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ANTHROPOS 107.2012: 115 – 128 Das rohe und das gekochte Laab Eine regionale Esskultur Thailands zwischen Aneignung und Ausgrenzung Marin Trenk Abstract. – Isaan, Thailand’s northeastern region, has been mar- Essen ist eine Notwendigkeit, jedermann muss re- ginalized throughout modern times and its Lao-speaking popula- gelmäßig essen. Aber Essen ist auch voller Bedeu- tion still faces ongoing discrimination. But its regional foodways tung, denn außer Substanz ist es immer auch Sym- have recently captivated all classes of Bangkok’s food-conscious population and its popularity has spread to every corner of the bol. Eine seiner Hauptbotschaften weltweit ist kingdom. This article attempts to map the complexities of the Solidarität und Gemeinschaft. Wer zusammen isst, nation’s acceptance and the wide expansion of Isaan’s region- gehört auch zusammen; Worte wie Kumpan oder al cuisine. Over the past 20 years a few Isaan dishes have been das englische companion leiten sich von Brot tei- appropriated and adopted to Thai tastes. This culinary “Thai- ization” has “de-ethnicized” and “de-regionalized” some local len, lateinisch cum panis, ab. Die andere große Bot- foods. By now these coopted dishes are considered to be part of schaft zielt auf Differenz und Trennung, da Essen the emergent national cuisine of Thailand. While some dishes Individuen und Gruppen zu separieren vermag. Be- have been accepted, others are still discriminated against, es- sonders wenn es um ethnische und regionale Identi- pecially plaaraa, a non-pasteurized fish sauce, and the Carpac- tät geht, erscheint eine Charakterisierung durch die cio version of Isaan’s iconic dish laab, a raw spicy minced meat or fish salad. Traditionally these types of dishes were rejected jeweiligen foodways – darunter versteht man alle on cultural grounds, but today national campaigns against cer- das Essen und die Ernährung einer Gruppe betref- tain Isaan foods are discussed in terms of “health concerns,” all fenden Einstellungen und Praktiken – als selbstver- while serving the goals for national political integration. To this, ständlich. In den USA etwa scheint man jenseits des the people of Isaan react by developing a culture of resistance, turning some raw dishes into markers of regional identity. These kulinarischen Mainstreams zunehmend nur noch local strategies are supported by global culinary trends (sushi!) “ethnic food” zu kennen (Counihan 2000; Ander- making Isaan food irresistible even in Bangkok’s haute cui- son 2005). sine. [Thailand, Isaan, appropriation, foodways, anthropology Die Ernährungsweise einer sozialen oder ethni- of food] schen Gruppe ist gewöhnlich grundlegend für ihre Identität, auch wenn in einer zusammengerückten Marin Trenk, Prof. Dr., Studium der Ethnologie, Religionswis- Welt immer mehr entlehnt und übernommen wird. senschaft, Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften an der Nicht nur einzelne Gerichte und Rezepte werden Freien Universität Berlin. Wiss. Mitarbeiter am SFB “Identität in Afrika” der Universität Bayreuth von 1986–1988 und von 1988– ausgetauscht oder gewisse Ernährungsgewohn- 1993 wiss. Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft der FU Ber- heiten verändert, sondern bisweilen geraten ganze lin. Seit 2006 Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Küchen in Bewegung und öffnen sich dem Neuen. Frankfurt am Main. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Kulina- Wer hätte noch vor kurzem geahnt, dass der Wes- rische Ethnologie. Publikationen: Die Milch des Weißen Man- nes. Die Indianer Nordamerikas und der Alkohol (Berlin 2001); ten Gefallen an rohem Fisch finden würde? Ähn- Weiße Indianer: Die Grenzgänger zwischen den Kulturen in lich revolutionär ist die derzeitige Abwendung der Nordamerika (Wismar 2009); s. auch Zitierte Literatur. Deutschen von ihren herkömmlichen Ernährungs- gewohnheiten und die kollektive Hinwendung zu mediterranen Geschmäckern und Gewürzmustern. https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
116 Marin Trenk Welche Auswirkungen solche Veränderungen ha- das Grundnahrungsmittel, Fischsauce (nam plaa) ist ben, ob die jeweiligen Kulturen dadurch insgesamt als Gewürz unverzichtbar, und viele Gerichte wer- offener werden oder es zu neuen Aus- und Abgren- den mit Kokosmilch zubereitet. Da beide Regionen zungen kommt, ist eine noch weitgehend offene vom Meer begrenzt werden, spielen zudem Fisch Frage. In den Debatten zur Globalisierung wird das und Meeresfrüchte eine bedeutende Rolle. In den Verhältnis von Ausbreitung und Aneignung, Be- beiden nördlichen Regionalküchen dagegen bildet harrung und Wandel, Vereinheitlichung und neuer glutinöser Reis oder “Klebreis” die Grundlage jeder Vielfalt zumeist in der Auseinandersetzung mit dem Mahlzeit, es wird mit plaaraa, einer nicht pasteuri- Westen und an Prozessen der Verwestlichung un- sierten und deutlich intensiver schmeckenden Vari- tersucht. “Golden Arches East”, die Studie zu Mc- ante der Fischsauce gekocht, und Kokosmilch fin- Donald’s in Ostasien etwa ist zu einem modernen det außer bei der Zubereitung von Süßspeisen keine Klassiker dieser ethnokulinarischen Richtung der Verwendung. Außerdem wird im gesamten Norden Globalisierungsforschung geworden (Watson 1997). Fleisch im rohen Zustand verzehrt, wohingegen ro- Wie ich zeigen möchte, lassen sich solche Fra- her Fisch und rohes Fleisch in den zentralen und gen auch am Verhältnis von Zentrum und Periphe- südlichen Landesteilen verpönt sind. Eine Facette rie eines einzigen Landes diskutieren. In Thailand dagegen steht quer zu dieser kulinarischen Nord- stehen sich die Zentralprovinz und der laotischspra- Süd-Teilung: Während man die chilibegeisterte thai- chige Nordosten des Landes nicht nur politisch in ländische Küche insgesamt als scharf bezeichnen einem Spannungsverhältnis gegenüber. Traditionell kann, tun sich zwei regionale Küchen durch eine wurde von Bangkok auch die Küche der Provinz ab- besondere Schärfe hervor: der Süden und der Isaan. gelehnt und ausgegrenzt. Auch wenn man bis heute Zusammen mit Südindien und Sri Lanka gehören auf diese vermeintlich rückständige Region herab- Thailands Süden und Nordosten wahrscheinlich schaut, ihre Esskultur wurde in den letzten Jahren zur Gruppe der schärfsten Küchen weltweit. Dem- in ganz Thailand immer beliebter. Wie geschah das, gegenüber tut sich bislang ausschließlich die Küche was sind die Folgen einer solchen Vereinnahmung, Bangkoks und der