Antifaschismus - gestern und heute - Eckhard Jesse - Katalog der Deutschen ...

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Antifaschismus – gestern und heute
Eckhard Jesse

                           Prof. em. Dr. Eckhard              Abstract
                           Jesse, geb. 1948 in Wurzen
                           bei Leipzig, lehrte von
                           1993 bis 2014 Politik-
                                                              The contribution analyses the histor-
                           wissenschaft an der TU             ical and the present fundamentals
                           Chemnitz. Studium der Po-          of anti-Fascism. In present-day Ger-
                           litik- und Geschichtswissen-       many there exist organisation-, ac-
                           schaft an der Freien Uni-          tion- and discourse-oriented kinds of
                           versität Berlin (1971–1976,        anti-Fascism. Most of all the political
                           Abschluss als Diplom-Poli-
                                                              party Die Linke champions anti-Fas-
                           tologe), Promotion (1982)
                           und Habilitation (1989/90)         cism, as becomes obvious, among
                           jeweils an der Universität         other aspects, from their support of
Trier. (Mit-)Herausgeber des „Jahrbuchs Extremismus           including an anti-Fascism clause into
& Demokratie“ seit 1989 sowie der Buchreihen „Extre-          the Basic Law and the constitutions
mismus und Demokratie“ (mit Uwe Backes, seit 2001)            of the Federal States. The author re-
und „Parteien und Wahlen“ (mit Roland Sturm, seit
                                                              jects anti-Fascism, yet he speaks out
2012). Forschungsschwerpunkte: Parteien, Wahlen,
Demokratien, Diktaturen, Extremismus, historische             in favour of anti-extremism as an al-
Grundlagen der Politik.                                       ternative.

I. Einleitung

Nach den Krawallen infolge des gewaltsam herbeigeführten Todes des Afro-
amerikaners George Floyd in Minneapolis durch einen weißen Polizisten im Mai
2020 sah Donald Trump in Antifa-Gruppen die Drahtzieher. Sein Plädoyer für
deren Verbot schlug hohe Wellen, selbst in Deutschland. In den sozialen Netz-
werken verbreitete sich schlagartig der Slogan „Wir sind Antifa“.1
  Keine Richtung der radikalen Linken in der Geschichte der letzten 100 Jahre
und der Gegenwart verzichtet auf den positiven Gebrauch des Wortes Antifaschis-
mus.2 Das Thema ist wichtig – und wird doch teilweise ignoriert. Wichtig ist es

1    Vgl. Florian Hartleb, Wir sind Antifa. Die problematische Neudefinierung des demo-
     kratischen Verfassungsstaats (https://www.veko-online.de; 1.2.2021).
2    Vgl. jüngst Alexander Deycke/Hans Gmeiner/Julian Schenke/Matthias Micus (Hg.),
     Von der KPD zu den Post-Autonomen. Orientierungen im Feld der radikalen Linken,
     Göttingen 2021.

Totalitarismus und Demokratie, 18 (2021), 89–119, ISSN: 1612-9008 (print), 2196-8276 (online)
© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht; https://doi.org/10.13109/tode.2021.18.1.89
Open Access publication under a CC BY-NC 4.0 International License.
90       Aufsätze / Articles

deshalb, weil Antifaschismus den Anspruch erhebt, Leitlinie der verfassungs-
politischen Ordnung zu sein. Trifft das zu? Ignoriert wird es mitunter deshalb,
weil manch ein Wissenschaftler ihn nicht als analytische Kategorie ansieht.
Stimmt das? Die erste Frage verneint der Verfasser, die zweite bejaht er. Wer
den Begriff als Propagandaformel ansieht, gerät in den Verdacht, antidemokra-
tische Strömungen von rechts zu bagatellisieren oder gar zu leugnen. (Gewoll-
te) Missverständnisse sind präjudiziert. Daher machen viele um die Thematik
einen Bogen.
   Zur Problemstellung: Dieser vornehmlich auf Deutschland bezogene Beitrag
– der globale Antifaschismus3 bleibt weithin ausgeklammert – will die Frage be-
antworten, ob antifaschistisch4 ein geeignetes Pendant für antidemokratisch ist.
Zu den wesentlichen Unterfragen gehören: Was bedeutet Faschismus, was Anti-
faschismus? Und was ist das Selbstverständnis derer, die diese Termini verwen-
den? Wieso erfährt Antifaschismus in bestimmten Kreisen große Beliebtheit?
Welche Formen gibt es im Deutschland der Gegenwart, wie unterscheiden sie
sich von denen zu Beginn der 1920er-Jahre in Italien? Wieso greift gerade die
Partei Die Linke darauf zurück? Inwiefern erscheint es inadäquat, den Terminus
zu verwenden? Welcher sollte an dessen Stelle treten? Antiextremismus?
   Zum Aufbau: Nach einer kurzen Präsentation des Forschungsstandes folgt
eine Erklärung zum Faschismusbegriff, der in höchst unterschiedlichen Varian-
ten auftaucht. Die nächsten beiden Kapitel sind historisch angelegt: Zunächst
geht es um Antifaschismus bis 1945, danach um Antifaschismus in der DDR.
Schließlich wird die Vielzahl antifaschistischer Formen (organisations-, aktions-
und diskursorientierte) kursorisch erörtert. Wenngleich der Teil zum breit gefä-
cherten Spektrum des heutigen Antifaschismus den Schwerpunkt bildet, kom-
men auch andere Facetten zur Sprache. Weithin unberücksichtigt bleibt eine
Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Renaissance des Antifaschismus.
Ist dies ein Zeichen seiner Stärke oder eines seiner Schwäche? Vielleicht trifft
das eine wie das andere zu. Die folgenden zwei Kapitel beziehen sich vor allem
auf das Antifaschismuskonzept der Partei Die Linke. Zum einen wird die Rele-
vanz dieses Paradigmas bei ihr geprüft, zum anderen die vor allem von der Partei
propagierte Antifaschismusklausel für das Grundgesetz und die Landesverfas-
sungen. Abschließend beantwortet der Verfasser die Frage, ob Antiextremismus
besser als Antifaschismus antidemokratische Phänomene abdeckt.

3    Vgl. dazu materialreich Jens Späth, Antifaschismus. Begriff, Geschichte und For-
     schungsfeld in westeuropäischer Perspektive, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitge-
     schichte vom 4.2.2019 (http://docupedia.de/zg/Spaeth_antifaschismus_v1_de_2019?
     oldid=132048; 23.2.2021).
4    Dieser Begriff wird niemals in Anführungszeichen gesetzt, ganz unabhängig davon,
     wer ihn gebraucht. So bleibt zunächst offen, ob damit nur die Absage an jede Form
     des Rechtsextremismus gemeint ist oder auch eine Absage an den demokratischen
     Verfassungsstaat. Aus den jeweiligen Ausführungen geht jedoch klar die Position des
     Verfassers hervor.
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II. Forschungsstand

