgewartet werden.

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Selbstverständlich hatte keiner mehr irgendeinen       brachte mich stets auf den Boden der Tatsachen zu-
„Nerv“ für eine wie auch immer geartete „Revoluti-          rück: Selbst wenn ich vollkommen „gesund“ und
on“. Keiner erwartete ernsthaft mehr eine Einigung          ohne besondere Gefährdung gewesen wäre, hätte ich
bei der Kabinettsbildung, die die Voraussetzung für         bis mindesten Ende März die Tage in Beirut in mei-
den Erhalt von internationalen Hilfsgeldern wäre.           ner Wohnung zugebracht, keine Präsenzgottesdiens-
Keiner erhoffte sich mehr etwas im Hinblick auf ein         te feiern können, die bis nach den Osterfeiertagen
Gelingen der Macron-Initiative zur Überwindung              nicht erlaubt waren, keine Gemeindeveranstaltungen
der Wirtschaftskrise oder zum                                                  durchführen, niemanden besu-
Wiederaufbau Beiruts, der in-                                                  chen, keinem begegnen können.
zwischen allein durch NGOs                                                     Ich hätte auch hier allein das tun
mit Spendenmitteln weiterging                                                  können, was ich von Deutschland
- Covid19 bestimmte alles! Man                                                 aus tat, wo ich mich zudem ja
schätzte, dass sich bereits über                                               nicht freiwillig und zu meinem
30 Prozent der Bevölkerung infi-                                               Vergnügen aufgehalten habe. Das
ziert hatten. Im Februar wurde                                                 musste ich mir selbst immer wie-
mit Impfungen begonnen. Etwa                                                   der sagen - wir leben in unge-
3 Mio. Bürgerinnen und Bürger                                                  wöhnlichen Zeiten! Dieses Virus
könnten bis Sommer geimpft                                                     hat weltweit das Leben auf den
werden, hieß es. Auch wenn das                                                 Kopf gestellt. Und wir sind immer
natürlich zu positiv geschätzt                                                 noch nicht davon befreit.
schien (was der Blick auf die                                                      Am 14. Februar mussten wir
gegenwärtigen Zahlen im Juni                                                   das Totengedenken für Lilo
bestätigt) – es machte Hoffnung!                                               Maasri im Onlinegottesdienst zum
Ich selbst sollte meine Impfung                                                Valentinstag halten, die am
in Deutschland abwarten: Eine Rückkehr in das               Dienstag zuvor gestorben war. Pünktlich zum Valen-
Hochrisikogebiet des Libanon, von der die EKD wie           tinstag wurde im Libanon mit dem Impfen begon-
auch der Kardiologe dringend abgeraten hatten, hätte        nen. Und sehr bald waren fast alle unserer Gemein-
für mich in meinem Gesundheitszustand eine zu               deglieder geimpft. Die Zahlen der Neuinfektionen
große Gefährdung dargestellt. So habe ich mit Zu-           gingen nach Aufnahme der Impfungen leicht zurück.
stimmung des GKR weiter online gearbeitet, auch             Lagen sie bis Anfang Februar bei bis über 8000 täg-
Onlinegottesdienste über unseren Youtube-Kanal              lich mit hunderten Toten, waren es jetzt täglich zwi-
vom „Henningschen Stall in Eschwege“ aus in den             schen 2500 und 3800 bei um die 60 Todesfällen,
Libanon geschickt, zu dem sich sonntäglich eine             also immer noch auf sehr hohem und vom Gesund-
Gemeinde von durchschnittlich 40 Menschen sam-              heitssystem nicht zu bewältigenden Niveau. So wur-
melte. Erstaunlich ist                                                                  de der Lockdown fortge-
die Bewahrung der                                                                       setzt, jedoch trotz der
Gemeindeglieder: Kei-                                                                   immer noch hohen Zah-
ne Infektion, kein Ster-                                                                len ab März stufenweise
befall waren zu bekla-                                                                  gelockert. Ebenfalls zum
gen bis Februar. Ledig-                                                                 Valentinstag gab der
lich einige Infektionsfä-                                                               designierte Premiermi-
lle im Umkreis / Freun-                                                                 nister Hariri bekannt,
deskreis der Gemeinde                                                                   dass nach Gesprächen
wurden bekannt. Alle                                                                    mit Präsident Aoun auch
waren sehr vorsichtig,                                                                  diesmal keine neue Re-
haben die Hygienere-                                                                    gierung gebildet werden
geln beherzigt, den                                                                     konnte und sein Vor-
Lockdown         befolgt,                                                               schlag erneut abgelehnt
auch wenn es vielen sehr schwer gefallen ist, allein        wurde. Somit tat sich bei den internationalen Hilfen
zuhause zu bleiben, Kontakte nur über Telefon und           sowohl zum Wiederaufbau der zerstörten Beiruter
Computer zu halten. Natürlich hat es mir immer              Stadtteile als auch im Hinblick auf die Wirtschafts-
wieder sehr zugesetzt, nicht bei meiner Gemeinde            und Finanzkrise nichts. Während in aller Ruhe aus-
sein zu können an dem Ort, wohin ich berufen war.           gangslose Gespräche geführt werden, verarmen und
Doch ein nüchterner Blick auf die Gegebenheiten             hungern immer mehr Menschen im Libanon. Ver-

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
zweifelte Proteste flammten trotz Ausgangsperren           anderenorts ein neues Leben aufzubauen. Wer dazu
