Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27

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Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP
                    www.psychologie.ch

                                                              5/2021
                              Eltern werden
                              Den Übergang zum
                              Elternsein begleiten 10–27
                              Städte aufblühen lassen
                              Die gesundheitlichen
                              Ressourcen im urbanen Raum
                              Gesundheitsförderung
                              Ein Psychologe bringt die
                              wichtigen Akteure zusammen
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Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
Psychoscope 5/2021   EDITORIAL

Eltern werden in der Pandemie
Wenn Paare Eltern werden, stellen die damit ein-
hergehenden Veränderungen auch in ruhigeren
Zeiten eine Herausforderung dar. Der Übergang
zur Elternschaft stellt die Paarbeziehung auf eine
Probe: Sie wird um die Dimension der gemeinsa-
men ­Elternbeziehung erweitert. Es gilt, eine «emoti-          Joël Frei
onale Übereinkunft» zu finden, also das Gefühl, ein            Redaktor
                                                               redaktion@fsp.psychologie.ch
Team zu bilden und aus der Familienorganisation
                                                                 @FSP_psychoscope
Zufriedenheit zu ziehen. Die Frage stellt sich aktu-
ell, in welchem Ausmass die Corona-Krise diesen
Entwicklungsschritt und die Familienplanung der
Paare beeinflusst.
        Werden wir einen Baby-Boom oder eine
Baby-Flaute erleben? In Krisenzeiten geht die Ge-
burtenrate in der Regel zurück. Gründe dafür sind
insbesondere wirtschaftliche und soziale Unsi-
cherheit sowie Zukunftsängste. Die stärker von der
Krise betroffenen Länder Italien, Spanien, Portugal,
Frankreich und die USA verzeichneten im vergange-
nen Dezember und Januar historisch niedrige Ge-
burtenzahlen. Doch in der Schweiz scheinen Paare
wieder Vertrauen in die Zukunft zu fassen. Sie ent-
schliessen sich dazu, ein Kind zu bekommen. In den
letzten Monaten meldeten drei von sieben grossen
Schweizer Spitälern einen kleinen Babyboom, wie
eine Umfrage des Blick zeigte.
        Damit neue Eltern in dieser herausfordern-
den Zeit gesund und glücklich bleiben, sollten sie
gezielt in die Schutzfaktoren investieren. Die wich-
tigsten sind eine gute soziale Einbettung und eine
tragende Partnerschaft. Welche Rolle spielen Psy-
chologen und Psychotherapeutinnen dabei? In der
vorliegenden Psychoscope-Ausgabe lesen Sie unter
anderem, wie sich die Begleitung von werdenden
Müttern, Vätern und Eltern gestaltet.

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Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
Psychoscope 5/2021   MENÜ

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GESELLSCHAFT                            PSYCHOLO GIE ALS WISSENSCHAFT

10                                      Aus zwei werden drei oder vier ...
Sich anders verwirklichen
Trotz dem gesellschaftlichen            Wenn Paare Eltern werden, bringt
Druck, Kinder zu bekom-
men, entscheiden sich einige
                                        das grosse Veränderungen mit sich.
­Frauen gegen Kinder.

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AU R É L I E FA E S C H-D E S P O N T

                                        Gemeinsam Eltern sein                      Werdende Väter
«Ich möchte                             Wenn ein Kind kommt, geht
                                        es darum, die Arbeit aufzu-
                                                                                   Der Übergang zur Vater-
                                                                                   schaft ist für Männer eine
ganz einfach                            teilen und eine emotionale                 gute Gelegenheit, neue
                                        Übereinkunft zu finden.                    ­Fähigkeiten zu erwerben.
keine Kinder.»                          N I CO L A S FAV E Z                       GILLES CRETTENAND

                                        18                                         25
                                        Eltern werden, Paar bleiben                Risikofaktoren kennen
                                        Die Paarqualität nimmt bei                 Eine von fünf Frauen er-
                                        neuen Eltern meist ab. Was                 krankt psychisch in Schwan-
                                        können sie dagegen tun?                    gerschaft und Stillzeit.
                                        FA B I E N N E M E I E R                   K AT H R I N D EG E N

                                                                   4
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                                                              6 Forschung
                                                             28 Dekodiert
                                                                Was man gerne macht,
                                                                macht man gut
                                                             29 Aktuell
                                                             30 Pro & Kontra
                                                                Achtsamkeitmeditation:
                                                                Werden die Nebenwirkungen
                                                                unterschätzt?
                                                             31 Kolumne
                                                                Offenheit: Eine (Un-)Tugend
                                                             32 Aktuelles aus der FSP
                                                             45 Rezensionen
                                                             46 Cartoon
                                                             46 Impressum
                                                             47 Agenda
                                                             48 Inserate
                                                             55 Gliedverbände

PSYCHOLO GIE ALS BERUF                                       AKTUELLES AUS DER FSP

38                                                           34
Aufblühende Städte                                           Verbandsgerichtsbarkeit
Die Ideen eines Geografie-                                   Jacqueline Frossard ist FSP-Vor-
professors zum städtischen                                   standsmitglied. Im Interview
Raum als Stressfaktor und                                    nimmt sie Stellung zur Reform,
psychische Ressource.                                        die sie vorangetrieben hat.
AU R É L I E D E S C H E N AUX                               JOËL FREI

42
Gesundheitsförderung
Alfred Künzler fördert die
psychische Gesundheit durch
Projekte auf Bundesebene.
JOËL FREI

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Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
FORSCHUNG
                                              planen, Kinder zu bekommen), sowie        politischen Einstellung: kinderfreie
                                              kinderlose Personen, die aufgrund von     Personen stellten sich als liberaler den-
                                              Unfruchtbarkeit oder ihren Lebens-        kend heraus als Eltern. Zudem zeigten
                                              umständen keine Kinder bekommen           diejenigen Personen, die nicht kinder-
                                              konnten. In früheren Studien seien        frei sind, wesentlich weniger Sympa-
                                              alle Nicht-Eltern in eine Kategorie       thie für kinderfreie Menschen.
                                              geworfen worden, um sie mit Eltern zu           Am meisten überrascht hat die
                                              vergleichen.                              Forschenden aber, wie viele kinderfreie
KINDERFREIHEIT                                     Um die Gruppe der kinderfreien       Menschen es gibt. Mehr als eine von
                                              Personen zu ermitteln, verwendeten        vier Personen in Michigan bezeichnet
Ein Viertel will                              die Forschenden Daten aus einer           sich als kinderfrei. Dieser Anteil sei