die Stadt umschließenden Zen- und wie geht man in der betroffenen Region mit die- tralprovinz durch einen verschwenderischen Um- ser “feindlichen Übernahme” um, in deren Verlauf gang mit Zucker hervor, der vor fast keinem Gericht die eigene Küche “thaiisiert” und in die im Entste- mehr haltmacht. Dieser Trend erfasst allerdings zu- hen begriffene thailändische Nationalküche integ- nehmend ganz Thailand. riert und dabei “entethnisiert” und “entlokalisiert” Wenn ein Reisender am Busbahnhof von Chiang wird? Rai, im äußersten Norden Thailands, oder in Kra- Seit ich 2004 das erste Mal die Region bereis- bi, tief im Süden, ankommt, kann er seinen Hunger te, faszinieren mich ihre gastronomischen Kulturen. an Essensständen stillen, die typische zentralthai- Die folgenden Ausführungen beruhen auf 15 Mo- ländische Speisen anbieten. An beiden Orten fin- naten Feldforschung, zunächst mehreren kürzeren det er auch Garküchen des Isaan vor. Die Küchen Studien zwischen 2006 und 2009, dann einem Auf- des Nordens und Südens dagegen findet man außer- enthalt vom Juli 2009 bis zum April 2010 in ver- halb ihrer Heimatregionen nur gelegentlich in ei- schiedenen Landesteilen. nigen Städten und einzelne bekannte Gerichte bis- weilen auf den lokalen Märkten oder neuerdings in den Food-courts. Auf die zentralthailändische und Expansive Regionalküchen isaanische Küche dagegen stößt man in allen Lan- desteilen. Bei diesen beiden expansiven Küchen ha- Das Königreich Thailand besteht neben der Zentral- ben wir es freilich mit zwei sehr unterschiedlichen provinz und der Landeshauptstadt Bangkok aus drei Phänomenen zu tun. Dass einige Speisen aus der weiteren Regionen. Aus der Perspektive des Zent- Küche des politischen Zentrums des Landes und rums werden diese Regionen einfach als der Süden, der Hauptstadt Bangkok, die als die eigentliche Norden und Nordosten (Isaan) bezeichnet. Wie fast thailändische Küche angesehen wird, im gesamten überall auf der Welt sind diese historisch gewachse- Königreich geschätzt und gegessen werden, ist nicht nen Regionen mit ihren Regionalküchen die Träger weiter verwunderlich. Erstaunlich ist die weite Ver- der kulinarischen Kultur des Landes, die sich in den breitung der Küche des Isaan, Thailands marginali- vergangenen zwanzig Jahren erfolgreicher als jede siertem Nordosten. andere Cuisine globalisiert hat. Für die Mehrheit der thailändischen Bevölkerung In kulinarischer Hinsicht zieht sich durch Thai- und insbesondere für die herrschenden und tonan- land eine Linie, die den Süden vom Norden schei- gebenden Kreise Bangkoks stellt der Isaan bis heute det. In den beiden südlichen Regionalküchen ist Reis eine rückständige Provinz dar, er ist, anders als der Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Das rohe und das gekochte Laab 117 wohlhabendere Süden und Norden, der ausgegrenz- französischen Kolonie wurde (vgl. Keyes 1967; te Landesteil schlechthin. Mit der Geringschätzung Grabowsky 1995). Heute gliedert sich die Region, des Isaan ging immer eine Ablehnung und Ausgren- die keine separatistischen Tendenzen kennt und lo- zung seiner Küche einher. Trotzdem hat sich ahaan yal zum thailändischen Königshaus steht, in 20 ei- Isaan, das Essen des Isaan, über ganz Thailand ver- genständig verwaltete Provinzen. breitet. Am eindrucksvollsten geschah dies in Bang- Anders als das fruchtbare Chao Phraya-Becken kok, wo sich die Esskultur des Nordostens seit Jahr- in der Mitte Thailands, leidet der agrarisch gepräg- zehnten als Straßenküche behauptet. Bestand ihre te Isaan immer wieder unter Trockenheit und Dür- Kundschaft einstmals überwiegend aus Taxifahrern, re, deswegen ist die Region bis heute die ärmste Hausangestellten, Bauarbeitern und Bargirls, wie des Landes geblieben. Vor allem die Jüngeren ver- man häufig zu hören bekommt, dann hat sich das lassen die Dörfer, um in den Städten nach Arbeit grundlegend geändert. In jüngster Zeit konnten sich zu suchen, und auf dem Lande scheinen die 17- Isaan-Restaurants sogar am Siam Square etablieren, bis 35-Jährigen mehrheitlich abwesend zu sein. In dem kommerziellen Herz der Megametropole. In- Bangkok begegnet man Laosprechenden bis heute formierte Beobachter wie Philip Cornwel-Smith, mit Dünkel, die ökonomische Rückständigkeit des ein Chronist Bangkoks und Autor des Buches “Very Nordostens wird vielfach auf den vermeintlichen Thai”, sprechen hier regelrecht von einem Boom.1 Zivilisationsrückstand seiner Bewohner zurückge- Wie konnte es soweit kommen? führt. Also bleiben die Khon Isaan weitgehend un- ter sich und reagieren auf die anhaltende Diskrimi- nierung, indem sie sich als grundlegend verschieden Der Isaan, die Peripherie des Landes von den Thai erachten. Doch seit einiger Zeit hat die thailändische Gesellschaft Geschmack an zwei kul- Gerade einmal 200 km nordöstlich von Bangkok turellen Errungenschaften des Isaan gefunden, näm- erhebt sich das Khorat-Plateau, das im Süden und lich seiner Musik und seinem Essen. Westen von Bergketten, im Norden und Osten da- gegen vom Mekong begrenzt wird und sich über den größten Teil der Region erstreckt, die, mit ei- “Extreme Cuisine” nem Pali-Wort, Isaan (sprich: I-saan, mit steigen- dem Ton auf der zweiten Silbe) genannt wird. Mit Um die Mitte des 19. Jahrhunderts notierte der fran- mehr als 160.000 km2 umfasst diese kompakte Re- zösische Bischof Pallegoix, der ein guter Kenner gion ein knappes Drittel des thailändischen Staats- des Landes war, in seiner “Description du Royaume gebiets und mit rund 25 Millionen Menschen mehr Thai ou Siam” (1976: 16), dass sich die Ernährung als ein Drittel der Bevölkerung des Landes. der “Lao” von jener der Thai unterscheide. Das Die überwiegende Mehrzahl der Bewohner des Grundnahrungsmittel der Lao, wie man damals ne- Isaan, die sich heute selbst zumeist nach ihrer Regi- ben den heutigen Laoten auch die Bewohner des on Khon Isaan nennen, spricht Laotisch, also keinen Isaan sowie ganz Nordthailands nannte, sei näm- Dialekt, sondern eine eigenständige Sprache (wo- lich Klebreis und ihr Lieblingsessen (plat favori) bei Thai und Lao in etwa mit Spanisch und Portu- fermentierter Fisch; mit Chili vermischt verstünden giesisch vergleichbar sind). Geschrieben wird ihre sie daraus eine Sauce zu bereiten, die sie zu ihrem Sprache jedoch in thailändischen Lettern und nicht Reis essen würden. Daneben schätzten sie den Ge- in den laotischen der kleinen benachbarten Volks- nuss von Schlange, Eidechse, Frosch und Ratte so republik, die gerade einmal 6 Millionen Einwohner sehr, dass sie sich damit begnügen würden, diese zählt. Außerdem verstehen die Menschen alle Thai, Tiere einfach auf den Grill zu legen. Der Franzose das an den Schulen gelehrt wird und die Sprache hat mit dieser knappen Bemerkung die zwei wesent- des Fernsehens ist. Im Grenzgebiet zu Kambodscha lichen Aspekte der Isaan-Küche benannt und neben gibt es eine nennenswerte khmersprachige Minder- der großen kulinarischen Bedeutung des Grillens heit, die kulturell selbständig ist, was auch ihre Kü- auch die regionale Neigung zur “extreme cuisine” che betrifft. Khmer etwa essen keinen Klebreis. erkannt (vgl. Hopkins 2004). Der Nordosten wurde erst im 19. Jahrhundert in Seither wurde zur lokalen Esskultur wenig ge- das Königreich Siam integriert, während das ver- schrieben und noch weniger geforscht, weshalb es wandte Laos seine Unabhängigkeit verlor und zur nicht leicht ist, anhand schriftlicher Zeugnisse eine Vorstellung vom kulinarischen Isaan zu gewinnen. 