Die Literatur zur Thematik gabelt sich – grob gesprochen – in zwei Zweige. Auf
der einen Seite stehen wenige Studien, die sich dem Thema mit Distanz nähern,
auf der anderen Seite solche zum Selbstverständnis von Antifaschisten. Das Ge-
sagte gilt auch für andere Phänomene im Bereich des Linksextremismus, etwa
beim Schrifttum zu den „Autonomen“.
   Bettina Blank gibt in ihrer Studie „,Deutschland, einig Antifa‘?“ einen umfas-
senden Überblick zu den verschiedenen Dimensionen des Antifaschismus. Die
Autorin berücksichtigt seine wichtigsten Träger sowie die Formen und Methoden
antifaschistischer Praxis. Dabei steht die „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-
regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) ebenso
im Vordergrund wie der „Autonome Antifaschismus“. Blanks Tenor: „Die vom
‚Antifaschismus‘ ausgehenden Gefahren werden von Staat und Politik, ebenso
von wohlmeinenden ‚bürgerlichen‘ Demokraten entweder nicht erkannt, nicht
wahrgenommen oder unterschätzt.“5 Tim Peters’ Arbeit untersucht kritisch das
Antifaschismusverständnis der PDS. Für ihn verfolgt deren Bündnispolitik drei
Ziele: „Erstens geht es darum, die eigene Isolation zu durchbrechen. Zweitens
möchte die PDS als Verteidigerin des demokratischen Verfassungsstaates auftre-
ten. Drittens sieht die Partei im Kampf ‚gegen rechts‘ ein Mittel zur Erlangung
einer ‚kulturellen Hegemonie‘ im Sinne Antonio Gramscis.“6 Die meisten Texte
in dem von Manfred Agethen u. a. herausgegebenen Sammelband,7 etwa von
Bernd Eisenfeld, Manfred Funke und Patrick Moreau, decken sich im Tenor mit
den Positionen von Blank und Peters. Hingegen ist die Bonner Dissertation von
Claus-M. Wolfschlag zwar sehr materialreich, aber sie schießt mit ihrer undiffe-
renzierten Kritik an linken und liberalen Positionen weit übers Ziel hinaus. Im
Grunde spiegelt sie die Position des Antifaschismus wider – mit umgekehrten
Vorzeichen.8 Antifaschisten aller Couleur wären froh, verfügten sie über den Ein-
fluss, den ihnen Wolfschlag zuschreibt.
   Nina Grunenbergs linke, auf einer zivilen demokratischen Kultur fußende
Kritik am west- und vor allem ostdeutschen Antifaschismus, der bei ihr als „deut-
scher Mythos“9 firmiert, fällt dagegen weitaus überzeugender aus. Nach 1990

5   Bettina Blank, „Deutschland, einig Antifa“? „Antifaschismus“ als Agitationsfeld von
    Linksextremisten, Baden-Baden 2014, S. 399.
6   Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht, Wiesbaden
    2006, S. 189.
7   Vgl. Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hg.), Der missbrauchte Anti-
    faschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Brsg.
    2002.
8   Vgl. Claus-M. Wolfschlag, Das „antifaschistische Milieu“. Vom „schwarzen Block“ zur
    „Lichterkette“ – Die Repression gegen „Rechtsextremismus“ in der Bundesrepublik
    Deutschland, Graz 2001.
9   Vgl. Nina Grunenberg, Antifaschismus – ein deutscher Mythos, Reinbek bei Hamburg
    1993.
92       Aufsätze / Articles

prangerte eine Reihe von Schriften den – tatsächlichen oder vermeintlichen –
Antifaschismus der DDR an. Kritisiert wurde dabei weniger Antifaschismus an
sich als vielmehr dessen Instrumentalisierung durch die SED-Diktatur.10
   Die empirisch angelegte Dissertation von Nils Schuhmacher zielt darauf, das
Selbstverständnis radikaler Antifaschisten minutiös zu erfassen.11 Auch ohne
Kritik ist eine solche Studie von Belang, da sich die Antifa-Szene nach außen
abschottet. In einem Antifa-Periodikum heißt es zu dem Werk: „Konturen und
Funktionsmechanismen einer politischen Szene werden in erfreulicher Unaufge-
regtheit herausgearbeitet.“12
   Was irritieren mag: Zahlreiche Arbeiten suchen Antifaschismus weiterhin zu
rechtfertigen, teilweise aus der Perspektive des orthodoxen Marxismus, teilweise
aus Sicht der „Autonomen Antifa“.13 Ungeachtet aller höchst unterschiedlichen
Ansätze: Augenfällig mutet das unbedingte Bestreben sämtlicher linksextremisti-
schen Strömungen an, ob nun stärker antiimperialistisch oder eher antideutsch
ausgerichtet, am Antifaschismus festzuhalten, meist ohne Wenn und Aber. Wie-
wohl diese Publikationen antifaschistischem Selbstverständnis verpflichtet sind,
enthalten sie zum Teil ansonsten unbekannte, ohne Überprüfung freilich nicht
zum Nennwert zu nehmende Informationen.14

10 Vgl. Robert Erlinghagen, Die Diskussion um den Begriff des Antifaschismus seit
   1989/90, Berlin 1997; Annette Leo/Peter Reif-Spirek, Helden, Täter und Verräter.
   Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999; Henry Leide, NS-Verbrecher und
   Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005; Tho-
   mas Ahbe, Der DDR-Antifaschismus. Diskurse und Generationen – Kontexte und Iden-
   titäten. Ein Rückblick über 60 Jahre, Leipzig 2007.
11 Vgl. Nils Schuhmacher, „Nicht nichts machen“? Selbstdarstellungen politischen Han-
   delns in der Autonomen Antifa, Duisburg 2014.
12 Mitten im Konflikt. In: Rundbrief des apabiz e. V. monitor, (2015) 68, S. 6.
13 Vgl. u. a. den folgenden Band mit Texten aus vielen Richtungen von Frank Deppe/
   Georg Fülberth/Rainer Rilling (Hg.), Antifaschismus, Heilbronn 1996.
14 Um eine Reihe von einschlägigen Studien aus jedem der letzten zehn Jahre zu nen-
   nen (geordnet nach dem Erscheinungsjahr): Heinrich Fink/Cornelia Kerth (Hg.), Ein-
   spruch! Antifaschistische Positionen zur Geschichtspolitik, Köln 2011; o. V., Staatlich
   geprüfter Terror. Interventionen gegen rassistische Anschläge, Staatsapparate und
   braune Netzwerke, Münster 2012; Herausgeber_Innenkollektiv (Hg.), Fantifa. Femi-
   nistische Perspektiven antifaschistischer Politiken, Münster 2013; Susann Witt-Stahl/
   Michael Sommer, „Antifa heißt Luftangriff!“ Regression einer revolutionären Bewegung,
   Hamburg 2014; Johannes Eisenberg/Manuel Vogel/Lea Voigt (Hg.), Antifaschismus als
   Feindbild. Der Prozess gegen den Pfarrer Lothar König, Hamburg 2015; Horst Schöpp-
   ner, Antifa heißt Angriff! Militanter Antifaschismus in den 1980er-Jahren, 2. Auflage,
   Hamburg 2016; Kollektiv Schulschluss, Tipps & Tricks für Antifas und Antiras, Münster
   2017; Mirja Keller/Lena Kögler/Moritz Krawinkel/Jan Schlemermeyer, ANTIFA. Ge-
   schichte und Organisierung, 3. Auflage, Stuttgart 2018; Dana Fuchs/Christoph Muck,
   Antifa heißt Anruf! Organizing als Strategie gegen Rechts, Münster 2019; Christin
   Jänicke/Benjamin Paul-Siewert (Hg.), 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven
   auf eine eigenständige Bewegung, 4. Auflage, Münster 2020.
Jesse, Antifaschismus      93

III. Faschismus

Was unter Faschismus fällt, ist in der Forschung umstritten. Es stehen sich zwei
Grundpositionen gegenüber: Die eine Richtung begreift Faschismus als Gattungs-
begriff, der über Italien hinausweist. Hierunter fallen dann etwa die National-
sozialisten in Deutschland, die „Eiserne Garde“ in Rumänien, die Ustascha in
Kroatien, die „Falange“ in Spanien und die „Pfeilkreuzer“ in Ungarn. Andere
faschistische Bewegungen gelangten nicht an die Macht. Die erste große verglei-
chende Studie stammt von Ernst Nolte. Seine berühmte Faschismusdefinition, die
stark auf den Gegensatz zum Marxismus abstellt, lautet wie folgt: „Faschismus ist
Antimarxismus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetz-
ten und doch benachbarten Ideologie und die Antwort von nahezu identischen und
doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im
undurchbrechbaren Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie.“15
   Die andere Richtung, die etwa Karl Dietrich Bracher repräsentierte, lehnt
einen generischen Faschismusbegriff ab.16 Alle antidemokratischen Bewegungen
von rechts wiesen zwar antiliberale Elemente auf, aber angesichts der von Land
zu Land höchst unterschiedlichen Konstellationen verbiete sich ein übergreifen-
der Begriff wie Faschismus. Der Nationalsozialismus mit seiner totalitären Dy-
namik und dem rassistischen Vernichtungsantisemitismus passe ohnehin nicht
unter das Etikett „faschistisch“. Wer den Nationalsozialismus so apostrophiere,
spiele seine Singularität herunter. Brachers Anliegen als Totalitarismusforscher:
Rechte und linke Diktaturen, seien sie totalitärer, seien sie autoritärer Natur, un-
terschieden sich nicht nur gravierend von demokratischen Verfassungsstaaten,
sondern wiesen auch strukturelle Gemeinsamkeiten auf.
   In Italien gelangte die faschistische Bewegung Benito Mussolinis mit dem le-
gendären „Marsch auf Rom“ 1922 an die Macht. Im Laufe der Jahre wurde die
Rechtsdiktatur, von den alten Eliten weithin toleriert, wenn nicht unterstützt,
immer weiter ausgebaut. Italien bildete mit Deutschland und Japan 1940 den
Dreimächtepakt. Der 1943 entmachtete Mussolini konnte sich mit deutscher Hil-
fe bis 1945 in Ober- und Mittelitalien behaupten.
   Ist es schon umstritten, den Faschismus vor 1945 über Italien hinaus als Gat-
tungsbegriff zu interpretieren, so trägt der geradezu inflationäre Gebrauch des
Faschismus für Diktaturen im Allgemeinen oder für Rechtsdiktaturen im Beson-
deren nach 1945 erst recht wenig zum Verständnis bei. Nach 1945 knüpfte der