keine Kinder                                  repräsentativen Stichprobe von 981
                                              Erwachsenen aus dem US-Bundesstaat
                                                                                        viel höher als der in früheren Studien
                                                                                        eruierte Wert. Jene Studien, die einen
Und ist trotzdem                              Michigan. Die Teilnehmenden füllten       Anteil von 2 bis 9 Prozent schätzten,

zufrieden                                     mehrere Skalen aus, die sich unter
                                              anderem auf ihre Lebenszufriedenheit
                                                                                        stützten sich auf die Fruchtbarkeit, um
                                                                                        kinderfreie Personen zu identifizieren.
                                              und ihre Persönlichkeitsmerkmale          Die Forschenden konnten dank verbes-
Nicht für alle ist die Elternschaft eine      bezogen. Anschliessend bewerteten         serter Messmethode diejenigen Perso-
der grössten Freuden im Leben. Es gibt        sie auf einer Skala von 0 bis 100, was    nen, die sich als kinderfrei bezeichnen,
Menschen, die sich dazu entscheiden,          sie gegenüber Frauen und Männern          besser erfassen.
keine Kinder zu bekommen. Bislang             empfinden, die keine biologischen
wusste man wenig über diese Grup-             oder adoptierten Kinder haben wollen.     Watling Neal, J., & Neal, Z. (2021). Prevalen-
                                                                                        ce and characteristics of childfree adults in
pe, die als «childfree» («kinderfrei»)        Schliesslich erfassten die Forschen-      Michigan (USA). Plos One. doi: 10.1371/jour-
bezeichnet wird.                              den auch ihre demografischen Daten,       nal.pone.0252528
      Nun haben Forschende um die             darunter Informationen zu Ethnie,
US-Psychologieprofessorin Jennifer            Geschlecht, Bildung, Alter, politischer
Watling Neal in einer Studie unter-           Einstellung und Beziehungsstatus.
sucht, welche Eigenschaften kinder-                Nachdem die Forschenden ihre         NEUROWISSENSCHAFTEN
freie Erwachsene aufweisen und wie            Ergebnisse auf diese demografischen
zufrieden sie sind. «Die meisten Studi-       Merkmale kontrolliert hatten, fanden      Wie das Gehirn die
en haben nicht die Fragen gestellt, die
notwendig sind, um kinderfreie Perso-
                                              sie keine Unterschiede in der Lebens-
                                              zufriedenheit und nur geringe Unter-
                                                                                        Angst reguliert
nen von anderen Arten von Nicht-El-           schiede in den Persönlichkeitsmerk-       Amygdala spielt
tern zu unterscheiden», schreibt die
Forscherin. Gemäss der Sozialpsycho-
                                              malen zwischen kinderfreien Personen
                                              und Eltern, Noch-nicht-Eltern oder
                                                                                        zentrale Rolle
login können zu den «Nicht-Eltern»            kinderlosen Personen. Allerdings fan-
auch «Noch-nicht-Eltern» gehören (die         den sie Unterschiede bezüglich ihrer      Angst ist ein wichtiges Signal, das uns
                                                                                        vor Gefahren warnt. Wenn sie aber
                                                                                        ausufert, kann dies bei den Betroffenen
                                                                                        zu anhaltenden Angstzuständen und
                                                                                        schweren psychischen Erkrankungen
                                                                                        führen. Bestehende Therapien sind
                                                                                        oftmals unspezifisch und wirken nicht
                                                                                        immer. Bislang fehlt das Wissen darü-
                                                                                        ber, welche neurobiologischen Abläufe
                                                                                        bei Angstzuständen spielen.
                                                                                              Bisher bekannt ist, dass bestimmte
                                                                                        Nervenzellen im Gehirn Furchtreaktio-
                                                                                        nen regulieren, indem sie diese blockie-
                                                                                        ren und wieder deblockieren können.
                                                                                        Dabei sind verschiedene Schaltkreise
                                                                                        von Nervenzellen involviert. Zwischen
                                                                                        diesen findet eine Art «Tauziehen»
                                                                                        statt, wobei je nach Kontext jeweils
                                                                                        einer von beiden «gewinnt» und den
                                                                                        anderen übersteuert. Ist dieses System
Die Forschenden fanden keine Unterschiede in der Lebenszufriedenheit zwischen
                                                                                        gestört, etwa wenn Furchtreaktionen
kinderfreien Personen und Eltern, Noch-nicht-Eltern oder kinderlosen Personen.          nicht mehr blockiert werden, führt dies

                                                                   6
Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
Psychoscope 5/2021    FORSCHUNG