immer wieder auf, vor allem in Tripoli.                    in der Lage ist, tut das, wer irgend kann, geht. Das
     Am 22. Februar verstarb wieder ein Gemeinde-          Land blutet aus, gerade in der gebildeten und einst
glied: Monika Lipinski im Alter von 57 Jahren. Wir         im Blick auf den Fortschritt und Wohlstand des
gedachten ihrer im Online-Gottesdienst am 28.2.,           Landes hoch motivierten Mittelschicht, die immer
zündeten zu ihrem Foto eine Kerze an. Vielen war           weiter abrutscht und im Libanon keine Lebensper-
ihr Gesicht auch vom Kuchenstand beim Weih-                spektive mehr für sich sieht. Dazu gehören mehr-
nachtsbasar bekannt.                                                                   heitlich Christen. Immer
     Als am 2. März das                                                                wieder erreichen uns
Libanesische      Pfund                                                                Grüße von Ausgewan-
gegenüber dem Dollar                                                                   derten aus der Schweiz,
wieder auf einen Re-                                                                   aus Italien, Frankreich,
kordwert von über                                                                      Kanada … von Men-
10.000 LBP für einen                                                                   schen, die einst gern im
Dollar gefallen ist,                                                                   Libanon als ihrer Heimat
kommt es ungeachtet                                                                    lebten. Am 16.3. erreicht
der      Ausgangssperre                                                                die     Inflation   einen
wieder überall zu De-                                                                  Höchststand: Für einen
monstrationen und hef-                                                                 Dollar sind nun 15.000
tigen Protesten. Wie                                                                   Lira zu bezahlen. (statt
schon am Samstag zu-                                                                   1.500 wie der offizielle
vor vor der Residenz des Maronitischen Patriarchen         Kurs immer noch lautet.) Viele Supermärkte wurde
die Menschen, Christen und auch Muslime, mit dem           geschlossen wegen der Preisveränderungen, die auf
Patriarchen gegen die Zustände im Land standen,            den Wertverlust folgten – die Supermärkte kamen
gegen die mächtigen und nur mit sich selbst beschäf-       mit der Neuauspreisung nicht mehr hinterher.
tigten Eliten, gegen die Verschleppung einer Kabi-              Pünktlich zum Palmsonntag am 27.3. wurde von
nettsbildung, wodurch alle Hilfen zur Stabilisierung       der „Hausmeisterregierung“ bekanntgegeben, dass
der Währung und Wirtschaft, zum Wiederaufbau der           zu den Osterfeiertagen nach westlichem Termin und
zerstörten Bezirke in Beirut, zum Kampf gegen Co-          später auch zu den orthodoxen Osterfeiertagen kei-
vid 19 verhindert werden. Es wurde auch eine De-           nerlei Präsenzgottesdienste, Prozessionen und Ver-
monstration gegen den Einfluss                                                sammlungen erlaubt sind. Der
der Hisbollah, an der Schiiten                                                Ausnahmezustand wurde bis Juni
neben Muslimen und Christen                                                   verlängert, was bedeutet, dass
teilnahmen. Der folgende Mon-                                                 immer wieder und kurzfristig die
tag wurde vom Patriarchen und                                                 Bestimmungen angepasst, Aus-
der Protestbewegung zum „Day                                                  gangssperren und Schließungen
of Anger“ ausgerufen. Es kam                                                  angeordnet werden können. Ich
darauf vermehrt zu landesweiten                                               erhielt überglücklich am 7. April
Massenprotesten wie schon in                                                  meine Erstimpfung und konnte
der Woche zuvor weiter. Stra-                                                 nach der zweiten Impfung
ßen, Plätze, der Costal Highway                                               schließlich am 15. Mai nach Bei-
… wurden mit Straßensperren                                                   rut zurückkehren. Vom „Aus-
u.a. aus brennenden Reifen blo-                                               nahmezustand“ allerdings konnte
ckiert, der Verkehr lahmgelegt                                                ich nichts mehr spüren. Auf mich
… Bilder vom Oktober 2019                                                     wirkte das Leben im Libanon, in
wiederholten sich. Seit nunmehr                                               das ich zurückgekehrt war, so, als
7 Monaten kam es zu keiner                                                    hätte man einfach beschlossen,
Regierungsbildung. Die politi-                                                die Pandemie sei beendet. Was
sche Klasse zeigt sich offen-                                                 mir allerdings sehr schwer fiel,
sichtlich von der Not der Bevöl-                                              war das Einkaufen: Ich hatte im-
kerung weiter ungerührt, selbst die französische Re-       mer zu wenig Geld da bei, war es nicht gewöhnt,
gierung äußert sich inzwischen resigniert. Derweil         Millionen mit mir herumzutragen. Und ich musste
verlassen weiter viele Familien – auch aus unserem         stets überschlagen, wie lange meine Lira noch aus-
persönlichen Bekanntenkreis - das Land, um sich            reichen würden bis zum Ende des

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Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Monats. – Wenn es mir schon so geht, der ich doch          ergottesdienst in ihrer Kirche und der anschließen-
eigentlich sehr gut situiert bin, wie schlimm sind         den Beisetzung auf unserem franz.-dt. protestant.
diejenigen dran, die vor der Krise bereits mit nur         Friedhof von ihr Abschied genommen.
