DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung

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DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FACHINFORMATION
No 2 | 2021

    DIGITALE GEWALT
DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                                                                          Seite 2

Liebe Leser_innen1,                                                                   Anknüpfend an das laufende FHK-Projekt „Schutz vor di-
                                                                                      gitaler Gewalt unter Einbeziehung der Datensicherheit
liebe Kolleg_innen,
                                                                                      im Frauenhaus“ haben wir uns dieser Frage mit der vor-
es ist gar nicht so lange her, da bezeichnete Bundeskanzlerin                         liegenden Fachinformation genähert. Fast alle Beiträge,
Angela Merkel das Internet als „Neuland“ für uns alle. Was                            ob von Polizei oder Frauenhaus, Jurist_in oder Bera-
schon 2013 bei einer Generation Heranwachsender, aus de-                              ter_in, kreisen dabei um zwei Begriffe: Bewusstsein und
ren Alltag Smartphone, Social Media und Co. längst nicht                              Medienkompetenz. Zunächst auf Seiten aller, die tagtäg-
mehr wegzudenken waren, für Belustigung sorgte, kann                                  lich per Handy sorglos Bilder, Standorte und Informatio-
heute umso weniger zutreffen – und ist trotzdem gültig:                               nen über sich teilen. Aber auch auf Seiten derer, die als
                                                                                      Behörde, als Unterstützungseinrichtung oder politische
Denn einerseits hat sich mit unseren alltäglichen Interaktio-
                                                                                      Instanz damit beauftragt sind, die Betroffenen zu schüt-
nen geradezu selbstverständlich auch die Ausübung von Ge-
                                                                                      zen und beim Einfordern ihrer persönlichen Rechte zu
walt im Kontext von Partnerschaften auf digitale Foren und
                                                                                      unterstützen.
Werkzeuge ausgeweitet. Smarte Technologien werden ge-
nutzt, um Partner_innen zu überwachen, Onlineplattformen                              Denn das Internet ist längst kein Neuland mehr. Wer es
gebraucht, um Personen öffentlich zu diffamieren; Kontrolle                           weiterhin so behandelt, kann dem komplexen Problem
und psychische Gewalt werden über Messenger und Apps auf                              digitaler Gewalt nicht gerecht werden.
dem Smartphone fortgeführt. Kurzum: Längst knüpft ge-                                 Wir wünschen mithin allen eine aufschlussreiche, anre-
schlechtsspezifsche Gewalt im digitalen Raum nahtlos an Ge-                           gende Lektüre und freuen uns über Kritik, neue Impulse
waltmuster der analogen Welt an und verstärkt diese zusätz-                           und natürlich Lob.
lich.
                                                                                      Mit herzlichen Grüßen aus der FHK-Geschäftsstelle
Andererseits jedoch müssen Betroffene digitaler Gewalt –
von Hate Speech bis Cyberstalking – immer wieder schmerz-
lich feststellen, dass Strafverfolgung, Behörden und auch Be-                         Elisabeth Oberthür
ratungsangebote (letztlich ein ganzer Staatsapparat) mit die-
                                                                                      Referentin Öffentlichkeitsarbeit / Gewaltschutz und
sen rasanten Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Er-
                                                                                      Flucht
mittlungen verlaufen schleppend, Verfahren werden einge-
stellt, mitunter fehlt es an Verständnis für die reale Tragweite
digitaler Gewalt und oft an spezifischem technischem Know-                            Triggerwarnung: Einige Texte dieser Fachinformation
How.                                                                                  enthalten Schilderungen von Gewalthandlungen, die be-
Wie kann man einem solchen Lagebild begegnen und Be-                                  lastend oder retraumatisierend sein können. Das ist
troffene digitaler Gewalt im Kontext von Partnerschaftsge-                            nicht bei jedem Text einzeln gekennzeichnet.
walt effektiver unterstützen?

1 Anmerkung zur genderspezifischen Schreibweise: Um die Vielfalt geschlechtlicher     Fachinformation überlassen wir es jedoch den jeweiligen Verfasser_innen, für
Identitäten sichtbar zu machen, verwendet Frauenhauskoordinierung in eigenen Publi-   welche Form einer gendersensiblen Schreibweise sie sich entscheiden. So viel
kationen den sogenannten Gender-Gap (Unterstrich). In den Beiträgen der               Vielfalt und Freiheit muss sein.
DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                                                                                          Seite 3

INHALT

SCHWERPUNKT: DIGITALE GEWALT ................................... 4                        „Häufig ist die digitale Gewalt eine Art Begleiterscheinung“
                                                                                          – Interview mit dem Frauenhaus Lübeck (AWO) ............... 37
Sexualisiert, bloßgestellt und abgewertet. Wie Frauen im
Netz Gewalt erfahren. ........................................................ 4          Herausforderungen bei der rechtlichen Ahndung digitaler
                                                                                          Gewalt .............................................................................. 39
PROJEKTSTECKBRIEF Schutz vor digitaler Gewalt unter
Einbeziehung der Datensicherheit im Frauenhaus .............. 7                           Aus Forschung und Praxis ................................................ 45
„Die betroffenen Frauen fühlen sich weiterhin dem Täter                                   Cyberstalking – im Strafgesetzbuch jetzt buchstabiert .... 45
ausgeliefert“ - Interview mit dem Team des Frauenhauses                                   Cybergewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine Studie
Ingolstadt (Caritas) ............................................................ 9
                                                                                          bringt es auf den Punkt ..................................................... 46
„Viele haben das Gefühl, dass das Internet ein rechtsfreier                               Tipps und Termine ............................................................ 49
Raum ist“ – Interview mit dem bff: Bundesverband
Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe .................... 11                          Info-Materialien und hilfreiche Links ................................ 49

Das „Internet der Dinge“: Anstieg und Ausweitung digitaler                                Buchempfehlung: „Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeit
Gewalt.............................................................................. 15   der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien“ 52

„Die Bandbreite des Möglichen ist riesig. Nur die                                         Buchrezension: „Will das Kind sein Wohl?“ von Jan-Robert
Vorstellungskraft setzt uns oft Grenzen.“ – Interview mit                                 Schmidt ............................................................................ 53
dem 24-Stunden Frauennotruf der Stadt Wien ................ 19                            Neues von FHK ................................................................. 55
„Medienkompetenz. Das ist der Kern der Sache.“ –                                          Fortbildung im Projekt Digitale Gewalt: Digitale Gewalt –
Interview mit dem Frauenhaus Hamburg (Diakonie)......... 25                               Rechtliche Aspekte ........................................................... 55
Im öffentlichen Interesse?! Strafverfolgung von                                           Interview mit Dorothea Hecht, FHK-Referentin für Recht
Gewalttaten in der digitalen Welt..................................... 27                 und Datensicherheit ......................................................... 57
Im Spannungsfeld der Interessen – Herausforderungen                                       Interview mit Fabienne Gretschel, ehemalige FHK-
polizeilicher Ermittlungen bei Cyberstalking ..................... 29                     Referentin für Recht ......................................................... 59
„Was ich über mich an eine Litfaßsäule hängen würde, das                                  Projekt Digitale Gewalt: Was kommt?............................... 61
kann ich ohne Bedenken ins Netz stellen“ – Interview mit
                                                                                          Impressum ....................................................................... 62
der Polizeiprävention Frankfurt a. M. ............................... 33
DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                       Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                            Seite 4

SCHWERPUNKT: DIGITALE GEWALT

Sexualisiert, bloßgestellt und abgewertet. Wie Frauen im Netz Gewalt erfahren.
Claudia Otte, HateAid

Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält gewaltvolle Kommen-         Häufige Formen sind:
tare
                                                                     •   Revengeporn: Private Aufnahmen oder Fotomonta-
„Weckt mich wieder auf, wenn das Mäuschen volljährig ist                 gen werden auf Pornoplattformen veröffentlicht
und ihre Zwergtittchen auspackt.“                                    •   Dickpics: Fotos/Videos von Geschlechtsteilen
                                                                     •   Cyberstalking: Wiederkehrende, belästigende Kon-
So lautet nur einer von vielen Kommentaren, die die junge
                                                                         taktaufnahme
Aktivistin Karina F.2 im Netz unter ihrem Bild findet. Karina F.
                                                                     •   Sexualisierte Beleidigungen, Vergewaltigungsandro-
vertritt eine starke Meinung bei der Klimaschutzbewegung
                                                                         hungen: Über Nachrichtendienste, Kommentare, E-
Fridays For Future. Ihre Generation hängt an ihren Lippen –
                                                                         Mail
online wird sie fast täglich beleidigt und von ihrer Vergewal-
                                                                     •   Verleumdungen: Falschbehauptungen mit Ziel der
tigung phantasiert.
                                                                         Rufschädigung
Die Zahlen: Digitale Gewalt gegen Frauen hat                         •   Doxing: Veröffentlichen von privaten Daten (z. B. Te-
Hochkonjunktur                                                           lefonnummer)
                                                                     •   Spy Ware: Spionage-Apps, mit denen Aufenthaltsort
Damit ist sie nicht allein. Menschen, die weiblich gelesen
                                                                         und Kommunikation kontrolliert werden können
werden oder die sich selbst als weiblich identifizieren, sind
                                                                     •   Fake-Accounts: Erstellen von Profilen, die die Identi-
besonders von herabsetzenden, sexualisierten Äußerungen
                                                                         tät der Frau missbrauchen
betroffen. 70 % der Mädchen und jungen Frauen geben an,
schon einmal Gewalt und Belästigung in den sozialen Medien         Auch die Aktivistin Karina F. war von so einem Fake-Account
erlebt zu haben (vgl. Plan International 2020). Die Zahlen         betroffen: Ein Unbekannter erstellte zahlreiche E-Mailadres-
sind alarmierend. Internationale Studien deuten überdies           sen mit ihrem Namen und sendete gefälschte E-Mails an
darauf hin, dass der digitale Raum durch die Corona-Krise als      Menschen aus ihrem Umfeld.
Tatort der Gewalt gegen Frauen noch einmal an Bedeutung            Die zum Alltag gewordene, für manche auch beruflich unab-
gewonnen hat (vgl. UN Women 2021).                                 dingbare Nutzung des digitalen Raums eröffnet neue Wege
Formen der Gewalt                                                  für Kontrolle, Belästigung und Bedrohung. Betroffene wer-
                                                                   den von digitaler Gewalt verunsichert und leiden massiv un-
Jene geschlechtsspezifische digitale Gewalt richtet sich zum       ter Kontrollverlust. Langanhaltende Hassattacken machen
einen gegen politisch engagierte Frauen und geht oftmals           die Frauen mürbe. Sie zweifeln an sich selbst, beschäftigen
von unbekannten Täter*innen aus. Zum anderen tritt sie im          sich rund um die Uhr mit dem Hass, werden von den Nach-
Privaten auf: im Kontext von konfliktreichen (Ex-)Beziehun-        richten verfolgt. Die Folgen sind psychische Erkrankungen,
gen oder Konstellationen, bei denen z. B. partnerschaftliche       wie Depressionen, Panik- und Angstepisoden oder Schlafstö-
Interessensbekundungen abgewiesen wurden.                          rungen.

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    Name aus Sicherheitsgründen geändert
DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
    Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                         Seite 5
DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                                       Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                                              Seite 6

Die Täter*innen                                                            Was kann man tun?
Nach Angaben der ZAC 3 haben wir es hauptsächlich mit                      Es braucht ein größeres Bewusstsein für die „Gefahrenzone
männlichen Tätern über 50 zu tun. Sie gehören zum Teil                     Internet”. Jede*r sollte sich die Fragen stellen: Kann man
Gruppierungen wie Incels4, Frauenhassern und Pickup Ar-                    meine Adresse finden? Welche Bilder sind von mir im Netz
tists5 an oder wollen Frauen aus politischen Gründen scha-                 zu sehen? Auf sozialen Netzwerken müssen die Privatssphä-
den. Frauenhass ist z. B. Teil der rechtsextremen Ideologie.               reeinstellungen dazu genutzt werden, eigene Daten zu
Andererseits üben Männer digitale Gewalt aus, die den                      schützen. Wichtig sind auch das Verwenden von sicheren
Frauen nahe waren – als Lebenspartner, Ehemann oder kurz-                  Passwörtern, regelmäßige Softwareupdates und Anti-Vi-
zeitige Affäre.                                                            rensoftware. Aber auch Anlaufstellen müssen in Sachen Di-
                                                                           gitalisierung nachrüsten, um weiterhin lebensweltorientiert
Die Belastung für Frauen ist extrem hoch.
                                                                           beraten zu können. Klar ist:
Das Ziel
                                                                           MEDIENKOMPETENZ IST UNABDINGBAR.
Kürzlich kündigte die Journalistin Dunya Hayali eine Pause
von Twitter an. Sie hatte nach Berichten über Querden-                     Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Wir ermuntern
ker*innen heftige Hasskommentare erhalten, musste Dreh-                    Frauen ausdrücklich, Anzeige zu erstatten. Täter*innen wird
arbeiten aufgrund von Sicherheitsbedenken sogar absagen.                   so deutlich gemacht, dass ihre Taten Konsequenzen haben.
Das zeigt: Digitale Gewalt schlägt immer wieder auch in ana-               Aber es ist vor allem für die Frauen wichtig, wieder hand-
loge Gewalt um oder geht mit ihr einher. So erhöhen Tä-                    lungsfähig zu werden.
ter*innen den Druck. Ihr Ziel: Frauen wie Karina F. und Hayali
                                                                           Zudem zeigen Anzeigen dem Gesetzgeber: Hier gibt es Hand-
sollen zum Schweigen gebracht werden. Der sogenannte
                                                                           lungsbedarf. Dies gilt für Bedrohungen genauso wie für Dick-
Silencing-Effekt betrifft dabei nicht nur die direkten Opfer:
                                                                           pics und Stalking. Aktuelle Gesetzesänderungen (§ 140 StGB)
                                                                           haben diese Tatbestände zuletzt aufgegriffen. Nunmehr ist
VIELE MITLESER*INNEN WERDEN EBENFALLS AB-
                                                                           nicht nur die Androhung von Vergewaltigungen strafbar,
GESCHRECKT UND TRAUEN SICH NICHT MEHR,                                     sondern ihre bloße Befürwortung. In Sachen Stalking (§ 238
SICH ZU BESTIMMTEN THEMEN IM NETZ ZU ÄUS-                                  StGB) ist jetzt nicht mehr nur das analoge Nachstellen straf-
SERN.                                                                      bar, sondern auch digitale Aspekte wie das Erstellen von
                                                                           Fake-Profilen. Davon profitierte auch Aktivistin Karina F.: Sie
Im partnerschaftlichen Kontext kommt es immer häufiger
                                                                           hat vieles zur Anzeige gebracht und hatte Erfolg. Auf meh-
zum wissentlichen (z. B. als Vertrauensbeweis in Beziehun-
                                                                           rere Täter*innen warten empfindliche Geldstrafen.
gen) oder unwissentlichen Installieren von Spy Ware auf
dem Smartphone. Die Frau kann so jederzeit ausfindig ge-
macht und ihre Kommunikation mitgelesen werden. Hier ist                   Zur Autorin:
das Ziel: Unterdrückung & Kontrolle.
                                                                           Claudia Otte ist Sozialpädagogin und Betroffenenberaterin
                                                                           bei HateAid, der einzigen bundesweit tätigen Beratungs-
                                                                           stelle für Betroffene von digitaler Gewalt.