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                                                                                               Resilient durch
                                                                                               die Corona-Krise
                                                                                               Musik als Bewäl­
                                                                                               tigungsstrategie
                                                                                               Welche Bewältigungsstrategien wenden
                                                                                               die Menschen an, um in der Corona-
                                                                                               Krise psychisch gesund zu bleiben?
                                                                                               Eine internationale Studie um die
                                                                                               Neurowissenschaftlerin Lauren Fink
                                                                                               vom deutschen Max-Planck-Institut
                                                                                               für empirische Ästhetik zeigt, dass
                                                                                               Menschen in der Musik ein wirksames
                                                                                               Mittel haben, um emotionalen und
                                                                                               sozialen Stress zu verarbeiten.
                                                                                                    Auf der einen Seite sind die Per-
                                                                                               sonen mit pandemiebedingt stärkeren
                                                                                               negativen Emotionen. Sie hören Musik,
                                                                                               um Depressionen, Angst und Stress
                                                                                               zu regulieren. Auf der anderen Seite
Die Forschenden erhoffen sich, dass das bessere Verständnis des entdeckten Hirnmechanismus
                                                                                               nutzen Menschen mit einer vorwie-
dazu beitragen wird, spezifischere Therapien für Angst- und Traumastörungen zu entwickeln.     gend positiven Grundstimmung Musik
                                                                                               vor allem dafür, um fehlende soziale
                                                                                               Interaktionen zu kompensieren. Ihnen
unter anderem zu Angststörungen.               Mäuse trotz vorheriger Angst wieder.            vermittelt Musik sowohl beim Zuhören
Neuere Studien konnten zeigen, dass            Gemäss den Forschenden zeigt dies,              als auch beim Musizieren ein Gefühl
bestimmte Gruppen von Nerven­zellen            dass die identifizierten Nervenzellen           der Zugehörigkeit und Gemeinschaft.
in der Amygdala für diese Schaltkreise         sehr anpassungsfähig und essenziell             Das Musizieren dient darüber hinaus
und damit die Regulierung von Angst            für die Hemmung von Angst sind.                 als Mittel zur Selbstreflexion.
entscheidend sind. Die Amygdala                      Beim Menschen könnte eine                      Im Rahmen der Studie erhoben
ist eine kleine mandelförmige Hirn­            Dysfunktion dieses Systems – ein-               die Forschenden während des ersten
struktur im Zentrum des Gehirns, die           schliesslich einer mangelhaften Plas-           Lockdowns von April bis Mai 2020 in
Informationen über furchterregende             tizität in den untersuchten zentralen           sechs Ländern auf drei Kontinenten
Reize empfängt und an andere Gehirn-           Amygdala-Zellgruppen – zur gestörten
regionen wie etwa das motorische Zen-          Blockierung von Angst-Erinnerungen
trum weiterleitet. Dadurch werden im           beitragen. Unter dieser Fehlfunktion
Körper unter anderem Stresshormone             leiden Patientinnen und Patienten mit
freigesetzt, die Herzfrequenz verändert        Angst- und Trauma-Störungen.
oder Kampf-, Flucht- oder Erstarrungs-               Die Forschenden erhoffen sich,
reaktionen ausgelöst.                          dass das bessere Verständnis dieses
      Nun haben Forschende um den              Hirnmechanismus dazu beitragen
Neurowissenschaftler Stéphane Cioc-            wird, spezifischere Therapien für die
chi von der Universität Bern entdeckt,         Betroffenen zu entwickeln. Es seien
dass die Amygdala nicht nur eine zent-         jedoch weitere Studien notwendig, um
rale «Drehscheibe» in diesen Abläufen          zu untersuchen, ob die in einfachen
ist, sondern selber Mikro-Schaltkreise         Tiermodellen gewonnenen Erkennt-
enthält, welche die Blockierung von            nisse auf menschliche Angststörungen
Furchtreaktionen regulieren.                   übertragen werden können.
      Die Forschenden unterdrückten
diese neuronalen Mikro-Schaltkreise            Whittle, N., Fadok, J., Macpherson, K.,
                                               Nguyen, R., Botta, P., Wolff, S., Müller, C.,
bei Mäusen, was zu einem lang anhal-           Herry, C., Tovote, P., Holmes, A., Singewald,
tenden ängstlichen Verhalten der Tiere         N., Lüthi, A., & Ciocchi, S. (2021). Central
                                               amygdala micro-circuits mediate fear extin-
führte. Wurden sie jedoch aktiviert,           ction. Nature Communications. doi: 10.1038/     Manche hören Musik, um Depressionen,
normalisierte sich das Verhalten der           s41467-021-24068-x                              Angst und Stress zu regulieren.

                                                                    7
Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
Psychoscope 5/2021    FORSCHUNG

demografisch repräsentative Stichpro-            nicht besonders Extravertierte «extra-           tiertes Verhalten zur Folge? Weitere
ben. Über 5000 Personen beantwor-                vertiert verhalten» – allerdings kann            Forschung zu Extraversion könnte die
teten in einer Online-Umfrage, wie               diese Übung für sehr introvertierte              Richtung dieser Beziehung klären.
sie Musik während der Corona-Krise               Menschen anstrengend sein und mit
nutzten. Mehr als die Hälfte der Be-             negativen Gefühlen einhergehen.                  Kuijpers, E., Pickett, J., Wille, B., & Hof­
                                                                                                  mans, J. (2021). Do you feel better when you
fragten gab an, Musik zur Bewältigung                 In einer aktuellen Studie um die            behave more extraverted than you are? The
emotionaler und sozialer Stressfakto-            belgische Arbeitspsychologin Evy                 relationship between cumulative counterdis-
                                                                                                  positional extraversion and positive feelings.
ren zu verwenden.                                Kuijpers wurde genauer untersucht,               Personality and Social Psychology Bulletin.
     Eine besondere Bedeutung kommt              was passiert, wenn Personen von ihrem            doi: 10.1177/01461672211015062
dem neu entwickelten Genre der «Co-              «Grundniveau der Extraversion» ab-
rona-Musik» zu – also neu komponier-             weichen. Für die Studie wurde erst die
ten Stücken über die Pandemie oder
bereits existierenden Songs, deren Tex-                                                           CORONA-KRISE
te überarbeitet wurden. Das Interesse
an diesem Genre spielte eine massgeb-                                                             Kein Anstieg des
liche Rolle dabei, ob eine Person Musik
als hilfreich empfand: Je grösser das
                                                                                                  Suizidrisikos
Interesse, desto mehr wurde die Person                                                            in den reicheren
bei der Krisenbewältigung unterstützt.
     Gemäss den Forschenden unter-
                                                                                                  Ländern der Welt
streiche diese Erkenntnis die Bedeu-
tung kreativer Echtzeitreaktionen                                                                 Viele Menschen leiden unter psychi-
in Krisenzeiten. Mit Corona-Musik                                                                 schen Erkrankungen aufgrund der
reagierten die Menschen kollektiv auf                                                             Corona-Krise. Nun wurde erstmals
die gesellschaftlichen Herausforde-                                                               eine internationale Studie über einen
rungen und stärkten damit die Wider-                                                              möglichen Zusammenhang zwischen
standsfähigkeit des Einzelnen und der                                                             der Pandemie und Suizidraten ver-
Gemeinschaft.                                    Überdurchschnittliches extravertiertes Verhal-
                                                                                                  öffentlicht. Eine Forschungsgruppe
                                                 ten geht mit mehr positiven Gefühlen einher.     um die australische Professorin Jane
Fink, L., Warrenburg, L., Howlin, C., Randall,                                                    Pirkis wollte herausfinden, ob es in der
W., Hansen, N., & Wald-Fuhrmann, M. (2021).
Viral tunes: Changes in musical behavi-
                                                                                                  frühen Phase der Pandemie, zwischen
ours and interest in coronamusic predict         Eigenschaft Extraversion bei den 92              dem 1. April 2020 und dem 31. Juli
socio-emotional coping during Covid-19
lockdown. Humanities and Social Sciences
                                                 Testpersonen gemessen. In den folgen-            2020, mehr Suizide gab. Dazu führten
Communications. doi: 10.1057/s41599-021-         den vier Wochen wurden sie gebeten,              die Forschenden im Herbst 2020 eine
00858-y
                                                 fünfmal täglich Fragen zu Extraversi-            systematische Internetrecherche bei
                                                 on als Zustand (also mit Extraversion            Gesundheitsministerien, Polizeibehör-
                                                 zusammenhängende Gefühle und                     den und staatlichen Statistikämtern
                                                 Verhaltensweisen wie gesprächig oder             durch und griffen auf ihre Netzwerke
PERSÖNLICHKEIT                                   energiegeladen sein) sowie zu ihren              und die veröffentlichte Literatur zu-
                                                 positiven Gefühlen auszufüllen.                  rück. Die Forschenden konnten Daten
Sich extraver­                                         Die Studie zeigte, dass ein über-          aus 21 Ländern (16 Länder mit hohen

tierter verhalten                                durchschnittliches Mass an extraver-
                                                 tiertem Verhalten mit mehr positiven
                                                                                                  und fünf Länder mit mittleren bis ho-
                                                                                                  hen Einkommen) zusammentragen.
und mehr positive                                Gefühlen einhergeht – selbst bei Men-                  In keinem der untersuchten

