DIGITALE GEWALT FACHINFORMATION - No 2 | 2021 - Frauenhauskoordinierung
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FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Seite 2 Liebe Leser_innen1, Anknüpfend an das laufende FHK-Projekt „Schutz vor di- gitaler Gewalt unter Einbeziehung der Datensicherheit liebe Kolleg_innen, im Frauenhaus“ haben wir uns dieser Frage mit der vor- es ist gar nicht so lange her, da bezeichnete Bundeskanzlerin liegenden Fachinformation genähert. Fast alle Beiträge, Angela Merkel das Internet als „Neuland“ für uns alle. Was ob von Polizei oder Frauenhaus, Jurist_in oder Bera- schon 2013 bei einer Generation Heranwachsender, aus de- ter_in, kreisen dabei um zwei Begriffe: Bewusstsein und ren Alltag Smartphone, Social Media und Co. längst nicht Medienkompetenz. Zunächst auf Seiten aller, die tagtäg- mehr wegzudenken waren, für Belustigung sorgte, kann lich per Handy sorglos Bilder, Standorte und Informatio- heute umso weniger zutreffen – und ist trotzdem gültig: nen über sich teilen. Aber auch auf Seiten derer, die als Behörde, als Unterstützungseinrichtung oder politische Denn einerseits hat sich mit unseren alltäglichen Interaktio- Instanz damit beauftragt sind, die Betroffenen zu schüt- nen geradezu selbstverständlich auch die Ausübung von Ge- zen und beim Einfordern ihrer persönlichen Rechte zu walt im Kontext von Partnerschaften auf digitale Foren und unterstützen. Werkzeuge ausgeweitet. Smarte Technologien werden ge- nutzt, um Partner_innen zu überwachen, Onlineplattformen Denn das Internet ist längst kein Neuland mehr. Wer es gebraucht, um Personen öffentlich zu diffamieren; Kontrolle weiterhin so behandelt, kann dem komplexen Problem und psychische Gewalt werden über Messenger und Apps auf digitaler Gewalt nicht gerecht werden. dem Smartphone fortgeführt. Kurzum: Längst knüpft ge- Wir wünschen mithin allen eine aufschlussreiche, anre- schlechtsspezifsche Gewalt im digitalen Raum nahtlos an Ge- gende Lektüre und freuen uns über Kritik, neue Impulse waltmuster der analogen Welt an und verstärkt diese zusätz- und natürlich Lob. lich. Mit herzlichen Grüßen aus der FHK-Geschäftsstelle Andererseits jedoch müssen Betroffene digitaler Gewalt – von Hate Speech bis Cyberstalking – immer wieder schmerz- lich feststellen, dass Strafverfolgung, Behörden und auch Be- Elisabeth Oberthür ratungsangebote (letztlich ein ganzer Staatsapparat) mit die- Referentin Öffentlichkeitsarbeit / Gewaltschutz und sen rasanten Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Er- Flucht mittlungen verlaufen schleppend, Verfahren werden einge- stellt, mitunter fehlt es an Verständnis für die reale Tragweite digitaler Gewalt und oft an spezifischem technischem Know- Triggerwarnung: Einige Texte dieser Fachinformation How. enthalten Schilderungen von Gewalthandlungen, die be- Wie kann man einem solchen Lagebild begegnen und Be- lastend oder retraumatisierend sein können. Das ist troffene digitaler Gewalt im Kontext von Partnerschaftsge- nicht bei jedem Text einzeln gekennzeichnet. walt effektiver unterstützen? 1 Anmerkung zur genderspezifischen Schreibweise: Um die Vielfalt geschlechtlicher Fachinformation überlassen wir es jedoch den jeweiligen Verfasser_innen, für Identitäten sichtbar zu machen, verwendet Frauenhauskoordinierung in eigenen Publi- welche Form einer gendersensiblen Schreibweise sie sich entscheiden. So viel kationen den sogenannten Gender-Gap (Unterstrich). In den Beiträgen der Vielfalt und Freiheit muss sein.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Seite 3 INHALT SCHWERPUNKT: DIGITALE GEWALT ................................... 4 „Häufig ist die digitale Gewalt eine Art Begleiterscheinung“ – Interview mit dem Frauenhaus Lübeck (AWO) ............... 37 Sexualisiert, bloßgestellt und abgewertet. Wie Frauen im Netz Gewalt erfahren. ........................................................ 4 Herausforderungen bei der rechtlichen Ahndung digitaler Gewalt .............................................................................. 39 PROJEKTSTECKBRIEF Schutz vor digitaler Gewalt unter Einbeziehung der Datensicherheit im Frauenhaus .............. 7 Aus Forschung und Praxis ................................................ 45 „Die betroffenen Frauen fühlen sich weiterhin dem Täter Cyberstalking – im Strafgesetzbuch jetzt buchstabiert .... 45 ausgeliefert“ - Interview mit dem Team des Frauenhauses Cybergewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine Studie Ingolstadt (Caritas) ............................................................ 9 bringt es auf den Punkt ..................................................... 46 „Viele haben das Gefühl, dass das Internet ein rechtsfreier Tipps und Termine ............................................................ 49 Raum ist“ – Interview mit dem bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe .................... 11 Info-Materialien und hilfreiche Links ................................ 49 Das „Internet der Dinge“: Anstieg und Ausweitung digitaler Buchempfehlung: „Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeit Gewalt.............................................................................. 15 der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien“ 52 „Die Bandbreite des Möglichen ist riesig. Nur die Buchrezension: „Will das Kind sein Wohl?“ von Jan-Robert Vorstellungskraft setzt uns oft Grenzen.“ – Interview mit Schmidt ............................................................................ 53 dem 24-Stunden Frauennotruf der Stadt Wien ................ 19 Neues von FHK ................................................................. 55 „Medienkompetenz. Das ist der Kern der Sache.“ – Fortbildung im Projekt Digitale Gewalt: Digitale Gewalt – Interview mit dem Frauenhaus Hamburg (Diakonie)......... 25 Rechtliche Aspekte ........................................................... 55 Im öffentlichen Interesse?! Strafverfolgung von Interview mit Dorothea Hecht, FHK-Referentin für Recht Gewalttaten in der digitalen Welt..................................... 27 und Datensicherheit ......................................................... 57 Im Spannungsfeld der Interessen – Herausforderungen Interview mit Fabienne Gretschel, ehemalige FHK- polizeilicher Ermittlungen bei Cyberstalking ..................... 29 Referentin für Recht ......................................................... 59 „Was ich über mich an eine Litfaßsäule hängen würde, das Projekt Digitale Gewalt: Was kommt?............................... 61 kann ich ohne Bedenken ins Netz stellen“ – Interview mit Impressum ....................................................................... 62 der Polizeiprävention Frankfurt a. M. ............................... 33