100 Dollar auskommen mussten!                                                      Nach dem Trinitatisfest be-
Über 60 Prozent der Bevölke-                                                  gann ich eine Predigtreihe, in der
rung eines Landes unter der Ar-                                               ich bis zum letzten Sonntag vor
mutsgrenze (und zwar nicht un-                                                der Sommerpause am 25. Juli die
ter der Deutschlands oder der                                                 einzelnen Abschnitte des Vater-
Schweiz!!!)                                                                   unsers auslegte. Wir haben die
– wie lange geht das „gut“?                                                   Gottesdienste weiter in einer ver-
    Den ersten Präsenzgottes-                                                 kürzten Form gefeiert – wir dür-
dienst feierten wir bereits am                                                fen nicht vergessen: trotz deutlich
Tag nach meiner Rückkehr mit-                                                 zurückgehender Infektionszahlen,
einander in unserer Kirche: am                                                trotz Impfungen der meisten un-
Sonntag Exaudi zum Fest Christi                                               serer Gemeindeglieder - noch ist
Himmelfahrt. Und ich war so                                                   die Pandemie nicht überwunden.
von dankbarer Freude erfüllt!                                                 Vorsicht und Rücksicht sind wei-
Schnell fand ich mich in meinen                                               terhin geboten, freimütig dürfen
Dienst wieder ein, genoss die                                                 wir schon sein, aber nicht über-
Begegnungen auch am Dienstag                                                  mütig!
im Frauentreff, die Friedensan-                                                    Ein zweites „Highlight“ im
dacht, eine Woche später luden                                                Leben unserer Gemeinde in die-
wir wieder zum Kinder- und Jugendtreff ein – Alltag        sem Sommer soll die Gemeindeversammlung am 11.
kann so wunderbar sein, vor allem nach einem so            Juli sein. „Soll“ schreibe ich. Denn sie fällt bereits
lange währenden Ausnahmezustand, wie ihn Co-               hinter den Redaktionsschluss unserer Angelpunkte.
vid19 uns beschert hat. Aber auch ein erstes kleines       Der schon Ende Juni angesetzt sein muss, damit sie
Fest wagten wir zu Pfingsten. Da war ich auch wie-         noch rechtzeitig gedruckt und couvertiert werden
der „in meinem Element“ als Hobbykoch: einen               können. So können sie von den en, die wie der Pfar-
kräftigen Rindfleischeintopf konnte ich auftischen,        rer in die übliche „Sommerfrische“ nach Deutsch-
den alle – ohne mich selbst rühmen zu wollen –             land reisen, mitgenommen und verschickt werden.
doch sichtlich genossen nach dem Festgottesdienst          Die Versammlung konnte wegen des Lockdowns,
in der Kirche. Und einige hatten auch noch leckeren        wie schon im vergangenen Jahr, nicht in der ge-
Kuchen zum Nachtisch beige-                                                    wohnten Zeit im März abgehalten
steuert.                                                                       werden. In diesem Jahr stand
     Leider mussten wir diesmal                                                turnusgemäß die Wahl zum Ge-
unsere liebe Edel, treues und                                                  meindekirchenrat an. Das Ergeb-
engagiertes Gemeindeglied und                                                  nis wird dann in den Monats-
langjährige Vorsitzende des                                                    nachrichten September, die sich
Gemeindekirchenrates,       dabei                                              auch auf unserer Website finden,
vermissen, die längere Zeit                                                    bekanntgegeben und gewiss in
schon krank daniederlag und                                                    den nächsten Angelpunkten Er-
deren körperliche und geistige                                                 wähnung finden, die es hoffent-
Kräfte mit zunehmendem Alter                                                   lich im nächsten Jahr in besseren
und vor allem sehr stark im zu-                                                Zeiten wieder geben wird.
rückliegenden Jahr zusehends
abnahmen. Das machte uns alle                                                                   Jürgen Henning
traurig. Andererseits baute uns
ihre dabei doch stets spürbare
Fröhlichkeit auf. Sie lachte über
Scherze und sie konnte über
sich selbst lachen – und ent-
schwand dabei mehr und mehr in eine Welt, die uns
immer weniger zugänglich war. Am 10. Juni ist sie
verstorben und am 12. Juni haben wir mit dem Trau-

                                                       9
Angelpunkte Evangelische Gemeinde zu Beirut Jahrbuch 2020 2021 - Wsimg.com
Lieber von                bleibt uns fern, auch weil unsere Hilflosigkeit den
                                                          Blick von ihnen rasch wieder fortzieht. Eines Mor-
                               Corona sterben             gens las ich im Daily Star von den „Maids“, den
                               als vor Hunger!            Hausangestellten aus Asien und Afrika, die sich jede
                                                          libanesische Familie „hielt“, die etwas auf sich hielt.
                                                          Sie konnten sie nicht mehr bezahlen, setzten sie vor
                               Die Lage im Lande          den Botschaften ihrer Heimatländer aus. Selbst wenn
                               und die Not                sie das Geld gehabt hätten, um heimfliegen zu kön-
                               der Maids                  nen - der Flughafen blieb ja bis in den Juli hinein
                                                          geschlossen!
                               Wir beteiligten uns             Dann erreichte mich der Anruf von Damien,
                               an der Hilfsaktion         dem KV-Vorsitzenden unserer französischsprachi-
                               unserer französisch-       gen Schwesterge-
                               sprachigen Schwes-         meinde. „Unsere
                               tergemeinde                Leute hungern. Seit
                                                          Samstag verteilen
                                                          wir Beutel mit
                                                          Grundnahrungsmit-
     Es war gerade Pfingsten vorbei. Der Libanon lag      teln. Könnt ihr
am Boden. Und doch konnten wir uns noch nicht so          nicht mitmachen?