Gefühle erleben                                  schen, die eigentlich nicht extravertiert
                                                 sind. Die Testpersonen aber, die sich
                                                                                                  Länder konnten die Forschenden einen
                                                                                                  signifikanten Anstieg des Suizidrisikos
                                                 introvertierter als gewöhnlich verhiel-          seit Beginn der Pandemie feststellen.
Die Forschung hat viele Vorteile der             ten, erlebten weniger positive Gefühle.          Sie schreiben aber, man müsse wach-
Extraversion aufgezeigt. Eine Studie             Dies deutet darauf hin, dass extraver-           sam und reaktionsbereit bleiben. Es sei
des US-Arbeitspsychologen Michael                tiertes Verhalten das Wohlbefinden               davon auszugehen, dass die Pandemie
Wilmot aus dem Jahr 2019 etwa zeigte,            steigern kann.                                   längerfristige Auswirkungen auf die
dass Extravertierte motivierter sind,                  Die Forschenden räumen aller-              Wirtschaft und die psychische Gesund-
mehr positive Emotionen empfinden,               dings ein, dass ihre Studie nicht die            heit der Menschen haben werde.
härter arbeiten und weniger negative             Richtung der Kausalität zwischen
                                                                                                  Pirkis, J. et. al. (2021). Suicide trends in the
Erfahrungen am Arbeitsplatz machen.              Extraversion und positiven Gefühlen              early months of the COVID-19 pandemic: An
     Weitere Studien zeigten, dass die           aufzeigen kann. Verstärkt extravertier-          interrupted time-series analysis of prelimi-
                                                                                                  nary data from 21 countries. Lancet Psychia-
Vorteile einer natürlichen Extraversi-           tes Verhalten positive Gefühle? Oder             try. doi: 10.1016/S2215-0366(21)00091-2
on erlangt werden können, wenn sich              haben solche Gefühle mehr extraver-

                                                                       8
Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
Psychoscope 5/2021    FORSCHUNG

                                                                                             HIER ERFORSCHT

                                                                                             Unbewusst Erleb-
                                                                                             tes bleibt haften
                                                                                             Ziel: Unsere Erlebnisse werden
                                                                                             automatisch im sogenannten episodi­
                                                                                             schen Gedächtnis abgespeichert, ein
                                                                                             Gedächtnissystem, das auf der Hirn­
                                                                                             struktur Hippocampus beruht. Bisher
                                                                                             ging man davon aus, dass nur bewusst
                                                                                             Erlebtes dort haften bleibt und auch
                                                                                             das Verhalten beeinflusst. Forschen­
                                                                                             de um die Psychologieprofessorin
                                                                                             Katharina Henke von der Universität
                                                                                             Bern wollten herausfinden, ob auch
                                                                                             unbewusst Erlebtes im episodischen
                                                                                             Gedächtnis gespeichert und verhal­
                                                                                             tenswirksam wird.
                                                                                             Methode: 320 Testpersonen wurden
                                                                                             ein, drei oder neun komplexe und für
                                                                                             das Bewusstsein unsichtbare Filme
                                                                                             hintereinander präsentiert und später
                                                                                             das Erinnerungsvermögen getestet.
                                                                                             Die filmischen Szenen wurden nicht
                                                                                             nur bewusst, sondern auch unbe­
                                                                                             wusst registriert und im episodischen
                                                                                             Gedächtnis langzeitgespeichert. Jedes

Wie hält man Jugendliche vom                                                                 Filmbild wurde für nur 17 Millisekun­
                                                                                             den eingeblitzt. Vor und nach einem

Rauchen ab? Jedenfalls nicht,                                                                Filmbild wurden Schwarz-weiss-­Pixel-
                                                                                             Bilder (sogenannte Masken) darge­
indem man die Abgabe von                                                                     boten, die das Gehirn am Weiterver­

Zigaretten an Minderjährige
                                                                                             arbeiten der eingeblitzten Filmbilder
                                                                                             hinderten. So konnten die filmischen

verbietet. Dies zeigte eine                                                                  Handlungen lediglich unbewusst
                                                                                             registriert werden.

Studie der Universitäten Basel                                                               Ergebnisse: Gemäss den Forschenden
                                                                                             können wir viele komplexe Sachver­
und Lausanne. Die Forschenden                                                                halte unbewusst in unserem episodi­

nutzten die unterschiedlichen
                                                                                             schen Gedächtnis langzeitspeichern,
                                                                                             ohne etwas zu vergessen. Dies sei

Einführungszeitpunkte der                                                                    beim bewussten Lernen im episodi­
                                                                                             schen Gedächtnis noch nie beobach­

Abgabeverbote in den Kantonen                                                                tet worden: Was man bewusst gelernt
                                                                                             hat, vergisst man zumindest teilweise
der Schweiz für Vorher-nachher-                                                              wieder. Diese Ergebnisse seien von er­

Vergleiche. Sie gehen davon
                                                                                             heblicher theoretischer und klinischer
                                                                                             Bedeutung, etwa bei der Begleitung

aus, dass die Jugendlichen ihre                                                              von Menschen mit Amnesie- oder
                                                                                             Demenzerkrankungen.