15 So Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, Italienischer Fa-
   schismus, Nationalsozialismus (1963), 6. Auflage, München 1984, S. 51 (Hervorhe-
   bung im Original).
16 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalita-
   rismus, Demokratie, 5. Auflage, München 1984, S. 13–33 („Kritische Betrachtungen
   zum Faschismusbegriff“). In diesem Sinne: Horst Möller, Diktatur- und Demokratie-
   forschung im 20. Jahrhundert. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 51 (2003),
   S. 29–50.
94       Aufsätze / Articles

„Movimento Sociale Italiano“ (MSI) an den Faschismus Mussolinis an (meist
mit einem Stimmenanteil von mehr als fünf Prozent), allerdings in einer weichen
Variante. Diese Partei stand bis zur faktischen Auflösung 1995 außerhalb des
Verfassungsbogens.
    Die Zahl der Faschismustheorien ist Legion.17 Marxistische Ansätze, die den
Faschismus als eine Herrschaftsform der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung des
kapitalistischen Systems ansehen oder als eine Kraft, bei welcher der Kapitalis-
mus zwar durch einen Diktator politischen Einfluss verlor, aber nicht den öko-
nomischen (gemäß der Bonapartismusversion), hatten zumal in den 1970er-Jah-
ren gewissen Einfluss. Für manche stellte der Faschismus ebenso eine Variante
„bürgerlicher Herrschaft“ dar wie der Liberalismus.18 Mittlerweile spielt diese
Position, die dem „Großkapital“ eine alles beherrschende Macht zuschreibt, in
Wissenschaft, Politik und Publizistik kaum mehr eine Rolle.
    Heute ist das Wort (Neo-)Faschismus, wird es überhaupt benutzt, weithin
zum Kampfbegriff mutiert, anders als in der Weimarer Republik.19 Obwohl seine
Gegner es eher beiläufig verwenden, im Gegensatz zu „(neo-)nazistisch“, wirkt
sich der Befund nicht auf den Gegenbegriff Antifaschismus aus. Dieser hat im
öffentlichen Gebrauch paradoxerweise zugenommen. Dabei betrifft das weniger
die Ablehnung des historischen Faschismus als die Bekämpfung aller Formen
des Rechtsextremismus. Es dominiert ein antidemokratischer Antifaschismus,
der auch liberale und konservative Strömungen attackiert – als „Antifa“ zum
Teil in aggressiver, zur Gewalt neigender Form. So wird insinuiert oder gar offen
davon gesprochen, die Gefahr für den demokratischen Verfassungsstaat gehe
ausschließlich vom Faschismus aus, also vom Rechtsextremismus.
    Zunehmend gilt Faschismus im Alltagsverständnis als das Böse schlechthin.
Diese Sichtweise fördert auch das alarmistische Buch der früheren US-amerikani-
schen Außenministerin Madeleine Albright, indem der Phänomenbereich exten-
siv ausgedehnt wird: Sie spricht u. a. von einem nordkoreanischen Faschismus.
Zudem verallgemeinert sie: „Und heute bewegt sich die Herde in eine faschis-
tische Richtung.“20 Eine Wendung wie „roter Faschismus“, öfter gebraucht als
„brauner Bolschewismus“, sagt nicht nur wenig aus – sie irritiert auch.

17 Vgl. Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1967; Wolfgang Wipper-
   mann, Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis
   heute, 7. Auflage, Darmstadt 1997; Werner Loh/Wolfgang Wippermann (Hg.), „Fa-
   schismus“ kontrovers, Stuttgart 2002.
18 Vgl. Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus – Faschismus,
   Reinbek bei Hamburg 1971; differenzierter Alexander Häusler/Michael Fehrenschild,
   Faschismus in Geschichte und Gegenwart. Ein vergleichender Blick zur Tauglichkeit
   eines umstrittenen Begriffs, Berlin 2020.
19 Vgl. Matthias Damm, Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Re-
   publik, Baden-Baden 2013.
20 Madeleine Albright, Faschismus. Eine Warnung, Köln 2018, S. 287. Besser, aber wegen
   des kaum eingegrenzten Antifaschismusbegriffes auch nicht sonderlich überzeugend:
   Walter Laqueur, Faschismus. Gestern – heute – morgen, Berlin 1997.
Jesse, Antifaschismus      95

IV. Antifaschismus in der Geschichte

Nach dem Aufkommen des Faschismus entstand schnell eine heterogene Bewe-
gung des Antifaschismus.21 Diese war zum Teil durch und durch demokratisch.
Exemplarisch sei Luigi Sturzo genannt, einer der Gründer des „Partito Popola-
re Italiano“ (PPI), aus dem später die „Democrazia Christiana“ (DC) entstand.
Der Priester, Politiker und Publizist ging früh auf Konfrontationskurs zur Bewe-
gung Mussolinis, verband Antifaschismus mit Antitotalitarismus.22 Dabei fand
er linke, liberale und konservative Mitstreiter wie Francesco Luigi Ferrari und
Piero Gobetti.23
   Allerdings nahm die antifaschistische Position des Marxismus in der Zwischen-
kriegszeit vielfach eine tonangebende Rolle ein. In diesem Prozess wandelte sich
das Antifa-Verständnis mehrfach. 1924 beschloss die „Kommunistische Interna-
tionale“ (Komintern) auf dem V. Weltkongress: „Der Faschismus und die Sozialde-
mokratie sind die beiden Seiten ein und desselben Werkzeuges der großkapitalisti-
schen Diktatur.“24 Seinerzeit glaubte sie, auf dem Siegeszug zu sein. So prangerte
der VI. Weltkongress von 1928 den „Sozialfaschismus“ der SPD als Hauptgegner
an. Stimmt es wirklich, der Antifaschismus sei „in erster Linie reaktiv“25 gewesen?
Für den Antifaschismus von Kommunisten jedenfalls trifft dies nicht zu.
   Die von der KPD initiierte „Antifaschistische Aktion“, die kurz vor der
Reichstagswahl im Juli 1932 entstand, propagierte eine Art „Einheitsfront von
unten“ und richtete sich gegen die 1931 durch die SPD ins Leben gerufene
„Eiserne Front“26 mit ihren drei von rechts oben nach links unten zeigenden