recht vorstellen, dass es noch tiefer gehen könnte.       Könnt ihr uns hel-
Seit Oktober 2019 legt sich eine Krise auf die ande-      fen?“ Und plötzlich
re. Die Menschen gingen voll Hoffnung auf die             war all das ganz
Straßen, um gegen Korruption, Misswirtschaft und          nah an meiner
soziale Ungerechtigkeit zu demonstrieren. Die Zeit        Haut. Der über-
ging darüber hinweg, die neue Regierung auch, die         wiegende Teil der
Straßen leerten sich, die Hoffnung verblasste. Dann       Gemeindeglieder
gingen sie wieder auf die Straßen, verzweifelt,           der französisch-protestantischen Gemeinde besteht
scherten sich nicht um die Ausgangssperre. Anita          aus afrikanischen Gastarbeitern und „Maids“ aus
aus Tripoli erzählte mir, was sich dort allabendlich      Madagaskar. 2019 haben wir noch zusammen Him-
abspielte: Straßenschlachten, Polizei und Armee           melfahrt auf der Wiese hinter unserem Friedhof ge-
griffen hart durch. „Corona ist den Leuten egal. Die      feiert: Gottesdienst und Barbecue, madagassische
haben Plakate, darauf steht, was sie auch rufen: Lie-     Köstlichkeiten und deutsche Kuchen. Eine fröhliche
ber von Corona sterben als vor Hunger!“                   Gemeinschaft. Und die hungerten nun. Ich musste es
                                       Die Inflation      mir mehrfach vorsprechen, um es zu begreifen: Sie
                                   war da bereits         hungern!
                                   enorm. Das spür-            Dann begannen auch wir zu packen, erbaten
                                   ten auch wir in        Gottesdienstkollekten etwa vom „Abstandsfest“ oder
                                   der    Gemeinde.       zur Gemeindeversammlung, der VDFL gab einen
                                   Unsere Einkom-         ansehnlichen Betrag, manche spendeten in den
                                   men waren nur          nächsten Wochen regelmäßig den Wert einer Le-
                                   noch ein Drittel       bensmitteltüte, 25.000 – 30.000 LBP: Öl, Reis, Nu-
                                   wert. – Jetzt, ein     deln, ein paar Dosen Tomatenmark und Ölsardinen.
                                   Jahr später aller-     Gemüse holten sie von dem, was Händler wegwar-
                                   dings, wo es 90        fen. Und wo schliefen sie? Bei irgendwem, der noch
                                   Prozent an Wert        Raum hatte. Und Corona, die Ansteckungsgefahr? –
                                   verloren      hat,     „Lieber von Corona sterben als vor Hunger!“
                                   würden wir sa-         Inzwischen konnten sehr viele in ihre Heimatländer
                                   gen:     immerhin      zurückkehren. Unsere Schwestergemeinde ist kleiner
                                   noch ein Drittel! -    geworden, leider.
Dass Menschen bereits nicht mehr das Nötigste kau-
fen konnten, lasen wir. Auch wir ließen immer öfter                                             Jürgen Henning
Waren im Regal liegen. Doch uns ging es ver-
gleichsweise gut. Die Not ist die Not der andern. Sie

                                                     10
Beirut             Hände – nie habe ich gehört und erlebt, dass so
                                                       schnell Reparaturen durchgeführt, Fenster ersetzt
                                    nach               wurden, wiederaufgebaut wurde!!!
                                    der                     Wir - auf Heimaturlaub in Deutschland - waren
                                    Explosion          gerade mit meinem Sohn Max auf dem Weg nach
                                                       Berlin, wo er studiert, als uns eine Whatsapp-
                                                       Nachricht von der ungeheuren Explosion im Hafen
                                                       erreichte. Und dann immer mehr, dazu die Eilmel-
                                                       dungen und schließlich ausführlichen Berichte in
                                                       den Medien. Wir waren total geschockt! Das wirkli-
                                                       che Ausmaß zeigte sich in den Tagen danach. Die
                                                       Gemeinde war glimpflich davongekommen. Von
                                                       unseren direkten Gemeindegliedern war niemand
                                                       verletzt worden. Doch die deutsche Diplomatin Gab-
                                                       riele Kühnle-Radtke war ums Leben gekommen.
                                                       Einige hatten Schäden an ihren Wohnungen zu be-
                                                       klagen, zum Teil erhebliche: kaputte Scheiben und
     Der 4. August 2020 wird als einer der schwär-     herausgerissen Fenster und Türen, die dann wiede-
zesten Tage in die Geschichte Beiruts und des Liba-    rum Schäden an den Einrichtungen verursachten.
non eingehen: Der zerstörte Hafen, eingestürzte             Die Kirche, die geschützt im Hof liegt, umge-
Häuser, verwüstete Wohnungen, Hochhäuser, die          ben von hohen Häusern, war vollkommen bewahrt
wieder wie glaslose Rohbauten dastehen, zerbroche-     geblieben. Sie hatte nicht einen Kratzer abbekom-
nes Glas überall, vor allem in Gemmayzeh, Mar          men. Am Haus, in der Gemeindeetage und in ver-
Michael, Karantina und dann weiter hinauf nach         schiedenen Wohnungen waren insgesamt 15 Schei-
Achrafieh und über Downtown bis nach Hamra. Vor        ben zerbrochen, sie waren mit den Terrassentüren
allem aber die betroffenen Menschen: am Ende über      durch die Druckwelle nach innen gedrückt worden.