Zigaretten über Kolleginnen und                                                              Schneider, E. , Züst, A., Wuethrich, S.,

Kollegen beziehen.                                                                           Schmidig, F., Klöppel, S., Wiest, R., Ruch,
                                                                                             S., & Henke, K. (2021). Larger capacity for
                                                                                             unconscious versus conscious episodic
                                                                                             memory. Current Biology. doi: 10.1016/j.
Meier, A., Odermatt, R., & Stutzer, A. (2021). Tobacco sales prohibition and teen smoking.   cub.2021.06.012
Journal of Economic Behaviour & Organization. doi: 10.1016/j.jebo.2021.06.002

                                                                      9
Eltern werden Den Übergang zum Elternsein begleiten 10-27
GESELLSCHAFT

                                                        ELTERN WERDEN

                  Kinder? Nein, Danke!
           Mutter zu werden ist die Regel. Doch es gibt Frauen,
            die sich dem gesellschaftlichen Druck entziehen

         In der Schweiz hat jede dritte Frau                       gruppen fordern lautstark Legitimität für Frauen ohne
         kein Kind. Frauen haben die Mög-                          Kinderwunsch, und einige greifen Frauen, die sich für
         lichkeit, sich auf andere Weise zu                        Kinder entschieden haben, manchmal sogar an. Diese
                                                                   starken Reaktionen lassen sich zum Teil dem sozialen
         verwirklichen als in der Mutterrolle.                     Druck zuschreiben, dem zahlreiche Frauen ohne Kin-
         Doch diese Lebensweise wird von vie-                      derwunsch ausgesetzt sind.
         len noch heute kritisch beurteilt.
                                                                   Sich den Erwartungen entziehen
         AURÉLIE FAESCH-DESPONT                                    «Und du, wann bekommst du ein Kind?» Dies bekom-
         «Ich mag Kinder. Aber nur die der anderen» oder «Ich      men Frauen unter anderem in der Familie, von Freun-
         möchte ganz einfach keine Kinder» oder auch «Mich         den und in ihrem Arbeitsumfeld zu hören. Fast allen
         um Kinder zu kümmern, interessiert mich wirklich          Frauen, die noch nicht Mutter sind, wird ab dem 30.
         nicht». So oder ähnlich lauten in den sozialen Medien     Lebensjahr eingeschärft, dass nun die biologische Uhr
         die zahlreichen Aussagen von Frauen, die sich keine       tickt. Auch in unserer Zeit der alleinerziehenden El-
         Kinder wünschen. Facebook-Gruppen wie «No kids,           tern, der Patchworkfamilien und der gleichgeschlecht-
         no worries», «Dual Income No Kids» oder «Je ne veux       lichen Eltern ist die Entscheidung gegen Kinder immer
         pas faire d’enfant. Je ne vois pas le problème». (Ich     noch ein Tabu, das gelegentlich sogar Hassreaktionen
         möchte kein Kind und verstehe nicht, wo das Problem       hervorruft. Regelmässig werden Frauen ohne Kinder-
         sein soll) haben mehrere Zehntausend Mitglieder, da-      wunsch als egoistisch oder widernatürlich bezeichnet:
         runter auch Männer. Häufig geht es dabei halb scherz-     «Fast so, als würden sie die Welt auf den Kopf stellen, als
         haft über das Ausschlafen, Aperitifs mit Freunden, Rei-   würde sich die Erdkugel dann andersherum drehen»,
         sen, Sparen und ähnliche Themen. Es gab zwar schon        sagt die promovierte Psychologin Edith Vallée, die im
         immer einzelne Frauen ohne Kinderwunsch, doch             Bereich der Nichtmutterschaft Pionierarbeit geleistet
         heute bilden sich unter Bezeichnungen wie «childfree»     hat. Sie erläutert: «Ich denke, darin äussern sich sehr
         neue Bewegungen heraus. Diese hauptsächlich in den        archaische Ängste, die noch aus der Zeit stammen, als
         englischsprachigen Ländern gegründeten Interessen-        Kinder notwendig für das Überleben der Menschheit

Dieser Schwerpunkt wird von der Fotografin
Jessica Kosmack bebildert. Sie hat die All-
tagsmomente von Familien dokumentiert.                         11
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FAMILIENDEMO GR AFIE                                                  waren. Dieses Gefühl ruft heftige Reaktionen hervor,
                                                                      die zum eigentlichen Phänomen in keinem Verhältnis
«Junge Eltern                                                         stehen.» Auch wird mit der Entscheidung gegen Kin-
sind nicht weniger                                                    der die Mutterrolle von ihrem Sockel gestossen. Das ist