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 4 SCHWERPUNKT: DIGITALE GEWALT Sexualisiert, bloßgestellt und abgewertet. Wie Frauen im Netz Gewalt erfahren. Claudia Otte, HateAid Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält gewaltvolle Kommen- Häufige Formen sind: tare • Revengeporn: Private Aufnahmen oder Fotomonta- „Weckt mich wieder auf, wenn das Mäuschen volljährig ist gen werden auf Pornoplattformen veröffentlicht und ihre Zwergtittchen auspackt.“ • Dickpics: Fotos/Videos von Geschlechtsteilen • Cyberstalking: Wiederkehrende, belästigende Kon- So lautet nur einer von vielen Kommentaren, die die junge taktaufnahme Aktivistin Karina F.2 im Netz unter ihrem Bild findet. Karina F. • Sexualisierte Beleidigungen, Vergewaltigungsandro- vertritt eine starke Meinung bei der Klimaschutzbewegung hungen: Über Nachrichtendienste, Kommentare, E- Fridays For Future. Ihre Generation hängt an ihren Lippen – Mail online wird sie fast täglich beleidigt und von ihrer Vergewal- • Verleumdungen: Falschbehauptungen mit Ziel der tigung phantasiert. Rufschädigung Die Zahlen: Digitale Gewalt gegen Frauen hat • Doxing: Veröffentlichen von privaten Daten (z. B. Te- Hochkonjunktur lefonnummer) • Spy Ware: Spionage-Apps, mit denen Aufenthaltsort Damit ist sie nicht allein. Menschen, die weiblich gelesen und Kommunikation kontrolliert werden können werden oder die sich selbst als weiblich identifizieren, sind • Fake-Accounts: Erstellen von Profilen, die die Identi- besonders von herabsetzenden, sexualisierten Äußerungen tät der Frau missbrauchen betroffen. 70 % der Mädchen und jungen Frauen geben an, schon einmal Gewalt und Belästigung in den sozialen Medien Auch die Aktivistin Karina F. war von so einem Fake-Account erlebt zu haben (vgl. Plan International 2020). Die Zahlen betroffen: Ein Unbekannter erstellte zahlreiche E-Mailadres- sind alarmierend. Internationale Studien deuten überdies sen mit ihrem Namen und sendete gefälschte E-Mails an darauf hin, dass der digitale Raum durch die Corona-Krise als Menschen aus ihrem Umfeld. Tatort der Gewalt gegen Frauen noch einmal an Bedeutung Die zum Alltag gewordene, für manche auch beruflich unab- gewonnen hat (vgl. UN Women 2021). dingbare Nutzung des digitalen Raums eröffnet neue Wege Formen der Gewalt für Kontrolle, Belästigung und Bedrohung. Betroffene wer- den von digitaler Gewalt verunsichert und leiden massiv un- Jene geschlechtsspezifische digitale Gewalt richtet sich zum ter Kontrollverlust. Langanhaltende Hassattacken machen einen gegen politisch engagierte Frauen und geht oftmals die Frauen mürbe. Sie zweifeln an sich selbst, beschäftigen von unbekannten Täter*innen aus. Zum anderen tritt sie im sich rund um die Uhr mit dem Hass, werden von den Nach- Privaten auf: im Kontext von konfliktreichen (Ex-)Beziehun- richten verfolgt. Die Folgen sind psychische Erkrankungen, gen oder Konstellationen, bei denen z. B. partnerschaftliche wie Depressionen, Panik- und Angstepisoden oder Schlafstö- Interessensbekundungen abgewiesen wurden. rungen. 2 Name aus Sicherheitsgründen geändert
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 6 Die Täter*innen Was kann man tun? Nach Angaben der ZAC 3 haben wir es hauptsächlich mit Es braucht ein größeres Bewusstsein für die „Gefahrenzone männlichen Tätern über 50 zu tun. Sie gehören zum Teil Internet”. Jede*r sollte sich die Fragen stellen: Kann man Gruppierungen wie Incels4, Frauenhassern und Pickup Ar- meine Adresse finden? Welche Bilder sind von mir im Netz tists5 an oder wollen Frauen aus politischen Gründen scha- zu sehen? Auf sozialen Netzwerken müssen die Privatssphä- den. Frauenhass ist z. B. Teil der rechtsextremen Ideologie. reeinstellungen dazu genutzt werden, eigene Daten zu Andererseits üben Männer digitale Gewalt aus, die den schützen. Wichtig sind auch das Verwenden von sicheren Frauen nahe waren – als Lebenspartner, Ehemann oder kurz- Passwörtern, regelmäßige Softwareupdates und Anti-Vi- zeitige Affäre. rensoftware. Aber auch Anlaufstellen müssen in Sachen Di- gitalisierung nachrüsten, um weiterhin lebensweltorientiert Die Belastung für Frauen ist extrem hoch. beraten zu können. Klar ist: Das Ziel MEDIENKOMPETENZ IST UNABDINGBAR. Kürzlich kündigte die Journalistin Dunya Hayali eine Pause von Twitter an. Sie hatte nach Berichten über Querden- Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Wir ermuntern ker*innen heftige Hasskommentare erhalten, musste Dreh- Frauen ausdrücklich, Anzeige zu erstatten. Täter*innen wird arbeiten aufgrund von Sicherheitsbedenken sogar absagen. so deutlich gemacht, dass ihre Taten Konsequenzen haben. Das zeigt: Digitale Gewalt schlägt immer wieder auch in ana- Aber es ist vor allem für die Frauen wichtig, wieder hand- loge Gewalt um oder geht mit ihr einher. So erhöhen Tä- lungsfähig zu werden. ter*innen den Druck. Ihr Ziel: Frauen wie Karina F. und Hayali Zudem zeigen Anzeigen dem Gesetzgeber: Hier gibt es Hand- sollen zum Schweigen gebracht werden. Der sogenannte lungsbedarf. Dies gilt für Bedrohungen genauso wie für Dick- Silencing-Effekt betrifft dabei nicht nur die direkten Opfer: pics und Stalking. Aktuelle Gesetzesänderungen (§ 140 StGB) haben diese Tatbestände zuletzt aufgegriffen. Nunmehr ist VIELE MITLESER*INNEN WERDEN EBENFALLS AB- nicht nur die Androhung von Vergewaltigungen strafbar, GESCHRECKT UND TRAUEN SICH NICHT MEHR, sondern ihre bloße Befürwortung. In Sachen Stalking (§ 238 SICH ZU BESTIMMTEN THEMEN IM NETZ ZU ÄUS- StGB) ist jetzt nicht mehr nur das analoge Nachstellen straf- SERN. bar, sondern auch digitale Aspekte wie das Erstellen von Fake-Profilen. Davon profitierte auch Aktivistin Karina F.: Sie Im partnerschaftlichen Kontext kommt es immer häufiger hat vieles zur Anzeige gebracht und hatte Erfolg. Auf meh- zum wissentlichen (z. B. als Vertrauensbeweis in Beziehun- rere Täter*innen warten empfindliche Geldstrafen. gen) oder unwissentlichen Installieren von Spy Ware auf dem Smartphone. Die Frau kann so jederzeit ausfindig ge- macht und ihre Kommunikation mitgelesen werden. Hier ist Zur Autorin: das Ziel: Unterdrückung & Kontrolle. Claudia Otte ist Sozialpädagogin und Betroffenenberaterin bei HateAid, der einzigen bundesweit tätigen Beratungs- stelle für Betroffene von digitaler Gewalt. 3 5 Zentral- und Ansprechstelle Cyberrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) Männer, die psychologische Methoden anwenden, um Frauen zu verfüh- 4 Heterosexuelle Männer, die angeblich gegen ihren Willen keine sexuellen ren, diese objektifizieren und nicht an ernsthaften persönlichen Beziehun- Beziehungen zu Frauen haben. Sie üben enormen Frauenhass aus und sind gen interessiert sind. verstärkt gewaltbereit.