21 Siehe hierzu die Beiträge von Giovanni de Ghantuz Cubbe und Emilio Gentile in dieser
   Ausgabe.
22 Vgl. Luigi Sturzo, Über italienischen Faschismus und Totalitarismus. Hg. und eingelei-
   tet von Uwe Backes und Günther Heydemann unter Mitarbeit von Giovanni de Ghan-
   tuz Cubbe und Annett Zingler, Göttingen 2018; Uwe Backes, Luigi Sturzo. Begründer
   und früher Wegbereiter des Totalitarismuskonzepts. In: Frank Schale/Ellen Thümmler
   (Hg.), Den totalitären Staat denken, Baden-Baden 2015, S. 31–50; Michael Schäfer,
   Luigi Sturzo als Totalitarismustheoretiker. In: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und
   Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 37–47.
23 Siehe zu diesen Autoren die Beiträge von Uwe Backes und Ersilia Alessandrone Perona
   in dieser Ausgabe.
24 V. Weltkongress der Komintern: Resolution über den Faschismus (16.9.1924), zit. nach
   Theodor Pirker (Hg.), Komintern und Faschismus. Dokumente zur Geschichte und
   Theorie des Faschismus, Stuttgart 1965, S. 124.
25 So Nigel Copsey, Von Rom nach Charlottesville. Eine sehr kurze Geschichte des globa-
   len Antifaschismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 67 (2017) 42–43, S. 30.
26 Vgl. dazu Andreas Wirsching, „Hauptfeind Sozialfeind Sozialdemokratie“ oder „Antifa-
   schistische Aktion“? Die Politik von KPD und Komintern in der Endphase der Weima-
   rer Republik. In: Heinrich August Winkler (Hg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen
   der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, München 2002, S. 59–72;
   ferner Alexander Deycke, Von einer KPD-Initiative zur Autonomen Antifa. Antifaschis-
   tische Aktion gestern und heute. In: Demokratie-Dialog, 2018 (2), S. 41–46; zum
   Selbstverständnis: Keller/Kögler/Krawinkel/Schlemermeyer, ANTIFA, insbesondere
   S. 35–39; Bernd Langer, Antifaschistische Aktion. Geschichte einer linksradikalen Be-
   wegung, 3. Auflage, Münster 2018, insbesondere S. 70–75.
96       Aufsätze / Articles

Pfeilen, die für die SPD, das „Reichsbanner“ und den „Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbund“ standen. Die „Eiserne Front“ wiederum war eine Reaktion
auf die kurz zuvor gegründete „Harzburger Front“ um die Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die Deutschnationale Volkspartei (DNVP)
und den Stahlhelm, einen Wehrverband Franz Seldtes. Das bekannte Logo der
Antifaschistischen Aktion enthielt zwei nach rechts wehende – rote – Fahnen in
einem weißen Kreis, umrandet von einem roten Ring mit dem weißen Schriftzug
„Antifaschistische Aktion“.27 Entgegen der Propaganda stellte diese „Aktion“ kein
überparteiliches Bündnis dar. Sie konnte ihr Ziel, sozialdemokratische Mitglieder
zu gewinnen, kaum erreichen, und spielte bei den gewalttätigen Straßenkämp-
fen28 keine dominante Rolle.
   Der Antifaschismusbegriff diente den jeweiligen (außenpolitischen) Zielen
der Sowjetunion. 1932 entstand das dank des Presseimperiums von Willi Mün-
zenberg einflussreiche „Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus“. Obwohl der
Bulgare Georgi Dimitroff, führender Kopf der Komintern, den Faschismus auf
dem VII. Weltkongress 1935 weiterhin, wie das XIII. Plenum des Exekutivko-
mitees bereits 1933, als die „offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten,
chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“29
bezeichnet hatte, nahm er insofern eine Kehrtwende vor, als nunmehr eine
Volksfrontpolitik propagiert und die gegen die SPD gerichtete „Sozialfaschis-
mus“-These ad acta gelegt wurde. Der Nichtangriffspakt zwischen dem „Dritten
Reich“ und der Sowjetunion 1939 mit seinem geheimen Zusatzabkommen, das
die Interessensphären der beiden Mächte im Falle einer – euphemistisch for-
muliert – territorialen Neugliederung regelte, führte abermals zu einem nicht
nur viele Kommunisten irritierenden Kurswechsel. Nach dem Überfall der Wehr-
macht auf die Sowjetunion 1941 setzten Kommunisten in der gesamten Welt auf
Antifaschismus unter Einschluss der Sozialdemokratie und „bürgerlicher“ Kräf-
te. Als das „Dritte Reich“ bezwungen war, brach das antifaschistische Zweck-
bündnis zwar nicht sofort, aber bald auseinander. Kommunisten errichteten nun
in den von ihnen besetzten Staaten Satellitenregime.
   Sie wurden fortan nicht müde, Antifaschismus zu propagieren, allerdings in
einem Sinne, der mit dem antitotalitär fundierten Antifaschismus der italieni-
schen Demokraten der 1920er-Jahre lediglich den Namen gemein hatte. Unter
dem wohlklingenden Antifaschismus-Etikett betrieben die Sympathisanten der
Sowjetunion Bündnispolitik – in ihrem Machtbereich ebenso wie in Gefilden, in

27 Das heutige Signet – mit zwei nach links wehenden Fahnen, einer größeren roten, die
   für Kommunismus steht, und einer kleineren schwarzen, die den Anarchismus symboli-
   sieren soll – stammt aus der Zeit Ende der 1970er-Jahre. Der Ring ist nunmehr ganz in
   Schwarz gehalten. Es gibt kleinere Abweichungen.
28 Vgl. Dirk Schumann, Politische Gefahr in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf
   um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Christian Striefler, Kampf
   um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik,
   Berlin 1993.
29 Dimitroff auf dem VII. Weltkongress der Komintern: Der Faschismus und die Arbeiter-
   klasse (17.8.1935), zit. nach Pirker, Komintern und Faschismus, S. 187.
Jesse, Antifaschismus      97

denen sie nicht „das Sagen“ hatte. Nur direkt nach dem Zweiten Weltkrieg funk-
tionierte dies, als auch andere Parteien angesichts des nationalsozialistischen
Zivilisationsbruchs im Antifaschismus ein hehres Ziel sahen, und zwar im Sinne
einer strikten Ablehnung des Nationalsozialismus.
   In der Bundesrepublik Deutschland standen die orthodoxen Kommunisten
mit ihrem antifaschistischen Impetus lange auf verlorenem Posten. Ihre Inter-
pretation, das Grundgesetz, das die KPD im Parlamentarischen Rat ja abgelehnt
hatte, verpflichte zu Antifaschismus, kollidierte offenkundig mit den historischen
Tatsachen. Insofern konnten sie samt ihrer verdeckt operierenden Vorfeldorgani-
sationen, deren organisatorische, ideologische und finanzielle Abhängigkeit von
der DDR selbst für Gutgläubige nach dem Zusammenbruch des „realen Sozia-
lismus“ unübersehbar geworden war, die Regierungspolitik kaum beeinflussen.30

V. Antifaschismus in der DDR

Antifaschismus fungierte als Staatsdoktrin der DDR. So galt die Mauer als „an-
tifaschistischer Schutzwall“. Mithilfe des Antifaschismus suchte die SED, ihr
System zu legitimieren und damit zu stabilisieren. In der letzten Auflage des
„Kleinen Politischen Wörterbuches“ von 1988 heißt es: „Der A[ntifaschismus]
der Gegenwart ist wichtiger Bestandteil des internationalen Kampfes für De-
mokratie und Frieden sowie gegen die neofaschistischen Bewegungen. Seine
stärkste Stütze hat er in den sozialistischen Staaten.“31 Für die SED eignete
sich Antifaschismus gut dazu, Kritiker in die Schranken zu weisen. Denn ein
Aufbegehren wider die Einheitspartei konnte als Gegnerschaft zum Antifaschis-
mus hingestellt werden. Dieser war in der Gesellschaft deutlich akzeptierter als
Kommunismus, wollte doch niemand als Faschist gelten.
    Insofern verfing die Formel vom Antifaschismus lange bei der Masse der
DDR-Bürger, die sich mit dem System nach außen hin arrangiert hatte, arran-
gieren musste, zumal nach dem Bau der Mauer.32 Selbst die wenigen „reniten-
ten“ Kräfte zogen ihn nicht in Zweifel, verstanden ihn nur anders. Ende der
1980er-Jahre bildeten sich kleinere Antifa-Gruppen, die dem ritualisierten Anti-
faschismus widersprachen und Skinheads den Kampf ansagten.33 In dem von