3                                                                          5
 Zentral- und Ansprechstelle Cyberrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW)         Männer, die psychologische Methoden anwenden, um Frauen zu verfüh-
4
 Heterosexuelle Männer, die angeblich gegen ihren Willen keine sexuellen   ren, diese objektifizieren und nicht an ernsthaften persönlichen Beziehun-
Beziehungen zu Frauen haben. Sie üben enormen Frauenhass aus und sind      gen interessiert sind.
verstärkt gewaltbereit.
DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                       Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                            Seite 7

PROJEKTSTECKBRIEF
Schutz vor digitaler Gewalt unter Einbeziehung der Datensicherheit im Frauenhaus

     AUFTRAGGEBER:        Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

     PROJEKTLAUFZEIT:     08 / 2019 – 05 / 2022

 PROJEKTVERANTWORTLICHE   Theresa Eberle, eberle@frauenhauskoordinierung.de und
                          Dorothea Hecht, hecht@frauenhauskoordinierung.de

          ZIELE:              •    Entwicklung eines nachhaltigen, wirksamen, praxistauglichen und
                                   nutzer_innenfreundlichen Schutzkonzeptes gegen digitale Gewalt in
                                   Frauenhäusern bundesweit unter Berücksichtigung technischer,
                                   juristischer und psycho-sozialer Aspekte
                              •    Verbesserung der Datensicherheit und des Datenschutzes in Frauen-
                                   häusern
                              •    Ermöglichung einer sichereren Nutzung digitaler Medien und Geräte
                                   in Frauenhäusern und Reduzierung des Risikos einer Gefährdung von
                                   Bewohner_innen, Mitarbeiter_innen und der Frauenhausstandorte
                              •    Sensibilisierung für Risiken im Umgang mit digitalen Medien und
                                   Daten sowie Erhöhung allgemeiner Medienkompetenzen
                              •    Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten von Frauen-
                                   häusern (z. B. mit bekannter Adresse) im Kontext von Sicherheit und
                                   Digitalisierung
                              •    Information der Fachpraxis zu relevanten Thematiken und Sensibili-
                                   sierung der breiten Öffentlichkeit zu den Problematiken und Be-
                                   darfen

        METHODE:          1) Bestandsaufnahme: Recherche von Literatur und aktueller Fachartikel zu
                             technischen Entwicklungen, Expert_innenaustausch und Befragung von
                             Mitarbeiter_innen von Frauenhäusern

                          2) Modellvorhaben:
                              •    Weiterentwicklung der bestehenden Sicherheitskonzepte und Si-
                                   cherheitsmaßnahmen bezüglich digitaler Gewaltformen und der IT-
                                   Sicherheit an vier Modellstandorten:
                                       o Frauenhaus Diakonisches Werk Hamburg
                                       o Frauenhaus Ingolstadt, Caritasverband für die Diözese
                                           Eichstätt e.V., Bayern
                                       o Frauenhaus Hartengrube in Lübeck, AWO Schleswig-Hol-
                                           stein gGmbH
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                                                             Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                  Seite 8

             o   Beratungs- und Krisenzentrum für Frauen in Rathenow, Un-
                 abhängiger Frauenverein e.V., Paritätischer Wohlfahrtsver-
                 band, Land Brandenburg
    •    Austesten und Implementierung neuer Sicherheitsmaßnahmen
    •    Fortbildungen und Prozessbegleitung an den Modellstandorten

3) Ausarbeitung Schutzkonzept Digitale Gewalt und IT-Sicherheit:
    •    Konzeptionalisierung der Schutzmaßnahmen für die bundesweite
         Nutzung in FH
    •    Lösungsentwicklung für neu auftretende technische Themen und
         Problematiken

4) Veranstaltungen:
    •    Expert_innengespräche mit der Fachpraxis
    •    Fachtag zum Projektabschluss

5) Veröffentlichungen zu relevanten Themen für die Fachpraxis und die breite
   Öffentlichkeit
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                                                                      Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                           Seite 9

„Die betroffenen Frauen fühlen sich weiterhin dem Täter ausgeliefert“
Interview mit dem Team des Frauenhauses Ingolstadt (Caritas)

FHK: Was hat Sie & Ihr Team dazu bewegt, am FHK-Modell-
projekt zu digitaler Gewalt teilzunehmen?

Digitale Gewalt ist ein weiteres Instrument, um Macht und
Kontrolle gegenüber den betroffenen Frauen und Kindern
auszuüben, Gefühle von Überforderung und Machtlosigkeit
auszulösen, und tritt oft in Zusammenhang mit häuslicher
Gewalt auf.

Aufgrund der Vielschichtigkeit und der stetig steigenden Be-
ratungsanfragen dieser Gewaltform wurde immer deutli-
cher, dass wir viel technisches, rechtliches und psycho-sozi-
ales Wissen benötigen.

Wir stellten uns somit immer häufiger die Frage, wie wir die
betroffenen Frauen, Kinder, Mitarbeiter_innen und die
Frauenhaus-Adresse adäquat vor dieser Form von Gewalt
schützen können. Als wir von der Ausschreibung Modellpro-
jekt „Digitale Gewalt“ von Frauenhauskoordinerung e.V. er-
fahren haben, stand für uns fest, dass wir uns bewerben
werden.

FHK: Können Sie schildern, mit welchen Formen digitaler Ge-
walt Sie in Ihrem Arbeitsalltag zu tun haben?

Die Erscheinungsformen digitaler Gewalt sind vielfältig. Am
häufigsten sind wir mit der Thematik Cyberstalking & Cyber-
mobbing konfrontiert, aber auch mit der Verbreitung von
intimen Bildern und Videos.

Beispielsweise entdeckte eine Bewohnerin ein Profil von
sich selbst auf einer Social-Media-Plattform, welches sie
selbst nie erstellt hatte. Der Ex-Partner hat mit privaten Fo-
tos einen Account in ihrem Namen veröffentlicht. Trotz der
Trennung und des Aufenthalts im Frauenhaus fühlte sich die
Frau wieder ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert.
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                                                                                                     Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                         Seite 10

FHK: Unterscheidet sich Beratung bezüglich digitaler Gewalt       wissen um die Möglichkeiten der Überwachung, Ortung,
für Sie vom Umgang mit analoger Gewalt? Inwiefern?                Prävention, Beweissicherung etc., und wie wir mit techni-
                                                                  schen „Geschenken“ für Bewohner_innen und Kindern um-
Grundlegend anders ist, dass ein ständiges „Up-to-Date“-
                                                                  gehen.
Sein der Beratenden unbedingt notwendig ist, um die vie-
len, ständig neuen Möglichkeiten von digitaler Gewalt prä-
sent zu haben. Denn die Betroffenen wissen oft gar nicht,
                                                                  FHK: Hatten Sie im Kontext des Projekts schon einen beson-
dass sie digitaler Gewalt ausgesetzt sind. Als Beispiele lassen
                                                                  deren AHA-Moment?
sich hier das Ausspionieren und Abfangen von Daten, die
Ortung mobiler Geräte, ungefragtes Fotografieren und Fil-         Um nur zwei der vielen AHA-Momente zu nennen, die wir
men nennen.                                                       im Kontext des Projekts bisher hatten:

                                                                  Fotos können unabhängig der dargestellten Inhalte Aus-
                                                                  kunft über den Aufnahmeort geben. Wenn ein Foto aufge-
FHK: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, wenn
                                                                  nommen wird, werden durch die Metadaten Aufnahmezeit,
Sie im Frauenhaus mit digitaler Gewalt zu tun haben? Wel-
                                                                  -datum und Informationen zum Aufnahmeort gespeichert.
che Unterstützung würden Sie sich zusätzlich wünschen?
                                                                  Zudem wissen wir jetzt, wie Stalkerware aufgefunden wer-
Die betroffenen Frauen fühlen sich, obwohl sie sich in einer      den kann, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht sicht-
Schutzeinrichtung befinden, weiterhin dem Täter ausgelie-         bar ist. Nachdem dieses Thema bei der Schulung angespro-
fert. Zudem ist die Anonymität des Hauses durch die Mög-          chen wurde, konnten wir bei einer Bewohnerin eine solche
lichkeit der Ortung in Gefahr.                                    App finden.

Sowohl die Beratung als auch die Umsetzung sind sehr zeit-
aufwändig.
                                                                  Gesprächspartnerin:
Wir würden uns wünschen, dass aus diesem Projekt, neben
                                                                  Andrea Schlicht (Leitung Caritas-Frauenhaus, Diplom-Sozial-
einem einfach umzusetzenden Handlungsleitfaden, eine
                                                                  pädagogin (FH)), Marina Eberherr (Sozialarbeiterin (B.A.))
bundesweite Beratungsstelle für Betroffene und Fachkräfte
                                                                  und Raffaela Mattes (Pädagogin (B.A.))
entsteht.

FHK: Hat sich im Verlauf des Projekts Ihr Umgang mit – und
Ihr Blick auf –digitale Gewalt verändert?

