Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
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Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP www.psychologie.ch 5/2021 Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10–27 Städte aufblühen lassen Die gesundheitlichen Ressourcen im urbanen Raum Gesundheitsförderung Ein Psychologe bringt die wichtigen Akteure zusammen
ABOVARIANTEN Entdecken Sie die Abonnement des Psychoscope (6 Ex./Jahr) Print-Ausgabe: CHF 90.– (Ausland: CHF 100.-, Welt der Psychologie Studierende mit Studium-Legitimation: CHF 30.-) Digital-Ausgabe: CHF 55.– (Studierende mit Studium-Legitimation: kostenlos) Das Psychoscope wird von der Föderation der Schnupperabo Schweizer Psychologinnen und Psychologen Zwei Print-Ausgaben für CHF 25.– (FSP) herausgegeben. Das Heft erscheint sechsmal jährlich in einer deutschen und fran- zösischen Ausgabe und richtet sich an ein BESTELL SERVICE breites, an Psychologie interessiertes Publikum. Haben Sie Interesse? Dann bestellen Sie jetzt per E-Mail unter Angabe Ihrer Adresse Ihre gewünschte Abovariante: abonnemente@staempfli.com
Psychoscope 5/2021 EDITORIAL Eltern werden in der Pandemie Wenn Paare Eltern werden, stellen die damit ein- hergehenden Veränderungen auch in ruhigeren Zeiten eine Herausforderung dar. Der Übergang zur Elternschaft stellt die Paarbeziehung auf eine Probe: Sie wird um die Dimension der gemeinsa- men Elternbeziehung erweitert. Es gilt, eine «emoti- Joël Frei onale Übereinkunft» zu finden, also das Gefühl, ein Redaktor redaktion@fsp.psychologie.ch Team zu bilden und aus der Familienorganisation @FSP_psychoscope Zufriedenheit zu ziehen. Die Frage stellt sich aktu- ell, in welchem Ausmass die Corona-Krise diesen Entwicklungsschritt und die Familienplanung der Paare beeinflusst. Werden wir einen Baby-Boom oder eine Baby-Flaute erleben? In Krisenzeiten geht die Ge- burtenrate in der Regel zurück. Gründe dafür sind insbesondere wirtschaftliche und soziale Unsi- cherheit sowie Zukunftsängste. Die stärker von der Krise betroffenen Länder Italien, Spanien, Portugal, Frankreich und die USA verzeichneten im vergange- nen Dezember und Januar historisch niedrige Ge- burtenzahlen. Doch in der Schweiz scheinen Paare wieder Vertrauen in die Zukunft zu fassen. Sie ent- schliessen sich dazu, ein Kind zu bekommen. In den letzten Monaten meldeten drei von sieben grossen Schweizer Spitälern einen kleinen Babyboom, wie eine Umfrage des Blick zeigte. Damit neue Eltern in dieser herausfordern- den Zeit gesund und glücklich bleiben, sollten sie gezielt in die Schutzfaktoren investieren. Die wich- tigsten sind eine gute soziale Einbettung und eine tragende Partnerschaft. Welche Rolle spielen Psy- chologen und Psychotherapeutinnen dabei? In der vorliegenden Psychoscope-Ausgabe lesen Sie unter anderem, wie sich die Begleitung von werdenden Müttern, Vätern und Eltern gestaltet. 3
Psychoscope 5/2021 MENÜ 10 14 22 18 GESELLSCHAFT PSYCHOLO GIE ALS WISSENSCHAFT 10 Aus zwei werden drei oder vier ... Sich anders verwirklichen Trotz dem gesellschaftlichen Wenn Paare Eltern werden, bringt Druck, Kinder zu bekom- men, entscheiden sich einige das grosse Veränderungen mit sich. Frauen gegen Kinder. 14 22 AU R É L I E FA E S C H-D E S P O N T Gemeinsam Eltern sein Werdende Väter «Ich möchte Wenn ein Kind kommt, geht es darum, die Arbeit aufzu- Der Übergang zur Vater- schaft ist für Männer eine ganz einfach teilen und eine emotionale gute Gelegenheit, neue Übereinkunft zu finden. Fähigkeiten zu erwerben. keine Kinder.» N I CO L A S FAV E Z GILLES CRETTENAND 18 25 Eltern werden, Paar bleiben Risikofaktoren kennen Die Paarqualität nimmt bei Eine von fünf Frauen er- neuen Eltern meist ab. Was krankt psychisch in Schwan- können sie dagegen tun? gerschaft und Stillzeit. FA B I E N N E M E I E R K AT H R I N D EG E N 4
Psychoscope 5/2021 MENÜ 42 RUBRIKEN 6 Forschung 28 Dekodiert Was man gerne macht, macht man gut 29 Aktuell 30 Pro & Kontra Achtsamkeitmeditation: Werden die Nebenwirkungen unterschätzt? 31 Kolumne Offenheit: Eine (Un-)Tugend 32 Aktuelles aus der FSP 45 Rezensionen 46 Cartoon 46 Impressum 47 Agenda 48 Inserate 55 Gliedverbände PSYCHOLO GIE ALS BERUF AKTUELLES AUS DER FSP 38 34 Aufblühende Städte Verbandsgerichtsbarkeit Die Ideen eines Geografie- Jacqueline Frossard ist FSP-Vor- professors zum städtischen standsmitglied. Im Interview Raum als Stressfaktor und nimmt sie Stellung zur Reform, psychische Ressource. die sie vorangetrieben hat. AU R É L I E D E S C H E N AUX JOËL FREI 42 Gesundheitsförderung Alfred Künzler fördert die psychische Gesundheit durch Projekte auf Bundesebene. JOËL FREI 5
FORSCHUNG planen, Kinder zu bekommen), sowie politischen Einstellung: kinderfreie kinderlose Personen, die aufgrund von Personen stellten sich als liberaler den- Unfruchtbarkeit oder ihren Lebens- kend heraus als Eltern. Zudem zeigten umständen keine Kinder bekommen diejenigen Personen, die nicht kinder- konnten. In früheren Studien seien frei sind, wesentlich weniger Sympa- alle Nicht-Eltern in eine Kategorie thie für kinderfreie Menschen. geworfen worden, um sie mit Eltern zu Am meisten überrascht hat die vergleichen. Forschenden aber, wie viele kinderfreie KINDERFREIHEIT Um die Gruppe der kinderfreien Menschen es gibt. Mehr als eine von Personen zu ermitteln, verwendeten vier Personen in Michigan bezeichnet Ein Viertel will die Forschenden Daten aus einer sich als kinderfrei. Dieser Anteil sei keine Kinder repräsentativen Stichprobe von 981 Erwachsenen aus dem US-Bundesstaat viel höher als der in früheren Studien eruierte Wert. Jene Studien, die einen Und ist trotzdem Michigan. Die Teilnehmenden füllten Anteil von 2 bis 9 Prozent schätzten, zufrieden mehrere Skalen aus, die sich unter anderem auf ihre Lebenszufriedenheit stützten sich auf die Fruchtbarkeit, um kinderfreie Personen zu identifizieren. und ihre Persönlichkeitsmerkmale Die Forschenden konnten dank verbes- Nicht für alle ist die Elternschaft eine bezogen. Anschliessend bewerteten serter Messmethode diejenigen Perso- der grössten Freuden im Leben. Es gibt sie auf einer Skala von 0 bis 100, was nen, die sich als kinderfrei bezeichnen, Menschen, die sich dazu entscheiden, sie gegenüber Frauen und Männern besser erfassen. keine Kinder zu bekommen. Bislang empfinden, die keine biologischen wusste man wenig über diese Grup- oder adoptierten Kinder haben wollen. Watling Neal, J., & Neal, Z. (2021). Prevalen- ce and characteristics of childfree adults in pe, die als «childfree» («kinderfrei») Schliesslich erfassten die Forschen- Michigan (USA). Plos One. doi: 10.1371/jour- bezeichnet wird. den auch ihre demografischen Daten, nal.pone.0252528 Nun haben Forschende