­gesund»
                                                                      nicht immer einfach zu verstehen und zu akzeptieren.
                                                                           Edith Vallée begann in den 1970er-Jahren, sich mit
                                                                      der Nichtmutterschaft zu beschäftigen. Sie widmete
Warum gibt es einen hohen Anteil an kin-                              ihre Doktorarbeit dem Thema. In dieser Zeit gab es ei-
derlosen Frauen in der Schweiz?
                                                                      nen starken Bewusstseinswandel: Die Frauen wurden
Früher hing er hauptsächlich mit dem hohen
                                                                      sich darüber bewusst, dass es möglich war, sich dem
Anteil der alleinstehenden Frauen auf dem
Land und in den Alpentälern zusammen. Im
                                                                      elterlichen und gesellschaftlichen Druck zu entziehen:
internationalen Vergleich bleibt der Anteil                           «Frauen, die keine Kinder wollten, wurden damals aber
der kinderlosen Frauen in der Schweiz hoch,                           immer noch als ungeheuerlich angesehen», sagt Edith
er steigt aber nicht, und die Kinderlosigkeit                         Vallée. «In den 1980er-Jahren kam dann eine gewisse
scheint auch nicht mit einem Lebensprojekt                            Art von Neugier und auch Interesse für diese Frauen
zusammenzuhängen. Es gibt zwar viele Männer                           auf, die ihr Leben und ihren Körper selbst bestimmten.
und Frauen ohne Kinder, aber bei nur sehr                             Sie wurden respektiert.» Dann kam die Wirtschaftskri-
wenigen von ihnen fiel die Entscheidung gegen                         se. Wie immer in solchen Zeiten wandte sich die Ge-
Kinder bewusst. Die Gründe sind vielfältig und                        sellschaft wieder den sicheren Werten wie der Familie
komplex: Manche Menschen studieren sehr                               zu. Kein Kind zu wollen, wurde wieder angeprangert.
lange, andere werden von ihrem Beruf verein­
                                                                           Seit den 2000er-Jahren wird offen über das The-
nahmt, wieder andere finden einfach keinen
                                                                      ma gesprochen. Die von der israelischen Soziologin
geeigneten Partner oder Partnerin.
                                                                      Orna Donath durchgeführte und im Jahr 2015 veröf-
Sie haben die Verbindung zwischen El-                                 fentlichte Studie Regretting Motherhood trug dazu sicher
ternschaft und Lebensqualität analysiert.                             bei. Orna Donath gab in dieser qualitativen Studie
Zu welchen Resultaten sind Sie gekommen?                              Frauen das Wort, die ihre Kinder zwar lieben, es aber
Unsere Ergebnisse bestätigen für die Schweiz,                         bedauern, Mutter geworden zu sein. Dies hat nichts
dass junge Eltern mit wirtschaftlichen Schwie­                        mit der vorübergehenden postpartalen Depression zu
rigkeiten konfrontiert sind, im Alltag dem                            tun. Die von Orna Donath befragten Frauen gaben an,
Druck der familiären Aufgaben unterliegen und                         dass sie täglich leiden und die Entscheidung für ein
Beruf und Familienleben nur schwer mitein­
                                                                      Kind nicht noch einmal treffen würden. Die Soziologin
ander vereinen können. Doch trotz Müdigkeit
                                                                      wendet sich in ihrer Studie gegen die Beharrlichkeit,
und Stress wirken sich Kinder nicht auf ihr all­
gemeines Wohlbefinden aus: Die jungen Eltern
                                                                      mit der Frauen in der Gesellschaft zur Fortpflanzung
nehmen ihre Gesundheit nicht als schlechter                           gedrängt werden, ohne jedoch unterstützt zu werden
wahr als Personen ohne Kinder.                                        oder Interesse für das heranwachsende Kind zu erhal-
                                                                      ten. Ihre Veröffentlichung stiess weltweit auf ein star-
Und wie steht es um die Personen, die keine                           kes Echo und löste insbesondere in Deutschland und
Kinder haben?                                                         Grossbritannien heftige Debatten aus, die vor allem in
Ich dachte, dass sich Menschen ohne Kinder                            den sozialen Medien unter dem Hashtag #regretting-
eher an ausserberuflichen Aktivitäten oder                            motherhood geführt werden. So berichtet beispiels-
ehrenamtlichen Tätigkeiten beteiligen. Unsere                         weise eine junge Mutter auf Twitter: «Ich liebe mein
Ergebnisse zeigen aber, dass das Älterwerden                          kleines Monster. Wirklich. Aber: Ich wollte keine Kin-
ohne Kinder mit einer schlechteren gesell­
                                                                      der. Ich habe dem Druck nicht standgehalten (...) Ich
schaftlichen Einbindung einhergeht. Ich war
                                                                      hatte eine postpartale Depression und leide nun schon
erstaunt darüber, wie viel weniger Sozialkon­
takte und Verpflichtungen Personen ohne
                                                                      zu lange unter Burnout. Deswegen: Ja, ich bedaure es,
Kinder haben. Daraus kann man ableiten, dass                          Mutter geworden zu sein.» Die Debatte im Anschluss
Kinder beim Aufbau starker und für das Leben                          an die Veröffentlichung der israelischen Studie hat vie-
im Alter nützlicher sozialer Bindungen eine                           len Frauen bewusst gemacht, dass sie sich den Erwar-
wichtige Rolle spielen. /ade                                          tungen entziehen können. So schreibt eine Frau in den
                                                                      sozialen Medien: «Ich hatte mir mein Leben immer mit
Claudine Sauvain-Dugerdil ist Professorin für Fami-
liendemografie an der Universität Genf. Sie hat 2018                  Kindern vorgestellt. Niemals hatte ich darüber nach-
den Artikel Une vie florissante sans enfant? Le cas de                gedacht, dass es auch möglich ist, kein Kind zu haben
la Suisse publiziert.
                                                                      und sich auch keines zu wünschen.»

                                                                 12
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Anteil der Kinderlosigkeit bleibt stabil                      leben, die sie lieben: Diese ausschliessliche Beziehung
Laut der letzten Erhebung zu Familien und Generatio-          lässt für Kinder keinen Raum. In die zweite Gruppe fal-
nen des Bundesamts für Statistik (BFS) 2018 äusserten         len Frauen, die sich mit dem verwirklichen, was sie tun.
nur 8,8 Prozent der jungen Frauen und Männer im Alter         Sie engagieren sich mit einer solchen Energie, dass sie
von 20 bis 29 Jahren den Wunsch, kinderlos bleiben zu         keine weiteren Betätigungsfelder benötigen. Und die
wollen. Es bekommen allerdings nicht alle die Anzahl          dritte Gruppe besteht aus Frauen, die eine schwierige
an Kindern, die sie sich als junge Menschen gewünscht         Kindheit hatten oder eine Welt ablehnen, die sie als ge-
haben. Der Anteil der Frauen, die in der Schweiz kin-         walttätig und ungerecht wahrnehmen. Zu dieser Grup-
derlos bleiben, ist alles andere als vernachlässigbar:        pe gehört auch die Bewegung der Ginks («Green Incli-
19,7 Prozent der Frauen zwischen 50 und 59 Jahren ha-         nation, no Kids»), deren Anhängerinnen und Anhänger
ben kein Kind. Bei Frauen, die ein Hochschulstudium           aus Umweltgründen keine Kinder möchten. Sie finden
                                                              sich unter Hashtags wie #birthstrike und in Gruppen
                                                              wie Extinction Rebellion und fordern das Recht ein,

        «Diese Frauen                                         die Fortpflanzung als solche zu hinterfragen: «Dieses
                                                              Engagement ist durchaus legitim, gerechtfertigt und
      möchten sich anders                                     notwendig, deckt aber nicht sämtliche Aspekte ab. Es
                                                              gibt nur wenige Menschen, die ausschliesslich um-
      verwirklichen als in                                    weltbezogen denken», sagt Edith Vallée. Weiter stellt