30 Dieser Einfluss wird in den Arbeiten Hubertus Knabes, die Erfolgsmeldungen der
   Staatssicherheit teils für bare Münze nehmen, wohl übertrieben erfasst. Vgl. Hubertus
   Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999; ders., Der diskrete
   Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin 2001.
31 Stichwort „Antifaschismus“. In: Kleines Politisches Wörterbuch, 7. Auflage, Berlin
   (Ost) 1988, S. 43.
32 Vgl. Eckhard Jesse, Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen. Das
   Scheitern (?) einer Integrationsideologie. In: Horch und Guck, 20 (2011) 4, S. 4–9.
33 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Auflage,
   Berlin 2000, insbes. S. 778–781; Michael Lühmann, Antifaschismus in Ostdeutschland.
   Eine (noch immer) eigene Geschichte. In: Deycke/Gmeiner/Schenke/Micus (Hg.), Von
   der KPD zu den Post-Autonomen, S. 361–382.
98       Aufsätze / Articles

alternativen Kräften wie Ulrike Poppe und Friedrich Schorlemmer unterzeich-
neten Appell „Für unser Land“, wesentlich von der Literatin Christa Wolf ver-
fasst, heißt es Ende November 1989, also nach dem Fall der Mauer: „Noch
können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale,
von denen wir einst ausgegangen waren.“34 Als in der Endphase der DDR die
SED mithilfe antifaschistischer Parolen um Unterstützung buhlte, etwa nach
den antisowjetischen Schmierereien Ende 1989 am sowjetischen Ehrenmal in
Berlin-Treptow, vermochte sie zwar eine große Anhängerschaft zu mobilisieren,
aber ebenso traten Kräfte auf, die das antifaschistische Aufbäumen nicht mehr
als glaubwürdig goutierten, weil es offenkundig bloß der Machtsicherung der
alten Elite dienen sollte.
    Antifaschismus als elementarer Bestandteil des DDR-Gründungmythos35 hat-
te eine Funktion nach innen und eine nach außen: nach innen deshalb, weil
sich Kritik an geschurigelten Kommunisten verbot. Wer in der NS-Diktatur ge-
litten hatte, konnte nichts Böses im Schilde führen. Nach außen deshalb, weil
der Kampf gegen die NS-Diktatur – keine politische Kraft musste einen so ho-
hen Blutzoll entrichten wie der Kommunismus – für ein hohes Maß an Legiti-
mität sorgte. Vorbehalte ließen sich damit vom Tisch wischen, zumal nicht jeder
Gegner ein blütenweißes antifaschistisches Vorleben aufzuweisen vermochte.
„Braunbücher“ versuchten die Bundesrepublik zu diskreditieren,36 waren doch
ehemalige Nationalsozialisten in führende Stellen gelangt. Allerdings bestimm-
ten taktische Überlegungen den Umgang der SED mit der NS-Vergangenheit.37
Im Vordergrund stand das jetzige Bekenntnis zum Antifaschismus, nicht das frü-
here Verhalten, wobei die gepflegte Erinnerungskultur einen anderen Eindruck
zu erwecken suchte.
    An den symbolträchtigen „Schwur von Buchenwald“ beim Totengedenken
1945 wie an das kurz zuvor verabschiedete „Buchenwalder Manifest“ – in dem
Konzentrationslager mussten mehr als 50 000 Personen aus dem In- und Aus-
land ihr Leben lassen – erinnerten in der DDR nicht nur Geschichtswissenschaft-
ler pathetisch. Idealisierte die SED den Widerstand von Kommunisten, spielte
sie das Schicksal anderer herunter, etwa das von Juden. Und die partielle Zu-

34 Der Aufruf ist erstmals veröffentlicht in: Neues Deutschland vom 19.11.1989, S. 2.
   Zu den Hintergründen dieses Appells vgl. Konstanze Borchert/Volker Steinke/Carola
   Wuttke (Hg.), „Für unser Land“. Eine Aufrufaktion im letzten Jahr der DDR, Frank-
   furt a. M. 1994.
35 Vgl. Herfried Münkler, Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungs-
   instrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen. In: Agethen/Neubert/Jesse
   (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus, S. 79–99.
36 Vgl. Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland, Dokumenta-
   tionszentrum der Staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hg.), „Braunbuch“. Kriegs-
   und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin. Staat, Wirtschaft, Ver-
   waltung, Armee, Justiz, Wissenschaft, 3. Auflage, Berlin (Ost) 1968.
37 Vgl. Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit; Sandra Meenzen, Lebenslüge Antifa-
   schismus. Der Umgang der SED mit einer NSDAP-Vergangenheit. In: Horch und Guck,
   20 (2011) 4, S. 10–13.
Jesse, Antifaschismus      99

sammenarbeit der kommunistisch beherrschten Lagerkomitees mit der SS kam
nicht zur Sprache.38
   Nach dem Ende der SED-Diktatur brach vielfältige Kritik am staatlich verord-
neten Antifaschismus aus.39 Durch den ökonomisch interpretierten Faschismus
war die Rassenideologie der Nationalsozialisten unterbelichtet geblieben. Dies
änderte sich allmählich erst in den 1980er-Jahren. Auch der Einparteienstaat
mit seiner Gleichschaltung erfuhr nur eine unzureichende Analyse, wohl nicht
zuletzt aufgrund mancher Parallelen im eigenen Herrschaftssystem. Eine die
Gemüter bis heute bewegende Streitfrage: Geht der größere antidemokratische
Anteil von rechts in den neuen Bundesländern eher auf die Zeit vor 1990 zurück
oder eher auf die schwierige Transformationszeit seit 1990?

VI. Formen des Antifaschismus in Deutschland seit 1990

Der Gebrauch des Begriffs Antifaschismus in der Bundesrepublik unterscheidet
sich deutlich von dem in der SED-Diktatur. Antifaschismus kommt in höchst
unterschiedlichen Formen vor.40 Eine bundesweit operierende Organisation na-
mens Antifa gibt es nicht (mehr). Die AfD, die den Rechtsextremismus weithin
ignoriert, brachte 2019 im Deutschen Bundestag einen Antrag ein, die Antifa zu
ächten,41 und 2020 einen Antrag, nicht nur die strafrechtlich relevanten Taten der
Antifa zu verurteilen, sondern auch zu prüfen, „ob die Voraussetzungen von bun-
desweiten Vereinsverboten von Gruppierungen, die sich unter der Bezeichnung
‚ANTIFA‘ zusammengeschlossen haben und deren Organisationen oder Tätig-
keit sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, nach dem Vereinsgesetz
vorliegen und im Fall des Vorliegens der Voraussetzungen entsprechende Verbote
auszusprechen“.42 Im Plenum fiel die Nichtakzeptanz der anderen Parteien zwar
einhellig aus, aber die Einschätzung der Antifa wich deutlich voneinander ab. Be-
grüßte Martina Renner (Die Linke) die Antifa ohne Abstriche,43 gingen der Red-
ner der Regierungsparteien CDU/CSU (Marian Wendt, Axel Müller, Hans-Jürgen
Irmer) ebenso auf Distanz zur Antifa wie das die Rednerin der Oppositionspartei

38 Vgl. Lutz Niethammer (Hg.), Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten
   Kapos von Buchenwald, Berlin 2018 (Reprint der Erstauflage von 1995).
39 Vgl. etwa Annette Leo/Peter Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien
   zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001.
40 Vgl. beispielsweise Armin Pfahl-Traughber, Antifaschismus als Thema linksextremisti-
   scher Agitation, Bündnispolitik und Ideologie. Zu den ideologischen Hintergründen
   und politischen Implikationen eines Kampfbegriffs. In: ders. (Hg.), Jahrbuch für Extre-
   mismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 273–300.
41 Vgl. Drucksache des Deutschen Bundestages 19/13521 vom 25.9.2019.
42 Drucksache des Deutschen Bundestages 19/20074 vom 17.6.2020, S. 5.
43 Sie fing sich im Bundestag 2019 einen Ordnungsruf ein, weil sie mit einem Sticker der
   „Antifaschistischen Aktion“ ans Rednerpult gegangen war.
100      Aufsätze / Articles