um die darunter Informationen zu Ethnie, US-Psychologieprofessorin Jennifer Geschlecht, Bildung, Alter, politischer Watling Neal in einer Studie unter- Einstellung und Beziehungsstatus. sucht, welche Eigenschaften kinder- Nachdem die Forschenden ihre NEUROWISSENSCHAFTEN freie Erwachsene aufweisen und wie Ergebnisse auf diese demografischen zufrieden sie sind. «Die meisten Studi- Merkmale kontrolliert hatten, fanden Wie das Gehirn die en haben nicht die Fragen gestellt, die notwendig sind, um kinderfreie Perso- sie keine Unterschiede in der Lebens- zufriedenheit und nur geringe Unter- Angst reguliert nen von anderen Arten von Nicht-El- schiede in den Persönlichkeitsmerk- Amygdala spielt tern zu unterscheiden», schreibt die Forscherin. Gemäss der Sozialpsycho- malen zwischen kinderfreien Personen und Eltern, Noch-nicht-Eltern oder zentrale Rolle login können zu den «Nicht-Eltern» kinderlosen Personen. Allerdings fan- auch «Noch-nicht-Eltern» gehören (die den sie Unterschiede bezüglich ihrer Angst ist ein wichtiges Signal, das uns vor Gefahren warnt. Wenn sie aber ausufert, kann dies bei den Betroffenen zu anhaltenden Angstzuständen und schweren psychischen Erkrankungen führen. Bestehende Therapien sind oftmals unspezifisch und wirken nicht immer. Bislang fehlt das Wissen darü- ber, welche neurobiologischen Abläufe bei Angstzuständen spielen. Bisher bekannt ist, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn Furchtreaktio- nen regulieren, indem sie diese blockie- ren und wieder deblockieren können. Dabei sind verschiedene Schaltkreise von Nervenzellen involviert. Zwischen diesen findet eine Art «Tauziehen» statt, wobei je nach Kontext jeweils einer von beiden «gewinnt» und den anderen übersteuert. Ist dieses System Die Forschenden fanden keine Unterschiede in der Lebenszufriedenheit zwischen gestört, etwa wenn Furchtreaktionen kinderfreien Personen und Eltern, Noch-nicht-Eltern oder kinderlosen Personen. nicht mehr blockiert werden, führt dies 6
Psychoscope 5/2021 FORSCHUNG MUSIK Resilient durch die Corona-Krise Musik als Bewäl tigungsstrategie Welche Bewältigungsstrategien wenden die Menschen an, um in der Corona- Krise psychisch gesund zu bleiben? Eine internationale Studie um die Neurowissenschaftlerin Lauren Fink vom deutschen Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik zeigt, dass Menschen in der Musik ein wirksames Mittel haben, um emotionalen und sozialen Stress zu verarbeiten. Auf der einen Seite sind die Per- sonen mit pandemiebedingt stärkeren negativen Emotionen. Sie hören Musik, um Depressionen, Angst und Stress zu regulieren. Auf der anderen Seite Die Forschenden erhoffen sich, dass das bessere Verständnis des entdeckten Hirnmechanismus nutzen Menschen mit einer vorwie- dazu beitragen wird, spezifischere Therapien für Angst- und Traumastörungen zu entwickeln. gend positiven Grundstimmung Musik vor allem dafür, um fehlende soziale Interaktionen zu kompensieren. Ihnen unter anderem zu Angststörungen. Mäuse trotz vorheriger Angst wieder. vermittelt Musik sowohl beim Zuhören Neuere Studien konnten zeigen, dass Gemäss den Forschenden zeigt dies, als auch beim Musizieren ein Gefühl bestimmte Gruppen von Nervenzellen dass die identifizierten Nervenzellen der Zugehörigkeit und Gemeinschaft. in der Amygdala für diese Schaltkreise sehr anpassungsfähig und essenziell Das Musizieren dient darüber hinaus und damit die Regulierung von Angst für die Hemmung von Angst sind. als Mittel zur Selbstreflexion. entscheidend sind. Die Amygdala Beim Menschen könnte eine Im Rahmen der Studie erhoben ist eine kleine mandelförmige Hirn Dysfunktion dieses Systems – ein- die Forschenden während des ersten struktur im Zentrum des Gehirns, die schliesslich einer mangelhaften Plas- Lockdowns von April bis Mai 2020 in Informationen über furchterregende tizität in den untersuchten zentralen sechs Ländern auf drei Kontinenten Reize empfängt und an andere Gehirn- Amygdala-Zellgruppen – zur gestörten regionen wie etwa das motorische Zen- Blockierung von Angst-Erinnerungen trum weiterleitet. Dadurch werden im beitragen. Unter dieser Fehlfunktion Körper unter anderem Stresshormone leiden Patientinnen und Patienten mit freigesetzt, die Herzfrequenz verändert Angst- und Trauma-Störungen. oder Kampf-, Flucht- oder Erstarrungs- Die Forschenden erhoffen sich, reaktionen ausgelöst. dass das bessere Verständnis dieses Nun haben Forschende um den Hirnmechanismus dazu beitragen Neurowissenschaftler Stéphane Cioc- wird, spezifischere Therapien für die chi von der Universität Bern entdeckt, Betroffenen zu entwickeln. Es seien dass die Amygdala nicht nur eine zent- jedoch weitere Studien notwendig, um rale «Drehscheibe» in diesen Abläufen zu untersuchen, ob die in einfachen ist, sondern selber Mikro-Schaltkreise Tiermodellen gewonnenen Erkennt- enthält, welche die Blockierung von nisse auf menschliche Angststörungen Furchtreaktionen regulieren. übertragen werden können. Die Forschenden unterdrückten diese neuronalen Mikro-Schaltkreise Whittle, N., Fadok, J., Macpherson, K., Nguyen, R., Botta, P., Wolff, S., Müller, C., bei Mäusen, was zu einem lang anhal- Herry, C., Tovote, P., Holmes, A., Singewald, tenden ängstlichen Verhalten der Tiere N., Lüthi, A., & Ciocchi, S. (2021). Central amygdala micro-circuits mediate fear extin- führte. Wurden sie jedoch aktiviert, ction. Nature Communications. doi: 10.1038/ Manche hören Musik, um Depressionen, normalisierte sich das Verhalten der s41467-021-24068-x Angst und Stress zu regulieren. 7
Psychoscope 5/2021 FORSCHUNG demografisch repräsentative Stichpro- nicht besonders Extravertierte «extra- tiertes Verhalten zur Folge? Weitere ben. Über 5000 Personen beantwor- vertiert verhalten» – allerdings kann Forschung zu Extraversion könnte die teten in einer Online-Umfrage, wie diese Übung für sehr introvertierte Richtung dieser Beziehung klären. sie Musik während der Corona-Krise Menschen anstrengend sein und mit nutzten. Mehr als die Hälfte der Be- negativen Gefühlen einhergehen. Kuijpers, E., Pickett, J., Wille, B., & Hof mans, J. (2021). Do you feel better when you fragten gab an, Musik zur Bewältigung In einer aktuellen Studie um die behave more extraverted than you are? The emotionaler und sozialer Stressfakto- belgische Arbeitspsychologin Evy relationship between cumulative counterdis- positional extraversion and positive feelings. ren zu verwenden. Kuijpers wurde genauer untersucht, Personality and Social Psychology Bulletin. Eine besondere Bedeutung kommt was passiert, wenn Personen von ihrem doi: 10.1177/01461672211015062 dem neu entwickelten Genre der «Co- «Grundniveau der Extraversion» ab- rona-Musik» zu – also neu komponier- weichen. Für