200 Tote, 6000 Verletzte und 300.000 die vorüber-      Dazu wurden einige Styropordeckenplatten herun-
gehend, einige wohl dauerhaft, ihr Obdach verloren     tergeschlagen. Die Pfarrwohnung war weitgehend
haben. Und Politiker, die jede Verantwortung von       verschont geblieben, weil Fenster und Terrassentü-
sich wiesen, hin und her nach Schuldigen suchten,      ren geöffnet waren, damit unsere Katzen rein und
wie ehedem seit Jahrzehnten – am 10. August trat       raus konnten. So war die Druckwelle durchgegan-
die jüngste Regierung nach den sofort nach der Ex-     gen. Dank des sofortigen unermüdlichen Einsatzes
plosion einsetzenden Massenprotesten zurück. Doch      von Frederic und Ali, die umgehend Handwerker
auf eine Regierung nach                                                          besorgten, war wenige
dem hergebrachten Sys-                                                           Tage nach der Explosion
tem, auf „den Staat“ ver-                                                        alles aufgeräumt und repa-
lässt sich im Libanon                                                            riert worden. Was mich
ohnehin kein Mensch                                                              wunderte. Ich dachte, nun
mehr. Statt Resignation                                                          gäbe es in ganz Beirut kein
allerdings hatte Mitge-                                                          einziges Fenster mehr zu
fühl, Solidarität, glühen-                                                       kaufen. Jedenfalls mussten
der Eifer eines trotzigen                                                        wir für alles zusammen nur
„Jetzt erst recht“ und                                                           gut 2.000 Dollar bezahlen.
„Wir, wir selbst werden                                                          Glücklicherweise      hatten
das wieder hinbekom-                                                             wir noch eine kurz zuvor
men“ die Menschen er-                                                            erhaltene Euro- bzw. Dol-
griffen. So viele nahmen                                                         larreserve. Sonst hätten wir
einfach einen Besen, gin-                                                        den achtfachen Preis in
gen hin und begannen aufzuräumen, Aufbauhilfen,        LBP bezahlen müssen – heute, ein dreiviertel Jahr
Essensausgaben wurden organisiert, Privatinitiati-     später, wäre es bereits das 14fache!. Die Handwer-
ven, Pfadfinder, auch die palästinische Jugend von     ker rechneten bereits wie alle mit dem jeweiligen
JCC aus dem Camp von Dbaye etwa - und dann Or-         Parallelmarktwert statt nach dem immer noch offizi-
ganisationen wie das Rote Kreuz oder Caritas.          ellen Kurs von 1.500 LBP zu 1 Dollar, was heute
Schließlich spuckten Arbeiter, Handwerker in die       selbstverständlich ist. Die Wirtschafts- und Finanz-

                                                  11
krise wurde ja durch diese schlimme Katastrophe            nau dafür nahmen wir nun Gelder entgegen, verteil-
nicht abgelöst. Sie wurde allerdings verschärft. So wa-    ten und setzten sie ein nach bestem Wissen und Ge-
ren wir als Gemeinde dankbar für die Bewahrung.            wissen. „Wer also spenden und helfen will und nicht
Andere hatten viel Schlimmeres zu beklagen.                allein an die akute Notlage denkt, sondern auch spä-
      Wir wurden recht bald angefragt, ob man uns          ter noch weiterhelfen will, dessen Spenden sind uns
als Gemeinde vor Ort Geld spenden könnte, um ir-           herzlich willkommen. Soforthilfe aber werden wir
gendwie zu helfen. Das war nicht einfach zu ent-           nicht leisten können“ – so hatte ich in einem Inter-
scheiden. Obschon das Vertrauen der Menschen in            view in Deutschland betont.
„Kirche“ uns ehrte und unsere                                                    Und dann kam ich an einem
Verantwortung zu helfen neu                                                 Sonntag aus Deutschland zurück,
weckte. Wir als Gemeinde direkt                                             musste mich orientieren, möglichst
brauchten, wie dargestellt, kaum                                            schnell wieder in das tatsächlich
Geld. Möglicherweise würden ein-                                            andere Leben in Beirut zurückge-
zelne Gemeindeglieder auf uns                                               wöhnen – und ging am Dienstag-
zukommen und um Unterstützung                                               nachmittag „auf Tour“. Nach mei-
bitten, was dann ja auch vereinzelt                                         nem Hausbesuch bei Helga Habib in
geschah. Nun allgemeine Soforthil-                                          Achrafieh, deren durch die Explosi-
fe an irgend Betroffene zu leisten,                                         on arg getroffene Wohnung ich in
überstieg unsere Möglichkeiten                                              Augenschein nahm, bin ich durch
- rein schon in logistischer Hinsicht.                                      die betroffenen Gebiete von Achra-
Wer sofort in Not geratenen Men-                                            fieh, Gemmayzeh und Mar Michael
schen helfen mochte, sollte etwa an                                         zum Hafen runter gelaufen. Einer-
die      Diakonie-Katastrophenhilfe                                         seits war ich erstaunt, wie sehr
oder das Rote Kreuz spenden – so                                            schon alles aufgeräumt war. Nur
sagte ich stets, wenn mich entsprechende Spenden-          ganz wenige Glashaufen waren noch zu sehen, die
angebote erreichten. Längerfristig können wir Spen-        Wege und Straßen vielfach blitzsauber gekehrt. Alle
den allerdings mehr als gut gebrauchen: Die Schule         hatten selbst Hand angelegt. Staatliche Aufräumhil-
für syrische Flüchtlingskinder in Naame etwa exis-         fe hatte es überhaupt keine gegeben. Einzig Wach-
tiert inzwischen ausschließlich von Spendengeldern,        posten standen vor zerstörten Geschäften, um wohl
um die unsere Gemeinde in Deutschland bittet. Sie          Plünderungen zu verhindern. Private Hilfsvereine,
durfte und darf nicht vergessen werden. Dazu blieb         Rotes Kreuz etc. hatten in Abständen immer wieder
und bleibt unser Gemeindesozialdienst weiter ge-           Zelte aufgebaut, „Erste Hilfe“-Stellen, Essensausga-