FDP (Linda Teuteberg) tat. Diese schiefe Phalanx zwischen Regierung und Op-
position trat auch bei Uli Grötsch, Sylvia Lehmann, Helge Lindh (jeweils SPD)
und Manuela Rottmann (Grüne) auf. Alle vier ließen Sympathie, freilich keine
bedingungslose, für die Antifa erkennen.44 Wie das Beispiel erhellt, fehlt unter
den tragenden politischen Kräften ein Konsens über die Antifa.45
    Die AfD ließ nicht locker und fragte in einer Kleinen Anfrage nach der Exis-
tenz einer Antifa mit fester Organisationsstruktur.46 In ihrer Antwort erklärte die
Bundesregierung unter Verweis auf „mehrere lokale Gruppierungen und Initiati-
ven“ mit dem Namen Antifa: „Eine Organisation, die die Bezeichnung ‚Antifa‘ als
Alleinstellungsmerkmal führt, bundesweit in klar umgrenzten, zumindest für eine
gewisse Dauer verfestigten Strukturen agiert und über klare Mitgliedschaften ver-
fügt, gibt es […] nach wie vor nicht.“47 Im Januar 2021 gab der niedersächsische Mi-
nisterpräsident Boris Pistorius (SPD) bekannt, ein Verbot regionaler Antifa-Grup-
pen zu prüfen. Dies löste heftige Proteste aus, etwa durch die „Rote Hilfe“.48
    Wenn im Folgenden zwischen einem organisationsorientierten, einem akti-
onsorientierten und einem diskursorientierten Antifaschismus unterschieden
wird, entspricht dies einer idealtypischen Sichtweise, sind doch die Grenzen flie-
ßend. So weist der organisationsortierte Antifaschismus auch diskursorientierte
Elemente auf (die VVN-BdA gibt eine Zeitschrift namens „antifa“ heraus), der
diskursorientierte eine Nähe zum aktionsorientierten (eine Reihe von Periodika
ermuntert zumindest indirekt dazu, Veranstaltungen von „Faschisten“ zu stören);
und der aktionsorientierte ist zuweilen fest in einer Gruppe organisiert. Ungeach-
tet der mangelnden Trennschärfe erscheint eine solche Klassifikation vertretbar.
    Zum organisationsorientierten Antifaschismus: Hier ist an erster Stelle die
VVN-BdA zu nennen, die sich ganz auf die Bekämpfung des Faschismus konzen-
triert, auf seine Träger und seine Ideologie.49 In der 1947 gegründeten und mit
jetzt ca. 6 000 Mitgliedern größten antifaschistischen Vereinigung – die Zahlen-
angaben schwanken, wobei die VVN-BdA einen beträchtlichen Rückgang der
Zahl der Mitglieder hinnehmen musste – dominierten schnell Kommunisten der
DDR-Richtung, obwohl sie sich überparteilich gab und dies bis heute zu sein be-
hauptet, indem sie an Christen, Gewerkschaftler, Liberale, Sozialisten und Kom-

44 Vgl. Stenographischer Bericht des Deutschen Bundestages vom 19.6.2020, S. 20.897–
   20.913.
45 Vgl. auch Tom Mannewitz/Tom Thieme, Gegen das System. Linker Extremismus in
   Deutschland, Bonn 2020, insbes. S. 54–59.
46 Vgl. Bundestagsdrucksache 19/24073 vom 5.11.2020.
47 Bundestagsdrucksache 19/24505 vom 19.11.2020, S. 2.
48 Vgl. Rote Hilfe e. V. Ortsgruppe Hannover, Pistorius und die ANTIFA – Verbot der
   ANTIFA soll geprüft werden vom 15.1.2021 (https://rotehilfehannover.systemausfall.
   org/node/244; 10.2.2021).
49 Zum Selbstverständnis vgl. Max Oppenheimer (Hg.), Antifaschismus – Tradition, Politik,
   Perspektive. Geschichte und Ziele der VVN – Bund der Antifaschisten, Frankfurt a. M.
   1978; Hans Coppi/Nicole Warmbold (Hg.), 60 Jahre Vereinigung der Verfolgten des
   Naziregimes. Lesebuch zu Geschichte und Gegenwart der VVN, Berlin 2007; Ulrich
   Schneider, 70 Jahre VVN – Widerstehen. Damals – heute – morgen, Berlin 2017.
Jesse, Antifaschismus    101

munisten gleichermaßen appelliert.50 Die SPD erließ bereits 1948 einen – später
aufgehobenen – Unvereinbarkeitsbeschluss. In den 1950er-Jahren startete die
Exekutive wenig erfolgreiche Anläufe für ein Verbot der Organisation im Bund
und in den Ländern. 1971 folgte die Erweiterung im Namen zum „Bund der An-
tifaschisten“, um ebenso jüngere Antifaschisten an sich zu binden.
    Nach dem Zusammenbruch der DDR trat ein gewisser Wandel ein. Zum ei-
nen nahm innerhalb der Vereinigung der Einfluss der ehemals SED-orientierten
Kommunisten ab, zum anderen griff sie auch auf das Antifaschismus-Verständ-
nis autonomer Gruppen zurück, ohne es sich generell zu eigen zu machen.
Während die Vereinigung mit dem Slogan „Nie wieder Faschismus!“ früher
in den Verfassungsschutzberichten regelmäßig auftauchte, ist das mittlerweile
bloß noch in denen Bayerns der Fall. Das bedeutet jedoch kein demokratisches
Gütesiegel. Sie verlor 2019 als linksextremistisch beeinflusste Organisation ihre
Gemeinnützigkeit.51 Doch im März 2021 erlangte sie diese wieder zurück.52 Der
Grund: Der bayerische Verfassungsschutzbericht hatte für den Berichtszeitraum
2019 nur noch die dortige Landesvereinigung aufgelistet, aber nicht mehr die
Bundesvereinigung.53 Von 2003 bis 2014 fungierte der Theologe Heinrich Fink,
zuvor Bundestagsabgeordneter für die PDS, in der DDR langjähriger Inoffiziel-
ler Mitarbeiter (IM), als ihr Vorsitzender. Die heutigen Vorsitzenden, Axel Holz
und Cornelia Kerth, sind Mitglieder der Partei Die Linke. Andere linksextreme
Gruppen wie die (orthodox kommunistische) Deutsche Kommunistische Partei
(DKP), die (maoistische) Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD)
und die (trotzkistische) Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) stellen auf Anti-
faschismus ebenso ab, wenngleich nicht in dieser Ausschließlichkeit.
    Zum aktionsorientierten Antifaschismus: Die Autonomen hatten sich in den
1970er- und 1980er-Jahre des letzten Jahrhunderts herausgebildet.54 Teilweise
martialisch auftretend, setz(t)en sie auf Selbstverwirklichung und befürworte(te)n
Gewalt gegen Sachen. Ein beträchtlicher Teil von ihnen widmet(e) sich dem Agi-
tationsfeld des Antifaschismus, wobei Kapitalismus als wesentliche Ursache des
Faschismus gilt. Der aktionsorientierte Antifaschismus, nicht zentral gesteuert,
ist gewaltaffin, ideologisch weniger orthodox ausgerichtet, agiert stark spontan
und findet vor allem bei jüngeren Personen Anklang. Als treibende Kraft fun-
gierte anfangs eine K-Gruppe, der vor allem in Norddeutschland beheimatete
„Kommunistische Bund“ (KB). Dieser sah die bundesdeutsche Gesellschaft auf