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 7 PROJEKTSTECKBRIEF Schutz vor digitaler Gewalt unter Einbeziehung der Datensicherheit im Frauenhaus AUFTRAGGEBER: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend PROJEKTLAUFZEIT: 08 / 2019 – 05 / 2022 PROJEKTVERANTWORTLICHE Theresa Eberle, eberle@frauenhauskoordinierung.de und Dorothea Hecht, hecht@frauenhauskoordinierung.de ZIELE: • Entwicklung eines nachhaltigen, wirksamen, praxistauglichen und nutzer_innenfreundlichen Schutzkonzeptes gegen digitale Gewalt in Frauenhäusern bundesweit unter Berücksichtigung technischer, juristischer und psycho-sozialer Aspekte • Verbesserung der Datensicherheit und des Datenschutzes in Frauen- häusern • Ermöglichung einer sichereren Nutzung digitaler Medien und Geräte in Frauenhäusern und Reduzierung des Risikos einer Gefährdung von Bewohner_innen, Mitarbeiter_innen und der Frauenhausstandorte • Sensibilisierung für Risiken im Umgang mit digitalen Medien und Daten sowie Erhöhung allgemeiner Medienkompetenzen • Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten von Frauen- häusern (z. B. mit bekannter Adresse) im Kontext von Sicherheit und Digitalisierung • Information der Fachpraxis zu relevanten Thematiken und Sensibili- sierung der breiten Öffentlichkeit zu den Problematiken und Be- darfen METHODE: 1) Bestandsaufnahme: Recherche von Literatur und aktueller Fachartikel zu technischen Entwicklungen, Expert_innenaustausch und Befragung von Mitarbeiter_innen von Frauenhäusern 2) Modellvorhaben: • Weiterentwicklung der bestehenden Sicherheitskonzepte und Si- cherheitsmaßnahmen bezüglich digitaler Gewaltformen und der IT- Sicherheit an vier Modellstandorten: o Frauenhaus Diakonisches Werk Hamburg o Frauenhaus Ingolstadt, Caritasverband für die Diözese Eichstätt e.V., Bayern o Frauenhaus Hartengrube in Lübeck, AWO Schleswig-Hol- stein gGmbH
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 8 o Beratungs- und Krisenzentrum für Frauen in Rathenow, Un- abhängiger Frauenverein e.V., Paritätischer Wohlfahrtsver- band, Land Brandenburg • Austesten und Implementierung neuer Sicherheitsmaßnahmen • Fortbildungen und Prozessbegleitung an den Modellstandorten 3) Ausarbeitung Schutzkonzept Digitale Gewalt und IT-Sicherheit: • Konzeptionalisierung der Schutzmaßnahmen für die bundesweite Nutzung in FH • Lösungsentwicklung für neu auftretende technische Themen und Problematiken 4) Veranstaltungen: • Expert_innengespräche mit der Fachpraxis • Fachtag zum Projektabschluss 5) Veröffentlichungen zu relevanten Themen für die Fachpraxis und die breite Öffentlichkeit
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 9 „Die betroffenen Frauen fühlen sich weiterhin dem Täter ausgeliefert“ Interview mit dem Team des Frauenhauses Ingolstadt (Caritas) FHK: Was hat Sie & Ihr Team dazu bewegt, am FHK-Modell- projekt zu digitaler Gewalt teilzunehmen? Digitale Gewalt ist ein weiteres Instrument, um Macht und Kontrolle gegenüber den betroffenen Frauen und Kindern auszuüben, Gefühle von Überforderung und Machtlosigkeit auszulösen, und tritt oft in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt auf. Aufgrund der Vielschichtigkeit und der stetig steigenden Be- ratungsanfragen dieser Gewaltform wurde immer deutli- cher, dass wir viel technisches, rechtliches und psycho-sozi- ales Wissen benötigen. Wir stellten uns somit immer häufiger die Frage, wie wir die betroffenen Frauen, Kinder, Mitarbeiter_innen und die Frauenhaus-Adresse adäquat vor dieser Form von Gewalt schützen können. Als wir von der Ausschreibung Modellpro- jekt „Digitale Gewalt“ von Frauenhauskoordinerung e.V. er- fahren haben, stand für uns fest, dass wir uns bewerben werden. FHK: Können Sie schildern, mit welchen Formen digitaler Ge- walt Sie in Ihrem Arbeitsalltag zu tun haben? Die Erscheinungsformen digitaler Gewalt sind vielfältig. Am häufigsten sind wir mit der Thematik Cyberstalking & Cyber- mobbing konfrontiert, aber auch mit der Verbreitung von intimen Bildern und Videos. Beispielsweise entdeckte eine Bewohnerin ein Profil von sich selbst auf einer Social-Media-Plattform, welches sie selbst nie erstellt hatte. Der Ex-Partner hat mit privaten Fo- tos einen Account in ihrem Namen veröffentlicht. Trotz der Trennung und des Aufenthalts im Frauenhaus fühlte sich die Frau wieder ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 10 FHK: Unterscheidet sich Beratung bezüglich digitaler Gewalt wissen um die Möglichkeiten der Überwachung, Ortung, für Sie vom Umgang mit analoger Gewalt? Inwiefern? Prävention, Beweissicherung etc., und wie wir mit techni- schen „Geschenken“ für Bewohner_innen und Kindern um- Grundlegend anders ist, dass ein ständiges „Up-to-Date“- gehen. Sein der Beratenden unbedingt notwendig ist, um die vie- len, ständig neuen Möglichkeiten von digitaler Gewalt prä- sent zu haben. Denn die Betroffenen wissen oft gar nicht, FHK: Hatten Sie im Kontext des Projekts schon einen beson- dass sie digitaler Gewalt ausgesetzt sind. Als Beispiele lassen deren AHA-Moment? sich hier das Ausspionieren und Abfangen von Daten, die Ortung mobiler Geräte, ungefragtes Fotografieren und Fil- Um nur zwei der vielen AHA-Momente zu nennen, die wir men nennen. im Kontext des Projekts bisher hatten: Fotos können unabhängig der dargestellten Inhalte Aus- kunft über den Aufnahmeort geben. Wenn ein Foto aufge- FHK: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, wenn nommen wird, werden durch die Metadaten Aufnahmezeit, Sie im Frauenhaus mit digitaler Gewalt zu tun haben? Wel- -datum und Informationen zum Aufnahmeort gespeichert. che Unterstützung würden Sie sich zusätzlich wünschen? Zudem wissen wir jetzt, wie Stalkerware aufgefunden wer- Die betroffenen Frauen fühlen sich, obwohl sie sich in einer den kann, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht sicht- Schutzeinrichtung befinden, weiterhin dem Täter ausgelie- bar ist. Nachdem dieses Thema bei der Schulung angespro- fert. Zudem ist die Anonymität des Hauses durch die Mög- chen wurde, konnten wir bei einer Bewohnerin eine solche lichkeit der Ortung in Gefahr. App finden. Sowohl die Beratung als auch die Umsetzung sind sehr zeit- aufwändig. Gesprächspartnerin: Wir würden uns wünschen, dass aus diesem Projekt, neben Andrea Schlicht (Leitung Caritas-Frauenhaus, Diplom-Sozial- einem einfach umzusetzenden Handlungsleitfaden, eine pädagogin (FH)), Marina Eberherr (Sozialarbeiterin (B.A.)) bundesweite Beratungsstelle für Betroffene und Fachkräfte und Raffaela Mattes (Pädagogin (B.A.)) entsteht. FHK: Hat sich im Verlauf des Projekts Ihr Umgang mit – und Ihr Blick auf –digitale Gewalt verändert? Durch das angeeignete Wissen können wir professioneller beraten und Medienkompetenz adäquat vermitteln. Wir