die Studie wurde erst die ten Stücken über die Pandemie oder bereits existierenden Songs, deren Tex- CORONA-KRISE te überarbeitet wurden. Das Interesse an diesem Genre spielte eine massgeb- Kein Anstieg des liche Rolle dabei, ob eine Person Musik als hilfreich empfand: Je grösser das Suizidrisikos Interesse, desto mehr wurde die Person in den reicheren bei der Krisenbewältigung unterstützt. Gemäss den Forschenden unter- Ländern der Welt streiche diese Erkenntnis die Bedeu- tung kreativer Echtzeitreaktionen Viele Menschen leiden unter psychi- in Krisenzeiten. Mit Corona-Musik schen Erkrankungen aufgrund der reagierten die Menschen kollektiv auf Corona-Krise. Nun wurde erstmals die gesellschaftlichen Herausforde- eine internationale Studie über einen rungen und stärkten damit die Wider- möglichen Zusammenhang zwischen standsfähigkeit des Einzelnen und der der Pandemie und Suizidraten ver- Gemeinschaft. Überdurchschnittliches extravertiertes Verhal- öffentlicht. Eine Forschungsgruppe ten geht mit mehr positiven Gefühlen einher. um die australische Professorin Jane Fink, L., Warrenburg, L., Howlin, C., Randall, Pirkis wollte herausfinden, ob es in der W., Hansen, N., & Wald-Fuhrmann, M. (2021). Viral tunes: Changes in musical behavi- frühen Phase der Pandemie, zwischen ours and interest in coronamusic predict Eigenschaft Extraversion bei den 92 dem 1. April 2020 und dem 31. Juli socio-emotional coping during Covid-19 lockdown. Humanities and Social Sciences Testpersonen gemessen. In den folgen- 2020, mehr Suizide gab. Dazu führten Communications. doi: 10.1057/s41599-021- den vier Wochen wurden sie gebeten, die Forschenden im Herbst 2020 eine 00858-y fünfmal täglich Fragen zu Extraversi- systematische Internetrecherche bei on als Zustand (also mit Extraversion Gesundheitsministerien, Polizeibehör- zusammenhängende Gefühle und den und staatlichen Statistikämtern Verhaltensweisen wie gesprächig oder durch und griffen auf ihre Netzwerke PERSÖNLICHKEIT energiegeladen sein) sowie zu ihren und die veröffentlichte Literatur zu- positiven Gefühlen auszufüllen. rück. Die Forschenden konnten Daten Sich extraver Die Studie zeigte, dass ein über- aus 21 Ländern (16 Länder mit hohen tierter verhalten durchschnittliches Mass an extraver- tiertem Verhalten mit mehr positiven und fünf Länder mit mittleren bis ho- hen Einkommen) zusammentragen. und mehr positive Gefühlen einhergeht – selbst bei Men- In keinem der untersuchten Gefühle erleben schen, die eigentlich nicht extravertiert sind. Die Testpersonen aber, die sich Länder konnten die Forschenden einen signifikanten Anstieg des Suizidrisikos introvertierter als gewöhnlich verhiel- seit Beginn der Pandemie feststellen. Die Forschung hat viele Vorteile der ten, erlebten weniger positive Gefühle. Sie schreiben aber, man müsse wach- Extraversion aufgezeigt. Eine Studie Dies deutet darauf hin, dass extraver- sam und reaktionsbereit bleiben. Es sei des US-Arbeitspsychologen Michael tiertes Verhalten das Wohlbefinden davon auszugehen, dass die Pandemie Wilmot aus dem Jahr 2019 etwa zeigte, steigern kann. längerfristige Auswirkungen auf die dass Extravertierte motivierter sind, Die Forschenden räumen aller- Wirtschaft und die psychische Gesund- mehr positive Emotionen empfinden, dings ein, dass ihre Studie nicht die heit der Menschen haben werde. härter arbeiten und weniger negative Richtung der Kausalität zwischen Pirkis, J. et. al. (2021). Suicide trends in the Erfahrungen am Arbeitsplatz machen. Extraversion und positiven Gefühlen early months of the COVID-19 pandemic: An Weitere Studien zeigten, dass die aufzeigen kann. Verstärkt extravertier- interrupted time-series analysis of prelimi- nary data from 21 countries. Lancet Psychia- Vorteile einer natürlichen Extraversi- tes Verhalten positive Gefühle? Oder try. doi: 10.1016/S2215-0366(21)00091-2 on erlangt werden können, wenn sich haben solche Gefühle mehr extraver- 8
Psychoscope 5/2021 FORSCHUNG HIER ERFORSCHT Unbewusst Erleb- tes bleibt haften Ziel: Unsere Erlebnisse werden automatisch im sogenannten episodi schen Gedächtnis abgespeichert, ein Gedächtnissystem, das auf der Hirn struktur Hippocampus beruht. Bisher ging man davon aus, dass nur bewusst Erlebtes dort haften bleibt und auch das Verhalten beeinflusst. Forschen de um die Psychologieprofessorin Katharina Henke von der Universität Bern wollten herausfinden, ob auch unbewusst Erlebtes im episodischen Gedächtnis gespeichert und verhal tenswirksam wird. Methode: 320 Testpersonen wurden ein, drei oder neun komplexe und für das Bewusstsein unsichtbare Filme hintereinander präsentiert und später das Erinnerungsvermögen getestet. Die filmischen Szenen wurden nicht nur bewusst, sondern auch unbe wusst registriert und im episodischen Gedächtnis langzeitgespeichert. Jedes Wie hält man Jugendliche vom Filmbild wurde für nur 17 Millisekun den eingeblitzt. Vor und nach einem Rauchen ab? Jedenfalls nicht, Filmbild wurden Schwarz-weiss-Pixel- Bilder (sogenannte Masken) darge indem man die Abgabe von boten, die das Gehirn am Weiterver Zigaretten an Minderjährige arbeiten der eingeblitzten Filmbilder hinderten. So konnten die filmischen verbietet. Dies zeigte eine Handlungen lediglich unbewusst registriert werden. Studie der Universitäten Basel Ergebnisse: Gemäss den Forschenden können wir viele komplexe Sachver und Lausanne. Die Forschenden halte unbewusst in unserem episodi nutzten die unterschiedlichen schen Gedächtnis langzeitspeichern, ohne etwas zu vergessen. Dies sei Einführungszeitpunkte der beim bewussten Lernen im episodi schen Gedächtnis noch nie beobach Abgabeverbote in den Kantonen tet worden: Was man bewusst gelernt hat, vergisst man zumindest teilweise der Schweiz für Vorher-nachher- wieder. Diese Ergebnisse seien von er Vergleiche. Sie gehen davon heblicher theoretischer und klinischer Bedeutung, etwa bei der Begleitung aus, dass die Jugendlichen ihre von Menschen mit Amnesie- oder Demenzerkrankungen. Zigaretten über Kolleginnen und Schneider, E. , Züst, A., Wuethrich, S., Kollegen beziehen. Schmidig, F., Klöppel, S., Wiest, R., Ruch, S., & Henke, K. (2021). Larger capacity for unconscious versus conscious episodic memory. Current Biology. doi: 10.1016/j. Meier, A., Odermatt, R., & Stutzer, A. (2021). Tobacco sales prohibition and teen smoking. cub.2021.06.012 Journal of Economic Behaviour & Organization. doi: 10.1016/j.jebo.2021.06.002 9