50 Vgl. Blank, „Deutschland, einig Antifa“, S. 121–156.
51 Vgl. Sebastian Weiermann, Antifa droht das Aus. In: Neues Deutschland (online) vom
   29.11.2019 (https://www.neues-deutschland.de/artikel; 20.11.2020).
52 Vgl. Konrad Litschko, Doch wieder gemeinnützig. In: taz vom 26.3.2021, S. 6; David
   Maiwald, Antifaschismus ist gemeinnützig. In: junge Welt vom 26.3.2021, S. 4.
53 Vgl. Verfassungsschutzbericht Bayern 2019, München 2020, S. 260.
54 Vgl. Sebastian Haunss, Antiimperialismus und Autonomie. Linksradikalismus seit der
   Studentenbewegung. In: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Die Sozialen Bewegungen in
   Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 447–473; Mannewitz/
   Thieme, Gegen das System, insbes. S. 98–118.
102      Aufsätze / Articles

dem Weg in die „Faschisierung“,55 förderte so die antifaschistische Bewegung
der nicht-traditionalistischen Richtung. Mit seiner zwei Jahrzehnte umspannen-
den Existenz (1971–1991) erwies er sich langlebiger als seine kommunistischen
Konkurrenten.
   Der Autonome Antifaschismus verfügt seit der deutschen Einheit über mehr
Gewicht,56 bedingt u. a. durch das verstärkte Aufkommen von „Faschos“. 1992
gründete sich sogar ein überregionaler Zusammenschluss:57 Die „Antifaschisti-
sche Aktion/Bundesweite Organisation“ (AA/BO) suchte mit ihrem Emblem an
ihren Vorgänger in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Anders als diese war
sie von keiner Partei dominiert. Das trifft auch für das „Bundesweite Antifa Tref-
fen“ (BAT) zu, das, vornehmlich in den neuen Bundesländern aktiv, nur wenige
Jahre bestand (1993–1999). Es befürwortete zwar ebenso einen revolutionären
Antifaschismus, war aber weniger militant ausgerichtet. Aufgrund interner Zwis-
tigkeiten, u. a. zwischen „Antiimperialisten“ und „Antideutschen“, löste sich die
AA/BO 2001 auf. Durch den Aufruf von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum
„Aufstand der Anständigen“ nach dem Anschlag auf die Synagoge in Düssel-
dorf im Oktober 200058 geriet der revolutionäre Antifaschismus ebenfalls in die
Krise. Lichterketten und Demonstrationen fanden statt, Verbotsanträge gegen
die NPD wurden vorbereitet und staatliche Gelder für die Zivilgesellschaft beim
„Kampf gegen rechts“ locker gemacht. Die Antifa hielt sich von einer solchen
Form des Antifaschismus überwiegend fern. Ihre Lesart: „Anstatt mit denselben
bürgerlichen Kräften gegen Nazis zu demonstrieren, die ihrerseits die Durchset-
zung deutscher Großmachtinteressen mit militärischen Mitteln wieder salonfä-
hig gemacht hätten, müsse die radikale Linke gerade diese in den Fokus ihrer
Aktivitäten rücken. Denn innerhalb eines bürgerlichen Anti-Nazi-Bündnisses
wird die antifaschistische Linke immer Schmiermittel für einen reibungslos lau-
fenden Standort Deutschland bleiben.“59
   Nils Schuhmacher ermittelte für 2009 295 Antifa-Gruppen (in 218 Städten
und Kreisen), für 2012 226 (in 172 Städten und Kreisen) und für 2014 189 (in
129 Städten und Kreisen). Der Autor problematisiert zu Recht die Exaktheit
der Angaben, sieht jedoch eine Abnahme der Zahl der Gruppen als wahrschein-
lich an.60 Die wirkmächtigsten Parolen der Szene lauten: „Antifa heißt Angriff“,

55 Für Einzelheiten vgl. Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Or-
   ganisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Berlin 2002.
56 Vgl. Blank, „Deutschland, einig Antifa“, S. 190–238.
57 Vgl. Keller/Kögler/Krawinkel/Schlemermeyer, ANTIFA, S. 79–125.
58 Der vermutete rechtsextremistische Hintergrund erwies sich in diesem Fall als irrig.
   Verurteilt wurden ein Jordanier und ein Marokkaner, die ihre Tat als „ein Zeichen ge-
   gen die Gewalt der Israelis in den besetzten Gebieten“ verstanden: „Bewährungsstrafe
   für Attentat auf Synagoge“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 7.3.2001.
59 Keller/Kögler/Krawinkel/Schlemermeyer, ANTIFA, S. 125.
60 Vgl. Schuhmacher, „Nicht nichts machen“?, S. 40. Vgl. auch ders., „Küsst die Faschis-
   ten“. Autonomer Antifaschismus als Begriff und Programm. In: APuZ, 67 (2017) 42–43,
   S. 35–41.
Jesse, Antifaschismus    103

„Kein Fußbreit den Faschisten“, „Alerta, Alerta, Antifacista“, „All Cops are Bas-
tards“, „Kapitalismus, scheiß wie noch nie! Für den Kommunismus und die An-
archie“, „Kampf den Braunzonen“. Der Autonome Antifaschismus propagiert
und praktiziert „Nazi-Outing“, das öffentliche Bloßstellen tatsächlicher oder
vermeintlicher Rechtsextremisten.61 Die Schwerpunkte liegen in den urbanen
Zentren des Landes, mehr im Westen als im Osten – Leipzig mit dem Stadtteil
Connewitz bildet hier einen „Hotspot“. Damit korreliert die Stärke der Auto-
nomen Antifa mit der Schwäche der rechtsextremistischen Szene. Vice versa
gilt das ebenso. Innerhalb der antifaschistischen Szene können dabei Konflikte
aufbrechen, wenn die Antifa aus der Metropole die Antifa im ländlichen Raum
durch großmäulige Militanz verschreckt, weil sie die Gegebenheiten vor Ort
nicht kennt.62 Zwar sind antifaschistische Gruppen zum Teil regional vernetzt,
aber bundesweite antifaschistische Zusammenschlüsse blieben nach der „Antifa-
schistischen Aktion“, wie erwähnt, ab 2001 aus.
    Was selten passiert: Im März 2021 rechnete ein ehemaliger Angehöriger der
Antifa-Szene, dessen Anliegen „keineswegs die Diffamierung linker Werte“ ist,
mit dieser ab.63 Die Antifa-Demonstration vom 1. Mai 2015 in Tröglitz (Sach-
sen-Anhalt), wo es im April desselben Jahres zu einem bis heute unaufgeklärten
Brandanschlag auf eine geplante Asylunterkunft gekommen war, stelle ein mar-
kantes Beispiel für das kontraproduktive Verhalten der Antifa dar: „Während die
schwarzvermummten Jugendlichen und Studenten durch das Dorf ziehen, wer-
den im Chor Parolen gerufen wie: ‚Kühe, Schweine, Ostdeutschland‘ oder ‚Ooh
es kommt die Zeit, wenn die Elster wieder steigt‘ (ein Fluss) und ‚Scheiß Drecks-
nest! Scheiß Drecksnest!‘“64 Der Autor, der seine Identität nicht preisgibt, zitiert
zustimmend einen Kommentator: „Bessere Parolen hätten die Nazis nicht basteln
können … mit Antifaschismus hat das nicht mehr viel zu tun, es wirkt, als würden
hier Großstadthipster im Kolonialherrenstil über die Eingeborenen richten.“ 65 Er
beklagt das fehlgeleitete Menschenbild der Antifa, deren Freund-Feind-Denken
und hält die Zeit für eine neue undogmatische „Antifaschistische Aktion“ reif:
„Eine ‚friedliche Aktion‘, die zu Recht von sich sagen könnte, in der gewaltfreien
Tradition von Martin Luther und Mahatma Gandhi zu stehen.“66

61 Vgl. Tom Mannewitz, „Nazi-Outing”. Zwecke, Funktionen und Probleme eines neuen
   „Volxsports“. In: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hg.), Extremismus in Deutschland.
   Schwerpunkte, Vergleiche, Perspektiven, Baden-Baden 2013, S. 453–470.
62 Vgl. Alexander Deycke/Sören Isele, Kein ruhiges Hinterland? Autonomer Antifaschis-
   mus in der Provinz. In: Demokratie-Dialog, 2018 (3), S. 20–29.
63 O. V. „Kühe, Schweine, Ostdeutschland“. Warum ich die Antifa verlassen habe,
   9.3.2021, S. 2 (https://freie-linke.de/freier-funke/2021/03/kuehe-schweine-ostdeutsch
   land; 21.3.2021).
64 Ebd., S. 7 (Hervorhebung im Original).
65 Zit. nach ebd., S. 7 (Hervorhebung im Original).
66 Ebd., S. 9 (Hervorhebung im Original).
104       Aufsätze / Articles