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 11 „Viele haben das Gefühl, dass das Internet ein rechtsfreier Raum ist“ Interview mit Jenny-Kerstin Bauer, bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe FHK: Der bff befasst sich schon seit einigen Jahren mit digi- Stalking mit und ohne Spionage-Apps, bildbasierte sexuali- taler Gewalt. Mit welchen Formen digitaler Gewalt habt ihr sierte Gewalt, hacken, kontrollieren der Clouddienste, Ge- in der Beratungsarbeit besonders oft zu tun – und was hat rüchte im Netz streuen, Deep Fakes, heimliches Filmen, sich ggf. in den letzten Jahren verändert? Identitätsdiebstahl, kontrollieren von Smarthome-Geräten und vieles mehr sind Lebensrealität für Betroffene. Das Unsere Erfahrungen basieren auf denen von über 200 bff- stellt gewaltbetroffene Frauen sowie deren Unterstüt- Fachberatungsstellen in der Unterstützung von gewaltbe- zer*innen und Berater*innen aus der Fachberatung vor troffenen Frauen und Mädchen. Wir nehmen seit einigen große Herausforderungen. Jahren eine zunehmende Bedeutung der Thematik in den Beratungsstellen wahr. Alles digitalisiert sich in unserem All- tag, so auch die Gewalt – Technik, Medien, soziale Netz- FHK: Wie gehen Beratungsstellen vor, wenn sich Betroffene werke sind zunehmend in Gewaltdynamiken involviert. (Ex- von digitaler Gewalt, z. B. von Cyberstalking, an sie wenden? )Partnerschaftsgewalt und sexualisierte Gewalt digitalisie- ren sich immer mehr. Der bff führt seit 2017 das Projekt „Ak- Das Beendigen einer Gewaltbeziehung ist für Betroffene tiv gegen digitale Gewalt“ durch. Das Projekt wird vom nicht einfach. Verschiedene Gewaltformen werden vom Tä- BMFSFJ finanziert. ter gleichzeitig genutzt, um die Betroffene einzuschüchtern und gefügig zu machen. Es bestehen bei den Betroffenen Existenzängste, Angst vor der Reaktion des Umfelds, Schuld und Scham. Und diese Gefühle erschweren u. a. oft Tren- ZUM PROJEKT: nungen. Seit 2017 gibt es das bff-Projekt aktiv: gegen digitale Ge- Beratung in einer bff-Fachberatungsstelle kann helfen und walt. Wir qualifizieren das Unterstützungssystem zu di- unterscheidet sich bei digitaler Gewalt nicht von anderen gitaler Gewalt in der Beratung und den rechtlichen Mög- geschlechtsspezifischen Gewaltformen. Damit die Betroffe- lichkeiten. Wir informieren die Öffentlichkeit zu digitaler nen wieder in die Handlungsfähigkeit kommen, wird ihnen Gewalt mit der bff-Online-Plattform www.aktiv-gegen- geglaubt und es werden erste individuelle Sicherheits- digitale-gewalt.de und großen Social-Media-Kampagnen schritte gemeinsam mit der Beraterin gesetzt. Alles in Ab- wie „digital +real“. Zusätzlich vernetzen wir uns mit zivil- sprache mit den betroffenen Frauen. gesellschaftlichen und politischen Akteur*innen, die be- reits zu Gewalt und Diskriminierung im Netz arbeiten Unter: und geben Wissen zum Umgang mit geschlechtsspezifi- www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-vor-ort.html scher Gewalt aus dem spezialisierten Unterstützungs- finden Betroffene und Unterstützer*innen die Fachbe- system weiter, um zur geschlechtsspezifischen Dimen- ratungen, die ihren Beratungsschwerpunkt auf digitale sion von digitalen Angriffen zu sensibilisieren. Gewalt gelegt haben. Auf Wunsch kostenfrei und auch anonym.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 12 FHK: Was unterscheidet den Umgang mit digitaler Gewalt • Mehr Angebote und Stellen, wie Kompetenzzentren, von Gewalt im analogen Raum – für Beratende, aber auch die bei der Sicherung und Prüfung von Technik und für Betroffene? Online-Konten gewaltbetroffener Frauen helfen. Die Beratung von Frauen, die von digitaler Gewalt betroffen • Konkrete Überlegungen, wie Entwickler*innen und sind, bringt einige Herausforderungen für die Beratung mit Produzent*innen von Hard- und Software mehr Ver- sich, denn digitale Angriffe gegen Frauen sind vielfältig: antwortung für gewaltschutzrelevante Sicherheits- Manche sind technisch ausgefeilt, andere sehen nur so aus. standards ihrer Produkte übernehmen können. Zudem ist das Internet ein schnelllebiges Medium, welches den Tätern immer neue Möglichkeiten bietet, digitale Ge- Die Strafverfolgung digitaler Gewalt steckt noch in den Kin- walt auszuüben. In unserem Buch „Geschlechtsspezifische derschuhen, was auch damit zu tun hat, dass die allermeis- Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventi- ten Gesetze in einer Zeit formuliert wurden, in der es noch onsstrategien“ gibt es dazu einen spannenden Artikel von kein Internet gab. Der Prozess, die unterschiedlichen For- Jenny-Kerstin Bauer (bff) und Helga Hansen zu diesem men digitaler Angriffe rechtlich einzuordnen, ist in Deutsch- Thema: Digitale Erste Hilfe und Sicherheitsprinzipien für Be- land noch nicht abgeschlossen. Viele Betroffene, aber auch rater*innen bei digitaler Gewalt. Der Artikel beinhaltet eine Täter*innen, haben das Gefühl, dass das Internet ein rechts- kurze Checkliste mit drei Punkten, um schnell digitale Erste freier Raum ist. Hilfe in der Beratung leisten zu können. Wichtig ist, eine Be- Ein weiterer Grund für mangelnde Strafverfolgung sind feh- standsaufnahme von allen Konten machen, eine Sicher- lende spezifische Kenntnisse zu digitalen Phänomenen so- heitsbasis zu schaffen und die vorhandenen Beweise zu si- wie mangelnde Kapazitäten bei den Strafverfolgungsbehör- chern. den. Immer wieder berichten uns Betroffene digitaler Ge- walt, dass sie bei der Polizei auf eine große Ratlosigkeit im Umgang mit digitaler Technik getroffen sind, z. B. bei Fragen FHK: Wo stoßt ihr bei eurer Arbeit in diesem Kontext auf be- der Sicherung von Beweisen, die sich auf Smartphones be- sondere Herausforderungen? finden. Es gibt sehr viele unterschiedliche Herausforderungen. Forschung: Die letzte durch die Bundesregierung in Auftrag Hilfreich in der Beratung gewaltbetroffener Frauen wären gegebene repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen momentan vor allem: wurde 2004 veröffentlicht (Schröttle/Müller 2004). Aspekte digitaler Gewalt wurden, bis auf Stalking mittels E-Mails, • Ein Unterstützungssystem und Fachberatungsstel- nicht abgefragt. Die nächste Prävalenzstudie zu Gewalt ge- len, die sicher finanziert und so ausgestattet sind, gen Frauen käme nicht umhin, sich deutlich mehr für das dass sie mit der Digitalisierung Schritt halten können Thema digitale Gewalt zu öffnen. und Präventionsangebote vorhalten können. • Eine bessere Ausstattung und Sensibilisierung der Polizei und Justiz, z. B. auch Schwerpunkt-staatsan- waltschaften, die sich dann auch zuständig sehen für digitale Gewalt im Rahmen von Partnerschaftsgewalt und Stalking – also nicht nur bei Hatespeech oder sogenannten Cybercrime-Delikten.