1 Gespräch am 5. August 2009 am Rande der International Einen ersten Überblick vermittelt das vom Reise- Conference on Thai Studies “Thai Food Heritage. Local to führer Lonely Planet herausgegebene Buch “World Global”, der Chulalongkorn-Universität in Bangkok. Food. Thailand” (Cummings 2000: 153–162). In ei- Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
118 Marin Trenk ner bekannten thailändischen Kochbuchreihe liegt auf den Genuss von Insekten mit folgenden Wor- das schmale Bändchen “Isaan – Rot Saeb” vor (An- ten zu sprechen kommt: “Largely a factor of pover- onymus 2008/2551), dessen Rezepte sich auf die ty, the khon isaan are known to eat about anything momentan in Bangkok geschätzten Gerichte der that moves …” (2000: 161). Ein anderer Amerika- Region beschränken. Was in dieser Rezeptsamm- ner, der Ethnologe Marvin Harris (1988), hat in sei- lung fehlt, steht in einer anderen Literaturgattung nem populären Werk “Wohlgeschmack und Wider- im Vordergrund: Besucher aus dem Westen, farang, willen” diesen ethnozentrischen Fehlschluss, dass die es als Entwicklungshelfer (Comeaux 2002: 135– “dem Menschen” Insekten eigentlich nicht schme- 142) oder, in steigender Zahl, als Ehemänner in den cken würden, sogar zur einzig angemessenen wis- Isaan verschlagen hat, delektieren sich gerne an den senschaftlichen Sichtweise erklärt.2 auffallenden oder vermeintlich abstoßenden Facet- ten der Esskultur vor Ort. Der deutsche Wahl-Isaa- ner Ruffert etwa meint, dass einem nach dem Ver- Ahaan Isaan: Das Rohe und das Gekochte zehr von Papayasalat “die Flammen aus dem Hals schlagen” (Ruffert o. J.: 80) würden. Auch scheinen Der Isaan, die benachbarte Volksrepublik Laos und ihm gewohnte Beschränkungen und Tabus zu feh- die Nordprovinzen Thailands um die alte Haupt- len, so dass der lokale Appetit vor kaum etwas das stadt des Königreichs Lanna, Chiang Mai, herum kreucht und fleucht Halt mache, seien es Ratten, bilden die einzige Region der Welt, deren Grund- Reptilien oder Insekten: “Auf den Märkten und am nahrungsmittel Klebreis (kao niao; lat. Oryza sativa Straßenrand bieten fliegende Händler all das, was var. glutinosa) ist. Klebreis wird nicht gekocht, son- wir normalerweise mit der Fliegenklatsche erschla- dern gewöhnlich über Nacht in Wasser eingeweicht gen oder mit der Spraydose erledigen, als Delika- und dann morgens als erstes in jedem Haushalt im tesse an” (Ruffert o. J.: 82). Unvergleichlich gründ- Dampf gegart. Er wird zu allen Mahlzeiten in ge- lich und gediegen sind dagegen die Studien zweier flochtenen Körbchen aufgetragen und daraus mit französischer Wissenschaftler ausgefallen, die eine der Hand gegessen, wobei er zu kleinen Bällchen Bestandsaufnahme der Alltags- und Festtagsküche geformt wird, mit denen die übrigen Speisen auf- zweier Dörfer in der Provinz Khon Kaen bieten genommen werden, sofern sie nicht zu flüssig sind. (Levy-Ward 1993; Formoso 1993). Neben Klebreis als der Grundlage jeder Mahlzeit Am nachhaltigsten hat aber möglicherweise ein stellt paa daek (auf Thai plaa raa genannt, “ver- Roman die Außenwahrnehmung der isaanischen Er- gammelter Fisch”) das prägende Ingredienz der nährungsgepflogenheiten geprägt – und in die Irre Isaan-Küche dar. Dabei handelt es sich um fermen- geführt. “A Child of the Northeast” von Kampoon tierten Fisch oder eine fermentierte Fischsauce, die Boontawee (1991) spielt im frühen 20. Jahrhundert eine intensiv riechende und schmeckende Varian- und handelt von einer Zeit der anhaltenden Trocken- te der herkömmlichen thailändischen nam plaa dar- heit und folglich großen Not für die Bevölkerung stellt. Im Isaan werden beide Fischsaucen verwen- eines Dorfes in der Provinz Ubon. In dieser Erzäh- det, wobei paa daek vielen lokalen Gerichten eine lung, die ähnlich behäbig wie die Flüsse des Isaan dunkle Färbung und fast erdige Geschmacksnote daherkommt und dabei eine Fundgrube für die loka- verleiht, die sich deutlich von dem vergleichsweise le Essordnung ist, scheinen die Menschen schlicht- lieblichen Ton vieler thailändischer Speisen abhebt. weg alles Essbare zu vertilgen. Neben Grillen und Die Cuisine eines Landes und häufig auch einer Zikaden werden mit gutem Appetit auch deren Eier Region lässt gewöhnlich charakteristische Würz- verspeist, laab wird nicht nur von Fröschen, Geckos kombinationen oder “flavor principles” erkennen, oder Chamäleons, sondern auch vom Skorpion und anhand derer man sie spontan identifizieren kann sogar der Tarantula (beung, der eine erotisierende (vgl. Rozin and Rozin 2005). Olivenöl–Knob- Wirkung zugeschrieben wird) zubereitet, ja selbst lauch–Petersilie–Basilikum schmeckt nach dem Eulen werden für ein Curry nicht verschmäht. Mittelmeerraum, speziell nach Italien; Soyasauce– Kampoon Boontawee macht keinen Hehl daraus, Reiswein–Ingwer–Frühlingszwiebeln dagegen nach für wie köstlich den Isaanern diese Speisen gelten (1991: 35, 179, 239, 403). Gleichwohl kann beim 2 Wie Harris (1988) glaubt, neigen an tierischen Proteinen Un- Lesen von “A Child of the Northeast” das Missver- terversorgte dazu, wahllos über alles herzufallen, seien dies ständnis entstehen, die schiere Not habe die Men- nun Insekten oder die eigenen Artgenossen. Sobald sich aber schen des Isaan in eine besonders hemmungslos om- mit geringerem Aufwand Fleisch oder Geflügel erzeugen las- se, würden sie sich davon abwenden. – Nach dieser Theorie nivore Spezies verwandelt, und nicht vielmehr die dürften heute im Isaan niemandem mehr Insekten schme- lokalen Geschmackspräferenzen. Noch Joe Cum- cken. In Wirklichkeit aber nimmt der Verzehr von Insekten mings scheint diesem Irrtum zu verfallen, wenn er in ganz Thailand zu (vgl. Cornwel-Smith 2005: 26–28). Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Das rohe und das gekochte Laab 119 China und besonders nach Kanton. Typisch für die gegrilltes Huhn gibt, haben wir eine Kombination thailändische Küche sind Fischsauce–kapi (fer vor uns, die vielfach als der Inbegriff des kulinari- mentierte Krabbenpaste)–Chili–Knoblauch–Kokos schen Isaan gilt. Obwohl es sich bei somtam fraglos milch–Galgant (kaa)–Thaibasilikum–Limettenblät um einen Salat handelt, wird das Gericht nicht als ter–Zitronengras–Koriander, wobei sich diese Reihe Salat (yam) klassifiziert, sondern bildet eine eigene natürlich erweitern lässt. Bei jeglicher Kombination Kategorie von Speisen. Dies unterstreicht den be- dieser Gewürze hat man sofort den typischen Thai- sonderen Status, der dem Gericht nach lokalem, is- geschmack auf der Zunge. Im Falle der Isaan-Kü- sanischem, wie nationalem, thailändischem Selbst- che gibt es hier durchaus Überschneidungen, aber verständnis zukommt. auch deutliche Abweichungen. Obwohl auch in der Die für die zentralthailändische Küche wichtige Küche des Isaan Fischsauce, Galgant, Zitronengras, Kategorie yam oder Salat, zu der einige der markan- Thaibasilikum oder Koriander verwendet werden, testen Gerichte des Landes zählen, spielt im Isaan gilt hier eher paa daek–Chili–Knoblauch–Limet- eine bescheidene Rolle. Es gibt etwa einen belieb- tensaft–Minze–Frühlingszwiebeln–pak chi farang ten Salat aus den Eiern der Roten Ameise (yam kai (Langer Koriander)–Dill und noch einiges mehr. mot daeng), oder einen Salat aus ganzen Ameisen Wenn thailändisches Essen ein sehr gewürzinten- oder Wasserschnecken. Die meisten Salate jedoch sives Zusammenspiel von Schärfe, Säure und Süße klassifiziert man im Isaan nicht als yam. Ein Bei- ist, dann gilt für die Küche des Isaan, dass sie nicht spiel ist sup noomai, ein Salat aus fermentiertem nur schärfer und säuerlicher ist, sondern einen aus- Bambus, der eine eigene, sup genannte Speisenka- gesprochenen Zug zum Herben und Bitteren auf- tegorie begründet. Wichtiger ist, dass auch viele Sa- weist. Sogar vor der Verwendung von Galle als Ge- late auf der Basis von Fleisch, Fisch oder Krabben würz schreckt diese Küche nicht zurück. Deswegen im Isaan nicht als yam gelten. Bezeichnenderweise erschließt sich die Isaan-Küche dem Neuling nicht sind darunter viele Gerichte, durch die sich die Kü- so leicht wie die thailändische. che des Isaan hervortut und die zum Kern ihrer ku- Der bekannten These des englischen Ethnologen linarischen Identität gehören, allen voran laab. Jack Goody (1982) zufolge kannten im Gegensatz Marco Polo berichtete, Bewohner der südchine- zum vorkolonialen Afrika, wo Könige und Adel Tag sischen Provinz Yunnan würden aus kleingehackter für Tag das gleiche einfache Mahl wie ihre Unterta- roher Leber und anderen Innereien mit viel Pfef- nen zu sich nahmen, alle Kulturen Europas und Asi- fer, Knoblauch und Kräutern ein Gericht zuberei- ens, die eine nennenswerte cuisine hervorgebracht ten, das bei allen sozialen Gruppen sehr beliebt sei haben, neben einer low eine high Cuisine, also die (vgl. Brennan 1981: 19 f.). Da die Thai aus Südchi- Aufspaltung in eine einfache Volks- und eine aus- na stammen, könnte dies der erste Hinweis auf den differenzierte Hochküche. Diese zeichnete sich ne- Genuss von laab unter den dortigen taisprachigen ben der Verwendung erlesener (etwa exotischer oder oder benachbarten Völkern sein. kostspieliger) Zutaten vor allem durch die aufwen- Laab gibt es in zwei Arten, entweder gekocht digere Zubereitung und raffinierte Präsentation der oder roh. Für gekochtes laab (laap suk) wird Fleisch Speisen aus. Doch weder der Isaan noch Thailand gehackt, in wenig Brühe aufgekocht und schließ- lassen sich umstandslos in diese grand theory ein- lich mit getrocknetem Chili, Fischsauce und Limet- fügen (vgl. Van Esterik 1992; Trenk 2008). tensaft abgeschmeckt, wobei neben pak chi farang Im Isaan steht somtam täglich auf dem Speise- oder “Langem Koriander” vor allem reichlich Min- plan, es ist das bekannteste und beliebteste Gericht ze dem Gericht seinen frischen Geschmack ver- der Region.3 Som tam (wörtlich übersetzt: sauer, leiht. Dabei werden Schärfe und Säure immer ein gestampft; manchmal auch tamsom und auf Lao- wenig durch kao khua ausgeglichen, das ist Kleb- tisch auch tam makhung genannt) ist ein Salat auf reis, der kurz ohne Fett geröstet und dann zersto- der Basis von grüner, unreifer Papaya und wird mit ßen wird. Erst die Verwendung von kao khua, der paa daek sowie den kleinen, eingelegten Krabben überraschend nussig schmeckt, macht laab zu dem der Reisfelder in einem Mörser angemacht. Som- großen und charakteristischen Gericht des Isaan. tam ist ein herber und wahrlich scharfer Genuss, da Laab, das meist lauwarm serviert wird, lässt sich gewöhnlich fünf bis zehn Chili pro Portion verwen- aus allen Fleischsorten herstellen, wobei zur Her- det werden. Papayasalat mit Klebreis gilt als passa- stellung nur Chili, Limettensaft und kao khua un- bles Alltagsessen; wenn es dazu noch mariniertes verzichtbar sind, ansonsten aber zahllose Variatio- nen davon existieren. Bei dem nam tok (Wasserfall) 3 Erstaunlicherweise spielt somtam in “A Child of the North- genannten Gericht handelt es sich um eine Version east” keine Rolle, der Salat wird nur ein einziges Mal beiläu- von laab auf der Basis von gegrilltem Fleisch und fig erwähnt. bei tap waan auf der Basis von Leber. Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