GESELLSCHAFT ELTERN WERDEN Kinder? Nein, Danke! Mutter zu werden ist die Regel. Doch es gibt Frauen, die sich dem gesellschaftlichen Druck entziehen In der Schweiz hat jede dritte Frau gruppen fordern lautstark Legitimität für Frauen ohne kein Kind. Frauen haben die Mög- Kinderwunsch, und einige greifen Frauen, die sich für lichkeit, sich auf andere Weise zu Kinder entschieden haben, manchmal sogar an. Diese starken Reaktionen lassen sich zum Teil dem sozialen verwirklichen als in der Mutterrolle. Druck zuschreiben, dem zahlreiche Frauen ohne Kin- Doch diese Lebensweise wird von vie- derwunsch ausgesetzt sind. len noch heute kritisch beurteilt. Sich den Erwartungen entziehen AURÉLIE FAESCH-DESPONT «Und du, wann bekommst du ein Kind?» Dies bekom- «Ich mag Kinder. Aber nur die der anderen» oder «Ich men Frauen unter anderem in der Familie, von Freun- möchte ganz einfach keine Kinder» oder auch «Mich den und in ihrem Arbeitsumfeld zu hören. Fast allen um Kinder zu kümmern, interessiert mich wirklich Frauen, die noch nicht Mutter sind, wird ab dem 30. nicht». So oder ähnlich lauten in den sozialen Medien Lebensjahr eingeschärft, dass nun die biologische Uhr die zahlreichen Aussagen von Frauen, die sich keine tickt. Auch in unserer Zeit der alleinerziehenden El- Kinder wünschen. Facebook-Gruppen wie «No kids, tern, der Patchworkfamilien und der gleichgeschlecht- no worries», «Dual Income No Kids» oder «Je ne veux lichen Eltern ist die Entscheidung gegen Kinder immer pas faire d’enfant. Je ne vois pas le problème». (Ich noch ein Tabu, das gelegentlich sogar Hassreaktionen möchte kein Kind und verstehe nicht, wo das Problem hervorruft. Regelmässig werden Frauen ohne Kinder- sein soll) haben mehrere Zehntausend Mitglieder, da- wunsch als egoistisch oder widernatürlich bezeichnet: runter auch Männer. Häufig geht es dabei halb scherz- «Fast so, als würden sie die Welt auf den Kopf stellen, als haft über das Ausschlafen, Aperitifs mit Freunden, Rei- würde sich die Erdkugel dann andersherum drehen», sen, Sparen und ähnliche Themen. Es gab zwar schon sagt die promovierte Psychologin Edith Vallée, die im immer einzelne Frauen ohne Kinderwunsch, doch Bereich der Nichtmutterschaft Pionierarbeit geleistet heute bilden sich unter Bezeichnungen wie «childfree» hat. Sie erläutert: «Ich denke, darin äussern sich sehr neue Bewegungen heraus. Diese hauptsächlich in den archaische Ängste, die noch aus der Zeit stammen, als englischsprachigen Ländern gegründeten Interessen- Kinder notwendig für das Überleben der Menschheit Dieser Schwerpunkt wird von der Fotografin Jessica Kosmack bebildert. Sie hat die All- tagsmomente von Familien dokumentiert. 11
Psychoscope 5/2021 GESELLSCHAFT FAMILIENDEMO GR AFIE waren. Dieses Gefühl ruft heftige Reaktionen hervor, die zum eigentlichen Phänomen in keinem Verhältnis «Junge Eltern stehen.» Auch wird mit der Entscheidung gegen Kin- sind nicht weniger der die Mutterrolle von ihrem Sockel gestossen. Das ist gesund» nicht immer einfach zu verstehen und zu akzeptieren. Edith Vallée begann in den 1970er-Jahren, sich mit der Nichtmutterschaft zu beschäftigen. Sie widmete Warum gibt es einen hohen Anteil an kin- ihre Doktorarbeit dem Thema. In dieser Zeit gab es ei- derlosen Frauen in der Schweiz? nen starken Bewusstseinswandel: Die Frauen wurden Früher hing er hauptsächlich mit dem hohen sich darüber bewusst, dass es möglich war, sich dem Anteil der alleinstehenden Frauen auf dem Land und in den Alpentälern zusammen. Im elterlichen und gesellschaftlichen Druck zu entziehen: internationalen Vergleich bleibt der Anteil «Frauen, die keine Kinder wollten, wurden damals aber der kinderlosen Frauen in der Schweiz hoch, immer noch als ungeheuerlich angesehen», sagt Edith er steigt aber nicht, und die Kinderlosigkeit Vallée. «In den 1980er-Jahren kam dann eine gewisse scheint auch nicht mit einem Lebensprojekt Art von Neugier und auch Interesse für diese Frauen zusammenzuhängen. Es gibt zwar viele Männer auf, die ihr Leben und ihren Körper selbst bestimmten. und Frauen ohne Kinder, aber bei nur sehr Sie wurden respektiert.» Dann kam die Wirtschaftskri- wenigen von ihnen fiel die Entscheidung gegen se. Wie immer in solchen Zeiten wandte sich die Ge- Kinder bewusst. Die Gründe sind vielfältig und sellschaft wieder den sicheren Werten wie der Familie komplex: Manche Menschen studieren sehr zu. Kein Kind zu wollen, wurde wieder angeprangert. lange, andere werden von ihrem Beruf verein Seit den 2000er-Jahren wird offen über das The- nahmt, wieder andere finden einfach keinen ma gesprochen. Die von der israelischen Soziologin geeigneten Partner oder Partnerin. Orna Donath durchgeführte und im Jahr 2015 veröf- Sie haben die Verbindung zwischen El- fentlichte Studie Regretting Motherhood trug dazu sicher ternschaft und Lebensqualität analysiert. bei. Orna Donath gab in dieser qualitativen Studie Zu welchen Resultaten sind Sie gekommen? Frauen das Wort, die ihre Kinder zwar lieben, es aber Unsere Ergebnisse bestätigen für die Schweiz, bedauern, Mutter geworden zu sein. Dies hat nichts dass junge Eltern mit wirtschaftlichen Schwie mit der vorübergehenden postpartalen Depression zu rigkeiten konfrontiert sind, im Alltag dem tun. Die von Orna Donath befragten Frauen gaben an, Druck der familiären Aufgaben unterliegen und dass sie täglich leiden und die Entscheidung für ein Beruf und Familienleben nur schwer mitein Kind nicht noch einmal treffen würden. Die Soziologin ander vereinen können. Doch trotz Müdigkeit wendet sich in ihrer Studie gegen die Beharrlichkeit, und Stress wirken sich Kinder nicht auf ihr all gemeines Wohlbefinden aus: Die jungen Eltern mit der Frauen in der Gesellschaft zur Fortpflanzung nehmen ihre Gesundheit nicht als schlechter gedrängt werden, ohne jedoch unterstützt zu werden wahr als Personen ohne Kinder. oder Interesse für das heranwachsende Kind zu erhal- ten. Ihre Veröffentlichung stiess weltweit auf ein star- Und wie steht es um die Personen, die keine kes Echo und löste insbesondere in Deutschland und Kinder haben? Grossbritannien heftige Debatten aus, die vor allem in Ich dachte, dass sich Menschen ohne Kinder den sozialen Medien unter dem Hashtag #regretting- eher an ausserberuflichen Aktivitäten oder motherhood geführt werden. So berichtet beispiels- ehrenamtlichen Tätigkeiten beteiligen. Unsere weise eine junge Mutter auf Twitter: «Ich liebe mein Ergebnisse zeigen aber, dass das Älterwerden kleines Monster. Wirklich. Aber: Ich wollte keine Kin- ohne Kinder mit einer schlechteren gesell der. Ich habe dem Druck nicht standgehalten (...) Ich schaftlichen Einbindung einhergeht. Ich war hatte eine postpartale Depression und leide nun schon erstaunt darüber, wie viel weniger Sozialkon takte und Verpflichtungen Personen ohne zu lange unter Burnout. Deswegen: Ja, ich bedaure es, Kinder haben. Daraus kann man ableiten, dass Mutter geworden zu sein.» Die Debatte im Anschluss Kinder beim Aufbau starker und für das Leben an die Veröffentlichung der israelischen Studie hat vie- im Alter nützlicher sozialer Bindungen eine len Frauen bewusst gemacht, dass sie sich den Erwar- wichtige Rolle spielen. /ade tungen entziehen können. So schreibt eine Frau in den sozialen Medien: «Ich hatte mir mein Leben immer mit Claudine Sauvain-Dugerdil ist Professorin für Fami- liendemografie an der Universität Genf. Sie hat 2018 Kindern vorgestellt. Niemals hatte ich darüber nach- den Artikel Une vie florissante sans enfant? Le cas de gedacht, dass es auch möglich ist, kein Kind zu haben la Suisse publiziert. und sich auch keines zu wünschen.» 12