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 13 FHK: Wenn ihr drei Wünsche frei hättet: Was müsste passie- ren, damit Betroffene von digitaler Gewalt besser unter- stützt und geschützt werden? ÜBER DEN BFF 1. Eine ausreichende Finanzierung von Beratung, Prä- Der bff ist der Bundesverband der Frauenbera- vention und Stärkung von Medienkompetenz tungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland. Im 2. Verantwortungsübernahme von Plattformbetrei- bff sind mehr als 200 Frauennotrufe und Frauenbe- ber*innen und -entwickler*innen ratungsstellen zusammengeschlossen, die schwer- punktmäßig Beratungsarbeit bei geschlechtsspezi- 3. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass digitale fischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen leisten. Gewalt als reale Gewalterfahrung in allen Teilberei- Durch Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen ächtet chen unserer Gesellschaft, in der Politik und der der bff Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Justiz anerkannt ist. nimmt als Dachverband maßgeblich Einfluss auf politische Entscheidungen. Der bff führt Seminare und Tagungen durch, verbreitet Expertise aus Pra- Zur Gesprächspartnerin: xis und Forschung und entwickelt Informationsma- Jenny-Kerstin Bauer ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit terialien zum Thema Gewalt gegen Frauen. mit Schwerpunkt Social Media und im Projekt „Aktiv gegen digitale Gewalt“.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 14
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 15 Das „Internet der Dinge“: Anstieg und Ausweitung digitaler Gewalt Dr. Leonie Maria Tanczer, University College London Neue Technologien nehmen in unserem täglichen Leben eine immer wichtigere Rolle ein und viele von uns sind fast 24/7 online. Aber das Internet rufen wir nicht mehr aus- schließlich von Computern, Tablets und Smartphones ab. Zahlreiche unserer Haushaltsgeräte sind schon Teil des glo- balen Netzwerks. Das sogenannte „Internet der Dinge“ (im Englischen: Internet of Things; IoT) zieht langsam in unsere Wohn- und Arbeitsräume ein. Beispiele für solche IoT-Ge- räte sind intelligente Lautsprecher wie das Amazon Echo, die per Sprachaktivierung gesteuert werden können, intelli- gente Schlösser, die Haustüren mit einer App öffnen, oder intelligente Heizsysteme, die eine Nutzung aus der Ferne er- möglichen. Und obwohl diese vernetzten Systeme viele Vor- teile bieten, öffnen sie auch Tür und Tor für Überwachung, Kontrolle und Belästigung. Vor allem in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass digitale Technologien einen neuen Risikofaktor für Opfer und Über- lebende von sexueller und häuslicher Gewalt darstellen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Smartphones und asso- Die Auswirkungen des Internets der Dinge ziierten Plattformen wie Facebook ist technologiegestützter Missbrauch (im Englischen: Tech Abuse) zu einem weit ver- IoT ist ein Überbegriff, der die Entwicklung verschiedener breiteten Thema geworden. Von Cyberstalking bis hin zu Ra- Technologien über ein weites Anwendungsspektrum be- che-Pornos reichen die Missbrauchsdynamiken. Bedenkt schreibt. Diese intelligenten Systeme umfassen winzige man aber den zunehmenden Anstieg an IoT-Systemen, die Sensoren, die Luftfeuchtigkeit oder Temperatur erfassen, unsere konventionellen Geräte nicht nur „klüger“ sondern Produkte und Haushaltsgeräte wie Internet-verbundene auch „zusammenhängender“ machen, verändert sich die Spielzeuge und Türklingeln bis hin zu komplexen Systemen Reichweite der Gewaltmuster. wie vernetzten und autonomen Fahrzeugen. Tatsächlich steigt mit der Verbreitung von intelli- Was IoT-Geräte einzigartig macht, ist ihre Konnektivität. Das „Internet der Dinge“ ermöglicht eine Verknüpfung verschie- genten Geräten nämlich nicht nur die Zahl an Sys- dener Geräte, wodurch ein Netzwerk von Gegenständen temen, die von TäterInnen verwendet werden entsteht, welche im Prinzip über das Internet (oder ein an- können, sondern auch die Liste an Möglichkeiten, deres Netzwerk) miteinander „kommunizieren“. IoT geht Opfer zu verfolgen, zu beobachten und zu regulie- somit über Smartphones, Laptops und Tablets hinaus. Es be- ren. deutet eine Erweiterung der Internetfähigkeiten auf Geräte, die entweder zuvor nicht existierten (z. B. intelligente Laut- sprecher) oder zuvor analog waren (z. B. intelligente Was- serkocher oder Kühlschränke).
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 16 Bild: Überblick über die verschiedenen Funktionen von IoT-Systemen, welche vom GIoT-For- schungsteam in englischer Sprache zusammengestellt wurde
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 17 Während viele IoT-Systeme derzeit menschliches Handeln derzeit gut etablierte Sicherheits- und Datenschutzeinstel- erfordern – etwa durch das Drücken einer Taste oder die lungen. Während nämlich Handys oder Computer über Jahr- Aktivierung über eine App – ist das ultimative Ziel der Her- zehnte hinweg verbessert und getestet wurden, haben wir stellerInnen, dass diese völlig ohne direktes menschliches für die neuen IoT-Systeme noch keinen Erfahrungswert in Eingreifen agieren. Sprich: IoT-Geräte sollen zunehmend Hinblick auf ihre Schwachstellen und Sicherheitslücken. unsere Präferenzen und Muster lernen, auf Basis derer Ent- Vielerorts werden sie auch mit der unterbewuss- scheidungen getätigt werden. Demzufolge haben IoT-Pro- dukte aufgrund ihres Funktionsumfangs (einschließlich ihrer ten Annahme entwickelt, dass alle NutzerInnen, Möglichkeit ferngesteuert zu werden, Videos aufzuzeichnen die unter einem Dach wohnen und ein Zuhause und extrem persönliche Daten zu sammeln und zu teilen) teilen, einander vertrauen und frei der gemein- das Potenzial, unser Verständnis und unseren Zugang zu di- schaftlichen Datenbearbeitung zustimmen kön- gitalen Systemen grundlegend zu verändern. nen. In Fällen von häuslicher Gewalt ist dies je- Achtung! doch nicht gegeben, was wiederum Missbrauch ermöglicht. Die Unter- sowie Überschätzung der Fähigkeiten von IoT-Geräten ist gegenwärtig ein großes Problem. Tä- terInnen können Opfern vortäuschen, dass ein Gerät Die Bedeutung von IoT für die Frauenhausarbeit wie ein intelligenter Staubsauger einen viel weiteren Funktionsrahmen hat, als dies der Fall ist. TäterInnen Obgleich das Internet der Dinge gekommen ist, um zu blei- können deshalb Opfern vorgaukeln, dass zum Bei- ben6, befassen sich gegenwärtig die meisten Studien, Ge- spiel ein IoT-Produkt eingebaute Kameras oder sogar setze sowie Ressourcen zu digitaler Gewalt mit „konventio- Messer haben würde. Andererseits können TäterIn- nellen“ Cyberrisiken wie der Belästigung auf Social-Media- nen aber auch bewusst Eigenschaften vorenthalten, Plattformen und Beschränkungen von Geräten wie Laptops die Betroffene in Unkenntnis über Fähigkeiten wie und Handys. Zugleich scheinen auch Frauenhäuser sowie Video- und Tonaufzeichnung lässt. Es ist deshalb andere Hilfeeinrichtungen einen Mangel an Bewusstsein für wichtig, dass Bewusstsein für die Funktionsvielfalt die Gefahren von IoT zu haben. Dies