fragt in Bezug auf unsere regelmäßigen Klientinnen         ben... Allerdings schienen sie mir auf ihren Portio-
und Klienten, die ohne unsere Unterstützung nicht          nen eher sitzen zu bleiben. Am meisten sah ich die
klarkommen könnten und von denen fast alle nun             üblichen Straßenbettler davon essen. Eine Mitarbei-
doch auch durch die Explosion                                               terin von MISEREOR sagte dass es
betroffen waren. Und da erwarteten                                          inzwischen an einigen Plätzen zu
wir in den folgenden Wochen und                                             viel „Soforthilfe“ gab. Überall hörte
Monaten verstärkte Anfragen bzw.                                            man es aber hämmern, sägen und
Bitten um finanzielle Unterstüt-                                            bohren. So rasch war man dabei,
zung, auch von Menschen, die wir                                            wiederaufzubauen - vor allem Fens-
bis dahin nicht im Blick hatten.                                            ter zu ersetzen. Auch Helga Habib
Schon im Zuge der fortschreiten-                                            sollte am Nachmittag schon ihre
den Wirtschaftskrise fanden ver-                                            Fenster bekommen. Und ich dachte
mehrt Bedürftige den Weg zu uns.                                            nur: woher kriegen die jetzt so
Mit Sicherheit würden wir auch,                                             schnell das Material? Aber auch die
wie schon in der Vergangenheit,                                             beschädigten historischen Gebäude
von verschiedenen einheimischen                                             wurden bereits wieder repariert und
Organisationen gebeten, nach                                                restauriert - unglaublich flott ging
Möglichkeit ihren Dienst finanziell                                         das, die Handwerker mit sichtbarem
zu unterstützen. Einige hatten wir                                          Eifer glühend bei der Sache! Irre!
bereits im Sinn, denen wir anbieten wollten, ihre               Doch auf der anderen Seite war ich schockiert
Arbeit für die durch die Explosion getroffenen Men-        zu sehen, was und wie da alles getroffen war. Es
schen mit Spendengeldern zu unterstützen. Und ge-          erinnerte mich an Bilder vom Krieg. Die glaslosen

                                                      12
Hochhäuser, die dann doch zwischendrin einge-                                               Einsatz
stürzten Gebäude und schließlich der Hafen: dort
stand absolut nichts mehr. Aber der Verkehr floss                                                der
ungerührt vorbei. Betroffen stand ich vor Gebäuden,                                              Spenden
mit denen mich etwas verband: die vollkommen                                                     nach der
zerstörte Pizzeria etwa, in der wir ein paarmal geses-
sen hatten und es uns gut gehen ließen, mit den Hei-                                             Explosion
ligen davor in ihrem Glasschrein, von denen ein Fo-
to mit mir aus besseren Tagen existiert. Der war
seltsamerweise vollkommen unversehrt geblieben.
Oder der orthodoxe Laden mit den Ikonen und Ker-
zen gegenüber der nun mit Brettern zugenagelten
Kirchentür - alles dahin! Es war schon wirklich
übel! Und noch schlimmer hatte es in den sozial
schwächeren Wohngebieten von Karantina und                     Auch zwei Monate nach der verheerenden Ex-
Bourj Hammoud ausgesehen. Alle wollten im histo-          plosion im Hafen standen wir alle immer noch sehr
rischen, bekannten und beliebten Gemmayzeh und            betroffen unter dem Eindruck der Folgen. Zwar ging
Mar Michael helfen; an die anderen Gebiete wurde          das Aufräumen und Beseitigen der Glastrümmer
erst später gedacht. Aber auch da sollte es bald auf-     dank des freiwilligen Einsatzes der Libanesischen
wärtsgehen. Die Menschen hatten einen zähen Wil-          Jugend recht schnell vonstatten, die Straßen waren
len zum Wiederaufbau. „Unser Raum ist zerstört -          wieder befahrbar, die Fußwege begehbar. Aber erst
wir nicht!“ war über der Tür eines Restaurantein-         langsam hatte der eigentliche Wiederaufbau begon-
gangs zu lesen.                                           nen. Am ehesten konnten die reinen Glasschäden
                                                          beseitigt werden, Fenster und Türen ersetzt. Doch
                                                          viele Wohnungen und Häuser in den direkt in Ha-
                                                          fennähe gelegenen Gebieten waren nach wie vor
                                                          unbewohnbar. Erfreulicherweise gab es Initiativen
Es geht voran: Reparaturarbeiten in Gemmayzeh
                                                          wie „Green Lebanon“ „Basma“ oder „Stough Bei-
                                                          rut“, die mit Hilfe von Spendenmitteln Wohnungen
                                                          und Häuser wiederherstellten, Schäden reparierten
                                                          und Wohnraum renovierten von Menschen, die das
                                                          selbst nicht bezahlen konnten. Und genau solche
                                                          Menschen hatten doch die vielen in Deutschland im
                                                          Blick, als sie Herzen und Geldbeutel öffneten und
                                                          spendeten, um zu helfen.
                                                               Wir hatten viele Spenden erhalten in Deutsch-
                                                          land, mit denen wir zu helfen bemüht waren.
                                                          Wie setzten wir die Spenden nun ein?
                                                          1. Zum einen leisteten wir Einzelunterstützung bei
                                                          Gemeindegliedern und anderen Geschädigten aus
                                                          dem Umfeld der Gemeinde, von denen wir erfuhren.
                                                          In der Gemeinde selbst hielten sich die Schäden, wie
                                                          schon erwähnt, gering.