120 Marin Trenk Das rohe laab (laap dip; auch goy genannt), den zahlreichen Dips (nam prik, wörtlich: Chiliwas- das Carpaccio des Isaan, wird gewöhnlich aus dem ser), die zumeist mit der Fischsauce paa daek ange- Fleisch von Rind oder Wasserbüffel und biswei- macht werden und häufig so gehaltvoll sind, dass sie len von Fisch und sogar Schwein (aber keinesfalls als eigenständige Gerichte angesehen werden müs- von Huhn) zubereitet. Bei rohem laab, das traditi- sen, spielt noch Gegrilltes (yaang), im Dampf Ge- onell eine weitgehend den Männern vorbehaltene gartes (neung) und in Blättern Gedünstetes (mok) Festtagsspeise gewesen war, zu der man reichlich eine wichtige Rolle, was hier nur angedeutet wer- Selbstgebrannten (lao kao) trank, tobt sich biswei- den kann. len die isaanische Neigung zum extremen Essge- Einen einzigartigen Platz schließlich nimmt ka- nuss aus: So ist es nicht unüblich, das fertige Ge- nom jin ein. Bei kanom jin, das auf Lao kao pun richt durch den Zusatz von Blut, Galle oder kii pia, heißt, handelt es sich um dünne und sehr lange, wei- einer grünlichen Magenflüssigkeit, abzuschmecken ße Reisnudeln, die mit einer dünnflüssigen, curry- (wobei mit Galle und kii pia bisweilen auch das ge- ähnlichen Sauce auf Fischbasis gegessen werden. kochte laab gewürzt wird).4 Die Zubereitung dieser Obwohl das Gericht, dessen Name auf eine chine- virilen Sorte von laab gilt als Männersache. Zu ro- sische Herkunft (jin) verweist, überall in Thailand hem wie zu gekochtem laab isst man immer reich- geschätzt wird, spielt es in der isaanischen Küche lich Kräuter und rohes Gemüse. eine besondere Rolle. Nudeln gehören hier eigent- Während die im Wok gerührten Gerichte, wie sie lich nicht zur Esskultur, und zu kanom jin gibt es für die Zentralprovinz typisch sind, in der Küche häufig eine nam yaa genannte Sauce, die mit Ko- des Isaan fehlen, spielen Currys (gaeng), ähnlich kosmilch (oder auch ohne, dann heißt sie nam yaa wie in den anderen drei Regionalküchen des Lan- paa) und einer medizinisch schmeckenden Wur- des, eine wichtige Rolle. Currys sind häufig rein ve- zel aus der Ingwerfamilie (grachai) gekocht wird. getarisch, andere dagegen mischen (wenig) Fleisch Diese nam yaa (wörtlich: Medizinwasser) erinnert mit (viel) Gemüse, und sie werden immer mit der von ihrer Konsistenz her an eine passierte französi- intensiven Fischsauce plaa raa und häufig mit her- sche Fischsuppe. Aber in ihr schwimmen die typi- ben und bitteren Kräutern abgeschmeckt, die ihnen schen thailändischen Fischbällchen und gerne auch einen unverwechselbaren Geschmack geben. Die gekochte Hühnerfüße (tin gai), die wiederum man- Currys des Isaan würden bei uns eher als Suppen chen Leuten als typisch für kanom jin nach Art des gelten, sie haben nichts mit dem herkömmlichen Isaan gelten. Damit ist diese Speise, die eindeutig thailändischen Curry gemein, das mit Kokosmilch fremden Ursprungs ist, die große Ausnahme unter zubereitet wird. Daneben gibt es noch Gerichte vom den Gerichten der Region. Die langen Nudeln wer- Typ der thailändischen tom yam (wörtlich: “gekoch- den mit einem langen Leben assoziiert, und des- ter Salat”, weil sie zwar gekocht, aber scharf und wegen war kanom jin ursprünglich eine reine Fest- sauer wie ein Salat sind), die sich nicht immer klar speise. Wie der amerikanische Ethnologe William von einem Curry abgrenzen lassen, und die im Isaan Klausner (2002: 97) berichtet, war das Gericht noch einfach tom (Gekochtes) heißen. Am bekanntesten in den 1950er Jahren ausschließlich bestimmten ist wahrscheinlich tom saeb, eines der raren Gerich- Tempelfesten vorbehalten, und auch in Kampoon te der Region, das eine lange Garzeit benötigt. Da- Boontawees Isaan-Roman (1991: 456) wird es nur bei handelt es sich um eine Art Saures Lüngerl, oder im Zusammenhang mit der Planung eines Tempel- besser: Beuschel Isaan-Style. Innereien, darunter festes erwähnt. Bis heute ist kanom jin bei vielen vor allem Lunge, aber auch Herz sowie Magen und Feiern unerlässlich, wobei das preiswerte Gericht in Därme werden zu einer reichhaltigen, sehr frisch, der Zwischenzeit einen festen Platz im Alltag hat. säuerlich und scharf schmeckenden Suppe gekocht. Obwohl kanom jin aus der Küche des Isaan nicht Tom saeb zählt man im Isaan zu den großen Delika- wegzudenken ist, werden die Nudeln (anders als die tessen, die bei keiner wichtigen Feier fehlen dürfen. Sauce) nicht zu Hause zubereitet, sondern auf dem Auch tom saeb wird gelegentlich mit Gallenflüssig- Markt oder in darauf spezialisierten Garküchen ge- keit (dii) abgeschmeckt. kauft, die in kaum einem Dorf fehlen. Wie in der Mit somtam, laab, sup, gaeng und tom haben wir Esskultur des Isaan insgesamt üblich, werden auch einige der wichtigsten, aber noch keineswegs alle zu kanom jin wahre Berge von überwiegend rohem Speisetypen der Isaan-Küche kennengelernt. Neben Gemüse und Kräutern vertilgt, darunter Dill, der auf Thai “laotischer Koriander” heißt und als eine Art 4 Beim Wasserbüffel handelt es sich traditionell um das be- subtiler ethnischer Marker angesehen werden kann, vorzugte Opfertier Südostasiens. Man könnte folglich in der Neigung, alle Teile des Tiers, einschließlich des Bluts, in ei- der den Isaan kulinarisch vom restlichen Thailand nem Gericht zu vereinen den Nachhall seiner einst sakralen abhebt. Kanom jin ist übrigens das einzige Gericht Rolle sehen (vgl. Trankell 1995: 95). der Region, zu dem kein Klebreis gereicht wird. Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Das rohe und das gekochte Laab 121 Vielmehr werden die Nudeln sogar zunehmend als Heute ist diese Cuisine allerdings tiefgreifenden Beilage zu somtam gegessen. Prozessen des Wandels ausgesetzt. Bevor ich mich Und die Insekten, für deren Verzehr der Isaan so diesen zuwende, muss ich zunächst einen Faktor der verschrien ist? Insekten finden nur bisweilen Ein- Beharrung ansprechen. gang in die erwähnten Speisen, etwa wenn die be- Auf der berühmten Stele von Sukhotai, einem gehrten Ameiseneier zu einem Curry verarbeitet politischen Vorläufer Siams, aus dem Jahr 1292, die werden. Zwar isst man im Isaan begeistert und ganz von der Macht seines Königs und vom Wohlstand selbstverständlich vielerlei Arten von Insekten, aber seines Königreichs kündet, heißt es: “Zur Zeit Kö- sie gelten eher als Snacks, die man zwischen den nig Ramkamhaengs blüht Muang Sukhotai. In den Mahlzeiten genießt. Als Snacks stehen sie heute im Gewässern gibt es Fische, in den Feldern gibt es Wettbewerb mit der immer weiter um sich greifen- Reis” (Ramkamhaeng 1984/2527: 59). Mit Reis und den globalen Snackkultur, die auch vor dem Isaan Fisch haben wir das alte thailändische Ernährungs- nicht Halt gemacht hat. muster vor uns, das im Isaan seine Gültigkeit nicht verloren hat. Obwohl es sich häufig nicht rechnet, baut auf dem Lande so gut wie jede Familie ihren Reis auf den Feldern, Fische im Wasser und Reis an, und darüber hinaus bieten die überflute- Coke im Kühlschrank ten Reisfelder mit den benachbarten Gewässern ei- nen kaum versiegenden Strom von Essbarem an. In Die Bedeutung des Essens für die Menschen des der bäuerlichen Kultur des Isaan kommt dem Jagen Isaan kann man sich gar nicht groß genug vorstel- und Sammeln kulinarisch noch eine erstaunliche len, und hierin sind sie von anderen Thai nicht so Bedeutung zu. Bis heute verdankt die lokale Ess- verschieden. Man isst nicht nur häufig und gerne, kultur vielen solcher auf die Subsistenz zielenden sondern liebt es auch, ausgiebig übers Essen