Aus Politik und Zeitgeschichte - 39/2008 22. September 2008 - Bundeszentrale für politische Bildung

 
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Aus Politik und Zeitgeschichte
                            39/2008 ´ 22. September 2008

Neue Medien ± Internet ± Kommunikation

                                         Christian Stegbauer
                           Raumzeitliche Struktur im Internet

                                               Andreas Hepp
Globalisierung der Medien und transkulturelle Kommunikation

                                          Miriam Meckel
               Wie Web 2.0 unsere Kommunikation veråndert

                                                Rainer Winter
                       Perspektiven eines alternativen Internet

                                             Kathrin Kissau
    Internetnutzung von Migranten ± ein Weg zur Integration?

                                             Uwe Buermann
      Kinder und Jugendliche zwischen Virtualitåt und Realitåt

                                               Nicola Dæring
                       Psychische Folgen der Internetnutzung

            Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament
Editorial
   1,3 Milliarden Menschen ± ein Fçnftel der Weltbevælkerung ±
nutzen das World Wide Web; allein Deutschland werden mehr
als 42 Millionen Internetnutzer und -nutzerinnen gezåhlt. Das
Internet, das es als Massenmedium erst seit 15 Jahren gibt, und
andere ¹neueª Medien erleichtern und befærdern die weltweite
Ausdehnung von Kommunikationsbeziehungen: die transkultu-
relle Kommunikation. Wissenschaftler sprechen von einer ¹Glo-
balisierung der Medienkommunikationª. Diese erfolgt im Ver-
bund mit traditionellen Medien; es handelt sich dabei weniger
um ¹Weltkommunikationª als um Kommunikation in regionalen
Groûråumen, etwa im ¹Kommunikationsraum Europaª.

  Das Internet, internetbasierte Medien, neue Fernsehformate,
die Mobiltelefonie und vernetzte Computerarbeitsplåtze haben
zu einer weitreichenden Informatisierung der Arbeitswelt und
des Alltags gefçhrt: mit positiven wie negativen Auswirkungen.
Insbesondere Kinder und Heranwachsende laufen Gefahr, sich
in der virtuellen (Erwachsenen-)Welt des Netzes zu verlieren.
Kritischen Nutzerinnen und Nutzern bietet das Internet
(¹Web 2.0ª) hingegen enorm viele Informationen und Chancen ±
auch die der politischen Einmischung und Teilhabe.

   Tatsåchlich kann sich jeder ± unabhångig von Hierarchien, na-
tionalen Begrenzungen oder institutionellen Anbindungen ± an
globalen Kommunikationsprozessen beteiligen: vorausgesetzt er
hat Zugang zum Internet. Diese Einschrånkung trçbt die Hoff-
nung, das Internet werde die Demokratisierung im Sinne einer
transnationalen Úffentlichkeit rasch vorantreiben. Beteiligungs-
oder Sprachbarrieren versperren nach wie vor einem groûen Teil
der (Welt-)Bevælkerung den Zutritt zur ¹Netzwerkgesellschaftª.

                                               Katharina Belwe
Christian Stegbauer          Neuseeland besuchen sollte. Wir fanden die
                                                            Listen mit den Lehrerinnen und Lehrern und

            Raumzeitliche                                   deren Fotos. Wir haben uns die Schule im Sa-
                                                            tellitenbild angesehen und auch das Haus der

                Struktur
                                                            Gasteltern. Aus dem Weltall konnten wir den
                                                            Schulweg unseres Sohnes betrachten und den
                                                            Badestrand, an dem er sich verletzte. Man

              im Internet
                                                            kann schon sagen, dass durch das Internet die
                                                            Informationsdichte und die Verbreitungsmæg-
                                                            lichkeiten auf eine neue Stufe gestellt werden.
                                                            Es hat tatsåchlich den Anschein, als wåren alle
                                                            Informationen zu jeder Zeit und von jedem
                                                            Ort aus zugånglich.
              Wie der Raum medial çberwunden wird,             Dass europåische oder amerikanische Un-
           das konnten wir kçrzlich erfahren, als unser     ternehmen in Indien Belege erfassen lassen
           Sohn fçr ein halbes Jahr in Neuseeland zur       oder dorthin ihre Softwareproduktion ausge-
           Schule ging. Sonntags frçhstçckten wir           lagert haben, ist mittlerweile weithin bekannt.
           immer zusammen: Wir stellten das Notebook        Es ist aber auch mæglich, mit Hilfe von per-
           auf den Frçhstçckstisch und damit war die        sænlichen Online-Assistenten tågliche Besor-
           Familie wieder komplett. Woche fçr Woche         gungen von Indien aus erledigen zu lassen. 1
                                    konnten wir çber        Der Assistent sitzt in einem Bçro in Bangalo-
              Christian Stegbauer Skype und eine Web-       re und erledigt Dinge, zu denen gestresste
   Dr. phil., geb. 1960; Privatdo- cam beobachten, wie      Menschen in den USA oder Europa nicht
zent an der Universität Frankfurt die Haare des Sohnes      kommen. Von Indien aus organisieren diese
    am Main, Institut für Gesell- långer wurden. Wir        neuen outgesourcten Mitarbeiter Partys in
     schafts- und Politikanalyse, bekamen die Knie-         New York, verschicken Blumen an die Gat-
              Robert-Mayer-Str. 5, wunde nach einem         tin, besorgen Schuhe, die sie im Internet be-
       60054 Frankfurt am Main. Sturz gezeigt und           stellen, oder lesen den Kindern Gute-Nacht
stegbauer@soz.uni-frankfurt.de haben uns auf diese          Geschichten vor.
                                    Weise so intensiv mit
           unserem 17-jåhrigen Jungen unterhalten, wie         Dieser kleine Ausschnitt an Mæglichkeiten
           lange nicht, als er noch zu Hause war.           macht deutlich, dass es sich nicht nur um
                                                            Phantasien handelt; es wird aber auch plas-
           Wir meinten es zu erleben, wir konnten           tisch, dass ein anderer Prozess damit verwo-
         Raum und Zeit fçr den Moment vergessen,            ben ist: die Globalisierung. Dieser Prozess
         aber waren sie wirklich nicht mehr da? Wåh-        låuft sicherlich bereits seit dem Zeitalter vor
         rend wir in den Tag starteten, war es in Neu-      dem Internet. Eigentlich ist er wegen seiner
         seeland durch die Zeitverschiebung bereits         weltweit verteilten Produktion das Projekt
         spåter Abend. Das einzige Zeitfenster in der       der Moderne.
         Woche, an dem wir auf diese Weise mit unse-
         rem Sohn zusammen sein konnten, war der              In den vergangenen zwei Dekaden hat sich
         Sonntagmorgen. Insofern blieben wir zumin-         dieser Prozess beschleunigt. Ein Indikator
         dest von der Zeit abhångig.                        dafçr sind die ¹verlångerten Werkbånkeª in
                                                            Låndern mit niedrigerem Lohnniveau. Man
Das Verschwinden von Raum und Zeit                          kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als
                                                            habe das Internet dem bereits laufenden
         Phantasien darçber, dass mit der Zugånglich-       Trend einen wesentlichen Schub verliehen.
         keit von Daten und durch interpersonale            Zu einfach wåre es, diesen auf die Technolo-
         Kommunikation çber das Internet Raum und           gie zurçckzufçhren. Mindestens ebenso
         Zeit verschwinden wçrden, gab oder gibt es         wichtig oder wichtiger ist der politische Um-
         zuhauf. Das verwundert auch gar nicht, denn        bruch, der in der Zeit stattgefunden hat, wo-
         technisch scheint dies ja auch beinahe mæglich     durch diese Regionen erst voll in das Welt-
         zu sein. Wir kænnen Informationen vom Ende         wirtschaftssystem integriert wurden.
         der Welt abrufen. So lasen wir die Evaluati-
         onsberichte çber die Schule, die unser Sohn in     1   Vgl. www.getfriday.com (24. 6. 2008).