                                                          2. Zum anderen unterstützten wir in hohem Umfang
                                                          jene Organisationen - „Green Lebanon“, „Basma“
                                                          und Stough Beirut“ -, die Wohnungen und Häuser
                                                          von Geschädigten reparierten und wiederaufbauten,
                                                          die die Kosten nicht selbst tragen konnten. Es hatte
                                                          ja viele Arme hart getroffen.
                                                          3. Und schließlich unterstützten wir kleine, oft sehr
                                                          effektiv arbeitende Einzelinitiativen. Es gab Schä-
                                                          den, auf die kam keiner. So auch etwa, dass Schul-
                                                          kinder ihre Schulsachen in den Trümmern gelassen
                                                          hatten. Wir konnten umgehend 100 Schultaschen

                                                     13
mit Ausstattung stiften und 12 Laptops. Weitere          on in Verbindung gebracht werden konnte, halfen
folgten. Oder auch Küchenausstattungen:                  wir auch mit Mitteln aus dem allgemeinen „Explosi-
Die Leute bekamen z.T. schnell einen Kühlschrank         onstopf“. Und noch etwas: Obwohl die Verwaltung
und einen Herd von Hilfsorganisationen, damit sie        der Gelder bis hin zur Ausgabe nicht unerhebliche
sich wieder versorgen                                                              zusätzliche Arbeit verur-
konnten. Aber keiner                                                               sachte, hatten wir uns
dachte damals an Tas-                                                              entschlossen,       KEINE
sen, Teller, Töpfe, Be-                                                            Verwaltungskostengebühr
steck .... Wir sammelten                                                           zu erheben. Wir gaben
in der Gemeinde, und                                                               das Geld direkt weiter,
die Leute gaben von                                                                entweder in Euro, bei
dem, was sie überzählig                                                            Überweisung an Organi-
daheim in den Schrän-                                                              sationen wie „Green Le-
ken hatten. Bedarfsweise                                                           banon“ oder „Basma“ und
kauften wir dazu. Wir                                                              „Stough Beirut“ in Dollar,
gaben es weiter an Pfar-                                                           oder es erfolgte eine Di-
rerin Dr. Rima Nasralla                                                            rektauszahlung in Lira zu
von der National Church, die diese Aktion wie auch       dem von der Zentralbank für die Wechselstuben
die Versorgung mit Schulmaterial von ihrer Kirche        festgesetzten Kurs.
aus initiiert hatte. Es fanden sich immer wieder neue        Bis Weihnachten hatten wir bereits den Großteil
Möglichkeiten zu helfen in Bereichen, die nicht auf      der Spenden einsetzen können. Es erreichten uns
Anhieb im Blick waren. Und manchmal war solche           aber auch danach weiter Spenden, allgemein unter
Unterstützung auch „Friedensarbeit“: So unterstütz-      dem Stichwort „Explosion“ und auch zweckgebun-
ten wir die Jugendlichen von JCC („Joint Christian       den für bestimmte Projekte wie etwa die Schule für
Committee“) aus dem Palästinensercamp Dbaye, die         syrische Flüchtlingskinder in Naame, die wir fortlau-
kostenlos Wohnungen von Geschädigten renovierten         fend unterstützen konnten. Noch im Juni 2020 konn-
– und damit nicht nur Mittellosen halfen, sondern        ten wir – um ein konkretes Beispiel zu nennen -
zugleich auf eine wunderbare Weise dazu beitrugen,       wieder einen großen Betrag an „Green Lebanon“
die immer noch bestehenden Vorbehalte vieler Li-         geben, deren Aufbauarbeit in diesem Sommer als
banesen Palästinensern                                                             abgeschlossen betrachtet
gegenüber zu überwinden.                                                           werden kann: 52 beschä-
4. Darüber hinaus unter-                                                           digte Gebäude in der
stützten wir weiter unse-                                                          Green Lebanon von der
re Klientinnen und Kli-                                                            Armee zugeteilten Rmeil
enten in der Sozialarbeit,                                                         Area (Zone 40) sind voll-
von denen manche direkt                                                            kommen        wiederherge-
von der Explosion be-                                                              stellt, 150 Familien wurde
troffen waren, andere                                                              ihr Obdach wiedergege-
nicht unmittelbar. Aber                                                            ben. Dafür hat Green Le-
die Not war und ist groß                                                           banon von uns weiterge-
und hat sich seit Herbst                                                           leitete Spenden in Höhe
2019 in enormem Tempo                                                              von 40.000 Dollar, 7.000
verstärkt. Es mag zwar seltsam klingen, aber             Euro und 1.200.000 Libanesische Pfund erhalten.
schlimmer und anhaltender als die Folgen der Ex-         Noch einmal sei betont: Der Wiederaufbau wurde im
plosion sind die Folgen der Wirtschafts- und Fi-         Wesentlichen durch Spenden finanziert! Allen
nanzkrise. So haben wir eben auch die Schule für         Spenderinnen und Spendern sei an dieser Stelle noch
syrische Flüchtlingskinder in Naame am Laufen zu         einmal ganz herzlich gedankt!