sind große Defizite, von IoT-Geräten innerhalb des Hilfesektors geschaf- welche eine Lücke in Hinblick auf die Unterstützung von Be- fen wird. troffenen entstehen lassen. Das Forschungsprojekt „Gender and IoT“ (GIoT) am Univer- sity College London hat sich deshalb zur Aufgabe gemacht, diese neuen IoT-Geräte zu analysieren und Einrichtungen Sicherheit? Ein Nebengedanke dabei zu helfen, die aufkommenden Risiken zu bewältigen. Trotz der unzähligen Möglichkeiten, die diese neuen Tech- Von Beginn des Projekts an hat sich das Team auch der niken mit sich bringen, sehen vielen ExpertInnen tiefgrei- Schulung und engen Zusammenarbeit mit dem Sektor ver- fende Sicherheits- und Datenschutzrisiken bei intelligenten pflichtet. Produkten. Ihre umfangreichen Funktionalitäten – wie etwa Mittels Fokusgruppen, Interviews, und Umfragen von briti- die Standorterfassung mittels GPS – können bewusst miss- schen Beratungsstellen hat das GIoT-Team folgende zent- braucht werden, um Opfer auszuspionieren und ihre Bewe- rale Erkenntnisse gewonnen: gungen zu verfolgen. Darüber hinaus fehlen IoT-Systemen 6 Schätzungen zufolge wird die Zahl der weltweit vernetzten IoT-Geräte jährlich um durchschnittlich 12 % von fast 27 Milliarden im Jahr 2017 auf 125 Milliarden im Jahr 2030 steigen.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 18 1. Hilfseinrichtungen mangelt es häufig an technischem etwa IoT-gestütztem Missbrauch, auseinanderzuset- Know-How, auf digitale Gewalt zu reagieren und Op- zen. fer in allen ihren technischen Anliegen zu beraten. 3. Die Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt und der In- 2. Dieser Mangel hängt auch damit zusammen, dass In- ternetsicherheit müssen in Einklang gebracht wer- stitutionen wie Frauenhäuser begrenzte Kapazitäten den, da sie vermehrt in Verbindung stehen. und Ressourcen haben, um auf technische Verände- 4. Der Missbrauch von digitalen Systemen muss in rungen – wie die Ausweitung des „Internets der Richtlinien und Ressourcen zum Thema der sexuali- Dinge“ – zu reagieren. sierten und häuslichen Gewalt berücksichtigt wer- 3. Der Missbrauch von digitalen Technologien wird den. nicht ausdrücklich in allen Risikoabwägungen und Si- 5. Das Risiko digitaler Gewalt durch neue Produkte wie cherheitsplänen für Opfer von häuslicher oder sexu- dem „Internet der Dinge“ muss in Risikobewertun- eller Gewalt berücksichtigt. gen und Sicherheitsplanungsprozessen einbezogen 4. Derzeit mangelt es an quantitativen Daten, um den werden. exakten Umfang und die genauen Eigenschaften von 6. Es müssen mehr Daten erhoben werden, um das digitaler Gewalt abzuschätzen. Ausmaß des neuen Problems der digitalen Gewalt besser einschätzen und die Veränderungen im Laufe Ressourcen der nächsten Jahre besser überwachen zu können. Aktiv gegen digitale Gewalt: Eine Initiative des Bun- Mehr zum „Gender and IoT“ Projekt desverbands der Frauenberatungsstellen und Frau- ennotrufe in Deutschland → https://www.aktiv-ge- Das Projekt „Gender and IoT“ (GIoT) am University Col- gen-digitale-gewalt.de/de/ lege London untersucht, wie IoT-Geräte im Kontext von häuslicher Gewalt missbraucht werden können Hate Aid: Eine Beratungsstelle für Betroffene digita- und welche Unterstützung Opfer und Hilfedienste be- ler Gewalt → https://hateaid.org/ nötigen, um diese aufkommenden Risiken zu bewälti- Stärker als Gewalt: Ein Überblick über die rechtliche gen. Wenn Sie mehr über dieses Forschungsprogramm Situation und Trends des Bundesministeriums für Fa- erfahren möchten, besuchen Sie die Projektwebseite milie, Senioren, Frauen und Jugend → https://staer- und/oder abonnieren Sie den monatlichen GIoT ker-als-gewalt.de/gewalt-erkennen/digitale-gewalt- Newsletter, der neuste Entwicklungen rund um das erkennen Thema „digitale Gewalt“ bündelt. Empfehlungen für den Sektor Zur Autorin: Basierend auf den oben genannten Ergebnissen hat das For- Dr. Leonie Maria Tanczer ist Assistenzprofessorin am Uni- schungsteam die folgenden Empfehlungen erarbeitet: versity College London, wo sie zum Thema Sicherheit, Tech- nik und Geschlecht forscht und unterrichtet. Mehr zu ihrer 1. Das Zusammenspiel von sexualisierter und häusli- Arbeit findet man auf ihrer Website unter: https://www.le- cher Gewalt mit digitaler Gewalt muss stärker als zu- onietanczer.net/. sammenhängendes Phänomen wahrgenommen werden. 2. Beratungsstellen müssen dabei unterstützt werden, sich mit neuesten technischen Bedrohungen, wie
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 19 „Die Bandbreite des Möglichen ist riesig. Nur die Vorstellungskraft setzt uns oft Gren- zen.“ Interview mit Martina K. Steiner, 24-Stunden Frauennotruf der Stadt Wien Kompetenzzentrum gegen Cybergewalt Wien: Im September 2020 wurde die Kompetenzstelle gegen Cybergewalt in Wien vorgestellt. Bei diesem innovativen Projekt ar- beiten die IT-Sicherheitsspezialist_innen der Stadt Wien eng mit der Krisenberatungseinrichtung 24-Stunden Frauennotruf sowie den Wiener Frauenhäusern zusammen. Sie springen dort ein, wo die Berater_innen an ihre technischen Grenzen sto- ßen. Dabei geht es vor allem um jene Fälle von Cybergewalt, bei denen es spezialisiertes IT-Wissen braucht. FHK: Wie kam es dazu, dass Wien im September 2020 ein Beratungs- und Arbeitshintergrund nicht die Ausstattung Kompetenzzentrum gegen Cybergewalt eingerichtet hat? und Ressourcen. Wir, der Frauennotruf Wien, beschäftigen uns seit vielen Wir haben unsere Anliegen gegenüber Wiens Frauenstadt- Jahren mit dem Thema Cybergewalt. 2017 haben wir unter rätin thematisiert, die hat mit dem Digitalisierungsstadtrat Mitwirkung von Expert_innen einen Leitfaden für Frauenbe- gesprochen und dann gab es das politische Committent: Wir rater_innen erstellt. Wir wollten die Vielfalt an Herausfor- bündeln hier Kompetenzen. derungen bei dieser Beratungsthematik und entsprechende Wir haben dann mit der Abteilung für Digitales und den IT- Lösungswege sammeln und in einem Referenzdokument zu- Spezialist_innen von „WienCERT“ besprochen: Wie schauen sammenführen. Fälle aus, bei denen wir an Grenzen kommen, und wobei Entstanden ist ein sehr umfassender Leitfaden, den wir könnten Techniker_innen uns unterstützen? selbst und auch viele andere Beratungsstellen nutzen, er- stellt wirklich exklusiv für Frauenberater_innen. Wir haben ihn auch nicht digital verschickt, sondern nur ausgedruckt FHK: Wie kann man sich die Arbeit des Kompetenzzentrums und vertrauensvoll in die Hände der Berater_innen gege- vorstellen? ben. Denn wir wissen, dass diese Sammlung an Wissen auch Das Kompetenzzentrum gegen Cybergewalt ist keine Bera- für Täter eine gute Handreichung wäre. tungsstelle, die ich betrete. Wir sind der 24-Stunden Frau- Dieser Leitfaden hat uns einen Push gegeben und sehr ge- ennotruf und auf der anderen Seite steht „Wien Digital“. stärkt in der Beratungsarbeit. Aber es gibt einfach in Bera- Wenn wir im Fall einer Klientin nicht weiterkommen, weil tungssituationen Momente, in denen das Team trotz guter uns das hochspezialisierte technische Know-How fehlt, Schulung und Beratungskompetenz an Grenzen stößt. wenden wir uns an „Wien Digital“, sofern die Frau zustimmt. Dann kommt ein_e Expert_in zu uns, wir warten im Frauen- Cybergewalt ist komplex und die Formen der Cy- notruf mit der Frau und den technischen Geräten, die in bergewalt sind einer rasanten Entwicklung unter- Frage kommen, und dort gibt es dann ein Gespräch und im worfen. Optimalfall die Lösung des Problems. Daher wurde immer offensichtlicher: Wir brauchen eigent- lich spezialisierte IT- Kenntnisse und Kenntnisse der forensi- schen Beweissicherung. Aber dafür haben wir mit unserem