                                                                                                  APuZ 39/2008   3
Durch das Internet wird aber nicht nur der            tatsåchlich keine Rolle mehr spielen. In diesem Zusam-
       wirtschaftlichen Entwicklung, der Erleichte-             menhang kænnen wir uns fragen, was am Raum und
       rung von Warenstræmen, der Dienstleistun-                der damit verbundenen zeitlichen Relationen so be-
       gen und einer Vermehrung der familiåren                  deutsam ist. Wir leben an einem Ort, arbeiten dort,
       Kontakte auch ins Ausland Vorschub geleis-               haben unsere sozialen Beziehungen, erledigen hier un-
       tet. Es heiût, dass auch der Kontakt zwischen            sere Einkåufe und treffen uns mit Freunden. Dieser
       einander fremden Menschen unterschiedli-                 Raum ist physisch vorhanden, wir erleben ihn, wenn
       cher Lånder und Kulturen auf ein neues Ni-               wir unsere Besorgungen machen, wenn wir ihn çber-
       veau gehoben werde. Virtuelle Gemeinschaf-               winden, um zur Arbeit zu gelangen. Georg Simmel
       ten çberlagerten geographische und politische            sprach vom ¹einzigen allgemeinen Raum, von dem alle
       Grenzziehungen, argumentiert einer der pu-               einzelnen Råume nur Stçcke sindª. 5 Dieser aus-
       blizistischen Vorreiter. 2 Auf diese Weise seien         schlieûliche Raum ist politisch, also sozial strukturiert:
       politische Aktionen unabhångig vom Ort                   Er ist in Stçcke aufgeteilt, die als Einheiten gelten und
       mæglich. Tatsåchlich wird immer wieder auf               von Grenzen umrahmt werden. Råumliche Grenzen
       die Bedeutung des Internet zur Organisation              sind zu dieser Zeit zu weiten Teilen auch soziale Gren-
       von politischer Einmischung hingewiesen.                 zen.

          Auch in der Soziologie finden sich zahlrei-           Diese Unterscheidung zwischen Raum und Sozialitåt
       che Autoren, die dieser Rhetorik folgen. So              nimmt Leopold von Wiese explizit in seinen Hauptka-
       schreibt Rudolf Stichweh von der ¹Ortsunab-              tegorien der Soziologie (neben sozialem Prozess und
       hångigkeit von Adressenª. 3 Die Situation sei            Abstand) auf. 6 Er nennt dies den sozialen Raum (oder
       durch Gleichzeitigkeit und Globalitåt ge-                ± im gleichen Sinne ± die soziale Sphåre). Dort spielen
       prågt. Die Bewegung, das Surfen im Internet              sich die sozialen Prozesse ab, die fçr die Konstitution
       sei vom Ort, an dem die Daten aufbewahrt                 von Beziehungen und im Sinne des Autors der Ab-
       werden, vollkommen unabhångig. Das Glei-                 standsverhåltnisse entscheidend sind. Von Wiese
       ten im technischen Netzwerk folge eher As-               schreibt, der soziale Raum sei vom ¹physischen
       soziationen und angebotenen Links, als dass              Raume zu unterscheidenª. Zwar sei auch der physische
       es etwas mit Geographie zu tun habe. Die In-             Raum fçr das gesellschaftliche Leben von Bedeutung,
       formation aus Asien, Amerika oder Europa                 aber dies sei kein Gegenstand der soziologischen For-
       lågen alle auf derselben Ebene, es gebe keine            schung. Die sozialen Prozesse spielen sich demnach im
       physische Verortung bzw. diese sei vællig un-            sozialen Raum ab, explizit nennt von Wiese ¹Verbin-
       erheblich, heiût es. 4 Stimmt diese Einschåt-            dungen, Trennungen, Bindungen, Læsungen, Brechun-
       zung tatsåchlich çber die Beobachtung des                gen, Verteilungen, Gesellungenª. 7 Diese seien in so-
       technischen Ablaufs hinaus? Dieser Frage                 zialråumlicher Hinsicht von Bedeutung, wobei der So-
       soll im Verlauf des Textes nachgegangen wer-             zialraum, so seine Idee, durch die Entfernungen
       den. Zunåchst folgen aber ein paar Betrach-              zwischen den Personen, beispielsweise nahestehenden
       tungen zur Bedeutung von Raum und Zeit                   und entfernten Bekannten in åhnlicher Weise wie der
       fçr die Erstellung von sozialen Beziehungen.             physische Raum konstituiert wçrde. Allerdings sei das
                                                                ¹Metermaûª dabei nicht anwendbar.

Was bedeuten Raum und Zeit?
                                                                  Fassen wir, was von Wiese als Sozialraum ansieht,
       Diese Ûberlegungen legen die Vermutung                   weit, dann zåhlen die im Internet verfçgbaren Infor-
       nahe, dass Raum und Zeit im Internetzeitalter            mationen dazu, ebenso die Anwendungen, die explizit
                                                                dazu konstruiert wurden, um einen Austausch, mithin
        2 Vgl. Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft.        Beziehungen darin entstehen zu lassen. Man kann in
       Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers           einem gewissen Sinne auch schematisierte bzw. auto-
       (amerik.1993), Bonn u. a. 1994.                          matisierte Verbindungen dazu rechnen: Um diese han-
        3 Vgl. Rudolf Stichweh, Adresse und Lokalisierung in
                                                                delt es sich, wenn beispielsweise Bestellungen abgear-
       einem globalen Kommunikationssystem, in: ders.
       (Hrsg.), Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen,
       Frankfurt/M. 2000, S. 220 ± 244.                          5 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen çber die Formen
        4 Vgl. Daniela Ahrens, Internet, Nicht-Orte und die     der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11, Frankfurt/M.
       Mikrophysik des Ortes, in: Alexandra Budke/Detlef        1992 (zuerst 1908), S. 690.
       Kanwischer/Andreas Pott (Hrsg.), Internetgeogra-          6 Leopold von Wiese, System der Allgemeinen Soziologie als

       phien. Beobachtungen zum Verhåltnis von Internet,        Lehre von den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungs-
       Raum und Gesellschaft, Stuttgart 2004, S. 163 ± 177,     lehre), Berlin 19684, (Original von 1924), S. 110.
       hier: S. 163.                                             7 Ebd., S. 111.

   4    APuZ 39/2008
beitet werden oder Bankgeschåfte getåtigt werden. In-        Grillen erlaubt ist, wird man am Wochenende
formationen werden fçr Adressaten nach auûen und             fast nur tçrkische Familien finden; in der
innen ins Internet gestellt. Versand und Handel sind         Mitte des Pferderennplatzes wurde ein
auf rechtliche Rahmenbedingungen angewiesen, deren           Ûbungsgelånde fçr Golfer eingerichtet. Man
Entstehung und Durchsetzung als soziale Prozesse be-         kann sich vorstellen, dass es nur wenige
griffen werden kænnen. Auch sie kommen nicht ohne            Schnittflåchen zwischen den beiden Bevælke-
Menschen aus, welche die Bestellungen bearbeiten und         rungsgruppen gibt, die beide ihre Freizeit an
an den Pforten und Haustçren abliefern. Freilich ge-         der frischen Luft verbringen. Da Begegnun-
schieht das In-Kontakt-Treten in einigen der geschil-        gen zwischen den geschilderten Gruppen
derten Fålle auf einer solchen Vermittlungsstufe, dass       kaum stattfinden, kommt es nur sehr selten
man nur mit Mçhe von ¹sozialen Beziehungenª spre-            zu Freundschaften, werden keine Ehen unter-
chen kann. Gleichwohl unterliegen diesen auch soziale        einander geschlossen. Man lebt nebeneinan-
Prozesse, nåmlich bei der Herstellung der Infrastruk-        der her, durchquert zwar denselben physi-
tur fçr solchen Handel oder solche Produktionspro-           schen Raum, kommt aber nicht in Kontakt,
zesse. In anderen Fållen tritt klarer zutage, dass soziale   da man es nicht zur selben Zeit tut.
Beziehungen aufgebaut werden.
                                                                Die geschilderten Beispiele zeigen, dass
  Das Internet låsst sich also als sozialer Raum verste-     sich eine Struktur von auûen aufdrångt. Es
hen, in dem auf ganz unterschiedlichen Ebenen soziale        gibt aber auch eine ¹innere Strukturª, die
Prozesse ablaufen. Aber bleiben wir noch ein wenig           ebenfalls im Zusammenhang mit Zeit und
bei der Bedeutung des Raumes.                                Ort steht. Raumzeitliche Verortungen spielen
                                                             eine Rolle als Strukturierungselemente auch
Der britische Soziologe Anthony Giddens hat eine             in einer lebensgeschichtlichen Dimension
Strukturierungstheorie vorgelegt. 8 Darin wird der Zeit      eines jeden Einzelnen. Der Discobesuch bei-
und dem Raum eine besondere Bedeutung zugeschrie-            spielsweise ist weitgehend auf die Phase der
ben. Insbesondere geht es um die Kopråsenz als Vor-          Partnerfindung begrenzt. Øltere sind auf ¹Û-
aussetzung fçr die Herausbildung sozialer Beziehun-          Partysª angewiesen, die den Tanztee der Ver-
gen. Die gleichzeitige Anwesenheit an einem Ort ist          gangenheit weitgehend abgelæst haben. Die
nicht zufållig und genau darum kann man sie als Mæg-         ¹Seniorenwohnanlageª mag fçr die gebrech-
lichkeitsrahmen fçr die Herausbildung von Bezie-             lich Werdenden eine Wohnalternative sein;
hungsstrukturen ansehen.                                     junge Menschen hingegen wird man dort nur
                                                             als Pfleger oder Besucher finden.