zu Tätigkeiten ihre besondere Prägung. Es ist etwa üb- reden. In der Kultur des Isaan dürfte Essen einer lich, unterwegs nebenbei wildwachsende Gemüse, der wichtigsten Lebensinhalte und Gesprächsstoffe Kräuter oder Pilze zu sammeln, auch werden Amei- überhaupt sein. Dabei sind die Bewohner des Isaan sennester im Vorbeigehen routiniert taxiert und bis- stolz auf ihre unverwechselbare Küche. Weltweit weilen geplündert. Frauen und Kinder überbrücken spielt Essen neben der Sprache eine zentrale Rol- heiße Mittagsstunden, indem sie das Angenehme le, wenn es um ethnische, regionale oder nationa- mit dem Nützlichen verbinden und in den Flüssen le Identität geht, und auch im Isaan hält man die nach Muscheln suchen; wichtiger ist die Jagd auf eigene Sprache und Esstradition hoch. Als Frem- die Krabben der Reisfelder, ohne die der tägliche der wird man in der Region immer wieder darauf Papayasalat nicht schmecken würde. Nachts locken angesprochen, ob man die einheimischen Speisen Lampen Insekten an und Männer stellen Fröschen essen könne – ahaan gin pen bo? Das Seltsame an nach oder jagen Vögel und Nager, darunter Feldrat- dieser Frage ist, dass sie nicht darauf zielt, ob ei- ten, die gegrillt als Leckerbissen gelten. Die meisten nem das Essen schmeckt, sondern ob man im Stan- dieser Aktivitäten, die nach wie vor den Speisezettel de ist, es zu sich zu nehmen.5 Dabei mag die Schär- der ländlichen Bevölkerung bereichern, finden rund fe eine Rolle spielen, aber mehr noch die Erfahrung, um das Reisfeld statt (vgl. Freeman 2008: 113 ff.). dass Fremde, seien es Thai oder farang, ihre Küche, Dennoch zeichnen sich bei der alltäglichen Er- die über die Schärfe hinaus zu intensiven und ext- nährungsweise drastische Veränderungen ab. Auch remen Geschmäckern neigt, häufig in Bausch und wenn die herkömmliche Struktur der Mahlzeiten Bogen ablehnen. Es gehört zu den erstaunlichen Er- weitgehend intakt ist, sind Prozesse ihrer Auflocke- fahrungen einer Feldforschung im Isaan, dass viele rung und Auflösung unübersehbar. In traditionellen der dort eingeheirateten Fremden selbst nach Jahren Agrargesellschaften, so stellt Sidney Mintz (1987: die Küche nicht kennen und sich weigern, von den 37; 1992) fest, besteht eine Mahlzeit im Kern immer meisten Speisen, die in ihren Familien täglich ge- aus einem Grundnahrungsmittel in Gestalt eines gessen werden, überhaupt zu probieren.6 komplexen Kohlenhydrats, dem eine oder mehrere geschmacksintensive Beilagen zugeordnet werden, 5 Mit dieser Frage, ob man das einheimische Essen überhaupt die diese kohlehydratreiche Speise überhaupt erst essen könne, werden anscheinend überall im Lande Besucher schmackhaft machen. Mintz nennt dies das Core- konfrontiert (vgl. Levy-Ward 1993; Cummings 2000: 10). Fringe-Model der menschlichen Ernährung, wie es 6 So traf ich auf ortsansässige Deutsche, die im Gespräch erst über Jahrtausende hinweg Bestand hatte. Im Isaan verstanden was mit somtam gemeint war, als ich die typische Stampfbewegung machte und von Papayasalat sprach, und ist dieses “core” natürlich der Klebreis (kao niao), die nie etwas von plaaraa oder paadaek gehört hatten oder zu dem gewöhnlich einige Gerichte als “fringe” ge- nichts von rohem laab wussten. reicht werden, die man in Thailand pauschal gap Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
122 Marin Trenk kaao (wörtlich: mit Reis) nennt, wobei ein gap kaao wird auch in den Haushalten des Isaan bisweilen möglichst flüssig sein sollte.7 Während sich früher ahaan Thai gekocht, und dazu gibt es natürlich die der Tag in drei Mahlzeiten dieser Art gliederte, kann passende Reissorte (auf Thai kaao suay oder kaao dies heute nicht mehr als selbstverständlich gelten. jao genannt), die mit Löffel und Gabel zu essen ist. Manche Erwachsenen und viele Kinder bevorzu- Manche Mütter klagen, wie Nora-Marie Het- gen ein schnelles Frühstück nach westlichem Vor- zelt (2009) bei ihrer Feldforschung in der Provinz bild und trinken morgens Kaffee oder Milch und Nong Bua Lamphu zu hören bekam, dass ihre Kin- essen dazu Cornflakes. Schulkinder bekommen in der abends kaum noch Appetit hätten und keinen Thailand neben Milch auch eine Schulspeisung, und Klebreis essen wollten. In den Regalen der klei- das bedeutet im Isaan, dass sie mittags zumeist ein nen Dorfläden nehmen Snacks bereits den meis- thailändisches Essen mit Reis vorgesetzt bekom- ten Raum ein, und die Kühlschränke quellen über men, und nicht Klebreis mit den gewohnten Speisen vor Coke und Limonaden. Selbst in den ärmeren (vg. Hetzelt 2009). Im Nordosten wird deutlich zwi- Familien scheinen Kinder selten auf die täglichen schen dem eigenem Essen, ahaan Isaan (das auch Softdrinks, Snacks und Süßigkeiten verzichten zu ahaan Lao genannt wird), und thailändischem Es- müssen. Da Snacks in Thailand nicht als richtiges sen, ahaan Thai, unterschieden, wobei mit “thailän- Essen gelten, nehmen sie die Eltern nicht ernst und disch” die zentralthailändische Küche gemeint ist. schreiten nicht ein, wenn sich ihre Kinder vor dem Aber auch die verbliebenen Mahlzeiten haben Abendessen noch Tüten davon einverleiben. Eher sich geändert. Während es Fleisch früher gewöhn- scheinen viele Erwachsene ähnlich unbekümmert lich nur zu festlichen Anlässen gab, sind heute mit dem steigenden Angebot an Süßem umzugehen. durch Massentierhaltung und die modernen Trans Die gravierendste Folge dieser mehrfachen Verän- portmöglichkeiten vor allem Schweinefleisch und derungen ist mit dem bloßen Auge erkennbar: Auch Geflügel billig zu haben, kommerziell betriebene im Isaan, mit seinen traditionell eher schmalglied- Fischteiche halten den Preis für Zuchtfisch nied- rigen Menschen, sind in der Zwischenzeit immer rig, und durch verstärkte kleinbäuerliche Haltung mehr Kinder übergewichtig. ist sogar das einst unerschwingliche Rindfleisch im Während sich also die Grundstruktur der Mahl- Alltag erschwinglich geworden. Nach meinem Ein- zeit im großen Ganzen kaum gewandelt hat, finden druck wird im Isaan zwar nicht zu allen Mahlzei- immer mehr Fleisch und Fett den Weg in die Kü- ten, aber doch von den meisten Menschen zumin- che, wodurch sich das Verhältnis von Reis (kaao) zu dest einmal täglich Fleisch gegessen, wenn auch Beilagen (gap kaao) zum Teil drastisch verschoben bei Weitem nicht in den aus dem Westen vertrauten hat. Die ehemaligen Festtagsspeisen haben viel von Mengen. Die lokale Vorliebe für rohes und gekoch- ihrer Exklusivität verloren und sind alltäglich ge- tes Gemüse ist von dieser Entwicklung allerdings worden. Im öffentlichen