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 20 FHK: Können das andere Frauenberatungsstellen in Öster- Wir haben natürlich vorher ausgiebig in verschiedenen Kon- reich auch in Anspruch nehmen? texten bei Verwaltung und Politik für dieses Thema lob- byiert und die unbefriedigende Lage geschildert: Frauen ge- Wien hat im österreichischen Vergleich oft eine Vorreiter- hen zur Polizei und die Polizei sagt: „Haben Sie Beweise rolle. Von der Wiener Stadtverwaltung gibt es seit vielen mit?“. Die Frau sagt, sie ist technisch nicht in der Lage, Be- Jahren ein klares Commitment und viel Unterstützung, Geld weise beizubringen, sie weiß auch gar nicht, wo und was auf und Engagement beim Thema Gewaltschutz. Als einzige ihrem Handy sie da suchen soll. Dann sagen die: „Ohne Be- Kommune bietet die Stadt Wien den Bürger_innen mit dem weise können wir nichts machen“ oder machen eine wirk- Frauennotruf eine 24/7-Kriseneinrichtung im Rahmen der lich oberflächliche Prüfung des Gerätes. Das ist sehr frust- Verwaltung und finanziert darüber hinaus die vier (ab 2022 rierend. fünf) Wiener Frauenhäuser zu 100 Prozent. So leistet sich die Stadtregierung auch zu sagen: Wir hören immer wieder Die Schwierigkeit war vielleicht, dass man nicht ab Bedarf von Problemen und Grenzen, die offensichtlich nicht über- sofort handeln konnte. Es braucht Zeit, bis Entscheidungs- wunden werden können, die Frauen bleiben auf der Strecke träger_innen miteinander reden, bis man sich einig wird. – da müssen wir schauen, was wir machen können. Hier war Darüber hinaus Schwierigkeiten? Nein, wir sind in enger Ab- die Lösung, dass Klient_innen vom Frauennotruf und vom stimmung. Wir treffen uns alle zwei Monate mit allen betei- Verein Wiener Frauenhäuser Zugang zur Kompetenzstelle ligten Akteur_innen, um uns im Sinne einer Fallarbeit anzu- erhalten. Mit diesem rasch umsetzbaren Konzept sind wir schauen: Was hat gut funktioniert, was nicht, was müssen auch beim österreichischen Verwaltungspreis in die Final- wir adaptieren in der Zusammenarbeit? Was kann man so- runde gekommen. gar telefonisch lösen? Es war vielleicht eine kleine Hürde, bis man sich gefunden FHK: Das klang bei Ihnen sehr reibungslos. Gab es besondere hat – Wo ruf ich wen am besten an, zu welcher Uhrzeit ist Herausforderungen bei der Entwicklung dieser Kompetenz- wer wie erreichbar? –, aber diese Prozesse hatten wir stelle? schnell drauf.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 21 Widerstände gab es keine. Es war politisch gewünscht und FHK: Wie kann ich mir Ihr Vorgehen vorstellen, wenn ich die Beteiligten auf allen Seiten sind begeistert von dem Pro- mich als Betroffene von z. B. Cyberstalking an Sie wende? jekt. Die Techniker_innen finden es spannend, dass sie Der Erstkontakt ist zu 90 % telefonisch, der Rest elektro- plötzlich mit Fragestellungen zu tun haben, die sie im nor- nisch. Wir sind rund um die Uhr erreichbar und besetzt mit malen Alltagsgeschäft nicht haben. Und sie finden es auch Jurist_innen, Sozialarbeiter_innen und Psycholog_innen. Da schön, zu sehen, wie einer Frau geholfen wurde: dass Stal- haben wir eng definierte Qualifikations-Erfordernisse, von king unterbunden wurde, dass die Betroffene wieder ein denen wir nicht abweichen. Persönlich ist Erstkontakt nicht weitgehend normales Leben führen kann. möglich, weil wir eine Geheimadresse haben. Im ersten Gespräch, im Clearing-Gespräch, wird zunächst FHK: Ist die Polizei in irgendeiner Form in das Projekt invol- das Problem erhoben und geschaut, ob die Frau akut ge- viert? fährdet ist. Denn dann wären natürlich andere Schritte wie Rettung oder Polizei notwendig. Es wird geschaut: Was ist Die Polizei ist im Gewaltschutz-Jour-Fixe regelmäßig dabei, das Problem? Braucht es ein persönliches Gespräch vor Ort aber die Zusammenarbeit im Projekt haben wir erst einmal bei uns oder Video-Call? Dann wird zeitnah ein Termin ver- umgangen. Wir wollten einen schnellen Weg, um in konkre- einbart. Eine Berater_in ist dann für diese Klient_in zustän- ten Einzelfällen zu helfen. dig. Wenn wir jede Frau zur Polizei schicken würden, wo wir selbst technisch nicht weiterkommen, FHK: An welcher Stelle entscheiden Sie dann: Jetzt möchten würden wir sehr schnell an die Grenzen des Ver- wir IT-Berater_innen der Kompetenzstelle dazuziehen? ständnisses stoßen. Meistens suchen unsere Berater_innen, die selbst sehr viel Wir erfahren, dass öfter Frauen weggeschickt werden. Nach Know-How mitbringen, erstmal selbst nach einer Lösung, dem Motto: Wenn sie etwas nicht beweisen können, was um die Gewalt abzustellen. Grundsätzliche Schritte wie Ein- soll man dann aufnehmen? Es passiert, dass die Frauen ab- stellungen und Passwörter ändern, das Handy neu aufset- gestempelt werden, dass sie paranoid seien. Es gibt bei uns zen usw. Es wird geschaut: Weiß man, wie die Verfolgungs- in Österreich zwar Gruppen bei der Polizei, die speziell für handlung passiert? Weiß man, wo der Täter zu seinen Infor- Cybergewalt zuständig sind. Es fehlt aber trotzdem in der mationen kommt? Dann versucht man, alles Mögliche aus- Breite das Wissen über diese spezielle Gewaltform und ihre zuschließen oder entsprechend zu ändern. Und dann gibt es Auswirkung auf betroffene Frauen. Den Polizist_innen fehlt natürlich einen Beobachtungszeitraum. Wenn es dann auf- oft die Fantasie, aber auch das technische Know-How, um hört, hat man offensichtlich die Schwachstelle gefunden. nachzuvollziehen, was da vielleicht mitspielt bei den Schil- Wenn nicht, muss man weitersuchen. Wenn es zum Beispiel derungen der Frau. Der erste Gedanke ist dann: Die hat Ver- um eine versteckte Spyware geht, kommen Berater_innen folgungswahn. In der Breite müsste die Polizei schon noch des Frauennotrufs sicherlich an ihre technischen Grenzen. ein bisschen an spezifischem Wissen über Cybergewalt zu- Diese Geräteanalyse müssten dann die IT-Techniker_innen legen. machen. Das ist sicher etwas, wo wir längerfristig dranbleiben, die Polizei mehr ins Boot zu holen.