halten.                                                      Jedem empfehle ich jetzt einmal einen Spazier-
     Manche Spenderinnen und Spender hatten als          gang durch Gemmayzeh und Mar Michael. Es lässt
Zweck „Sozialarbeit“ oder „für die Gemeinde“ an-         die Seele aufblühen zu sehen, was da wiedererstan-
gegeben oder, die von dem Schulprojekt erfahren          den ist. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft
haben, „Schule Naame“ - dann verwendeten wir             zugewand“, heißt es in der einstigen Nationalhymne
solche Gelder direkt für unsere Sozialarbeit oder die    der DDR. Irgendwie kam die mir in den Sinn bei
Schule. Sahen wir, dass ein Bedarf mit der Explosi-      meinem Spaziergang an einem sonnigen Samstag im

                                                    14
Mai. Hier begann wieder das Herz Beiruts zu schla-        Unwesen treiben? Ich habe in den Städten dieser
gen – während Downtown abgeriegelt und von einer          Welt – und es waren schon einige, die ich in meinen
unüberwindlichen Betonmauer umgeben bleibt, die           61 Jahren zu sehen bekam – noch nirgends eine der-
stark an die Berliner Mauer erinnert, errichtet von       artige Ansammlung architektonischer Entsetzlich-
den politischen Kräften des Libanon, die sich und         keiten erblicken müssen, die zudem jedes städtebau-
die Regierungsgebäude auf diese Weise vor der de-         liche Konzept vermissen lassen und von einer egois-
monstrierenden Bevölkerung zu schützen suchen,            tischen Mentalität zeugen, in der dem eigenen flüch-
für die sie schützend und fürsorgend da zu sein und       tigen Blick auf das Meer oder auch nur dem beton-
unermüdlich selbstlos zu arbeiten gelobten.               vergoldeten Geldbeutel den anderen die Schönheit,
    Einzig störend wirken die skelettierten Hoch-         das Licht und die Frischluftzufuhr genommen wer-
häuser, wenn man an den restaurierten Häusern             den. Gemeinwohl weit, weit hinter Eigennutz! – Es
Gemmayzehs und Mar Michaels emporblickt und               ist solche Mentalität, die grundlegende soziale Prin-
ihrer gewahr wird, wo man allein blauen Himmel            zipien einer menschlichen Gesellschaft auf den Kopf
erwarten möchte. Sie stehen immer noch fensterlos         stellt und ein Land zugrunde gehen lässt, das so
da, und die Zerstörungen unterstreichen ihre Häss-        schön sein könnte und vielleicht einmal schön war –
lichkeit. Ob sie uns wohl als Ruinen erhalten bleiben,    once upon a time!
während ihre Besitzer anderenorts ihr spekulatives
und ihre Schöpfer ihr architektonisches                                                       Jürgen Henning

                                                     15
„Unsere“ Pizzeria nach der Zerstörung im August 2020 und heute im Mai 2021
                      für mich ein Symbol für das Widererstehen einer zerstörten Stadt
                                  und die Zukunftshoffnung der Menschen!

„Green Lebanon“ „Grüner Libanon“ ist eine Organisation, die im Jahr 1995 gegründet wurde.
Bestehend aus Expert*innen unterschiedlicher Berufsgruppen haben sie sich zum Ziel gesetzt, den
Libanon durch Projekte in den Bereichen Ökologie und sozialer Gerechtigkeit zu unterstützen.
Im Rahmen des Wiederaufbaus nach der Explosion wurde Green Lebanon „Sektor 40“ in Geitawi
zugeteilt, bei dem die Sanierung von 52 Gebäuden notwendig war. Darüber hinaus wurden auch
bereits 30 Gebäude außerhalb des Sektors repariert. Es floss kein Bargeld an die Opfer der
Katastrophe. Die Schäden wurden von den Expert*innen der Organisation selbstständig behoben.
Abschließend wurden auch Spenden in Form von Nahrungsmitteln und Medikamenten verteilt.
Die Notwendigkeit koordinierte ein/e Sozialarbeiter*in.
Weitere Informationen finden Sie auf www.green-lebanon.org.

„Bassma Lebanon“ „Libanons Lächeln“ wurde im Jahr 2002 gegründet. Hauptsächlich
arbeitet diese NGO mit Familien, die sich in Armut befinden und hilft ihnen beim Weg in die
wirtschaftliche Unabhängigkeit. Ein weiterer Aspekt in die Bildungsarbeit im Rahmen von
Nachmittagsunterricht, um lernschwächere Kinder beim Erlangen der Schulabschlüsse zu unterstützen.
Zusätzlich werden monatlich ca. 5.000 Rationen an Essen ausgeteilt. Bereits früher waren sie mit der
Renovierung betraut gewesen. Im Rahmen der Aufteilung durch die Armee wurden ihnen die
Sektoren 61 und 62 im unteren Mar Mikhael mit insgesamt 75 beschädigten Gebäuden zugeteilt
und weitere 100 Gebäude in den Sektoren 11-23 in Karantina, die wieder hergerichtet wurden.
Weitere Informationen finden Sie auf www.bassma.org.

„Stouh Beirut Association“ „Die Decken Beiruts“ ist eine Non-Profit Organisation,
welche 2017 aufgrund der erfolgreichen TV-Spendensendung zu Weihnachten ins Leben gerufen
wurde. Der Fokus liegt auf der Unterstützung von nicht-privilegierten Menschen und Familien,
Stärkung der Frauenrechte und Jugendarbeit im Hinblick auf Berufsperspektiven. Im Rahmen
des Wiederaufbaus war Stouh Beirut für 63 Gebäude in Mar Mikhail und Achrafieh zuständig, die
fast alle bereits wiederhergerichtet wurden. Hierbei ging es nicht nur um die bauliche Herrichtung,
sondern auch um die Einrichtung der Wohnungen. Stouh Beirut arbeitete mit 10 Architekten
zusammen, welche ihren Dienst freiwillig taten und die Herrichtung mit den Firmen koordinieren.
Weitere Informationen finden Sie auf www.stouhbeirut.org

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