       der Mutterrolle.»
                                                              die Psychologin fest, dass die meisten Frauen ihre Ent-
                                                              scheidung gegen Kinder nicht aus Ablehnung heraus
                                                              treffen: «Sie fühlen sich einfach zu etwas anderem hin-
                                                              gezogen und möchten sich anders verwirklichen als in
absolviert haben, liegt dieser Anteil bei 30,5 Prozent.       der Mutterrolle. Wenn man sein Leben selbst bestim-
Doch aus diesen Zahlen lässt sich nicht zwischen den          men kann, fällt die Entscheidung nicht für oder gegen
unfreiwillig kinderlosen Frauen (die «childless» sind,        Kinder, sondern für sich selbst. Es ist niemals zu spät,
also aufgrund von Lebensereignissen oder Unfrucht-            sich selbst zu verwirklichen. Für die Frau ist wichtig zu
barkeit keine Kinder haben) und den freiwillig kinder-        wissen, was ihr wirklich am Herzen liegt.»
losen Frauen («childfree») unterscheiden.                          Was die Entwicklung bei der Wahrnehmung der
      Claudine Sauvain-Dugerdil, Professorin für Fami-        Nichtmutterschaft betrifft, beobachtet Edith Vallée
liendemografie an der Universität Genf, sagt: «In der         heute ein durchlässigeres Verhältnis zwischen Müttern
Schweiz war der Anteil der Frauen ohne Kinder schon           und Nichtmüttern: «Es scheint Mütter zu beruhigen,
immer hoch. Und er liegt weiterhin stabil bei etwa 20         dass es Frauen gibt, die ein erfülltes Leben ohne Kin-
Prozent.» Die Familiendemografin hat einen wissen-            der führen. Das beflügelt die Mütter, sich auf andere
schaftlichen Artikel mit dem Titel Une vie florissante        Weise zu verwirklichen, sobald es für sie möglich ist.
sans enfant? Le cas de la Suisse (siehe nebenstehendes        Sie haben weniger Schuldgefühle und werden sich da-
Interview) verfasst. Sie wollte herausfinden, ob keine        rüber bewusst, dass auch sie etwas anderes tun dürfen.
Kinder zu haben einem spezifischen Lebensentwurf              Es stellt sich eine Form von Respekt ein. Allerdings
entspricht, der sich verbreitet. Ihr Ergebnis ist eindeu-     gilt dies nur für Frauen reiferen Alters. Die heutigen
tig: «Der Anteil der Frauen, die kein Kind wollen, steigt     30-Jährigen sind leider immer noch mit demselben ge-
nicht signifikant. Anders, als man meinen könnte, han-        sellschaftlichen Druck konfrontiert.» 
delt es sich also nicht um ein Phänomen, das sich der-
zeit in der Schweiz ausbreitet.» Die Demografin unter-
streicht, dass der Kinderwunsch ein sehr ambivalentes
Thema ist: «Wenn dieselben Frauen wiederholt befragt
werden, stellt man fest, dass sie sich von Jahr zu Jahr                          LITERATUR
anders entscheiden. Es gibt nur wenige, die dreimal in
Folge angeben, keine Kinder zu wollen.»                                          Donath, O. (2015). Regretting mother-
                                                                                 hood. Berkeley: North Atlantic Books.
Sich anders verwirklichen                                                        Sauvain-Dugerdil, C. (2018). Une vie
                                                                                 florissante sans enfant ? Le cas de la
Wer sind also diese Frauen, die sich gegen Kinder ent-
                                                                                 Suisse. LIVES Working Paper, 72, 1–35. doi:
scheiden? Die Psychologin Edith Vallée teilt sie in drei                         10.12682/lives.2296-1658.2018.72
Gruppen ein. In der ersten Gruppe sind Frauen, die                               Vallée, E. (2005). Pas d'enfant, dit-elle.
keine Kinder haben, weil sie mit der Person zusammen-                            Les refus de la maternité. Paris: Imago.

                                                         13
ELTERN WERDEN

Wenn sich die Paar­
beziehung erweitert
Der Übergang zur Elternschaft kann sowohl
Zufriedenheit als auch Spannungen erzeugen
Psychoscope 5/2021   E LT E R N W E R D E N

                                                                      ermöglicht Versuche und Anpassungen. Im Idealfall
                                                                      entstehen ein Konsens und eine neue Organisation,
                                                                      die im letzten Schritt die alte Organisation ablöst. In
                                                                      dieser Phase fällt die Entscheidung über den «Erfolg»
                                                                      des Übergangs. Vorübergehend verschwimmt dann
                                                                      die Paarbeziehung. An ihre Stelle tritt die gemeinsame
                                                                      Elternbeziehung, damit sich die Eltern auf das Kind
         Wenn ein Kind kommt, wird das Paar                           konzentrieren können. In den ersten zwei Jahren nach
         damit konfrontiert, die Elternschaft                         der Geburt des Kinds stellt sich ein Gleichgewicht zwi-
         zu gestalten. Die Eltern meistern die­                       schen den beiden Beziehungsfacetten ein, die dann
                                                                      neben­einander existieren.
         sen wichtigen Schritt, wenn sie ein                               Es geht dabei allerdings nicht nur um die Aufga-
         gutes Team bilden und sich über die                          benteilung, sondern vor allem auch um die Art, wie
         Aufgabenteilung einig sind.                                  die beiden Elternteile eine «emotionale Übereinkunft»
                                                                      finden: das Gefühl, ein Team zu bilden und aus der Fa-
         NICOL A S FAVEZ                                              milienorganisation Zufriedenheit zu ziehen. Als zen-
         Für die Paarbeziehung ist der Übergang zur Eltern-           tral in diesem Zusammenhang wird der Zusammen-
         schaft eine Zeit, aus der sich Weiterentwicklungsmög-        halt genannt: Die beiden Elternteile unterstützen sich
         lichkeiten, aber auch Probleme ergeben können. Was           gegenseitig sowohl emotional als auch praktisch bei
         daraus entsteht, ist nicht einfach eine lineare Fortset-     den täglichen Aufgaben. Dieser Zusammenhalt hängt
         zung des «vorherigen Lebens». Unter die positiven Ge-        von der Harmonisierung der Erwartungen beider Part-
         fühle, welche die Geburt eines Kinds begleiten, können       ner ab. Sie müssen nicht immer einer Meinung sein;
         sich negative mischen. Dies liegt unter anderem an der       grund­ legend aber ist die Fähigkeit, über Meinungs-
         Frustration über die vorübergehende relative Auflö-          verschiedenheiten zu sprechen und einen Konsens zu
         sung der vorherigen Paarbindung durch die Entste-            finden oder aber zu akzeptieren, dass es fortwährende
         hung der «gemeinsamen Elternbeziehung», welche im            Meinungsverschiedenheiten gibt, ohne dass die Part-
         Familienleben eine zentrale Stellung einnimmt. Dieser        ner dies als persönliche Bedrohung er­leben. Es kommt
         wesentlichen Veränderung wurden zahlreiche Studien           allerdings auch vor, dass mangelnder Zusammenhalt
         gewidmet.