  Das begegnet uns çberall in der Gesellschaft: Arbei-         Bis hierhin wurde die Kopråsenz, also die
tende in der Produktion beginnen ihren Arbeitstag            Mæglichkeit zu gleicher Zeit am gleichen Ort
meist recht frçh oder arbeiten sogar in Schichten. Die       zu sein, als begrenzendes Strukturierungs-
Bankangestellten dagegen betreten erst viel spåter das       merkmal, Beziehungen einzugehen, einge-
Bçro. Diese Kategorie von Beschåftigten ist allerdings       fçhrt. Der physische Raum ist von Bedeu-
immer noch im Bçro, wenn sich die Arbeiter bereits           tung, weil an ihn die ¹Begegnungsorteª ge-
auf dem Nachhauseweg befinden, und manche Studie-            knçpft sind. Dabei wurde aber auch deutlich,
rende sind zu Veranstaltungsbeginn um 10 Uhr noch            dass der physische Raum durch die zeitliche
nicht ausgeschlafen. Alle drei der hier genannten            Strukturierung bereits gebrochen wird und
Gruppen haben nur wenige Mæglichkeiten im norma-             kaum als eine fçr alle Bevælkerungsschichten
len Tagesablauf miteinander in Kontakt zu kommen.            gleichermaûen zugångliche Einheit angesehen
Die æffentlichen Verkehrsmittel transportieren an            werden kann.
einem Morgen zwischen Betriebsbeginn und Mittag je
nach Uhrzeit ganz unterschiedliche Berufsgruppen                Der physische Raum geråt, wenn wir ge-
und Bevælkerungsschichten. Die Strukturierung der            danklich bei der Notwendigkeit von Koprå-
Gesellschaft nach der Zeit setzt sich aber auch in der       senz bleiben, durch die Verkehrsmittel noch
Freizeit fort: Die Aktivitåten unterscheiden sich nach       weiter durcheinander. Kann man sagen, dass
Bevælkerungsgruppen gewaltig. In einem etwas auûer-          sich die Entfernungen beim Durchschreiten
halb von Frankfurt am Main liegenden Park, in dem            eines Raumes zu Fuû (abgesehen von natçrli-
                                                             chen Hindernissen) in einer einigermaûen
8 Vgl. Anthony Giddens, Die Konsequenzen der Moderne,        gleichen Zeit abbilden lassen, wird dies durch
Frankfurt/M. 1995. (zuerst: The Consequences of Modernity,   die moderne Verkehrsinfrastruktur neu ge-
Cambridge 1990).                                             ordnet: Autobahnen lassen Regionen ¹nåher

                                                                                            APuZ 39/2008      5
zusammenrçckenª, Schnellbahntrassen er-                An welchen Stellen wird der Raum bedeut-
       mæglichen es, tåglich zwischen Orten zu pen-        sam? Geographen entwickeln Karten des In-
       deln, die in frçheren Zeiten mehrere Tagesrei-      ternets, in denen Routerverbindungen aufge-
       sen auseinander lagen. Die Verschiebungen           zeigt werden. Solche Karten (s. Abbildung)
       der ¹Geographieª durch die Schnelligkeit der        kænnen als Indikatoren fçr die Beteiligungs-
       Verbindung zeigen sich im Verhåltnis der            mæglichkeiten angesehen werden. Sie sind
       Fernverbindung zum Nahbereich. Plastisch            keineswegs unabhångig vom Raum, was auf
       gemacht bedeutet das, dass fçr die 23 Kilome-       den ersten Blick erkennbar ist. Die Erste,
       ter zwischen den Stadtteilen von Frankfurt-         Zweite und Dritte Welt werden deutlich
       Fechenheim und Frankfurt-Zeilsheim eine             sichtbar und mit ihnen die Partizipations-
       Stunde und zwanzig Minuten im stådtischen           chancen der Bevælkerung. Diese sind nicht
       Nahverkehr einzukalkulieren sind. Von               unabhångig vom Raum und den damit zu-
       Kæln-Deutz zum Frankfurter Hauptbahnhof             sammenhångenden sozialen, politischen und
       benætigt man zwanzig Minuten weniger. Eine          wirtschaftlichen Verhåltnissen. Sie sind sogar
       Betrachtung der Wegezeit zeigt, dass die Re-        sehr abhångig davon. Die Dritte Welt ist nach
       lation der Stådte Kæln und Frankfurt am             wie vor abgehångt; die Beteiligungsmæglich-
       Main vergleichbar ist mit den Verbindungen          keiten sind einer kleinen Elite vorbehalten.
       zwischen den beiden genannten Stadtteilen.          Nur wenige haben Zugang zur Technik, und
       Mit der Art des Verkehrsweges åndern sich           kaum jemand besitzt einen Computer mit In-
       auch die Bedingungen der Mæglichkeit, mit-          ternetanschluss. 9 Ferner stellen Sprach- und
       einander in Kontakt zu kommen.                      Bildungsdefizite in den Låndern eine Beteili-
                                                           gungsbarriere dar.
          Wozu diese Ûberlegungen zu Raum und
       Zeit? Nun, wir sehen, dass es durch den Ein-          Die Elite der Drittweltlånder mit Zugang
       satz moderner Verkehrsmittel zu Raumver-            zum Internet hat dagegen håufig Kontakte in
       schiebungen kommt; damit zeigt sich, dass           die Erstweltlånder, sei es, dass Familienange-
       der physische Raum durch Verkehrstechnolo-          hærige dort studieren oder arbeiten, sie selbst
       gien gebrochen wird und dass sich dies auf          fçr auslåndische Unternehmen arbeiten oder
       den Sozialraum auswirkt. Der soziale Raum           çber Handelskontakte verfçgen. Was aber,
       wird in sehr viele kleine, sich çberlagernde        wenn die Sprach- und Bildungsdefizite çber-
       Cluster zerlegt, die nur an manchen Stellen         wunden wåren? Das wçrde noch nicht viel
       miteinander in Verbindung stehen. Nehmen            bringen, denn es kommt noch schlimmer:
       wir dieses Bild mit in den nåchsten Abschnitt.      Diejenigen, die ins Internet kænnen, haben
       Dort geht es um die Repråsentation der              den Nachteil, dass dortige Angebote kaum an
       Raumzeit im Internet.                               ihre Bedçrfnisse angepasst sind.

                                                              Warum? Weil das WeltWeiteWeb einen
Raum und Zeit im Internet                                  Groûteil seines Nutzens in Verbindung mit
und auûerhalb                                              dem sozial definierten Raum auûerhalb und
                                                           der dort vorhandenen Infrastruktur entfaltet.
       Im Internet stellen Zeit und Raum praktisch         Warum sollte man das Kino-Programm nach-
       keine Barrieren dar. Orte, die schwerer er-         schauen, wenn es kein Kino gibt? Auch
       reichbar wåren, wie periphere Stadtviertel,         Onlinebankgeschåfte sind ohne Bankkonto
       oder gut erreichbar, wie die Zentren der Groû-      sinnlos. Navigationsdienste im Internet brin-
       stådte, liegen technisch auf einer Ebene. Ohne      gen nichts, wenn man kein Auto besitzt und
       die Betrachtung von sozialen Beziehungsre-          die Informationen çber das Hotelangebot sind
       geln kænnte man annehmen, dass diese Unter-         unbrauchbar, wenn man nicht verreist oder es
       scheidung keinerlei Bedeutung mehr besitzt.         keine Hotels gibt, die çber eine Repråsentanz
       Das Internet stellt sich zwar stellenweise als      im Internet verfçgen.
       eine eigene Welt dar, in der es mæglich ist, sich
       zu verlieren, sei es als Spieler oder Teilnehmer
       in einer Netzwerkcommunity. Man ist aber
       trotzdem nicht vællig losgelæst vom ¹norma-         9 Vgl. Uwe Afemann, Die Dritte Welt und das Inter-
       lenª Leben. Gerade die Verbindung mit den           net (Beitrag fçr e.velop) 2004. http://www.home.uni-
       Strukturen auûerhalb des Internet machen die        osnabrueck.de/uafemann/Internet_Und_Dritte_Welt/
       meisten Anwendungen so wertvoll.                    Bundespresseamt.pdf (25. 6. 2008)