Durch das angeeignete Wissen können wir professioneller
beraten und Medienkompetenz adäquat vermitteln. Wir
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                                                                                                      Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                          Seite 11

„Viele haben das Gefühl, dass das Internet ein rechtsfreier Raum ist“
Interview mit Jenny-Kerstin Bauer, bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe

FHK: Der bff befasst sich schon seit einigen Jahren mit digi-     Stalking mit und ohne Spionage-Apps, bildbasierte sexuali-
taler Gewalt. Mit welchen Formen digitaler Gewalt habt ihr        sierte Gewalt, hacken, kontrollieren der Clouddienste, Ge-
in der Beratungsarbeit besonders oft zu tun – und was hat         rüchte im Netz streuen, Deep Fakes, heimliches Filmen,
sich ggf. in den letzten Jahren verändert?                        Identitätsdiebstahl, kontrollieren von Smarthome-Geräten
                                                                  und vieles mehr sind Lebensrealität für Betroffene. Das
Unsere Erfahrungen basieren auf denen von über 200 bff-
                                                                  stellt gewaltbetroffene Frauen sowie deren Unterstüt-
Fachberatungsstellen in der Unterstützung von gewaltbe-
                                                                  zer*innen und Berater*innen aus der Fachberatung vor
troffenen Frauen und Mädchen. Wir nehmen seit einigen
                                                                  große Herausforderungen.
Jahren eine zunehmende Bedeutung der Thematik in den
Beratungsstellen wahr. Alles digitalisiert sich in unserem All-
tag, so auch die Gewalt – Technik, Medien, soziale Netz-
                                                                  FHK: Wie gehen Beratungsstellen vor, wenn sich Betroffene
werke sind zunehmend in Gewaltdynamiken involviert. (Ex-
                                                                  von digitaler Gewalt, z. B. von Cyberstalking, an sie wenden?
)Partnerschaftsgewalt und sexualisierte Gewalt digitalisie-
ren sich immer mehr. Der bff führt seit 2017 das Projekt „Ak-     Das Beendigen einer Gewaltbeziehung ist für Betroffene
tiv gegen digitale Gewalt“ durch. Das Projekt wird vom            nicht einfach. Verschiedene Gewaltformen werden vom Tä-
BMFSFJ finanziert.                                                ter gleichzeitig genutzt, um die Betroffene einzuschüchtern
                                                                  und gefügig zu machen. Es bestehen bei den Betroffenen
                                                                  Existenzängste, Angst vor der Reaktion des Umfelds, Schuld
                                                                  und Scham. Und diese Gefühle erschweren u. a. oft Tren-
 ZUM PROJEKT:                                                     nungen.

 Seit 2017 gibt es das bff-Projekt aktiv: gegen digitale Ge-      Beratung in einer bff-Fachberatungsstelle kann helfen und
 walt. Wir qualifizieren das Unterstützungssystem zu di-          unterscheidet sich bei digitaler Gewalt nicht von anderen
 gitaler Gewalt in der Beratung und den rechtlichen Mög-          geschlechtsspezifischen Gewaltformen. Damit die Betroffe-
 lichkeiten. Wir informieren die Öffentlichkeit zu digitaler      nen wieder in die Handlungsfähigkeit kommen, wird ihnen
 Gewalt mit der bff-Online-Plattform www.aktiv-gegen-             geglaubt und es werden erste individuelle Sicherheits-
 digitale-gewalt.de und großen Social-Media-Kampagnen             schritte gemeinsam mit der Beraterin gesetzt. Alles in Ab-
 wie „digital +real“. Zusätzlich vernetzen wir uns mit zivil-     sprache mit den betroffenen Frauen.
 gesellschaftlichen und politischen Akteur*innen, die be-
 reits zu Gewalt und Diskriminierung im Netz arbeiten               Unter:
 und geben Wissen zum Umgang mit geschlechtsspezifi-                www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-vor-ort.html
 scher Gewalt aus dem spezialisierten Unterstützungs-               finden Betroffene und Unterstützer*innen die Fachbe-
 system weiter, um zur geschlechtsspezifischen Dimen-               ratungen, die ihren Beratungsschwerpunkt auf digitale
 sion von digitalen Angriffen zu sensibilisieren.                   Gewalt gelegt haben. Auf Wunsch kostenfrei und auch
                                                                    anonym.
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                                                                                                     Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                         Seite 12

FHK: Was unterscheidet den Umgang mit digitaler Gewalt              • Mehr Angebote und Stellen, wie Kompetenzzentren,
von Gewalt im analogen Raum – für Beratende, aber auch                die bei der Sicherung und Prüfung von Technik und
für Betroffene?                                                       Online-Konten gewaltbetroffener Frauen helfen.

Die Beratung von Frauen, die von digitaler Gewalt betroffen         • Konkrete Überlegungen, wie Entwickler*innen und
sind, bringt einige Herausforderungen für die Beratung mit            Produzent*innen von Hard- und Software mehr Ver-
sich, denn digitale Angriffe gegen Frauen sind vielfältig:            antwortung für gewaltschutzrelevante Sicherheits-
Manche sind technisch ausgefeilt, andere sehen nur so aus.            standards ihrer Produkte übernehmen können.
Zudem ist das Internet ein schnelllebiges Medium, welches
den Tätern immer neue Möglichkeiten bietet, digitale Ge-         Die Strafverfolgung digitaler Gewalt steckt noch in den Kin-
walt auszuüben. In unserem Buch „Geschlechtsspezifische          derschuhen, was auch damit zu tun hat, dass die allermeis-
Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventi-     ten Gesetze in einer Zeit formuliert wurden, in der es noch
onsstrategien“ gibt es dazu einen spannenden Artikel von         kein Internet gab. Der Prozess, die unterschiedlichen For-
Jenny-Kerstin Bauer (bff) und Helga Hansen zu diesem             men digitaler Angriffe rechtlich einzuordnen, ist in Deutsch-
Thema: Digitale Erste Hilfe und Sicherheitsprinzipien für Be-    land noch nicht abgeschlossen. Viele Betroffene, aber auch
rater*innen bei digitaler Gewalt. Der Artikel beinhaltet eine    Täter*innen, haben das Gefühl, dass das Internet ein rechts-
kurze Checkliste mit drei Punkten, um schnell digitale Erste     freier Raum ist.
Hilfe in der Beratung leisten zu können. Wichtig ist, eine Be-   Ein weiterer Grund für mangelnde Strafverfolgung sind feh-
standsaufnahme von allen Konten machen, eine Sicher-             lende spezifische Kenntnisse zu digitalen Phänomenen so-
heitsbasis zu schaffen und die vorhandenen Beweise zu si-        wie mangelnde Kapazitäten bei den Strafverfolgungsbehör-
chern.                                                           den. Immer wieder berichten uns Betroffene digitaler Ge-
                                                                 walt, dass sie bei der Polizei auf eine große Ratlosigkeit im
                                                                 Umgang mit digitaler Technik getroffen sind, z. B. bei Fragen
FHK: Wo stoßt ihr bei eurer Arbeit in diesem Kontext auf be-     der Sicherung von Beweisen, die sich auf Smartphones be-
sondere Herausforderungen?                                       finden.
Es gibt sehr viele unterschiedliche Herausforderungen.           Forschung: Die letzte durch die Bundesregierung in Auftrag
Hilfreich in der Beratung gewaltbetroffener Frauen wären         gegebene repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen
momentan vor allem:                                              wurde 2004 veröffentlicht (Schröttle/Müller 2004). Aspekte
                                                                 digitaler Gewalt wurden, bis auf Stalking mittels E-Mails,
   • Ein Unterstützungssystem und Fachberatungsstel-
                                                                 nicht abgefragt. Die nächste Prävalenzstudie zu Gewalt ge-
     len, die sicher finanziert und so ausgestattet sind,
                                                                 gen Frauen käme nicht umhin, sich deutlich mehr für das
     dass sie mit der Digitalisierung Schritt halten können
                                                                 Thema digitale Gewalt zu öffnen.
     und Präventionsangebote vorhalten können.