Psychoscope 5/2021 GESELLSCHAFT Anteil der Kinderlosigkeit bleibt stabil leben, die sie lieben: Diese ausschliessliche Beziehung Laut der letzten Erhebung zu Familien und Generatio- lässt für Kinder keinen Raum. In die zweite Gruppe fal- nen des Bundesamts für Statistik (BFS) 2018 äusserten len Frauen, die sich mit dem verwirklichen, was sie tun. nur 8,8 Prozent der jungen Frauen und Männer im Alter Sie engagieren sich mit einer solchen Energie, dass sie von 20 bis 29 Jahren den Wunsch, kinderlos bleiben zu keine weiteren Betätigungsfelder benötigen. Und die wollen. Es bekommen allerdings nicht alle die Anzahl dritte Gruppe besteht aus Frauen, die eine schwierige an Kindern, die sie sich als junge Menschen gewünscht Kindheit hatten oder eine Welt ablehnen, die sie als ge- haben. Der Anteil der Frauen, die in der Schweiz kin- walttätig und ungerecht wahrnehmen. Zu dieser Grup- derlos bleiben, ist alles andere als vernachlässigbar: pe gehört auch die Bewegung der Ginks («Green Incli- 19,7 Prozent der Frauen zwischen 50 und 59 Jahren ha- nation, no Kids»), deren Anhängerinnen und Anhänger ben kein Kind. Bei Frauen, die ein Hochschulstudium aus Umweltgründen keine Kinder möchten. Sie finden sich unter Hashtags wie #birthstrike und in Gruppen wie Extinction Rebellion und fordern das Recht ein, «Diese Frauen die Fortpflanzung als solche zu hinterfragen: «Dieses Engagement ist durchaus legitim, gerechtfertigt und möchten sich anders notwendig, deckt aber nicht sämtliche Aspekte ab. Es gibt nur wenige Menschen, die ausschliesslich um- verwirklichen als in weltbezogen denken», sagt Edith Vallée. Weiter stellt der Mutterrolle.» die Psychologin fest, dass die meisten Frauen ihre Ent- scheidung gegen Kinder nicht aus Ablehnung heraus treffen: «Sie fühlen sich einfach zu etwas anderem hin- gezogen und möchten sich anders verwirklichen als in absolviert haben, liegt dieser Anteil bei 30,5 Prozent. der Mutterrolle. Wenn man sein Leben selbst bestim- Doch aus diesen Zahlen lässt sich nicht zwischen den men kann, fällt die Entscheidung nicht für oder gegen unfreiwillig kinderlosen Frauen (die «childless» sind, Kinder, sondern für sich selbst. Es ist niemals zu spät, also aufgrund von Lebensereignissen oder Unfrucht- sich selbst zu verwirklichen. Für die Frau ist wichtig zu barkeit keine Kinder haben) und den freiwillig kinder- wissen, was ihr wirklich am Herzen liegt.» losen Frauen («childfree») unterscheiden. Was die Entwicklung bei der Wahrnehmung der Claudine Sauvain-Dugerdil, Professorin für Fami- Nichtmutterschaft betrifft, beobachtet Edith Vallée liendemografie an der Universität Genf, sagt: «In der heute ein durchlässigeres Verhältnis zwischen Müttern Schweiz war der Anteil der Frauen ohne Kinder schon und Nichtmüttern: «Es scheint Mütter zu beruhigen, immer hoch. Und er liegt weiterhin stabil bei etwa 20 dass es Frauen gibt, die ein erfülltes Leben ohne Kin- Prozent.» Die Familiendemografin hat einen wissen- der führen. Das beflügelt die Mütter, sich auf andere schaftlichen Artikel mit dem Titel Une vie florissante Weise zu verwirklichen, sobald es für sie möglich ist. sans enfant? Le cas de la Suisse (siehe nebenstehendes Sie haben weniger Schuldgefühle und werden sich da- Interview) verfasst. Sie wollte herausfinden, ob keine rüber bewusst, dass auch sie etwas anderes tun dürfen. Kinder zu haben einem spezifischen Lebensentwurf Es stellt sich eine Form von Respekt ein. Allerdings entspricht, der sich verbreitet. Ihr Ergebnis ist eindeu- gilt dies nur für Frauen reiferen Alters. Die heutigen tig: «Der Anteil der Frauen, die kein Kind wollen, steigt 30-Jährigen sind leider immer noch mit demselben ge- nicht signifikant. Anders, als man meinen könnte, han- sellschaftlichen Druck konfrontiert.» delt es sich also nicht um ein Phänomen, das sich der- zeit in der Schweiz ausbreitet.» Die Demografin unter- streicht, dass der Kinderwunsch ein sehr ambivalentes Thema ist: «Wenn dieselben Frauen wiederholt befragt werden, stellt man fest, dass sie sich von Jahr zu Jahr LITERATUR anders entscheiden. Es gibt nur wenige, die dreimal in Folge angeben, keine Kinder zu wollen.» Donath, O. (2015). Regretting mother- hood. Berkeley: North Atlantic Books. Sich anders verwirklichen Sauvain-Dugerdil, C. (2018). Une vie florissante sans enfant ? Le cas de la Wer sind also diese Frauen, die sich gegen Kinder ent- Suisse. LIVES Working Paper, 72, 1–35. doi: scheiden? Die Psychologin Edith Vallée teilt sie in drei 10.12682/lives.2296-1658.2018.72 Gruppen ein. In der ersten Gruppe sind Frauen, die Vallée, E. (2005). Pas d'enfant, dit-elle. keine Kinder haben, weil sie mit der Person zusammen- Les refus de la maternité. Paris: Imago. 13
ELTERN WERDEN Wenn sich die Paar beziehung erweitert Der Übergang zur Elternschaft kann sowohl Zufriedenheit als auch Spannungen erzeugen
Psychoscope 5/2021 E LT E R N W E R D E N ermöglicht Versuche und Anpassungen. Im Idealfall entstehen ein Konsens und eine neue Organisation, die im letzten Schritt die alte Organisation ablöst. In dieser Phase fällt die Entscheidung über den «Erfolg» des Übergangs. Vorübergehend verschwimmt dann die Paarbeziehung. An ihre Stelle tritt die gemeinsame Elternbeziehung, damit sich die Eltern auf das Kind Wenn ein Kind kommt, wird das Paar konzentrieren können. In den ersten zwei Jahren nach damit konfrontiert, die Elternschaft der Geburt des Kinds stellt sich ein Gleichgewicht zwi- zu gestalten. Die Eltern meistern die schen den beiden Beziehungsfacetten ein, die dann nebeneinander existieren. sen wichtigen Schritt, wenn sie ein Es geht dabei allerdings nicht nur um die Aufga- gutes Team bilden und sich über die benteilung, sondern vor allem auch um die Art, wie Aufgabenteilung einig sind. die beiden Elternteile eine «emotionale Übereinkunft» finden: das Gefühl, ein Team zu bilden und aus der Fa- NICOL A S FAVEZ milienorganisation Zufriedenheit zu ziehen. Als zen- Für die Paarbeziehung ist der Übergang zur Eltern- tral in diesem Zusammenhang wird der Zusammen- schaft eine Zeit, aus der sich Weiterentwicklungsmög- halt genannt: Die beiden Elternteile unterstützen