   6    APuZ 39/2008
Abbildung: Internetgeographie: Routerverbindun-                        Anwendungen, die sich stårker an diese sozialstruktu-
gen in der Welt                                                        relle Gruppe richten, beispielsweise im Gesundheitsbe-
                                                                       reich. Dort sind es aber auch eher die Gebildeten, wel-
                                                                       che die Mæglichkeiten nutzen kænnen. Sprachbarrieren
                                                                       sind ebenfalls vorhanden, da der Groûteil des Internet
                                                                       auf dem Englischen beruht. Die Zugånglichkeit des In-
                                                                       ternet als Raum ist also keineswegs gleichmåûig çber
                                                                       die Bevælkerung verteilt, und Ausschlçsse entstehen an
                                                                       åhnlichen Grenzen wie im Raum auûerhalb des techni-
                                                                       schen Netzes auch. Das bedeutet, dass diese sich an-
                                                                       hand der bekannten sozialstrukturellen Kategorien re-
                                                                       konstruieren lassen. Nicht alle Råume kænnen von der
                                                                       Bevælkerung gleichermaûen genutzt werden, und so
Quelle: Die Daten stammen von 2007:                                    verhålt es sich auch mit dem Internet.
www.chrisharrison.net/projects/InternetMap/medium/
worldWhite.jpg (11. 7. 2008).                                             Betrachten wir interpersonale Kontakte im Internet,
                                                                       so zeigt sich, dass ein Groûteil der Kommunikation
Allerdings ist es keineswegs so, dass in den Låndern, die              den vorgångig konstituierten Anschlçssen folgt bzw.
eine Vielzahl von Verbindungen aufweisen, die Beteili-                 diese den Anlass dazu liefern, bestimmte Anwendun-
gung gleichverteilt wåre. Und so, wie der geographische                gen zu installieren und zu benutzen. Dies gilt fçr die
Raum in soziale Cluster zerfållt, fehlen auch hier we-                 Messaging-Dienste (Skype, MSN oder ICQ) ebenso
sentliche Teile, deren Vorhandensein das Internet noch                 wie fçr E-Mail und die Netzwerkcommunities. Diese
wertvoller machen wçrde. Zu einem solchen sozialen                     werden in der Regel in soziale Beziehungen inte-
Cluster zu gehæren, das çber wenige Zugånge verfçgt,                   griert. 13 Es sind Vereinbarungen notwendig, bei denen
etwa das der ålteren Frauen, ist in der Ersten Welt                    ausgehandelt oder mitgeteilt wird, welcher Dienst bei
schlimmer als in der Dritten Welt, denn der Nutzen in                  wem installiert ist, welche Erfahrungen damit gemacht
der Ersten Welt ist weit græûer. Da bei der çberwiegen-                wurden, wer im Bekanntenkreis auûerdem noch dar-
den Mehrheit der Menschen im Konsumentenalter ein                      çber verfçgt etc. Auf diese Weise werden Kommunika-
Computer mit Internetanschluss zu Hause oder am Ar-                    tionswege festgelegt, die in einem Zusammenhang zur
beitsplatz steht, 10 und vieles sich durch eine Schnittstel-           raumzeitlich verankerten Beziehungsstruktur auûer-
le zum Computer produktiver gestalten låsst, wird es                   halb des Netzes stehen. Die relativ neuen Netzwerk-
zunehmend schwieriger, ohne Internet auszukom-                         Communities setzen genau an bereits vorhandenen Be-
men. 11                                                                ziehungen an. Meldet man sich beispielsweise bei dem
                                                                       Dienst Facebook an, so wird man gefragt, ob man sein
   Die Nichtnutzung des Internet steht in einem Ver-                   E-Mail-Adressbuch nach ebenfalls teilnehmenden Be-
håltnis zum sozialen Raum, in dem sich die Nichtbetei-                 kannten abgleichen lassen mæchte. Um Kommilitonen
ligten bewegen. Dies sind eher Frauen, Øltere und Bil-                 oder Ehemalige zu finden, wird man nach der Schule
dungsferne. Ein Groûteil der populåren Anwendungen,                    oder Universitåt sowie dem Abschlussjahrgang ge-
seien es interaktive Spiele oder die bekannten Vernet-                 fragt. Hierdurch wird an das Beziehungs- und Freund-
zungssites, zielt auf ein wesentlich jçngeres Publi-                   schaftsnetz angeknçpft, welches sich an einem speziel-
kum. 12 Die Verteilbærsen fçr das Herunterladen von                    len Ort konstituierte.
Musik und Videos, welche bei Jugendlichen so beliebt
sind, dçrften kaum ein Angebot haben, welches auf den                     Das heiût keineswegs, dass im Internet nicht auch
Geschmack der Ølteren trifft. Allerdings gibt es auch                  Beziehungen entstehen wçrden. Dies findet sogar håu-
                                                                       fig statt. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen dar-
 10 Vgl. (N)onliner-Atlas, Eine Topographie des digitalen Grabens
                                                                       çber. So werden Hinweise darauf gefunden, dass die
durch Deutschland, 2008, http://www.initiatived21. de/fileadmin/
                                                                       åuûere Mæglichkeitsstruktur durch die notwendige
files/08_ NOA/NONLINER2008.pdf (25. 06. 2008).
 11 Ein kçrzlich erlebtes Beispiel: Mæchte man eine Prepaidkarte       Raum- und Zeitgleichzeitigkeit, wenn nicht auûer
fçr ein Mobiltelefon aktivieren, so ist das çbers Internet, Fax oder   Kraft gesetzt, so doch zumindest ein Stçck weit ver-
per Brief mæglich. Verfçgt man çber die erste Mæglichkeit, kann        schoben wird. Gustavo S. Mesch und Ilan Talmud
das Telefon in wenigen Stunden genutzt werden; steht nur der           haben beispielsweise herausgefunden, dass çber das In-
Postweg zur Verfçgung, dauert dies mehrere Tage, und an einem          ternet gewonnene Freunde in Israel hinsichtlich ihres
Wochenende ist die Aktivierung çberhaupt nicht mæglich.
 12 Vgl. Gerd Paul/Christian Stegbauer, Is the digital divide be-

tween young and elderly people increasing? First Monday, Okto-          13 Vgl. Christian Stegbauer, E-Mail und Organisation: Partizipa-

ber 2005. www.uic.edu/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index. php/fm/ar-          tion, Mikropolitik und soziale Integration von Kommunika-
ticle/view/1286 (26. 6. 2008).                                         tionsmedien, Gættingen 1995.