   • Eine bessere Ausstattung und Sensibilisierung der
     Polizei und Justiz, z. B. auch Schwerpunkt-staatsan-
     waltschaften, die sich dann auch zuständig sehen für
     digitale Gewalt im Rahmen von Partnerschaftsgewalt
     und Stalking – also nicht nur bei Hatespeech oder
     sogenannten Cybercrime-Delikten.
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                                                                                            Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                Seite 13

FHK: Wenn ihr drei Wünsche frei hättet: Was müsste passie-
ren, damit Betroffene von digitaler Gewalt besser unter-
stützt und geschützt werden?                                   ÜBER DEN BFF
   1.   Eine ausreichende Finanzierung von Beratung, Prä-      Der bff ist der Bundesverband der Frauenbera-
        vention und Stärkung von Medienkompetenz               tungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland. Im
   2.   Verantwortungsübernahme von Plattformbetrei-           bff sind mehr als 200 Frauennotrufe und Frauenbe-
        ber*innen und -entwickler*innen                        ratungsstellen zusammengeschlossen, die schwer-
                                                               punktmäßig Beratungsarbeit bei geschlechtsspezi-
   3.   Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass digitale      fischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen leisten.
        Gewalt als reale Gewalterfahrung in allen Teilberei-   Durch Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen ächtet
        chen unserer Gesellschaft, in der Politik und der      der bff Gewalt gegen Frauen und Mädchen und
        Justiz anerkannt ist.                                  nimmt als Dachverband maßgeblich Einfluss auf
                                                               politische Entscheidungen. Der bff führt Seminare
                                                               und Tagungen durch, verbreitet Expertise aus Pra-
Zur Gesprächspartnerin:                                        xis und Forschung und entwickelt Informationsma-
Jenny-Kerstin Bauer ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit   terialien zum Thema Gewalt gegen Frauen.
mit Schwerpunkt Social Media und im Projekt „Aktiv gegen
digitale Gewalt“.
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    Schwerpunkt: Digitale Gewalt
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                                                                                                                           Seite 15

Das „Internet der Dinge“: Anstieg und Ausweitung digitaler Gewalt
Dr. Leonie Maria Tanczer, University College London

Neue Technologien nehmen in unserem täglichen Leben
eine immer wichtigere Rolle ein und viele von uns sind fast
24/7 online. Aber das Internet rufen wir nicht mehr aus-
schließlich von Computern, Tablets und Smartphones ab.
Zahlreiche unserer Haushaltsgeräte sind schon Teil des glo-
balen Netzwerks. Das sogenannte „Internet der Dinge“ (im
Englischen: Internet of Things; IoT) zieht langsam in unsere
Wohn- und Arbeitsräume ein. Beispiele für solche IoT-Ge-
räte sind intelligente Lautsprecher wie das Amazon Echo,
die per Sprachaktivierung gesteuert werden können, intelli-
gente Schlösser, die Haustüren mit einer App öffnen, oder
intelligente Heizsysteme, die eine Nutzung aus der Ferne er-
möglichen. Und obwohl diese vernetzten Systeme viele Vor-
teile bieten, öffnen sie auch Tür und Tor für Überwachung,
Kontrolle und Belästigung.
Vor allem in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass digitale
Technologien einen neuen Risikofaktor für Opfer und Über-
lebende von sexueller und häuslicher Gewalt darstellen. Mit
der zunehmenden Verbreitung von Smartphones und asso-
                                                                  Die Auswirkungen des Internets der Dinge
ziierten Plattformen wie Facebook ist technologiegestützter
Missbrauch (im Englischen: Tech Abuse) zu einem weit ver-         IoT ist ein Überbegriff, der die Entwicklung verschiedener
breiteten Thema geworden. Von Cyberstalking bis hin zu Ra-        Technologien über ein weites Anwendungsspektrum be-
che-Pornos reichen die Missbrauchsdynamiken. Bedenkt              schreibt. Diese intelligenten Systeme umfassen winzige
man aber den zunehmenden Anstieg an IoT-Systemen, die             Sensoren, die Luftfeuchtigkeit oder Temperatur erfassen,
unsere konventionellen Geräte nicht nur „klüger“ sondern          Produkte und Haushaltsgeräte wie Internet-verbundene
auch „zusammenhängender“ machen, verändert sich die               Spielzeuge und Türklingeln bis hin zu komplexen Systemen
Reichweite der Gewaltmuster.                                      wie vernetzten und autonomen Fahrzeugen.

Tatsächlich steigt mit der Verbreitung von intelli-               Was IoT-Geräte einzigartig macht, ist ihre Konnektivität. Das
                                                                  „Internet der Dinge“ ermöglicht eine Verknüpfung verschie-
genten Geräten nämlich nicht nur die Zahl an Sys-
                                                                  dener Geräte, wodurch ein Netzwerk von Gegenständen
temen, die von TäterInnen verwendet werden                        entsteht, welche im Prinzip über das Internet (oder ein an-
können, sondern auch die Liste an Möglichkeiten,                  deres Netzwerk) miteinander „kommunizieren“. IoT geht
Opfer zu verfolgen, zu beobachten und zu regulie-                 somit über Smartphones, Laptops und Tablets hinaus. Es be-
ren.                                                              deutet eine Erweiterung der Internetfähigkeiten auf Geräte,
                                                                  die entweder zuvor nicht existierten (z. B. intelligente Laut-
                                                                  sprecher) oder zuvor analog waren (z. B. intelligente Was-
                                                                  serkocher oder Kühlschränke).
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                                                                                               Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                   Seite 16

Bild: Überblick über die verschiedenen Funktionen von IoT-Systemen, welche vom GIoT-For-
schungsteam in englischer Sprache zusammengestellt wurde
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                                                                                                               Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                                   Seite 17

Während viele IoT-Systeme derzeit menschliches Handeln                      derzeit gut etablierte Sicherheits- und Datenschutzeinstel-
erfordern – etwa durch das Drücken einer Taste oder die                     lungen. Während nämlich Handys oder Computer über Jahr-
Aktivierung über eine App – ist das ultimative Ziel der Her-                zehnte hinweg verbessert und getestet wurden, haben wir
stellerInnen, dass diese völlig ohne direktes menschliches                  für die neuen IoT-Systeme noch keinen Erfahrungswert in
Eingreifen agieren. Sprich: IoT-Geräte sollen zunehmend                     Hinblick auf ihre Schwachstellen und Sicherheitslücken.
unsere Präferenzen und Muster lernen, auf Basis derer Ent-
                                                                            Vielerorts werden sie auch mit der unterbewuss-
scheidungen getätigt werden. Demzufolge haben IoT-Pro-
dukte aufgrund ihres Funktionsumfangs (einschließlich ihrer                 ten Annahme entwickelt, dass alle NutzerInnen,
Möglichkeit ferngesteuert zu werden, Videos aufzuzeichnen                   die unter einem Dach wohnen und ein Zuhause
und extrem persönliche Daten zu sammeln und zu teilen)                      teilen, einander vertrauen und frei der gemein-
das Potenzial, unser Verständnis und unseren Zugang zu di-
                                                                            schaftlichen Datenbearbeitung zustimmen kön-
gitalen Systemen grundlegend zu verändern.
                                                                            nen. In Fällen von häuslicher Gewalt ist dies je-
    Achtung!
                                                                            doch nicht gegeben, was wiederum Missbrauch
                                                                            ermöglicht.
    Die Unter- sowie Überschätzung der Fähigkeiten von
    IoT-Geräten ist gegenwärtig ein großes Problem. Tä-
    terInnen können Opfern vortäuschen, dass ein Gerät
                                                                            Die Bedeutung von IoT für die Frauenhausarbeit
    wie ein intelligenter Staubsauger einen viel weiteren
    Funktionsrahmen hat, als dies der Fall ist. TäterInnen                  Obgleich das Internet der Dinge gekommen ist, um zu blei-
    können deshalb Opfern vorgaukeln, dass zum Bei-                         ben6, befassen sich gegenwärtig die meisten Studien, Ge-
    spiel ein IoT-Produkt eingebaute Kameras oder sogar                     setze sowie Ressourcen zu digitaler Gewalt mit „konventio-
    Messer haben würde. Andererseits können TäterIn-                        nellen“ Cyberrisiken wie der Belästigung auf Social-Media-
    nen aber auch bewusst Eigenschaften vorenthalten,                       Plattformen und Beschränkungen von Geräten wie Laptops
    die Betroffene in Unkenntnis über Fähigkeiten wie                       und Handys. Zugleich scheinen auch Frauenhäuser sowie
    Video- und Tonaufzeichnung lässt. Es ist deshalb                        andere Hilfeeinrichtungen einen Mangel an Bewusstsein für
    wichtig, dass Bewusstsein für die Funktionsvielfalt                     die Gefahren von IoT zu haben. Dies sind große Defizite,
    von IoT-Geräten innerhalb des Hilfesektors geschaf-                     welche eine Lücke in Hinblick auf die Unterstützung von Be-
    fen wird.                                                               troffenen entstehen lassen.