Raum hat die thailändische unbeeinflusst geblieben. Ein weiterer Effekt dieser Küche neben der einheimischen einen festen Platz Entwicklung ist, dass die ausgesprochenen Fest- eingenommen, und der Schulspeisung kommt eine tagsspeisen des Isaan, wie laab oder tom saeb, ih- wichtige Rolle bei der Verbreitung und Verankerung ren exklusiven Charakter eingebüßt haben und heu- thailändischer Essmuster zu. Schließlich überneh- te auch im Alltag gegessen werden. men industriell erzeugte Snacks einen wachsenden Doch nicht nur Schulkinder kommen immer Anteil an der täglichen Kalorienzufuhr. Dadurch er- mehr mit der thailändischen Küche in Berührung. höht sich der Anteil von Zucker und Fett an der Er- Außer in den kleinsten Weilern gibt es kaum mehr nährung noch mehr, was zu einer weiteren Auflö- einen Ort im Isaan ohne Garküchen mit Thaigerich- sung der alten Ernährungsmuster beiträgt. Obwohl ten. Die allgegenwärtigen Nudelsuppen, Huhn (kaao die Küche des Isaan sicher nicht verschwinden man gai) oder in Soyasauce gekochte Schweine- wird, wird sie sich weiter wandeln und anpassen haxe (kaao kaa muu) auf Reis sowie einige schnell- und zukünftig keine so uneingeschränkte Rolle wie gerührte Gerichte werden hier genauso gerne ge- in der Vergangenheit mehr spielen. gessen wie im übrigen Thailand. Auf den lokalen Märkten kann man neben typischen Isaanspeisen derweil auch diverse Gerichte der Thaiküche, ob “If you can’t beat them – eat them!” Grünes Curry oder Tintenfischsalat, fertig zuberei- tet und in Plastiktüten abgepackt kaufen. Daneben Seit der Isaan im Laufe des 19. Jahrhunderts in das siamesische Königreich eingegliedert wurde, schaut 7 Thai und Lao kennen das gleiche Wort für Reis. Auf Thai die thaisprachige Bevölkerung des Landes auf die wird es mit langem Vokal und fallendem Ton ausgesprochen laotischsprachige herab (vgl. Brown 1994). Die pe- (kaao), im Isaan mit kurzem Vokal und tiefem Ton (kao). riodisch unter Trockenheit leidende und deswegen Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Das rohe und das gekochte Laab 123 traditionell arme Region galt immer als rückstän- ren Straßen einfach nicht widerstehen. Sicher ist, dig, bewohnt von unkultivierten Bauern, die einen dass das Paradegericht des Isaan, nämlich somtam unverständlichen Dialekt sprachen und deren unge- mit Klebreis und gegrilltem Huhn, spätestens seit nießbare Küche in Bangkok auf Ablehnung stieß. den 1970er Jahren “extrem populär in Bangkok” Als in “A Child of the Northeast” ein Mann aus dem (Walker 1991: 191) ist. Auch dauerte es nicht lan- Isaan versucht in ein Wat (buddhistischer Tempel) ge, bis Isaan-Food zunehmend als schick und sa- in Bangkok aufgenommen zu werden, lehnen ihn nuk (d. h. mit viel Spaß verbunden) erachtet wurde. die Mönche ab, weil er “rohe und dreckige Spei- Auf Matten sitzen, Klebreis mit der Hand essen und sen” (Kampoon Bontawee 1991: 23) essen würde. dazu Gerichte genießen, die mit wenig Fett (keine Und als William Klausner (2000: 27) als junger Eth- Kokosmilch!) und ohne Zucker zubereitet werden, nologe Mitte der 1950er Jahre eine Feldforschung erschien gesünder und authentischer zu sein als die in der Region plante, suchten offizielle Stellen ihn gewohnte Nahrung. Vielen galt der Isaan und seine von dieser Idee abzubringen: Ein längerer Aufent- Küche deswegen geradezu als Thai tae, “echt Thai” halt im Isaan werde gewiss keinen Spaß machen, (Walker 1991: 195 f.). bedeuteten sie ihm, denn schließlich sei die Gegend Doch ähnlich wie man im gleichen Zeitraum in abgelegen, die Frauen wenig attraktiv und das Es- Deutschland von der italienischen Küche vor allem sen ungenießbar. Pizza, Spaghetti und Tiramisu übernahm, wurden Mit der Herausbildung des modernen thailän- auch aus der Küche des Isaan nur einige wenige dischen Nationalstaats ging eine Fixierung von Gerichte übernommen und gleichzeitig “thaiisiert”. Reis (kaao jao) und Fischsauce (nam plaa) als den Und wie italienische Bäcker an der Verbreitung der Grundlagen der “thailändischen Küche” einher. Pizza mit Kreationen wie “Pizza Plockwurst” mit- Folglich stießen insbesondere die Säulen der lao- wirkten, wirken die Köche des Isaan aktiv an der tischen Küche, Klebreis und fermentierter Fisch Thaiisierung ihrer Küche mit, indem sie sie dem (plaaraa), auf heftige Ablehnung. Sie wurden – und vorherrschenden Geschmack anpassen. werden zum Teil bis in die Gegenwart hinein – mit An erster Stelle steht die Metamorphose von den unterschiedlichsten Argumenten bekämpft, dar- somtam Lao zu der somtam Thai genannten Version. unter zunehmend auch mit medizinischen (vgl. Lef- Somtam Thai wird ohne die charakteristische plaar- ferts 2005). Die Kanadierin Marilyn Walker, die in aa und mit weniger Chili zubereitet und schmeckt den 1980er Jahren die kulinarische Kultur von Bang- durch die Zugabe von getrockneten Garnelen, ge- koks besserer Gesellschaft einer gründlichen Studie rösteten Erdnüssen und Palmzucker in der Regel unterzog, kommt zu dem Schluss, dass der Isaan – fast lieblich. Die beiden Varianten entsprechen so- sie nennt ihn Bangkoks “barbaric ‘other’ ” – kuli- mit recht gut dem Charakter ihrer jeweiligen Cui- narisch vor allem mit Unterschicht (1991: 190 ff.) sine. Mit dem Papayasalat ging die Verbreitung von assoziiert werde. Daneben aber konnte sie beob- gegrilltem Huhn einher. Daneben fand mit koo muu achten, wie die vermeintlich simple und rustikale yaang, Schweinenacken, der in einer Mischung aus Esskultur anfing, eine erstaunliche Verführungskraft gestampftem Knoblauch, Pfeffer, Korianderwurzel, auf sämtliche Bevölkerungsschichten zu entfalten.8 Fischsauce und Palmzucker eingelegt wurde, eine Wie es zu diesem Sinneswandel und Siegeszug weitere Spezialität des Isaan breiten Anklang. Ähn- kommen konnte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit lich beliebt ist ein vergleichbares Grillgericht aus sagen. Natürlich kam ahaan Isaan zunächst mit der Rindfleisch, das seua rong hai (Der Tiger weint) Migrationswelle gen Süden, die seit den 1950er Jah- genannt wird. Zu Gegrilltem gibt es Dippsaucen ren ungelernte Arbeitskräfte in steigender Zahl nach (nam jim), die, nicht anders als die Marinaden, zu- Bangkok spült. Was aber geschah dann? Brachten nehmend süßer ausfallen. Auch dies ist eine weitge- vielleicht die “Maids” ihr Essen von der Straße in hende Konzession an den vorherrschenden thailän- die feinen Häuser, oder fütterten die Kindermäd- dischen Geschmack. chen aus dem Isaan bereits die Kleinen mit ihren Außerdem wurde laab übernommen. Das laab heimischen Spezialitäten? Wahrscheinlich konnten des Isaan, sei es aus Geflügel, Schwein oder Rind, viele Thai, die neuen Genüssen gegenüber aufge- besteht gewöhnlich aus einer Mischung von Mus- schlossen sind, über kurz oder lang dem Duft von kelfleisch und Innereien. Gerade die Innereien aber, grüner Papaya und würzig gegrilltem Huhn auf ih- wie auch die Haut bei laab aus Schweinefleisch, gelten zunehmend als verzichtbar. Außerdem las- 8 Die Geschichte der USA bietet reiches Anschauungsmaterial, sen sich natürlich auch hier der Schärfegrad redu- wie einzelne Gerichte aus verachteten Einwandererkulturen – sei es China, Italien oder Mexiko – übernommen wurden zieren und die verwendeten Kräuter variieren. Aber und zu Lieblings- und sogar Nationalspeisen aufstiegen, wie es wäre undenkbar, laab mit Galle oder kii pia anzu- Chop Suey, Pizza und Chili con Carne. machen, den im Isaan beliebten, extremen Ingredi- Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