                                                                                                            APuZ 39/2008        7
Alters, des Geschlechts und der Herkunft                     schaften sind an die Lokalitåt gebunden, also
    etwas inhomogener sind, als die im Jugendal-                 die Infrastruktur, auf die ¹Vor-Ortª zurçck-
    ter çblichen Peer-to-Peer Freundschaften. 14                 gegriffen wird. Dort sind die sozialen Gebil-
    Dies spricht dafçr, dass sich die durch die                  de, in die man hineinwåchst und in denen
    gleichzeitige Anwesenheit an einem Ort rela-                 sich der Symbolvorrat, also die Mæglichkei-
    tiv starren Beziehungsvoraussetzungen lo-                    ten fçr Interpretation herausbilden. Diesen
    ckern. Allerdings bleibt die dort festgestellte              wird von Alois Hahn und Herbert Willems
    Variation in einem geringen Rahmen. Je                       die funktionale Differenzierung gegençber
    nåher die online gewonnenen Freunde råum-                    gestellt. Sie ermæglichten Wahlverbindungen.
    lich und sozialstrukturell (Alter, Geschlecht)               Man muss sich nicht mit den lokal vorhande-
    waren, umso enger war die Beziehung. Auf-                    nen Beziehungen begnçgen, sondern kann,
    gehoben ist die Homogenitåt, die in der klas-                gerade dann, wenn man in hoch qualifizierten
    sischen Soziologie als konstitutiv fçr Freund-               Berufen tåtig ist, Kontakte rund um die Welt
    schaften gilt, also keinesfalls. 15 Dies kann als            aufbauen. Allerdings sind diese ebenfalls
    Zeichen dafçr gedeutet werden, dass die                      nicht beliebig, sondern sehr stark von der Po-
    meisten Anwendungen sich ihr Publikum su-                    sition der Menschen abhångig.
    chen und dieses Publikum dann in verschie-
    denerlei Hinsicht homogen sein wird. Die                        Fçr die meisten Menschen spielen die lo-
    Studie zeigt auch, dass råumliche Bezçge                     kalen Zusammenhånge eine Rolle, auch wenn
    nicht unwichtig sind.                                        in Modernisierungstheorien 17 immer wieder
                                                                 von ¹Entbettungª die Rede ist und hierfçr
       Durch die Begrenzungen des Raums wer-                     Argumente angefçhrt werden kænnen, etwa
    den politische, kulturelle und soziale Klam-                 immer stårker werdende berufliche Mobili-
    mern erzeugt. Was im Stadtgebiet passiert,                   tåtserwartungen und eine Ausdifferenzierung
    wird in der Lokalpresse aufgegriffen und von                 der Berufe. Man kænnte auch sagen, dass ge-
    den Bçrgern diskutiert. Die Fuûballmann-                     rade mobile Menschen auf das Internet ange-
    schaften treffen in den lokalen Ligen aufein-                wiesen sind, um ihre Herkunftszusammen-
    ander, alle Stadtteile umfassende Feste, der                 hånge nicht zu verlieren. Hinweise darauf
    Karneval, Tage der offenen Tçr der Stadt, das                finden sich in Untersuchungen zur Aufrecht-
    kulturelle Angebot, die Schwimmbåder, re-                    erhaltung der Kontakte zum Herkunftsort
    gionale Essensspezialitåten etc. ± all dies trågt            per Internet bei Migranten. 18
    dazu bei, dass der Raum als eine Identifikati-
    onseinheit ihrer Bewohner aufgefasst wird.                      Es sind nicht nur die sozialen Beziehungen
    Die Ereignisse liefern Gespråchsthemen, und                  zum Herkunftsland, die fçr eine Begrenzung
    durch die lokalen Bezçge wird ein Stçck des                  der Fiktion einer Auflæsung von raumzeitli-
    Bewusstseins der Menschen geformt. Eine                      chen Zusammenhången entgegenstehen: Die
    grenzenlose Kommunikation enthebt die                        Interpretation medial vermittelter Inhalte ist
    dort verwurzelten Akteure ihres Kontextes                    abhångig vom Wissen, den vorgångig vermit-
    und damit auch eines græûeren Teils der The-                 telten Normen und Werten und den Erfah-
    men, çber die kommuniziert werden kann.                      rungen, die die Menschen gemacht haben.
    Diese Art der Verwurzelung erinnert an un-                   Am Export von Fernsehsendungen konnte
    moderne Gesellschaftsformen mit segmen-                      gezeigt werden, dass diese lokal vermittelten
    tierter Differenzierung. 16 Segmentåre Gesell-               Bezçge die Interpretation von Inhalten we-
                                                                 sentlich beeinflussen. 19 Auch hier sind Ver-
     14 Vgl. Gustavo S. Mesch/Ilan Talmud, Similarity and

    the Quality of Online and Offline Social Relationships
    Among Adolescents in Israel, in: Journal of Research
    on Adolescence, 17 (2007) 4, S. 813±817.                     17  Vgl. A. Giddens (Anm. 8).
     15 Vgl. Robert K. Merton, Patterns of Influence: Local      18  Vgl. Harry Hiller/Tara M. Franz, New ties, old ties
    and Cosmopolitan Influentials, in: ders., Social Theory      and lost ties: the use of the internet in diaspora, in: New
    and Social Structure, New York 1968, S. 441±474; Paul        Media & Society, 6 (2004) 6, S. 731 ±752; Christopher
    F. Lazarsfeld/Robert K. Merton, Friendship as Social         Helland, Diaspora on the Electronic Frontier: Develo-
    Process: A Substantive and Methodological Analyis,           ping Virtual Connections with Sacred Homelands, in:
    reprinted in: P. L. Kendall, The varied Sociology of         Journal of Computer-Mediated Communication, 12
    Paul F. Lazarsfeld, New York 1954/1982; S. 298 ± 348.        (2007) 3, S. 956 ± 976.
     16 Vgl. Alois Hahn/Herbert Willems, Modernitåt und           19 Vgl. Tamara Liebes/Elihu Katz, The Export of

    Identitåt, in: Sociologia Internationalis, 34 (1996) 2, S.   Meaning. Cross-Cultural Readings of Dallas, New
    199 ± 226.                                                   York 1990.

8    APuZ 39/2008
bindungen in den Raum vorhanden, die nicht hinter-                   Andreas Hepp
gangen werden kænnen.

   Man kænnte jetzt auf die Idee kommen, dass sich
das Internet in der eher rationalen Geschåftswelt von
                                                                     Globalisierung der
råumlichen Bezçgen unabhångig machen kann. Unter-
suchungen zeigen jedoch, dass auch virtuelle Unter-
nehmen nicht ohne konkrete Treffen auskommen und
                                                                     Medien und
damit im Raum gefangen sind. 20 Durch den persænli-
chen Kontakt wird Vertrauen geschaffen, ist doch der                 transkulturelle
                                                                     Kommunikation
Umgang mit komplexen Anforderungen nur schwer
durch Medien vermittelbar. Erst wenn man gelegent-
lich einen Wein zusammen trinkt, låsst es sich auch per
E-Mail gut miteinander kommunizieren. Das Vertrau-
ensproblem ist bedeutend, es behindert die Geschåfte
çber das Internet. Dessen ungeachtet sind erhebliche
Wachstumsraten zu verzeichnen. Vor Bestellungen im
Internet, so wird geraten, schaue man sich die Webprå-
                                                                     I   m Jahr 1977 veræffentlichte der britische
                                                                         Soziologe Jeremy Tunstall das Buch ¹The
                                                                     Media are Americanª. Wåhrend in Europa
senz des Versenders an. Findet sich eine Abbildung                   viele technische und kulturelle Innovationen
eines physisch vorhandenen Ladens, eines Lagers oder                 im Bereich der Massenmedien stattfanden,
der verantwortlichen Personen, so ist man eher ge-                   wurden diese in den USA erfolgreich ,indus-
neigt, auf das Angebot einzugehen.                                   trialisiert` ± war das Hauptargument des Au-
                                                                     tors. Rund 30 Jahre
   Die Zahl der Beispiele, auf die dies zutrifft, ist Le-            spåter, nåmlich 2008,
gion: So zeichnet sich die Online-Enzyklopådie Wiki-                 erschien nun Tunstalls Andreas Hepp
pedia dadurch aus, dass unterschiedliche Autoren ganz                Buch ¹The Media were Dr. phil., geb. 1970; Professor
unabhångig vom Ort, an dem sie sich befinden, an Ar-                 Americanª. Die Kern- für Kommunikationswissen-
tikeln arbeiten kænnen. In einem Forschungsprojekt                   these dieses Buchs lau- schaft am Institut für Medien,
zur Kooperation in Wikipedia konnten wir jedoch zei-                 tet, dass sich seit den Kommunikation und Information
gen, dass der Besuch von Stammtischen und anderen                    1980er Jahren so viel (IMKI), Universität Bremen,
Treffen ganz wesentlich dazu beitrågt, in eine Fçh-                  im Hinblick auf Me- Enrique-Schmidt-Straûe 7,
rungsrolle in der Organisation Wikipedia zu gelangen.                dien in ihrem globalen 28359 Bremen.
Ohne dass die Kandidaten einmal gesehen wurden, ist                  Kontext geåndert hat, Andreas.Hepp@uni-bremen.de
es fast nicht mæglich, dort Administrator zu werden.                 dass das Argument, die www.imki.uni-bremen.de
¹Prominentª werden auch nur solche Teilnehmer, die                   Medien seien amerika-
nicht nur einmal auf einem lokalen Treffen waren.                    nisch, nicht mehr aufrecht erhalten werden
Dies setzt eine ausgiebige Reisetåtigkeit voraus.                    kann. So hat man eine Zunahme kulturçber-
                                                                     greifender Kommunikation ± kurz: transkul-
Ein Leben im Internet, welches unabhångig von Raum                   tureller Kommunikation 1 ±, jedoch wird
und Zeit wåre, ist weder empirisch auffind- noch vor-                diese nicht einfach von den USA aus domi-
stellbar. Wir bleiben also, trotz stark gewachsener                  niert, sondern es bestehen hier wesentlich
Mæglichkeiten des Datenzugriffs und der weltweiten                   komplexere Kommunikationsbeziehungen.
Arbeitsteilung, an Orte gebunden. Diese Orte, ebenso                 In der Fernsehserienproduktion haben bei-
wie das Internet selbst, mçssen heute freilich als står-             spielsweise Lateinamerika (durch die dortigen
ker differenziert und fragmentiert angesehen werden,                 Telenovelas) oder Europa (mit seinen Fern-
als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Un-              sehformaten wie Big Brother oder Who wants
sere raumzeitliche Verortung bleibt eine wesentliche                 to be a Millionaire) bzw. Indien (mit seiner
Konstante, die uns, auch ohne dass wir es unbedingt                  Filmproduktion) gegenwårtig international
wollen, Orientierung bietet und aus der unser Hand-                  einen græûeren Stellenwert als amerikanische
lungsrahmen und unsere Beziehungen auch weiterhin                    Produkte in diesen Låndern. Eine besondere
im Wesentlichen erwachsen werden.                                    Rolle spricht Jeremy Tunstall allerdings digi-