                                                                            Das Forschungsprojekt „Gender and IoT“ (GIoT) am Univer-
                                                                            sity College London hat sich deshalb zur Aufgabe gemacht,
                                                                            diese neuen IoT-Geräte zu analysieren und Einrichtungen
Sicherheit? Ein Nebengedanke
                                                                            dabei zu helfen, die aufkommenden Risiken zu bewältigen.
Trotz der unzähligen Möglichkeiten, die diese neuen Tech-                   Von Beginn des Projekts an hat sich das Team auch der
niken mit sich bringen, sehen vielen ExpertInnen tiefgrei-                  Schulung und engen Zusammenarbeit mit dem Sektor ver-
fende Sicherheits- und Datenschutzrisiken bei intelligenten                 pflichtet.
Produkten. Ihre umfangreichen Funktionalitäten – wie etwa
                                                                            Mittels Fokusgruppen, Interviews, und Umfragen von briti-
die Standorterfassung mittels GPS – können bewusst miss-
                                                                            schen Beratungsstellen hat das GIoT-Team folgende zent-
braucht werden, um Opfer auszuspionieren und ihre Bewe-
                                                                            rale Erkenntnisse gewonnen:
gungen zu verfolgen. Darüber hinaus fehlen IoT-Systemen

6
  Schätzungen zufolge wird die Zahl der weltweit vernetzten IoT-Geräte
jährlich um durchschnittlich 12 % von fast 27 Milliarden im Jahr 2017 auf
125 Milliarden im Jahr 2030 steigen.
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                                                                                                 Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                     Seite 18

 1.   Hilfseinrichtungen mangelt es häufig an technischem           etwa IoT-gestütztem Missbrauch, auseinanderzuset-
      Know-How, auf digitale Gewalt zu reagieren und Op-            zen.
      fer in allen ihren technischen Anliegen zu beraten.      3.   Die Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt und der In-
 2.   Dieser Mangel hängt auch damit zusammen, dass In-             ternetsicherheit müssen in Einklang gebracht wer-
      stitutionen wie Frauenhäuser begrenzte Kapazitäten            den, da sie vermehrt in Verbindung stehen.
      und Ressourcen haben, um auf technische Verände-         4.   Der Missbrauch von digitalen Systemen muss in
      rungen – wie die Ausweitung des „Internets der                Richtlinien und Ressourcen zum Thema der sexuali-
      Dinge“ – zu reagieren.                                        sierten und häuslichen Gewalt berücksichtigt wer-
 3.   Der Missbrauch von digitalen Technologien wird                den.
      nicht ausdrücklich in allen Risikoabwägungen und Si-     5.   Das Risiko digitaler Gewalt durch neue Produkte wie
      cherheitsplänen für Opfer von häuslicher oder sexu-           dem „Internet der Dinge“ muss in Risikobewertun-
      eller Gewalt berücksichtigt.                                  gen und Sicherheitsplanungsprozessen einbezogen
 4.   Derzeit mangelt es an quantitativen Daten, um den             werden.
      exakten Umfang und die genauen Eigenschaften von         6.   Es müssen mehr Daten erhoben werden, um das
      digitaler Gewalt abzuschätzen.                                Ausmaß des neuen Problems der digitalen Gewalt
                                                                    besser einschätzen und die Veränderungen im Laufe
   Ressourcen                                                       der nächsten Jahre besser überwachen zu können.

   Aktiv gegen digitale Gewalt: Eine Initiative des Bun-
                                                                 Mehr zum „Gender and IoT“ Projekt
   desverbands der Frauenberatungsstellen und Frau-
   ennotrufe in Deutschland → https://www.aktiv-ge-              Das Projekt „Gender and IoT“ (GIoT) am University Col-
   gen-digitale-gewalt.de/de/                                    lege London untersucht, wie IoT-Geräte im Kontext
                                                                 von häuslicher Gewalt missbraucht werden können
   Hate Aid: Eine Beratungsstelle für Betroffene digita-
                                                                 und welche Unterstützung Opfer und Hilfedienste be-
   ler Gewalt → https://hateaid.org/
                                                                 nötigen, um diese aufkommenden Risiken zu bewälti-
   Stärker als Gewalt: Ein Überblick über die rechtliche         gen. Wenn Sie mehr über dieses Forschungsprogramm
   Situation und Trends des Bundesministeriums für Fa-           erfahren möchten, besuchen Sie die Projektwebseite
   milie, Senioren, Frauen und Jugend → https://staer-           und/oder abonnieren Sie den monatlichen GIoT
   ker-als-gewalt.de/gewalt-erkennen/digitale-gewalt-            Newsletter, der neuste Entwicklungen rund um das
   erkennen                                                      Thema „digitale Gewalt“ bündelt.

Empfehlungen für den Sektor                                   Zur Autorin:

Basierend auf den oben genannten Ergebnissen hat das For-     Dr. Leonie Maria Tanczer ist Assistenzprofessorin am Uni-
schungsteam die folgenden Empfehlungen erarbeitet:            versity College London, wo sie zum Thema Sicherheit, Tech-
                                                              nik und Geschlecht forscht und unterrichtet. Mehr zu ihrer
 1.   Das Zusammenspiel von sexualisierter und häusli-
                                                              Arbeit findet man auf ihrer Website unter: https://www.le-
      cher Gewalt mit digitaler Gewalt muss stärker als zu-
                                                              onietanczer.net/.
      sammenhängendes Phänomen wahrgenommen
      werden.
 2.   Beratungsstellen müssen dabei unterstützt werden,
      sich mit neuesten technischen Bedrohungen, wie
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                     Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                         Seite 19

„Die Bandbreite des Möglichen ist riesig. Nur die Vorstellungskraft setzt uns oft Gren-
zen.“
Interview mit Martina K. Steiner, 24-Stunden Frauennotruf der Stadt Wien

Kompetenzzentrum gegen Cybergewalt Wien:
Im September 2020 wurde die Kompetenzstelle gegen Cybergewalt in Wien vorgestellt. Bei diesem innovativen Projekt ar-
beiten die IT-Sicherheitsspezialist_innen der Stadt Wien eng mit der Krisenberatungseinrichtung 24-Stunden Frauennotruf
sowie den Wiener Frauenhäusern zusammen. Sie springen dort ein, wo die Berater_innen an ihre technischen Grenzen sto-
ßen. Dabei geht es vor allem um jene Fälle von Cybergewalt, bei denen es spezialisiertes IT-Wissen braucht.

FHK: Wie kam es dazu, dass Wien im September 2020 ein            Beratungs- und Arbeitshintergrund nicht die Ausstattung
Kompetenzzentrum gegen Cybergewalt eingerichtet hat?             und Ressourcen.

Wir, der Frauennotruf Wien, beschäftigen uns seit vielen         Wir haben unsere Anliegen gegenüber Wiens Frauenstadt-
Jahren mit dem Thema Cybergewalt. 2017 haben wir unter           rätin thematisiert, die hat mit dem Digitalisierungsstadtrat
Mitwirkung von Expert_innen einen Leitfaden für Frauenbe-        gesprochen und dann gab es das politische Committent: Wir
rater_innen erstellt. Wir wollten die Vielfalt an Herausfor-     bündeln hier Kompetenzen.
derungen bei dieser Beratungsthematik und entsprechende
                                                                 Wir haben dann mit der Abteilung für Digitales und den IT-
Lösungswege sammeln und in einem Referenzdokument zu-
                                                                 Spezialist_innen von „WienCERT“ besprochen: Wie schauen
sammenführen.
                                                                 Fälle aus, bei denen wir an Grenzen kommen, und wobei
Entstanden ist ein sehr umfassender Leitfaden, den wir           könnten Techniker_innen uns unterstützen?
selbst und auch viele andere Beratungsstellen nutzen, er-
stellt wirklich exklusiv für Frauenberater_innen. Wir haben
ihn auch nicht digital verschickt, sondern nur ausgedruckt       FHK: Wie kann man sich die Arbeit des Kompetenzzentrums
und vertrauensvoll in die Hände der Berater_innen gege-          vorstellen?
ben. Denn wir wissen, dass diese Sammlung an Wissen auch         Das Kompetenzzentrum gegen Cybergewalt ist keine Bera-
für Täter eine gute Handreichung wäre.                           tungsstelle, die ich betrete. Wir sind der 24-Stunden Frau-
Dieser Leitfaden hat uns einen Push gegeben und sehr ge-         ennotruf und auf der anderen Seite steht „Wien Digital“.
stärkt in der Beratungsarbeit. Aber es gibt einfach in Bera-     Wenn wir im Fall einer Klientin nicht weiterkommen, weil
tungssituationen Momente, in denen das Team trotz guter          uns das hochspezialisierte technische Know-How fehlt,
Schulung und Beratungskompetenz an Grenzen stößt.                wenden wir uns an „Wien Digital“, sofern die Frau zustimmt.
                                                                 Dann kommt ein_e Expert_in zu uns, wir warten im Frauen-
Cybergewalt ist komplex und die Formen der Cy-                   notruf mit der Frau und den technischen Geräten, die in
bergewalt sind einer rasanten Entwicklung unter-                 Frage kommen, und dort gibt es dann ein Gespräch und im
worfen.                                                          Optimalfall die Lösung des Problems.