124 Marin Trenk enzien. Vor allem aber wird laab unter keinen Um- “Lasst uns Gekochtes essen!” ständen roh verzehrt!9 Hand in Hand mit diesen Speisen verbreitete sich Wie wir gesehen haben, wurde in den vergange- Klebreis. Noch vor nicht langer Zeit als schlech- nen Jahrzehnten eine Phase der pauschalen Aus- terdings ungenießbar abgelehnt und bekämpft (Lef- grenzung der “barbarischen foodways” des Isaan ferts 2005), haben neuerdings viele Thai an kao (Walker 1991: 191) durch eine Phase der selektiven niao Geschmack gefunden und schätzen ihn als Aneignung abgelöst, die zur Thaiisierung einiger Abwechslung zu ihrem täglichen Reis. Dazu hat si- ausgesuchter Gerichte führte. Dabei wurde aus der cher beigetragen, dass Klebreis sich als praktisches laotischen Küche des Isaan, mit ihrer ausgesproche- Fingerfood erweist. Neben den erwähnten Speisen nen Lust an rohen Speisen, auffallenderweise gera- scheinen sich noch einige Snacks des Isaan erfolg- de das Rohe verbannt. reich landesweit verbreitet zu haben. Hierzu gehö- Am wenigsten Probleme bereitete der Salat aus ren natürlich frittierte Insekten, deren Verzehr in al- grüner Papaya, da die Thaiküche rohes Gemüse len sozialen Schichten auf dem Vormarsch ist; dann und Salate schätzt. Das Problem waren roher Fisch die sai krok Isaan genannten, durch den Zusatz von und rohes Fleisch. Hier musste für somtam Thai die Klebreis fermentierten Würstchen, die leicht säuer- “rohe” plaaraa des Isaan durch die “gekochte” thai- lich schmecken; und die auf Spießchen gegrillten ländische Fischsauce nam plaa ersetzt werden. Al- Geflügelinnereien (tap gai ping), die nachts auf den lerdings haben in der Zwischenzeit sehr viele Thai Straßen für wenig Geld angeboten und gleichfalls an plaaraa und der ursprünglichen somtam Lao Ge- mit Klebreis gegessen werden. schmack gefunden. Folglich wurde plaaraa insge- Während der älteren Generation jeder Papaya- samt vom einem rohen in ein gekochtes Nahrungs- salat nach wie vor als ein Isaan-Gericht gilt, se- mittel überführt, und heute kommt sie gewöhnlich hen die Jüngeren darin – in den Worten einer jun- pasteurisiert auf den Markt. Schwieriger war es bei gen und beruflich selbständigen Frau aus Bangkok laap. Hier fand eine Aufspaltung in ein gutes (ge- – einfach “a Thai national dish”. Neben somtam, kochtes!) und ein schlechtes (rohes!) laab statt. gegrilltem Huhn und Klebreis zählt auch laab zu Während das gekochte laab zu einem Nationalge- den anerkannten Nationalgerichten, mit denen neu- richt aufstieg, wurde das rohe laab zum Ziel natio- erdings das Thailändische Fremdenverkehrsbüro für naler Kampagnen. die kulinarische Kultur des Königreichs wirbt. Ähn- In der thailändischen Öffentlichkeit wird der lich wie es Appadurai (1988) für Indien analysier- Verzehr von rohem Fisch und Fleisch mit Rück- te, ist im heutigen Thailand eine “Nationalküche” ständigkeit und mangelnder Bildung gleichgesetzt. im Entstehen begriffen, in die einige Gerichte des Bei Gesprächen mit Angehörigen der Mittelklasse Isaan Eingang gefunden haben. Durch diesen Pro- stellte ich immer wieder fest, dass viele nicht wuss- zess freilich wurden gewisse Speisen zunehmend ten, dass auch Europäer ein Steak Tartare, Carpac- “entethnisiert” und “entregionalisiert”, wie man es cio oder Hackepeter kennen. Und manche zeigten vor allem an der Dreierkombination um somtam he- sich überrascht, als ich die Meinung äußerte, ob rum beobachten kann. Wenn Thai heute dieses ver- sich eventuelle Gesundheitsprobleme nicht viel- breitete und äußerst beliebte Gericht bestellen, tun leicht eher durch eine verbesserte Fleischkontrolle sie es zunehmend weniger im Bewusstsein, ein Re- statt durch Umerziehungskampagnen lösen ließen. gionalgericht des Nordostens vor sich zu haben.10 Doch heute wird in Thailand der Kampf gegen die Über ganz Thailand verteilt findet man mehr als “laotischen” Andersesser und Rohfleischfresser des 3.000 Stände von “Gai Haa Dao”, was “Huhn mit Isaan natürlich nicht mehr mit kulturellen, sondern fünf Sternen” heißt. Diese aus der Zentralprovinz mit medizinischen Argumenten geführt. stammende und äußerst beliebte Franchisekette bie- Seit über 30 Jahren bekämpft das thailändische tet gebackenes oder gegrilltes mariniertes Huhn mit Gesundheitsministerium das als gesundheitsschädi- Klebreis an, bei dem keiner mehr an den Ursprung gend und unverantwortlich wahrgenommene Ess- des Gerichts denkt. Auch im Isaan nicht. verhalten der Bewohner des Isaan. Aber wie die Statistik zeigt, geschah dies bislang ohne nennens- 9 Das Kochbuch “Isaan – Rot Saeb” etwa erwähnt keine Re- werten Erfolg. Man schätzt, dass bis zu 6 Millio- zepte für rohes laab (Anonymus 2008/2551). nen Menschen im Land von Parasiten befallen sind, 10 “Thai Hawker Food”, ein Führer durch Bangkoks Streetfood, die durch den Verzehr von rohem Süßwasserfisch nennt laab, nam tok, somtam und sup noomai als Isaan-Food. übertragen werden können. Durch diese Infektion Die beiden Grillgerichte gai yaang und koo muu yaang wer- den dagegen als gewöhnliche thailändische Gerichte erwähnt, mit Leberparasiten (es handelt sich um Opisthorchis zu denen “die meisten Thai” Klebreis essen würden (Yee and viverrini, den Leberegel) kann es zu einem bösar- Gordan 2005: 38). tigen Tumor der Gallenwege kommen, dem Chol- Anthropos 107.2012 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2012-1-115 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 01.12.2021, 21:44:16. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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