sich lichkeiten, aber auch Probleme ergeben können. Was gegenseitig sowohl emotional als auch praktisch bei daraus entsteht, ist nicht einfach eine lineare Fortset- den täglichen Aufgaben. Dieser Zusammenhalt hängt zung des «vorherigen Lebens». Unter die positiven Ge- von der Harmonisierung der Erwartungen beider Part- fühle, welche die Geburt eines Kinds begleiten, können ner ab. Sie müssen nicht immer einer Meinung sein; sich negative mischen. Dies liegt unter anderem an der grund legend aber ist die Fähigkeit, über Meinungs- Frustration über die vorübergehende relative Auflö- verschiedenheiten zu sprechen und einen Konsens zu sung der vorherigen Paarbindung durch die Entste- finden oder aber zu akzeptieren, dass es fortwährende hung der «gemeinsamen Elternbeziehung», welche im Meinungsverschiedenheiten gibt, ohne dass die Part- Familienleben eine zentrale Stellung einnimmt. Dieser ner dies als persönliche Bedrohung erleben. Es kommt wesentlichen Veränderung wurden zahlreiche Studien allerdings auch vor, dass mangelnder Zusammenhalt gewidmet. Entstehung der gemeinsamen Elternbeziehung Unter der gemeinsamen Elternbeziehung wird der Fehlender Paarzusam menhalt zieht emo «Anteil» der Paarbeziehung verstanden, der auf das Kind und seine Bedürfnisse ausgerichtet ist. Es han- delt sich um eine Erweiterung der Beziehung zwischen den Eltern, die bis zur Geburt des ersten Kinds aus- tionale Probleme beim schliesslich paarbezogen war. Wie alle bestehenden Beziehungen sind Paarbeziehungen stark schemati- Kind nach sich. siert und ritualisiert: Die Partner haben Gewohnheiten und erfüllte oder nicht erfüllte Erwartungen, die ihre Beziehung strukturieren. Diese Gewohnheiten und Er- chronisch wird und auf einen Bruch in der gemeinsa- wartungen müssen neu verhandelt und miteinander in men Elternbeziehung hindeutet, der sich auf verschie- Einklang gebracht werden, damit sich die gemeinsame dene Weise manifestieren kann. Zunächst kann sich Elternbeziehung nach und nach entwickeln kann. eine feindliche Beziehung mit ständigem Streit über Für diesen Prozess ist Zeit nötig: Die gemeinsame das Kind und dessen Erziehung entwickeln. Es kann Elternbeziehung wird zum ersten Mal «offiziell», wenn sich auch ein Ungleichgewicht beim elterlichen En- das Paar über die Aufgabenaufteilung nach der Geburt gagement einstellen: Ein Elternteil zieht sich aus dem des Kinds spricht – und damit gleichzeitig darüber, Familienleben zurück und überlässt dem anderen die wie die bisher bestehende Aufgabenaufteilung neu ge- Verantwortung und sämtliche elterlichen Aufgaben. staltet wird. Im zweiten Schritt funktioniert das Paar Drittens kann es zu einer Art von «kaltem Krieg» kom- in einem gemischten Modus: Die vor der Schwanger- men, in dessen Mittelpunkt das Kind steht. Die Eltern schaft bestehende Aufgabenaufteilung bleibt in Kraft, tauschen sich in diesem Fall freundlich aus, müssen aber die neue wird bereits getestet. Diese Mischphase sich aber zu positiven Emotionen zwingen und zeigen Unter der gemeinsamen Elternbeziehung wird der «Anteil» der Paarbeziehung ver- standen, der auf das Kind ausgerichtet ist. 15
Psychoscope 5/2021 E LT E R N W E R D E N Die Mutter kann den Zugang des Vaters zum Kind und damit die Beteiligung des Vaters fördern oder diesen im Gegenteil entmutigen. nur sehr wenig Zuneigung. Wie bei allen Ungleichge- selbst erzeugt Unzufriedenheit: Die Beschäftigung wichten in einer Beziehung ist fehlender Zusammen- mit dem Kind und die neuen Belastungen ziehen Mü- halt selbstbestätigend, das heisst, der Konflikt erzeugt digkeit nach sich, was wiederum bei den frischgeba- weitere Konflikte, der Rückzug führt zu weiterem ckenen Eltern zu einem eher zweckorientierten und Rückzug: Bei jeder «negativen Bewegung» eines Part- weniger liebevollen Austausch führt. Dies kann von ners (beispielweise die Verweigerung einer Aufgaben- den Partnern negativ erlebt werden. Der Übergang erledigung) hat der andere Partner das Gefühl, das zur Elternschaft verstärkt also die vorher bestehende Recht zu haben, es ihm heimzuzahlen. Es stellt sich Beziehung: Paare mit einer engen Bindung werden eine Dynamik ein, die im Lauf der Zeit Verbesserungen die Veränderung als Bereicherung und neue «Kom- immer schwieriger macht. In Längsschnittstudien hat plizenschaft» empfinden, während problembelastete sich gezeigt, dass fehlender Paarzusammenhalt der El- Paare sich möglicherweise immer weiter voneinander tern emotionale Probleme beim Kind nach sich zieht. entfernen. Das Gleichgewicht zwischen der Paarbeziehung Erleichterungs- und Erschwernisfaktoren und der gemeinsamen Elternbeziehung wird zum Teil Die gemeinsame Elternbeziehung wird von einer Rei- auch dadurch bestimmt, wie stark sich der Vater am he von kulturellen, gesellschaftlichen, beziehungs- Familienleben beteiligt. Diese Beteiligung wird nicht bezogenen und psychologischen Faktoren bestimmt. von allen als gesellschaftliche «Verpflichtung» emp- Als vorherrschende Einflussfaktoren wurden mehre- funden, obwohl sich dies allmählich verändert. Zwar re Prozesse identifiziert, die direkt mit den Partnern möchten sich immer mehr Väter beteiligen und sich und der Beziehung zusammenhängen. Der erste Fak- um ihre Kinder kümmern, doch es ist immer noch tor ist der offensichtlichste, nämlich die «Qualität» einen Unterschied zwischen den Plänen der Väter der Paarbeziehung, häufig gemessen anhand der Zu- während der Schwangerschaft und ihrer tatsächli- friedenheit mit der Beziehung. Um sich aufgrund des chen Beteiligung nach der Geburt zu beobachten. Die Übergangs zur Elternschaft neu zu organisieren, müs- mit dem Druck der Doppelbelastung durch Beruf und sen die Partner Abstand einnehmen und verhandeln Familie konfrontierten Väter legen tendenziell mehr können, was in angespannten Beziehungen schwierig Gewicht auf ihr berufliches Engagement. Dies wird ist. In dieser Zeit treten starke Frustrationen und Mei- von den Müttern, von denen die vollständige Erfül- nungsverschiedenheiten auf. Und auch der Übergang lung ihrer beiden Aufgaben erwartet wird, weniger 16