 20 Vgl. Gerhard Fuchs, Die Steuerung virtueller Projektnetzwerke:    1 Zur weiterfçhrenden Lektçre empfohlen: Andreas

e-mail und schlæzen, in: Christian Stegbauer (Hrsg.), Netzwerk-      Hepp, Transkulturelle Kommunikation. Konstanz
analyse und Netzwerktheorie, Wiesbaden 2008, S. 541 ± 554.           2006 (UVK /UTB).
                                                                     Informationen zu den erwåhnten Projekten unter:
                                                                     http://www.imki.uni-bremen.de

                                                                                                      APuZ 39/2008       9
talen Medien (WWW, E-Mail, Mobiltelefon            Prozess einer fortschreitenden Zunahme
       etc.) zu, wenn er formuliert: ¹Telecommuni-        weltweiter Kommunikationsbeziehungen. 3
       cations (not mass media) has the most global       Vielschichtig ist der Prozess insofern, als wir
       potential ± since the Internet, consumer cre-      ihn nicht auf ein Medium oder eine Gruppe
       dit, and plain old phone calls use telecommu-      von Medien ± beispielsweise die digitalen Me-
       nications networks.ª 2                             dien ± reduzieren kænnen. Die Globalisierung
                                                          der Medienkommunikation im oben skizzier-
                                                          ten Sinne wird von Internet und Mobilkom-
Globalisierung der                                        munikation ebenso ,getragen` wie von (Satel-
Medienkommunikation                                       liten)Fernsehen und Film. Vielschichtig ist
                                                          der Prozess aber auch, weil wir beispielsweise
       In diesem Beitrag mæchte ich die bemerkens-        aus der Dominanz einzelner Konzerne auf
       werte Entwicklung, auf die Tunstall hier           der Ebene der Produktion keine Schlussfolge-
       Bezug nimmt, zum Ausgangspunkt nehmen,             rungen in Bezug auf die Medienprodukte
       um auf Herausforderungen der Globalisie-           oder deren alltågliche Aneignung ziehen kæn-
       rung der Medienkommunikation und der               nen. Allerdings bleibt die Globalisierung der
       transkulturellen Kommunikation einzugehen.         Medienkommunikation ± wie die Diskussion
       Die einleitenden Bemerkungen machen dabei          um den Digital Divide gezeigt hat 4 ± auch
       deutlich, dass ich ,neue Medien` und ,Inter-       ein in sich hoch ungleicher Prozess.
       net` nicht isoliert betrachten mæchte, sondern
       im Ensemble mit den ,traditionellen` Medien.          Bei einer Betrachtung von transkultureller
       Dahinter steht der Gedanke, dass sich unsere       Kommunikation geht es nun um eine Ausein-
       alltågliche Aneignung von Medien nicht auf         andersetzung mit kulturçbergreifenden Kom-
       Einzelmedien bezieht, sondern dass wir bei-        munikationsbeziehungen in diesem zuneh-
       spielsweise im Internet die Webseiten zu Big       mend globalen Kommunikationsnetzwerk.
       Brother in Bezug auf die gleichnamige Fern-        Dass hierbei nicht einfach von interkulturel-
       sehsendung nutzen oder wir uns per E-Mail          ler oder internationaler Kommunikation ge-
       oder am (Mobil)Telefon sowohl çber unseren         sprochen wird, verweist darauf, dass mit der
       Alltag als auch çber die Inhalte einer letzten     Globalisierung der Medienkommunikation
       Soap Opera oder Nachrichtensendung aus-            verschiedene Kommunikationsråume ent-
       tauschen. Wir kænnen also die digitalen Me-        standen sind, die sich gerade nicht auf Staaten
       dien weder losgelæst von unserem weiteren          oder Nationalkulturen herunterbrechen las-
       Handeln noch von weiteren traditionellen           sen. Exemplarisch kann man hier an den
       elektronischen Medien sehen. Dies trifft ge-       Kommunikationsraum Europa denken ± der,
       rade dann zu, wenn wir uns fçr soziale Bezie-      sofern man in ihm eine transnationale euro-
       hungen interessieren, fçr die Medienkommu-         påische Úffentlichkeit ausmacht, zentral fçr
       nikation ja nur ein Aspekt ist.                    die Legitimation der EU bei den Bçrgerinnen
                                                          und Bçrgern ist. Oder man kann an den
          Doch was kænnen wir uns genau unter             Kommunikationsraum von Diaspora-Ge-
       ,Globalisierung der Medien` und ,transkultu-       meinschaften denken, also von Migrantinnen
       relle Kommunikation` vorstellen? Wenn wir          und Migranten, die çber verschiedene Lånder
       mit dem Ausdruck Globalisierung der Me-            hinweg verstreut leben und eine eigenstån-
       dien(kommunikation) beginnen, so helfen die        dige Vergemeinschaftung (¹Deutschtçrkenª,
       zitierten Ûberlegungen von Jeremy Tunstall         ¹britische Asiatenª usw.) bilden. ,Transkultu-
       bereits weiter. Fasst man seine Argumente im       rell` hebt an dieser Stelle also darauf ab, dass
       Kern zusammen, so bedeutet Globalisierung          kulturelle Kommunikationsråume ,jenseits`
       mit Bezug auf Medien nicht, dass hier ein-         traditioneller Nationalkulturen betrachtet
       zelne (beispielsweise amerikanische) Me-           werden, die transnational sein kænnen (bei-
       dien(konzerne) ,die Welt kontrollieren`. Eher      spielsweise den Kommunikationsraum Euro-
       geht es um ,Vernetzung` oder ,Konnektivitåt`
       durch Medienkommunikation. Entsprechend            3 Vgl. fçr eine solche Definition Andreas Hepp,
       kænnen wir Globalisierung der Medienkom-           Transkulturelle Kommunikation, Konstanz 2006,
       munikation verstehen als den vielschichtigen       S. 67.
                                                          4 Vgl. Pippa Norris, Digital Divide. Civic Engage-
       2 Vgl. Jeremy Tunstall, The Media Were American:   ment, Information Poverty and the Internet World-
       U.S. Mass Media in Decline, New York 2007.         wide, Cambridge 2001.