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 22 Parallel bekommt die Klientin in den meisten Fällen weiter die dann sehr entscheidend und komplex waren. Es ist ein psychologische Betreuung und Beratung bei uns. bisschen unter unseren Erwartungen, weil viele der Fälle tatsächlich von uns selbst gelöst werden können, bzw. reicht manchmal schon ein fachliches Coaching, ein telefo- FHK: Würden Sie sagen, ihre Arbeit hat sich dadurch ent- nisches Abstimmen mit den Expert_innen. scheidend verändert? Was sind die großen Vorteile der Kom- Unser Eindruck ist, dass die Nachfrage immer dann beson- petenzstelle? ders hoch ist, wenn das Thema auch in den Medien präsent Den Punkt, an dem wir uns selber wirklich hilflos ist. Da hat man das Gefühl: Aha, jetzt trauen sich Frauen, gefühlt und unsere Grenzen gesehen haben, kön- sind auf uns aufmerksam geworden oder haben den Mut nen wir jetzt überwinden. gefasst, die Scham zu überwinden und sich doch Hilfe zu ho- len. Haben vielleicht auch Erlebtes – Zweifel bei der Polizei Das ist auch für die Arbeitszufriedenheit der Berater_innen oder Freund_innen – nochmal überwunden und sich bei uns sehr, sehr wichtig. Wir wissen: Da gibt es noch eine Stelle, gemeldet. die steht uns bei, die ergänzt unser Know-How. Man kommt auch schneller zu Lösungen, weil wir mehr Ressourcen ha- Der mediale Diskurs ist sicher auch schrittgebend ben, die wir anzapfen können. Das motiviert natürlich mehr und hilfreich, damit Klient_innen zu uns finden. und ist auch ressourcensparend für uns. Die Gewalt kann eher unterbrochen werden, das ist für die Betroffenen enorm entlastend. FHK: Für wie effektiv halten Sie den rechtlichen Schutz in Ös- terreich? Es ist immer eine Frage der Beweisführung oder Beweisbar- FHK: Wird das Angebot stark in Anspruch genommen und keit. Das ist ein totales Problem, gerade bei Cyberstalking. bei welchen Gewaltformen? Wir haben Klient_innen, die natürlich versuchen, diese tau- Es ist nicht so, dass wir eine unglaublich hohe Zahl haben, senden SMS zu löschen, und Beweise vernichten, weil sie die wir gemeinsam mit den IT-Expert_innen behandeln. Ich das einfach nicht mehr vor Augen haben wollen. Selbst glaube, in den ersten drei Monaten waren es mehrere Fälle, wenn Frauen sich bewusst sind, sie brauchen Beweise, ist es
FHK-Fachinformation No. 2 | 2021 Schwerpunkt: Digitale Gewalt Seite 23 einfach psychisch unglaublich belastend, diesen ganzen Wahrnehmung viel vermischt. Viele glauben, Hass im Netz Schrott zu archivieren und zu dokumentieren. Oft werden ist das gleiche wie Cyberstalking oder Cybermobbing. also Beweise vernichtet oder sind gar nicht so leicht festzu- stellen und zu sichern, da braucht es zum Teil ja ein hohes technisches Know-How. Daran scheitert es oft. Häufig wer- FHK: Stellt man in der öffentlichen Debatte den Zusammen- den solche Anzeigen einfach eingestellt von der Staatsan- hang zwischen analoger und digitaler Gewalt her? waltschaft. Es ist relativ unbefriedigend bis zahnlos. Im Beziehungskontext sehen wir ja meistens beide Realitä- Strafverfolgung ist aber auch nicht immer der Wunsch, der ten, in denen sich die Gewalt abspielt: im analogen Raum bei den Frauen an erster Stelle steht. Obwohl wir sie natür- und im digitalen Raum, und das ist ein Kontinuum. Dieser lich umfassend informieren, welche Möglichkeiten sie ha- Aspekt wird in der öffentlichen Diskussion nicht so hervor- ben, ist der erste Wunsch bei vielen unserer Klient_innen: gestrichen. Die Wahrnehmung ist eher „Na dann schalt halt Ich möchte, dass es aufhört. Ich möchte damit nichts mehr alle Geräte aus, dann hast du deine Ruhe“. So als wäre mit zu tun haben, ich möchte, dass der nicht in mein Leben rein- einem Knopfdruck oder dem Kauf eines neuen Gerätes das pfuscht. Und darum landen auch ganz viele Fälle gar nicht Problem aus der Welt geschafft. bei der Polizei, geschweige denn vor Gericht. FHK: Also eine Verlagerung der Verantwortung auf die Be- FHK: Sehen Sie weitere Grenzen oder Lücken bei der Unter- troffenen mit dem Rat, sich einfach zurückzuziehen... stützung? Genau: Sperr dich ein, nimm nicht mehr am Leben teil! Völ- Eine Lücke: Es ist nicht strafbar, wenn ungewollt obszöne lig absurd. Erstens: Fotos oder Nacktfotos gesendet werden. Wenn ich Fotos Nicht die Frau ist im Handlungszwang, sondern erhalte, mit Inhalten, die ich als grenzwertig empfinde, ist der Täter soll gefälligst aufhören. das nicht strafbar. Zweitens: Selbst wenn sie sich zurückzieht, ist damit über- Und die Technik – die natürlich auch missbräuchlich zur Ge- haupt nicht gesagt, dass dann ihr Leben besser wird oder die waltausübung verwendet werden kann – entwickelt sich un- Gewalt aufhört. So einfach ist es eben nicht. glaublich rasant. Man ist den Tätern immer einen Schritt hinterher. Dazu kommt die relativ einfache Zugänglichkeit für den Täter, irgendwelche Apps oder Spyware zu kaufen. FHK: Was wäre in Ihren Augen der entscheidende Schritt, um Den Tätern wird es recht leicht gemacht. den Schutz vor digitaler Gewalt in Österreich zu verbessern? Da ist sehr viel, sehr schnelle Bewegung drin und man Dass die Opfer ernst genommen werden und dass die Polizei müsste sich eigentlich als Berater_in ständig weiterbilden, geschult wird, damit sie ihre Zuständigkeit professionell um- auf der Suche sein: Was gibt es jetzt noch? Die Bandbreite setzen kann. Wenn eine Frau eine Anzeige machen will, hat des Möglichen ist riesig. Nur die Vorstellungskraft setzt uns sie das Recht, eine zu machen. Dann muss die Polizei ermit- oft Grenzen. Wir können uns das oft gar nicht vorstellen. teln. Kaum bei einem anderen Delikt ist es so, dass die Poli- zei einfach sagt: „Ich seh nichts!“ Das nächste ist, dass wir bereits Kinder und Jugendliche sen- FHK: Welche Rolle spielt das Thema digitale Gewalt in der sibilisieren müssen, wem sie Wissen und Daten etc. anver- Öffentlichkeit in Österreich? trauen. Es ist wichtig, sie darin zu bestärken, dass es gut ist, Das Thema wird zunehmend debattiert, z. B. beim Hass-im- auch bei Menschen, die sie kennen und mögen, eine ge- Netz-Gesetz. Oft wird aber in der öffentlichen wisse Privatsphäre zu sichern. Z. B.: „Dein Passwort gehört
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