Psychoscope 5/2021 E LT E R N W E R D E N akzeptiert. Die geringere väterliche Beteiligung kann beziehung bei all diesen Familientypen dieselben sind aber auch die Folge davon sein, dass die Mütter ihnen (insbesondere bei gleichgeschlechtlichen Partnern, keinen Handlungsspielraum einräumen. adoptierenden Partnern und Patchworkfamilien). Bei Manche Mütter geben an, sich manchmal in ei- allen Familientypen besteht das Spannungsfeld aus ner ambivalenten Position zu befinden: Sie erwarten der Neuvergabe der Rollen, den Rückzugsphänome- Unterstützung durch den Vater, wollen aber gleichzei- nen, der Abschottung eines oder mehrerer Elternteile tig ihre Aufgabe «erfüllen», weil die Gesellschaft dies und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. von ihnen erwartet. Sie haben also das Gefühl, zeigen zu müssen, dass sie die Kontrolle über das Familien- Beziehung um eine neue Dimension erweitern leben haben. Deswegen beschweren sich manche Durch den Übergang zur Elternschaft verändert sich Mütter darüber, dass der Vater zwar im Alltag mithilft, die Paarbeziehung wesentlich. Sie wird mit der ge- aber nicht so, wie die Mütter es erwarten. Darum meinsamen Elternbeziehung um eine neue Dimension übernehmen sie die familiären Aufgaben lieber selbst. erweitert. Die Elternschaft nimmt im Familienleben Die Folge dieser Ambivalenz wurde mit dem Konzept eine zentrale Stellung ein und kann Zufriedenheit und des «Maternal Gate keeping» (der mütterlichen Ab- Spannungen erzeugen. Für die Beziehung zwischen schottung) beschrieben. Die Mutter kann den Zugang den Eltern handelt es sich also entweder um eine Be- des Vaters zum Kind und damit die Beteiligung des reicherung oder um eine Gefährdung. Als langfristig Vaters also fördern oder diesen im Gegenteil entmu- entscheidend erweisen sich das Gefühl, ein Team zu tigen, indem sie «sich abschottet», was zum Rückzug bilden, und die von beiden Partnern geteilte Einschät- des Vaters beiträgt. zung, dass die Aufgaben gerecht aufgeteilt sind. Dieses Pendeln zwischen Beteiligung und Rück- zug einerseits und Öffnung und Abschottung ande- rerseits spiegelt die aktuelle Zeit wider, in der die Eltern zwischen der traditionellen, spezialisierten Organisation und einer progressiven, egalitären und aufgeteilten Organisation hin- und hergerissen sind. Die Vorstellungen der Eltern von den elterlichen Rol- len beziehungsweise den Geschlechterrollen im All- gemeinen sind dabei von grundlegender Bedeutung: DER AUTOR Die Aufgabenaufteilung bei der gemeinsamen Eltern- beziehung hängt stärker von diesen Vorstellungen als Nicolas Favez ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Genf. vom Geschlecht des jeweiligen Elternteils ab. Stu- Darüber hinaus ist er für die Forschungs dien auf Basis der «Theorie der Genderrollen» haben einheit des Zentrums für Familienstudien gezeigt, dass die gesellschaftlich als weiblich oder der psychiatrischen Abteilung des Chuv mitverantwortlich. Er forscht in den männlich angesehenen Eigenschaften (beispielswei- Bereichen Paar- und Familienbeziehun se Zuneigung, Kontakt mit anderen beziehungswei- gen, Übergang zur Elternschaft sowie Evaluierung und therapeutische Arbeit se Behauptung, Führungsstärke) sowohl bei Män- mit Familien. nern als auch bei Frauen und sogar in «androgyner Form» bei ein und derselben Person vorhanden sein KONTAKT können. Die androgyne Form begünstigt sowohl die nicolas.favez@unige.ch Beteiligung an den nahestehenden Beziehungen als auch die Fähigkeit, sich für die elterlichen Aufgaben LITERATUR zu koordinieren; die Eltern können ihre Aufgaben bei Favez, N. (2017). Psychologie de la co- Bedarf tauschen, weil die Aufteilung nicht starr mit parentalité. Concepts, modèles et outils dem männlichen oder dem weiblichen Charakter ver- d’évaluation. Paris: Dunod. bunden ist. Dies fördert die elterliche Beteiligung und Favez, N. (2020). L’art d’être coparents. die «Öffnung». Se soutenir pour élever ses enfants. Paris: Odile Jacob. Studien über die gemeinsame Elternbeziehung Kuersten-Hogan, R., & McHale, J. P. waren zunächst überwiegend den sogenannten «tra- (Eds.). (2021). Prenatal family dynamics. ditionellen» Familien gewidmet, wurden mittlerwei- Couple and coparenting relationships du- le aber auch auf neue Familientypen ausgeweitet. Es ring and postpregnancy. Berlin: Springer. konnte nachgewiesen werden, dass die Probleme Die komplette Bibliografie kann beim und Risiken im Übergang zur gemeinsamen Eltern Autor angefragt werden. 17
ELTERN WERDEN Die Elternschaft psychologisch begleiten Die Paarqualität neuer Eltern nimmt meist ab. Sie sind den Veränderungen aber nicht ausgeliefert
Psychoscope 5/2021 E LT E R N W E R D E N psychisch erkranken, kann das die Entwicklung eines Kinds direkt und indirekt beeinflussen. Effekte finden sich bereits intrauterin und bis 20 Jahre nach Geburt. Als Eltern gesund und glücklich bleiben Eltern sind diesen Veränderungen allerdings nicht schutzlos ausgeliefert. Es gibt viele Faktoren, welche ihre psychische Gesundheit im Übergang zur Eltern schaft schützen können. Eine gute soziale Einbettung sowie eine tragende Partnerschaft gehören zu den Der Übergang in die Elternschaft wichtigsten Schutzfaktoren. In einer unserer Studien bringt Herausforderungen mit sich. an der Universität Zürich zeigten diejenigen Paare, die Bei der psychologischen Begleitung sich häufig positiv unterstützten, ein besseres Wohl befinden während der Schwangerschaft und im ersten von Eltern ist es daher wichtig, die Jahr nach der Geburt. Diese Paare hörten einander Risikofaktoren für die Entwicklung etwa bei Stress zu und zeigten Verständnis. Nieder psychischer Störungen zu kennen. schwellige Angebote zur Vermittlung und Aktivierung von Paarkompetenzen, wie beispielsweise das an der FABIENNE MEIER Universität Zürich entwickelte Programm paarlife.ch, Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung (circa 60 können hier Hand bieten. Prozent) hat Kinder. Fast alle (circa 90 Prozent) wün Darüber hinaus fanden wir in unserer Studie, dass schen sich, einmal Eltern zu werden und für die meis eine ausgewogene Unterstützung innerhalb des Paars ten Menschen bedeutet die Geburt eines Kinds Glück, mit weniger depressiven Symptomen assoziiert ist. Freude und die Erfüllung eines Lebenstraums. Gleich Diejenigen Paare aber, die das Gefühl hatten, sie bekä zeitig geht die Geburt eines gemeinsamen Kinds mit Herausforderungen einher, die in ihrem Ausmass frischgebackene Eltern häufig überraschen. Entgegen den Erwartungen erleben die meisten Paare eine Ab Unterstützung inner- halb des Paars ist mit nahme der Partnerschaftsqualität. Gründe für die Abnahme gibt es viele. Zum Bei spiel müssen die Eltern nach der Geburt einen zu sätzlichen Haushalts- und Betreuungsaufwand von weniger depressiven durchschnittlich 32 Stunden pro Woche bewältigen. In gemischt-geschlechtlichen Partnerschaften werden Symptomen assoziiert. diese Aufgaben zu Ungunsten der Frau aufgeteilt. Stu dien zeigen, dass diese Ungleichverteilung mit einer tieferen Partnerschaftszufriedenheit bei Männern und men nicht gleich viel Unterstützung als sie geben, be Frauen zusammenhängt. Zudem schlafen die meisten richteten von mehr depressiven Symptomen. Entspre Menschen im ersten Jahr nach der Geburt deutlich we chend sollten in der Beratung und Therapie bestenfalls