Daher wurde immer offensichtlicher: Wir brauchen eigent-
lich spezialisierte IT- Kenntnisse und Kenntnisse der forensi-
schen Beweissicherung. Aber dafür haben wir mit unserem
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                   Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                       Seite 20

FHK: Können das andere Frauenberatungsstellen in Öster-       Wir haben natürlich vorher ausgiebig in verschiedenen Kon-
reich auch in Anspruch nehmen?                                texten bei Verwaltung und Politik für dieses Thema lob-
                                                              byiert und die unbefriedigende Lage geschildert: Frauen ge-
Wien hat im österreichischen Vergleich oft eine Vorreiter-
                                                              hen zur Polizei und die Polizei sagt: „Haben Sie Beweise
rolle. Von der Wiener Stadtverwaltung gibt es seit vielen
                                                              mit?“. Die Frau sagt, sie ist technisch nicht in der Lage, Be-
Jahren ein klares Commitment und viel Unterstützung, Geld
                                                              weise beizubringen, sie weiß auch gar nicht, wo und was auf
und Engagement beim Thema Gewaltschutz. Als einzige
                                                              ihrem Handy sie da suchen soll. Dann sagen die: „Ohne Be-
Kommune bietet die Stadt Wien den Bürger_innen mit dem
                                                              weise können wir nichts machen“ oder machen eine wirk-
Frauennotruf eine 24/7-Kriseneinrichtung im Rahmen der
                                                              lich oberflächliche Prüfung des Gerätes. Das ist sehr frust-
Verwaltung und finanziert darüber hinaus die vier (ab 2022
                                                              rierend.
fünf) Wiener Frauenhäuser zu 100 Prozent. So leistet sich
die Stadtregierung auch zu sagen: Wir hören immer wieder      Die Schwierigkeit war vielleicht, dass man nicht ab Bedarf
von Problemen und Grenzen, die offensichtlich nicht über-     sofort handeln konnte. Es braucht Zeit, bis Entscheidungs-
wunden werden können, die Frauen bleiben auf der Strecke      träger_innen miteinander reden, bis man sich einig wird.
– da müssen wir schauen, was wir machen können. Hier war
                                                              Darüber hinaus Schwierigkeiten? Nein, wir sind in enger Ab-
die Lösung, dass Klient_innen vom Frauennotruf und vom
                                                              stimmung. Wir treffen uns alle zwei Monate mit allen betei-
Verein Wiener Frauenhäuser Zugang zur Kompetenzstelle
                                                              ligten Akteur_innen, um uns im Sinne einer Fallarbeit anzu-
erhalten. Mit diesem rasch umsetzbaren Konzept sind wir
                                                              schauen: Was hat gut funktioniert, was nicht, was müssen
auch beim österreichischen Verwaltungspreis in die Final-
                                                              wir adaptieren in der Zusammenarbeit? Was kann man so-
runde gekommen.
                                                              gar telefonisch lösen?

                                                              Es war vielleicht eine kleine Hürde, bis man sich gefunden
FHK: Das klang bei Ihnen sehr reibungslos. Gab es besondere   hat – Wo ruf ich wen am besten an, zu welcher Uhrzeit ist
Herausforderungen bei der Entwicklung dieser Kompetenz-       wer wie erreichbar? –, aber diese Prozesse hatten wir
stelle?                                                       schnell drauf.
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                                                                                                     Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                         Seite 21

Widerstände gab es keine. Es war politisch gewünscht und         FHK: Wie kann ich mir Ihr Vorgehen vorstellen, wenn ich
die Beteiligten auf allen Seiten sind begeistert von dem Pro-    mich als Betroffene von z. B. Cyberstalking an Sie wende?
jekt. Die Techniker_innen finden es spannend, dass sie
                                                                 Der Erstkontakt ist zu 90 % telefonisch, der Rest elektro-
plötzlich mit Fragestellungen zu tun haben, die sie im nor-
                                                                 nisch. Wir sind rund um die Uhr erreichbar und besetzt mit
malen Alltagsgeschäft nicht haben. Und sie finden es auch
                                                                 Jurist_innen, Sozialarbeiter_innen und Psycholog_innen. Da
schön, zu sehen, wie einer Frau geholfen wurde: dass Stal-
                                                                 haben wir eng definierte Qualifikations-Erfordernisse, von
king unterbunden wurde, dass die Betroffene wieder ein
                                                                 denen wir nicht abweichen. Persönlich ist Erstkontakt nicht
weitgehend normales Leben führen kann.
                                                                 möglich, weil wir eine Geheimadresse haben.

                                                                 Im ersten Gespräch, im Clearing-Gespräch, wird zunächst
FHK: Ist die Polizei in irgendeiner Form in das Projekt invol-   das Problem erhoben und geschaut, ob die Frau akut ge-
viert?                                                           fährdet ist. Denn dann wären natürlich andere Schritte wie
                                                                 Rettung oder Polizei notwendig. Es wird geschaut: Was ist
Die Polizei ist im Gewaltschutz-Jour-Fixe regelmäßig dabei,
                                                                 das Problem? Braucht es ein persönliches Gespräch vor Ort
aber die Zusammenarbeit im Projekt haben wir erst einmal
                                                                 bei uns oder Video-Call? Dann wird zeitnah ein Termin ver-
umgangen. Wir wollten einen schnellen Weg, um in konkre-
                                                                 einbart. Eine Berater_in ist dann für diese Klient_in zustän-
ten Einzelfällen zu helfen.
                                                                 dig.
Wenn wir jede Frau zur Polizei schicken würden,
wo wir selbst technisch nicht weiterkommen,
                                                                 FHK: An welcher Stelle entscheiden Sie dann: Jetzt möchten
würden wir sehr schnell an die Grenzen des Ver-
                                                                 wir IT-Berater_innen der Kompetenzstelle dazuziehen?
ständnisses stoßen.
                                                                 Meistens suchen unsere Berater_innen, die selbst sehr viel
Wir erfahren, dass öfter Frauen weggeschickt werden. Nach        Know-How mitbringen, erstmal selbst nach einer Lösung,
dem Motto: Wenn sie etwas nicht beweisen können, was             um die Gewalt abzustellen. Grundsätzliche Schritte wie Ein-
soll man dann aufnehmen? Es passiert, dass die Frauen ab-        stellungen und Passwörter ändern, das Handy neu aufset-
gestempelt werden, dass sie paranoid seien. Es gibt bei uns      zen usw. Es wird geschaut: Weiß man, wie die Verfolgungs-
in Österreich zwar Gruppen bei der Polizei, die speziell für     handlung passiert? Weiß man, wo der Täter zu seinen Infor-
Cybergewalt zuständig sind. Es fehlt aber trotzdem in der        mationen kommt? Dann versucht man, alles Mögliche aus-
Breite das Wissen über diese spezielle Gewaltform und ihre       zuschließen oder entsprechend zu ändern. Und dann gibt es
Auswirkung auf betroffene Frauen. Den Polizist_innen fehlt       natürlich einen Beobachtungszeitraum. Wenn es dann auf-
oft die Fantasie, aber auch das technische Know-How, um          hört, hat man offensichtlich die Schwachstelle gefunden.
nachzuvollziehen, was da vielleicht mitspielt bei den Schil-     Wenn nicht, muss man weitersuchen. Wenn es zum Beispiel
derungen der Frau. Der erste Gedanke ist dann: Die hat Ver-      um eine versteckte Spyware geht, kommen Berater_innen
folgungswahn. In der Breite müsste die Polizei schon noch        des Frauennotrufs sicherlich an ihre technischen Grenzen.
ein bisschen an spezifischem Wissen über Cybergewalt zu-         Diese Geräteanalyse müssten dann die IT-Techniker_innen
legen.                                                           machen.
Das ist sicher etwas, wo wir längerfristig dranbleiben, die
Polizei mehr ins Boot zu holen.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                    Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                        Seite 22