  10    APuZ 39/2008
pas), aber auch von Nationen abkoppelnde                 schaftungen ,translokal` ± also çber den eigenen loka-
kulturelle Phånomene (Diasporagemeinschaf-               len Lebenskontext hinaus ± aufrechtzuhalten. Dadurch,
ten).                                                    dass medienvermittelte translokale Kommunikations-
                                                         råume durch die nationalen Sendegebiete des Rund-
   Wie zentral eine Beschåftigung mit solchen            funks und nationalen Verbreitungsgebiete von Zei-
Fragen der transkulturellen Kommunikation                tungen bis in die 1970er Jahre hinein insbesondere
ist, verdeutlichen die genannten Beispiele: In           national-territorial waren, galt und gilt fçr viele Men-
der Politik wie auch in der Úkonomie haben               schen die Nation bis heute als die zentrale translokale,
wir seit vier Jahrzehnten eine fortschreitende           unter anderem durch Medien vermittelte Vergemein-
Europåisierung. Gleichzeitig wird der Ent-               schaftungsform. Mit der Globalisierung der Medien-
wicklung einer europåischen Úffentlichkeit               kommunikation ist diese Situation allerdings wesent-
aber eine deutliche Trågheit unterstellt. 5 Es           lich komplexer geworden. Dies låsst sich anhand von
zeigt sich, wie relevant es ist, danach zu fra-          Abbildung 1 veranschaulichen:
gen, was transkulturelle Kommunikation fçr
die Konstitution einer europåischen Úffent-
lichkeit leisten kann. Eine åhnliche Relevanz            Abbildung 1: Territoriale und deterritoriale Verge-
der Beschåftigung mit transkultureller Kom-              meinschaftungen
munikation wird deutlich, wenn man sich das
Beispiel der Diasporagemeinschaften nåher
anschaut: Geht man von den Daten der ¹In-                                                                            Translokale
ternational Organization for Migrationª aus,                                                                     Vergemeinschaftung
so ist jede 35. Person auf der Welt ein Migrant
oder eine Migrantin. Ungefåhr 192 Millionen                                                  territorialisiert                                         deterritorialisiert
Menschen leben jenseits ihres Geburtslands                                                        Region
                                                                                                                                                           Diasporas
(sind also Migranten 1. Generation), wobei                                           ethnische/thematische/politische/
                                                                                                                                                        ethnische Aspekte

                                                                                                                          deterritoriale kulturelle
                                                                                             religiöse Aspekte
                                                           territoriale kulturelle

sich die weltweiten Migrationszahlen seit den
                                                                Verdichtung

                                                                                                                               Verdichtung
1960er Jahren um ca. 2,9 Prozent pro Jahr                                                         Nation
                                                                                     ethnische/thematische/politische/
                                                                                                                                                        Populärkulturelle
                                                                                                                                                         Gemeinschaften
steigern. 6 Auch hier rçckt die Frage in den                                                 religiöse Aspekte                                         thematische Aspekte

Vordergrund, welchen Beitrag Medienkom-                                                       Nationenbund
                                                                                                                                                       Soziale Bewegungen
munikation fçr den kulturellen Zusammen-                                             ethnische/thematische/politische/
                                                                                             religiöse Aspekte
                                                                                                                                                        politische Aspekte
halt von Diasporagemeinschaften, aber auch
fçr deren Einbezug in die aufnehmenden                                                                                                                       Religiöse
                                                                                                                                                      Vergemeinschaftungen
Lånder leisten kann. Fragen transkultureller                                                                                                             religiöse Aspekte
Kommunikation sind damit kein Randphåno-
men, sondern betreffen die zentralen Heraus-             Quelle: Eigene Darstellung.
forderungen der Gegenwart. Und bei solchen
Problemlagen ist der Gebrauch digitaler Me-
dien fest mit dem traditioneller Medien ver-             Abbildung 1 verdeutlich, dass zwar auch in Zeiten der
woben.                                                   Globalisierung von Medienkommunikation die Nati-
                                                         on eine entscheidende Bezugsgræûe bleibt. Das be-
  Doch wie will man solche komplexen Zu-                 trifft insbesondere den Bereich der politischen Kom-
sammenhånge systematisch betrachten? Eine                munikation, in dem territoriale Nationalstaaten ein
Mæglichkeit ist, bei den Vergemeinschaftun-              nach wie vor zentraler Referenzpunkt fçr politische
gen als dauerhafte soziale Beziehungen selbst            Entscheidung sind. Daneben haben aber auch andere
anzusetzen ± Nationalgemeinschaften, Mi-                 Formen der translokalen Vergemeinschaftung an Rele-
grationsgemeinschaften etc. ±, denen wir uns             vanz gewonnen. Hierunter finden sich auch die be-
zugehærig fçhlen. Durch Medien ist es allge-             reits angefçhrten Beispiele, nåmlich zum einen die
mein einfacher geworden, solche Vergemein-               EU als Nationenbund und der ihr entsprechende
                                                         Kommunikationsraum, zum anderen die Migrations-
 5 Vgl. Jçrgen Gerhards, Europåisierung von Úko-         gemeinschaften der Diaspora: Gruppen, die trotz
nomie und Politik und die Trågheit der Entstehung ei-    ihrer Verstreuung çber verschiedene Territorien eine
ner europåischen Úffentlichkeit, in: Maurizio Bach       (nicht selten medial vermittelte) gemeinsame ethni-
(Hrsg.), Die Europåisierung nationaler Gesellschaften,
                                                         sche Identitåt wahren. Um einen tieferen Einblick in
Opladen 2000, S. 277 ±305.
 6 Vgl. fçr diese und weitere Informationen zu Migra-    Fragen der transkulturellen Kommunikation zu erhal-
tion      http://www.iom.int/jahia/Jahia/lang/en/pid/3   ten, sollen im Weiteren beide Beispiele nåher betrach-
(30. 5. 2008).                                           tet werden.

                                                                                                                                             APuZ 39/2008                   11
Transkulturelle Groûregion:                                     gionen? Will man diese Frage beantworten,
                                                                so wird es notwendig, einzelne Groûregionen
Europåische Úffentlichkeit als Beispiel                         im Detail anzuschauen. Dies mæchte ich im
                                                                Weiteren in Bezug auf den Kommunikations-
        Kontextualisiert man das Beispiel Europas               raum Europa tun und dies weiter konkretisie-
        weiter im Hinblick auf Fragen der Globalisie-           ren, nåmlich im Hinblick auf die æffentliche
        rung von Medienkommunikation, so wird ±                 europåische politische Kommunikation ±
        jenseits aller bestehenden Besonderheiten Eu-           kurz: im Hinblick auf die Etablierung einer
        ropas ± ein Muster deutlich: Mit der Globa-             transnationalen europåischen Úffentlichkeit.
        lisierung geht weniger die Etablierung einer            Die Ergebnisse der empirische Forschung,
        ,Weltkommunikation` oder ,Weltæffentlich-               auf die ich mich dabei stçtze, werden im Rah-
        keit` einher, wie es manche Theoretiker                 men des Forschungsprojekts ¹Die Transna-
        vermuten, 7 sondern vielmehr die Etab-                  tionalisierung von Úffentlichkeit am Beispiel
        lierung groûregionaler Kommunikations-                  der EUª erhoben, das Teil des Bremer Son-
        råume. Immer wieder genannte Beispiele fçr              derforschungsbereichs ¹Staatlichkeit im Wan-
        solche groûregionalen Kommunikationsråume               delª ist. 11
        sind Lateinamerika, der Raum von Nordame-
        rika und Australien, der chinesische Groû-                 Insgesamt weisen unsere Forschungsergeb-
        raum sowie ± wie ich hier argumentieren                 nisse auf den widersprçchlichen Befund einer
        mæchte ± der ¹Kommunikationsraum Euro-                  segmentierten europåischen Úffentlichkeit
        paª. 8 Fçr solche transkulturellen Groûråume            hin. Konkret wird diese in einer standardi-
        wurden verschiedene Namen geprågt, ange-                sierten inhaltsanalytischen Auswertung der
        fangen von ± bei einer Betonung auf Sprache ±           Meinungsbeitråge (Leitartikel, Kommentare,
        ¹geolinguistischen Regionenª 9 bis hin zu ± in          Kolumnen, Gastbeitråge, Interviews und son-
        Kritik eines solchen Sprachfokus' und mit               stige Beitråge mit meinungsbezogenem In-
        einer ækonomischen Betonung ± ¹geokulturel-             halt) fçhrender Qualitåtszeitungen aus den
        len Mårktenª. 10 Ûber Einzeldifferenzen hin-            Låndern Deutschland (FAZ), Groûbritannien
        weg kann man als konstitutives Element sol-             (The Times), Frankreich (Le Monde), Úster-
        cher transkulturellen Groûregionen festhalten,          reich (Die Presse) und Dånemark (Politiken).
        dass bei ihnen die innere kommunikative Ver-            Die Inhaltsanalyse umfasst den Zeitraum von
        netzung mittels verschiedener Medien dichter            1982 bis 2003, wobei in Siebenjahresinterval-
        ist, wie auch die innere kulturelle Nåhe græûer         len je zwei kçnstliche Wochen der Berichter-
        ist als die jeweils auûerhalb vorfindbare. Trans-       stattung ausgewertet wurden. Die Kodierung
        kulturelle Groûregionen bleiben also intern             erfolgte im Hinblick auf (a) die Thematisie-
        kulturell gebrochen (beispielsweise durch Na-           rung nationaler, europåischer und darçber
        tionen), grenzen sich jedoch gleichwohl extern          hinausgehender inter-/supranationaler Insti-
        gegençber anderen Regionen ab.                          tutionen bzw. die Aufmerksamkeit, die diese
                                                                genieûen; (b) die wechselseitige Beobachtung
         Doch wie konkretisiert sich transkulturelle            der Untersuchungslånder; (c) die Herkunft
        Kommunikation innerhalb solcher Groûre-                 der Sprecher sowie (d) die Wir-Bezçge als In-
                                                                dikatoren von geteilter kollektiver Identitåt.
         7 Vgl. beispielsweise Norbert Bolz, Weltkommunika-