niger und die Zeit für Selbstfürsorge, Freizeit und sozi beide Elternteile einbezogen werden. Studien weisen ale Kontakte nimmt ab. Das Risiko für die Entwicklung darauf hin, dass Beratungs- und Therapieangebote da einer psychischen Störung steigt. Jede fünfte Frau (cir durch an Wirksamkeit gewinnen. ca 20 Prozent) und jeder siebte Mann (circa 15 Prozent) entwickelt eine psychische Störung im Übergang zur Eltern psychologisch unterstützen Elternschaft. Damit gehören psychische Störungen zu Eltern sollten immer wieder dazu ermuntert werden, den häufigsten Gesundheitskomplikationen, wie die sich selbst und der Partnerschaft etwas Gutes zu tun. Hebamme und Biologin Anke Berger von der Berner Das ist besonders im ersten Jahr nach der Geburt eine Fachhochschule feststellt. Herausforderung, die sich aber meist lohnt – für die Das Wohlbefinden von Familienmitgliedern beein ganze Familie. Neben der Normalisierung von Belas flusst sich wechselseitig. Zum Beispiel gilt eine psychi tungen im Übergang zur Elternschaft erleben es El sche Erkrankung bei einem Elternteil als Hauptrisiko tern als stärkend, wenn ihren Stärken und Fähigkeiten faktor für die Entwicklung einer solchen beim zweiten Beachtung geschenkt wird. Dazu zählen Humor, Of Elternteil. Wenn Eltern in der Zeit rund um die Geburt fenheit, Genuss- und Entspannungsfähigkeit, soziale Eltern sollten immer wieder dazu ermuntert werden, sich selbst und der Partnerschaft etwas Gutes zu tun. 19
Psychoscope 5/2021 E LT E R N W E R D E N Kompetenzen oder Kreativität. Auch ein Perspekti das Ergebnis der Behandlung. Die Wahrscheinlich venwechsel auf die schönen Seiten der Elternschaft keit einer Konzeption beläuft sich aber nur auf circa und achtsame Genussmomente sind für das elterliche 25 Prozent pro Eingriff. Die Wahrscheinlichkeit einer Wohlbefinden oft zuträglich. Lebendgeburt ist noch tiefer. Häufig werden Paare von Bei der Begleitung von Eltern ist es ausserdem einem negativen Bescheid enttäuscht, sind traurig und wichtig, zentrale Risikofaktoren für die Entwicklung frustriert. Mit weiteren erfolglosen Versuchen steigt psychischer Störungen zu kennen. Neben Paarkonflik das Misserfolgserleben und die Hoffnungslosigkeit. ten gehören psychische Störungen in der eigenen oder Häufig kommt es dann auch zu einer Verschlechterung familiären Vorgeschichte zu den Hauptrisikofaktoren. der partnerschaftlichen Zufriedenheit und Sexualität. Bei Personen mit erhöhtem Risiko können frühzei In einer Studie der Zürcher Psychotherapeutin Misa tig Warnsignale und Strategien ausgearbeitet werden. Yamanaka-Altenstein zeigten 59 Prozent der Frauen Dazu ist etwa die Krisen-App des Vereins Postpartale und 23 Prozent der Männer eine klinisch bedeutsame Depression Schweiz praktisch, mit der Eltern selbst psychische Belastung bei gleichzeitig hoher Partner ihre Belastung einordnen und proaktiv beeinflussen schaftszufriedenheit. können. Bei bipolaren und psychotischen Störungen sollte dringend eine medikamentöse Unterstützung Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch bereits in der Schwangerschaft geprüft werden. Wich Die Psychologin Heike Stammer vom Universitätskli tig ist zudem, dass auch nichtpsychologisch/psychiat nikum Heidelberg rät zu einem stufenweisen Vorgehen rische Fachpersonen mit Eltern über ihr psychisches bei der psychologischen Beratung von Paaren mit Wohlbefinden sprechen. Das wünscht sich auch eine unerfülltem Kinderwunsch. Sie erachtet nur für eine grosse Mehrheit (über 80 Prozent) der Eltern. besonders belastete Untergruppe eine psychothera Bereits während der Schwangerschaft kann es peutische Behandlung als nötig. Eine niederschwellige sich lohnen, über vergangene Herausforderungen Beratung zu den psychosozialen Folgen von Unfrucht und Bewältigungsstrategien nachzudenken. Eine Stu barkeit und reproduktionsmedizinischen Eingriffen die der Psychologieprofessorin Birgit Kleim von der sei hingegen für alle Paare mit Kinderwunsch empfeh Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zeigte, dass lenswert. Häufige Belastungen sollten in der Beratung Personen, die sich lebhaft vorstellten, wie sie eine ver normalisiert statt pathologisiert werden. Zudem sollen gangene Herausforderung gemeistert hatten, aktuelle gemäss der Psychologin die Erfahrungen und Kom negative Situationen besser neu bewerten konnten und petenzen der häufig ressourcenstarken Paare aktiv Erinnerungen als weniger belastend einordneten als genutzt werden. Kommt es zu negativen Ergebnissen, Personen, die sich an positive Erlebnisse ohne Bewäl kann manchmal eine Krisenintervention angezeigt tigung erinnerten. sein. Besonders wichtig ist, frühzeitig den Abschluss der medizinischen Behandlung und den damit einher Anteil ungewollt Kinderloser nimmt zu gehenden Trauerprozess zu thematisieren. In den vergangenen Jahren blieben lediglich 10 Pro Dieser Trauerprozess bietet die Chance, alternati zent der Bevölkerung gewollt kinderlos. Allerdings ve Lebensentwürfe zu entwickeln. Deshalb ist es wich nimmt der Anteil ungewollt kinderloser Menschen tig, dass sich die Paare mit den schwierigen Gefühlen stetig zu. In der Schweiz bleibt circa jedes zehnte Paar auseinandersetzen. Sie sollen aktiv dazu ermuntert trotz Kinderwunsch kinderlos. Als Hauptgrund für die werden, ihre Gefühle zuzulassen und zu verarbeiten. Zunahme gilt das seit Jahren steigende Alter der Men Wie bei den meisten Verlusterlebnissen bleibt eine schen, die erstmals Kinder bekommen. Die Gründe Narbe, die auch noch viele Jahre später wieder auf dafür liegen nicht in psychologischen, sondern meist brechen kann. Dann ist es wichtig, das Erlebte in den in organischen Ursachen, die gleich verteilt sind auf eigenen Lebensentwurf zu integrieren. Im Verlauf der Männer und Frauen. Beratung lösen sich viele Paare von ihrem engen Fokus Paare mit unerfülltem Kinderwunsch zeigen eine auf den Kinderwunsch und können wieder andere re durchschnittlich höhere Beziehungszufriedenheit als levante Lebensziele sehen. Paare mit Kindern. Aktuelle Studien zeigen aber, dass die psychische Belastung mit zunehmender Dauer der Queere Eltern kämpfen mit Vorurteilen Unfruchtbarkeit zunimmt. Viele Paare, die sich in einer Der Diskurs über die Elternschaft ist heteronormativ reproduktionsmedizinischen Behandlung befinden, geprägt. Meistens wird von der Mutter gesprochen, gelangen in eine Negativspirale. Nach einer Sterili manchmal auch noch von einem Vater. Dabei identi tätsdiagnose weckt diese Behandlung häufig Hoffnung fizieren sich in der Schweiz nur circa 80 Prozent der und Zuversicht. Darauf folgt ein banges Warten auf Bevölkerung als komplett heterosexuell. Darüber hin 20
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