Parallel bekommt die Klientin in den meisten Fällen weiter     die dann sehr entscheidend und komplex waren. Es ist ein
psychologische Betreuung und Beratung bei uns.                 bisschen unter unseren Erwartungen, weil viele der Fälle
                                                               tatsächlich von uns selbst gelöst werden können, bzw.
                                                               reicht manchmal schon ein fachliches Coaching, ein telefo-
FHK: Würden Sie sagen, ihre Arbeit hat sich dadurch ent-       nisches Abstimmen mit den Expert_innen.
scheidend verändert? Was sind die großen Vorteile der Kom-
                                                               Unser Eindruck ist, dass die Nachfrage immer dann beson-
petenzstelle?
                                                               ders hoch ist, wenn das Thema auch in den Medien präsent
Den Punkt, an dem wir uns selber wirklich hilflos              ist. Da hat man das Gefühl: Aha, jetzt trauen sich Frauen,
gefühlt und unsere Grenzen gesehen haben, kön-                 sind auf uns aufmerksam geworden oder haben den Mut
nen wir jetzt überwinden.                                      gefasst, die Scham zu überwinden und sich doch Hilfe zu ho-
                                                               len. Haben vielleicht auch Erlebtes – Zweifel bei der Polizei
Das ist auch für die Arbeitszufriedenheit der Berater_innen    oder Freund_innen – nochmal überwunden und sich bei uns
sehr, sehr wichtig. Wir wissen: Da gibt es noch eine Stelle,   gemeldet.
die steht uns bei, die ergänzt unser Know-How. Man kommt
auch schneller zu Lösungen, weil wir mehr Ressourcen ha-       Der mediale Diskurs ist sicher auch schrittgebend
ben, die wir anzapfen können. Das motiviert natürlich mehr     und hilfreich, damit Klient_innen zu uns finden.
und ist auch ressourcensparend für uns. Die Gewalt kann
eher unterbrochen werden, das ist für die Betroffenen
enorm entlastend.                                              FHK: Für wie effektiv halten Sie den rechtlichen Schutz in Ös-
                                                               terreich?

                                                               Es ist immer eine Frage der Beweisführung oder Beweisbar-
FHK: Wird das Angebot stark in Anspruch genommen und
                                                               keit. Das ist ein totales Problem, gerade bei Cyberstalking.
bei welchen Gewaltformen?
                                                               Wir haben Klient_innen, die natürlich versuchen, diese tau-
Es ist nicht so, dass wir eine unglaublich hohe Zahl haben,    senden SMS zu löschen, und Beweise vernichten, weil sie
die wir gemeinsam mit den IT-Expert_innen behandeln. Ich       das einfach nicht mehr vor Augen haben wollen. Selbst
glaube, in den ersten drei Monaten waren es mehrere Fälle,     wenn Frauen sich bewusst sind, sie brauchen Beweise, ist es
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021
                                                                                                      Schwerpunkt: Digitale Gewalt
                                                                                                                          Seite 23

einfach psychisch unglaublich belastend, diesen ganzen          Wahrnehmung viel vermischt. Viele glauben, Hass im Netz
Schrott zu archivieren und zu dokumentieren. Oft werden         ist das gleiche wie Cyberstalking oder Cybermobbing.
also Beweise vernichtet oder sind gar nicht so leicht festzu-
stellen und zu sichern, da braucht es zum Teil ja ein hohes
technisches Know-How. Daran scheitert es oft. Häufig wer-       FHK: Stellt man in der öffentlichen Debatte den Zusammen-
den solche Anzeigen einfach eingestellt von der Staatsan-       hang zwischen analoger und digitaler Gewalt her?
waltschaft. Es ist relativ unbefriedigend bis zahnlos.          Im Beziehungskontext sehen wir ja meistens beide Realitä-
Strafverfolgung ist aber auch nicht immer der Wunsch, der       ten, in denen sich die Gewalt abspielt: im analogen Raum
bei den Frauen an erster Stelle steht. Obwohl wir sie natür-    und im digitalen Raum, und das ist ein Kontinuum. Dieser
lich umfassend informieren, welche Möglichkeiten sie ha-        Aspekt wird in der öffentlichen Diskussion nicht so hervor-
ben, ist der erste Wunsch bei vielen unserer Klient_innen:      gestrichen. Die Wahrnehmung ist eher „Na dann schalt halt
Ich möchte, dass es aufhört. Ich möchte damit nichts mehr       alle Geräte aus, dann hast du deine Ruhe“. So als wäre mit
zu tun haben, ich möchte, dass der nicht in mein Leben rein-    einem Knopfdruck oder dem Kauf eines neuen Gerätes das
pfuscht. Und darum landen auch ganz viele Fälle gar nicht       Problem aus der Welt geschafft.
bei der Polizei, geschweige denn vor Gericht.

                                                                FHK: Also eine Verlagerung der Verantwortung auf die Be-
FHK: Sehen Sie weitere Grenzen oder Lücken bei der Unter-       troffenen mit dem Rat, sich einfach zurückzuziehen...
stützung?                                                       Genau: Sperr dich ein, nimm nicht mehr am Leben teil! Völ-
Eine Lücke: Es ist nicht strafbar, wenn ungewollt obszöne       lig absurd. Erstens:
Fotos oder Nacktfotos gesendet werden. Wenn ich Fotos           Nicht die Frau ist im Handlungszwang, sondern
erhalte, mit Inhalten, die ich als grenzwertig empfinde, ist
                                                                der Täter soll gefälligst aufhören.
das nicht strafbar.
                                                                Zweitens: Selbst wenn sie sich zurückzieht, ist damit über-
Und die Technik – die natürlich auch missbräuchlich zur Ge-
                                                                haupt nicht gesagt, dass dann ihr Leben besser wird oder die
waltausübung verwendet werden kann – entwickelt sich un-
                                                                Gewalt aufhört. So einfach ist es eben nicht.
glaublich rasant. Man ist den Tätern immer einen Schritt
hinterher. Dazu kommt die relativ einfache Zugänglichkeit
für den Täter, irgendwelche Apps oder Spyware zu kaufen.
                                                                FHK: Was wäre in Ihren Augen der entscheidende Schritt, um
Den Tätern wird es recht leicht gemacht.                        den Schutz vor digitaler Gewalt in Österreich zu verbessern?

Da ist sehr viel, sehr schnelle Bewegung drin und man           Dass die Opfer ernst genommen werden und dass die Polizei
müsste sich eigentlich als Berater_in ständig weiterbilden,     geschult wird, damit sie ihre Zuständigkeit professionell um-
auf der Suche sein: Was gibt es jetzt noch? Die Bandbreite      setzen kann. Wenn eine Frau eine Anzeige machen will, hat
des Möglichen ist riesig. Nur die Vorstellungskraft setzt uns   sie das Recht, eine zu machen. Dann muss die Polizei ermit-
oft Grenzen. Wir können uns das oft gar nicht vorstellen.       teln. Kaum bei einem anderen Delikt ist es so, dass die Poli-
                                                                zei einfach sagt: „Ich seh nichts!“

                                                                Das nächste ist, dass wir bereits Kinder und Jugendliche sen-
FHK: Welche Rolle spielt das Thema digitale Gewalt in der
                                                                sibilisieren müssen, wem sie Wissen und Daten etc. anver-
Öffentlichkeit in Österreich?
                                                                trauen. Es ist wichtig, sie darin zu bestärken, dass es gut ist,
Das Thema wird zunehmend debattiert, z. B. beim Hass-im-        auch bei Menschen, die sie kennen und mögen, eine ge-
Netz-Gesetz. Oft wird aber in der öffentlichen                  wisse Privatsphäre zu sichern. Z. B.: „Dein Passwort gehört
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