    Den bundesweit agierenden, nicht ausschließlich auf Antifaschismus ausge-
richteten Netzwerken – die „Interventionistischen Linke“ (IL) und „… ums Gan-
ze – kommunistisches Bündnis“ – schlossen sich einige Antifa-Gruppen an. Das
Spektrum ist vielfältig: Nachdem sich „Fantifas“ schon länger gebildet hatten,
ist nun eine „Migrantifa“ als Reaktion auf die „Black Lives Matter“-Bewegung
entstanden.67 Ihr Fehlen hatten „Fantifas“ schon länger beklagt: „Eine Leerstelle
[…] bleibt die Frage nach race. Die antifaschistische Bewegung in Deutschland
war und ist weiß dominiert. […] Das Nichterkennen der rassistischen NSU-Mor-
de durch Antifaschist_innen hängt auch damit zusammen, dass die Stimmen von
Migrant_innen und People of Colour nicht gehört wurden. […] Die antifaschis-
tische Bewegung muss sich fragen, warum die folgenschwerste Mordserie einer
Neonazigruppe in der BRD nicht erkannt wurde.“68
    Die Autonome Antifa sieht Gewalt als legitim an, mitunter als Gegengewalt
verklausuliert. Sie bemüht sich darum, diese im eigenen Milieu vermittelbar zu
machen. Das ist bei Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Polizisten („Bul-
len“) wie (tatsächliche oder vermeintliche) Rechtsextremisten („Faschos“) ein-
fach. Wenngleich eine Aufschlüsselung linksextremistischer Gewalttaten69 nach
Trägern fehlt, dürfte ein sehr großer Teil auf Antifaschisten zurückgehen. So
sind im Jahr 2019 297 offenbar antifaschistisch motivierte Gewalttaten gegen
Rechtsextremisten oder vermeintliche Rechtsextremisten zu verzeichnen.70 „Die
verbindende Klammer [der antifaschistischen Gruppen] ist dabei anscheinend
weniger ein geteilter Faschismusbegriff als vielmehr eine kapitalismuskritische
Grundhaltung und der Anspruch, [tatsächlich oder vermeintlich] rechtsextremen
Akteuren und Strukturen mit einer kämpferischen Haltung, aber nicht zwingend
auch gewaltsam entgegenzutreten.“71
    Die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder erwähnen etwa
50 antifaschistische Gruppen namentlich, wobei diese Zahl bei Weitem nicht alle
beobachteten erfasst, geschweige denn alle existierenden. Der jüngste Verfas-
sungsschutzbericht des Bundes listet sieben einschlägige Gruppen auf: drei, die
zur IL gehören („Antifaschistische Linke Freiburg“, „Antifaschistische Linke In-
ternational“, „Antifaschistische Initiative“), vier aus den Reihen des Netzwerkes

67 Und neuerdings – im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung – eine Panthifa. Sie rich-
   tet sich ausschließlich an nicht-weiße Antirassisten, -kapitalisten und -faschisten. In der
   Gründungsproklamation heißt es: „Auch wenn wir ebenfalls in solchen Gruppen or-
   ganisiert sind, so ist in Antifa- und Migrantifa-Bündnissen doch immer ein Machtge-
   fälle zwischen Schwarzen und nicht-Schwarzen Mitgliedern gegeben, das sich ohne
   vorherige Schwarze Selbstermächtigung nicht überwinden lassen wird.“ Panthifa –
   Gründungsproklamation. Warum Panthifa?, 22.7.2020 (https://panthifa.blackblogs.
   org/2020/07/22/gruendungsproklamation/; 2.1.2021).
68 Herausgeber_Innenkollektiv (Hg.), Fantifa, S. 183 f. (Hervorhebung im Original).
69 Vgl. den Überblick bei Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder, Der Kampf ist nicht
   zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt, Freiburg i. Brsg. 2019.
70 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2019, Berlin 2020,
   S. 34.
71 Deycke, Von einer KPD-Initiative zur Autonomen Antifa, S. 46.
Jesse, Antifaschismus    105

„ums Ganze – kommunistisches Bündnis“ („Antifaschistische Gruppe Bremen“,
„Basisgruppe Antifaschismus“, „Antifa AK Köln“, „antifant – Autonome Antifa
München“).72 Die Sicherheitsbehörden gehen mittlerweile von einer größeren
Aggressivität aus.73 So heißt es im rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzbe-
richt, keineswegs bloß bezogen auf das dortige Bundesland: „In den letzten Jah-
ren, gerade auch im Berichtsjahr 2019, nahm das Freund-Feind-Denken in der
linksextremistischen Szene, insbesondere in linksextremistischen Antifa-Grup-
pierungen, eine neue Qualität an.“74
   Entspricht ein Teil des „Autonomen Antifaschismus“ einer Form des Vigilan-
tismus? Träfe dies zu, wäre manche Aktion damit erklärbar, dass sie das staatli-
che Gewaltmonopol deshalb verletzt und „Selbstjustiz“ betreibt, weil dem Staat
nicht zugetraut wird, entschieden gegen als faschistisch deklarierte Gruppierun-
gen vorzugehen. Das bedeutete zum einen, nicht jeder Autonome Antifaschis-
mus sei staatsfeindlich, und zum anderen wäre Vigilantismus dann nicht bloß
ein rechtes Phänomen, wie eine gängige Interpretation lautet,75 sondern ebenso
ein linkes.
   Zum diskursorientierten Antifaschismus: Hier ist exemplarisch eine Reihe
antifaschistischer Zeitschriften erwähnenswert.76 Selbst der mit der Materie Ver-
traute verliert angesichts des schillernd-buntscheckigen Spektrums und der ho-
hen Fluktuation schnell den Überblick. Insofern erweist sich das Internetportal
LinksNet als ein nützliches Unterfangen – es erfasst die Inhalte von mehr als 50
linken Zeitschriften, keineswegs nur solche linksextremistischer Couleur.77 Ein
Blick auf die Szene der einschlägigen Periodika vermittelt ein eindrucksvolles
Bild. Im Folgenden finden ausschließlich linksextremistisch beeinflusste Periodi-
ka Erwähnung, die bundesweit verbreitet sind und kontinuierlich erscheinen. Sie
rücken, wie bereits ihr Name besagt, Antifaschismus in den Vordergrund, ohne
andere Themen gänzlich zu vermeiden. Wegen der ideologischen Affinitäten
wundert es nicht, wenn dieselben Autoren, etwa Volkmar Wölk, auch unter dem
Pseudonym Jean Cremet publizierend, in verschiedenen Organen auftauchen.
Zahlreiche Rezensionen informieren fast überall über einschlägige Literatur.
Manche Beiträge weisen ein beachtliches Niveau auf (die Parallelen zur „Sezes-
sion“ vom anderen politischen Randspektrum sind auffallend) und präsentieren
dank intensiver Recherche neue Fakten. Verfassungsschutzberichte einzelner
Länder haben sie früher aufgeführt, nehmen mittlerweile davon Abstand. Meis-
tens erhielten die Periodika vor Gericht Recht.

72 Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2019, S. 151, 153.
73 Vgl. ebd., S. 136, S. 148.
74 Ministerium des Innern und für Sport (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2019 Rhein-
   land-Pfalz, Mainz 2020, S. 36 f.
75 Vgl. etwa Matthias Quent, Selbstjustiz im Namen des Volkes: Vigilantistischer Terroris-
   mus. In: APuZ, 66 (2016) 24–25, S. 20–26.
76 Die Informationen über die im Folgenden aufgelisteten Periodika basieren auf denen
   der Redaktionen und einer kursorischen Sichtung der Inhalte.
77 Vgl. Rainer Rilling, LinksNet: Ein Unikat – von links (https://www.linksnet.de/artikel/
   26958; 10.11.2020).
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