        tion, Mçnchen 2001; Miriam Meckel, Kommunikative
        Identitåt und Weltæffentlichkeit, in: Publizistik, 43
        (1998), S. 362±375. Anmerkung der Redaktion: Siehe       11 An dem Projekt sind ± neben mir ± folgende Perso-

        auch den Beitrag von M. Meckel in dieser Ausgabe.       nen beteiligt: Michael Brçggemann, Katharina Klei-
         8 Vgl. Hans J. Kleinsteuber/Thorsten Rossmann          nen-von Kænigslæw, Swantje Lingenberg, Johanna
        (Hrsg.), Europa als Kommunikationsraum. Akteure,        Mæller und Hartmut Wessler. Zu den im Weiteren
        Strukturen und Konfliktpotenziale in der europåischen   umrissenen Forschungsergebnissen vgl. Michael Brçg-
        Medienpolitik. Unter Mitarbeit von Arnold C. Kul-       gemann/Stefanie Sifft/Katharina Kleinen von Kænigs-
        batzki und Barbara Thomaû, Opladen 1994; und die        læw/Bernhard Peters/Andreas Wimmel, Segmentierte
        Beitråge in Lutz Erbring (Hrsg.), Kommunikations-       Europåisierung. Trends und Muster der Trans-
        raum Europa, Konstanz 1995.                             nationalisierung von Úffentlichkeiten in Europa, in: B.
         9 Vgl. John Sinclair/Elizabeth Jacka/Stuart Cunning-   Peters (Hrsg.), Der Sinn von Úffentichkeit. Frankfurt/
        ham, Peripheral Vision, in: dies. (Hrsg.), News Pat-    M. 2007, S. 298 ±321, sowie Hartmut Wessler/Bern-
        terns in Global Television, Oxford 1996, S. 1 ±32.      hard Peters/Michael Brçggemann/Katharina Kleinen
         10 David Hesmondhalgh, The Cultural Industries,        von Kænigslæw/Stefanie Sifft, Transnationalization of
        London ± Thousand Oaks ± New Delhi 2002, S. 180 f.      Public Spheres, Basingstoke 2008.

   12    APuZ 39/2008
Abbildung 2: Segmentierte europåische Úffentlich-              der Segmentierung europåischer Úffentlich-
keit                                                           keit hergeleitet: Wåhrend der ¹Blick nach
                                                               Brçsselª zunimmt, stagniert der ,Austausch
                                                               untereinander`.
                               Br
                               Brüssel beobachten
                                                                  3. Mit Europa identifizieren: Eine Analyse
                                                               der Repråsentation von Identitåt in der Mei-
                                         Grenzüberschreitend   nungspresse mittels standardisierter inhalts-
                                              diskutieren
                                                               analytischer Verfahren ist methodisch nicht
                                                               unproblematisch. Eine mægliche Operationa-
                                                               lisierung besteht in der Auswertung von Wir-
                               Mit Europa identifizieren       Bezçgen im Hinblick einerseits auf die eigene
                                                               Nation, andererseits auf Europa, das heiût die
   1980                                          heute         Selbstpositionierung der Sprecher entweder
                                                               als Angehærige einer Nation oder als Europå-
Quelle: Eigene Darstellung.                                    er. Hier lassen sich im Untersuchungszeit-
                                                               raum geringfçgige Verånderungen einer leich-
Im Kern fasst die Formulierung ¹segmentierte europå-           ten Abnahme nationaler Wir-Bezçge (von ca.
ische Úffentlichkeitª den Befund, dass sich zwar eine          43 auf 37 Prozent) bei einer gleichzeitigen
transnationale europåische Úffentlichkeit konstituiert,        leichten Zunahme europåischer Wir-Bezçge
diese aber gleichwohl çber die hæheren kommunikativen          (von unter einem auf ca. 5 Prozent) ausma-
Verdichtungen nationaler Úffentlichkeiten stark seg-           chen. Die Tendenz der Entwicklung einer
mentiert bleibt. Die Befunde im Einzelnen werden im            europåischen Identitåt ist ± zumindest im
Folgenden in Stichpunkten formuliert (Abbildung 2):            Hinblick auf die Wir-Bezçge in der unter-
                                                               suchten Meinungsberichterstattung ± also nur
   1. Brçssel beobachten: Fçr den Untersuchungszeit-           gering ausgeprågt.
raum låsst sich zeigen, dass sich die æffentliche Auf-
merksamkeit fçr EU-Politik çber alle Untersuchungs-               Der bereits angefçhrten fortschreitenden
lånder hinweg von 2 auf 9 Prozent der meinungshalti-           Europåisierung von Wirtschaft und Politik
gen Artikel verdreifacht hat. Gleichzeitig bleibt der          geht folglich nicht in gleichem Maûe mit der
Fokus auf nationale Politik bei rund 35 Prozent kon-           Entstehung einer transnationalen europåi-
stant, der Fokus auf weitergehende internationale Poli-        schen Úffentlichkeit einher. Um das in der
tik sinkt leicht von 15 auf gut 10 Prozent. Wenn man           Segmentierung europåischer Úffentlichkeit
weitere Befunde wie die steigende Thematisierung von           aufscheinende Beharrungsvermægen nationa-
EU-Politiken als Nebenthema einbezieht, so låsst sich          ler Úffentlichkeiten im Bereich politischer
argumentieren, dass sich durch einen ,geteilten Blick`         Kommunikation zu erklåren, wird in der For-
nach Brçssel eine transnationale Úffentlichkeit konsti-        schung auf soziokulturelle Differenz verwie-
tuiert. Im Vergleich dazu fållt allerdings auch auf, dass      sen, oder wie es Bernhard Peters formuliert:
der nationale Selbstbezug einen deutlich hæheren und           ¹Úffentlichkeiten haben einen sozialen und
auch konstanten Stellenwert hat. Die Transnationali-           kulturellen Unterbau, der nicht allein aus Me-
sierung von Úffentlichkeit fçhrt also nicht zu einem           dienmårkten und Medienorganisationen be-
¹Abbauª nationaler Úffentlichkeit.                             steht.ª 12 Die unterschiedlichen nationalen
                                                               politischen Diskurskulturen innerhalb Euro-
  2. Grenzçberschreitend diskutieren: Ein anderer Be-          pas scheinen also zentral fçr die Erklårung
fund ergibt sich, wenn man in den Vordergrund rçckt,           der Segmentierung europåischer Úffentlich-
wie sich die wechselseitige Beobachtung der nationalen         keit zu sein. Gleichzeitig lassen sich umge-
Úffentlichkeiten in den verschiedenen Zeitungen arti-          kehrt Ansåtze der Etablierung einer europå-
kuliert. Hier zeigt sich in der Inhaltsanalyse, dass bis       ischen politischen Diskurskultur ausmachen.
2003 keine Zunahme der Diskussion çber andere euro-            Doch was kennzeichnet die verschiedenen
påische Lånder in den meinungshaltigen Artikeln zu             nationalen politischen Diskurskulturen? Und
verzeichnen war (ca. 20 Prozent gegençber ca. 50 Pro-          im Hinblick auf welche Aspekte entwickelt
zent Berichterstattung çber das eigene Land). Øhnliche         sich eine europåische politische Diskurskul-
Aussagen (auch im Hinblick auf Prozentanteile) kæn-            tur? Diese Fragen untersuchen wir aktuell
nen fçr den Bezug auf Meinungen und Positionen von
Sprechern aus anderen europåischen Staaten gemacht             12 Bernhard Peters, Der Sinn von Úffentlichkeit.

werden. Letztlich ist çber diesen Befund das Konzept           Frankfurt /M. 2007, S. 363.

                                                                                                APuZ 39/2008      13
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