         Entstehung der gemeinsamen Elternbeziehung
         Unter der gemeinsamen Elternbeziehung wird der                    Fehlender Paarzusam­
                                                                            menhalt zieht emo­
         «Anteil» der Paarbeziehung verstanden, der auf das
         Kind und seine Bedürfnisse ausgerichtet ist. Es han-
         delt sich um eine Erweiterung der Beziehung zwischen
         den Eltern, die bis zur Geburt des ersten Kinds aus-
                                                                           tionale Probleme beim
         schliesslich paarbezogen war. Wie alle bestehenden
         Beziehungen sind Paarbeziehungen stark schemati-
                                                                               Kind nach sich.
         siert und ritualisiert: Die Partner haben Gewohnheiten
         und erfüllte oder nicht erfüllte Erwartungen, die ihre
         Beziehung strukturieren. Diese Gewohnheiten und Er-          chronisch wird und auf einen Bruch in der gemeinsa-
         wartungen müssen neu verhandelt und miteinander in           men Elternbeziehung hindeutet, der sich auf verschie-
         Einklang gebracht werden, damit sich die gemeinsame          dene Weise manifestieren kann. Zunächst kann sich
         Elternbeziehung nach und nach entwickeln kann.               eine feindliche Beziehung mit ständigem Streit über
              Für diesen Prozess ist Zeit nötig: Die gemeinsame       das Kind und dessen Erziehung entwickeln. Es kann
         Elternbeziehung wird zum ersten Mal «offiziell», wenn        sich auch ein Ungleichgewicht beim elterlichen En-
         das Paar über die Aufgabenaufteilung nach der Geburt         gagement einstellen: Ein Elternteil zieht sich aus dem
         des Kinds spricht – und damit gleichzeitig darüber,          Familienleben zurück und überlässt dem anderen die
         wie die bisher bestehende Aufgabenaufteilung neu ge-         Verantwortung und sämtliche elterlichen Aufgaben.
         staltet wird. Im zweiten Schritt funktioniert das Paar       Drittens kann es zu einer Art von «kaltem Krieg» kom-
         in einem gemischten Modus: Die vor der Schwanger-            men, in dessen Mittelpunkt das Kind steht. Die Eltern
         schaft bestehende Aufgabenaufteilung bleibt in Kraft,        tauschen sich in diesem Fall freundlich aus, müssen
         aber die neue wird bereits getestet. Diese Mischphase        sich aber zu positiven Emotionen zwingen und zeigen

Unter der gemeinsamen Elternbeziehung
wird der «Anteil» der Paarbeziehung ver-
standen, der auf das Kind ausgerichtet ist.                      15
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Die Mutter kann den Zugang des Vaters zum Kind und damit die
­Beteiligung des Vaters fördern oder diesen im Gegenteil entmutigen.

nur sehr wenig Zuneigung. Wie bei allen Ungleichge-                    selbst erzeugt Unzufriedenheit: Die Beschäftigung
wichten in einer Beziehung ist fehlender Zusammen-                     mit dem Kind und die neuen Belastungen ziehen Mü-
halt selbstbestätigend, das heisst, der Konflikt erzeugt               digkeit nach sich, was wiederum bei den frischgeba-
weitere Konflikte, der Rückzug führt zu weiterem                       ckenen Eltern zu einem eher zweckorientierten und
Rückzug: Bei jeder «negativen Bewegung» eines Part-                    weniger liebevollen Austausch führt. Dies kann von
ners (beispielweise die Verweigerung einer Aufgaben-                   den Partnern negativ erlebt werden. Der Übergang
erledigung) hat der andere Partner das Gefühl, das                     zur Elternschaft verstärkt also die vorher bestehende
Recht zu haben, es ihm heimzuzahlen. Es stellt sich                    Beziehung: Paare mit einer engen Bindung werden
eine Dynamik ein, die im Lauf der Zeit Verbesserungen                  die Veränderung als Bereicherung und neue «Kom-
immer schwieriger macht. In Längsschnittstudien hat                    plizenschaft» empfinden, während problembelastete
sich gezeigt, dass fehlender Paarzusammenhalt der El-                  Paare sich möglicherweise immer weiter voneinander
tern emotionale Probleme beim Kind nach sich zieht.                    entfernen.
                                                                            Das Gleichgewicht zwischen der Paarbeziehung
Erleichterungs- und Erschwernisfaktoren                                und der gemeinsamen Elternbeziehung wird zum Teil
Die gemeinsame Elternbeziehung wird von einer Rei-                     auch dadurch bestimmt, wie stark sich der Vater am
he von kulturellen, gesellschaftlichen, beziehungs-                    Familienleben beteiligt. Diese Beteiligung wird nicht
bezogenen und psychologischen Faktoren bestimmt.                       von allen als gesellschaftliche «Verpflichtung» emp-
Als vorherrschende Einflussfaktoren wurden mehre-                      funden, obwohl sich dies allmählich verändert. Zwar
re Prozesse identifiziert, die direkt mit den Partnern                 möchten sich immer mehr Väter beteiligen und sich
und der Beziehung zusammenhängen. Der erste Fak-                       um ihre Kinder kümmern, doch es ist immer noch
tor ist der offensichtlichste, nämlich die «Qualität»                  einen Unterschied zwischen den Plänen der Väter
der Paarbeziehung, häufig gemessen anhand der Zu-                      während der Schwangerschaft und ihrer tatsächli-
friedenheit mit der Beziehung. Um sich aufgrund des                    chen Beteiligung nach der Geburt zu beobachten. Die
Übergangs zur Elternschaft neu zu organisieren, müs-                   mit dem Druck der Doppelbelastung durch Beruf und
sen die Partner Abstand einnehmen und verhandeln                       Familie konfrontierten Väter legen tendenziell mehr
können, was in angespannten Beziehungen schwierig                      Gewicht auf ihr berufliches Engagement. Dies wird
ist. In dieser Zeit treten starke Frustrationen und Mei-               von den Müttern, von denen die vollständige Erfül-
nungsverschiedenheiten auf. Und auch der Übergang                      lung ihrer beiden Aufgaben erwartet wird, weniger

                                                                   16
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akzeptiert. Die geringere väterliche Beteiligung kann       beziehung bei all diesen Familientypen dieselben sind
aber auch die Folge davon sein, dass die Mütter ihnen       (insbesondere bei gleichgeschlechtlichen Partnern,
keinen Handlungsspielraum einräumen.                        adoptierenden Partnern und Patchworkfamilien). Bei
     Manche Mütter geben an, sich manchmal in ei-           allen Familientypen besteht das Spannungsfeld aus
ner ambivalenten Position zu befinden: Sie erwarten         der Neuvergabe der Rollen, den Rückzugsphänome-
Unterstützung durch den Vater, wollen aber gleichzei-       nen, der Abschottung eines oder mehrerer Elternteile
tig ihre Aufgabe «erfüllen», weil die Gesellschaft dies     und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
von ihnen erwartet. Sie haben also das Gefühl, zeigen
zu müssen, dass sie die Kontrolle über das Familien-        Beziehung um eine neue Dimension erweitern
leben haben. Deswegen beschweren sich manche                Durch den Übergang zur Elternschaft verändert sich
Mütter darüber, dass der Vater zwar im Alltag mithilft,     die Paarbeziehung wesentlich. Sie wird mit der ge-
aber nicht so, wie die Mütter es erwarten. Darum            meinsamen Elternbeziehung um eine neue Dimension
übernehmen sie die familiären Aufgaben lieber selbst.       erweitert. Die Elternschaft nimmt im Familien­leben
Die Folge dieser Ambivalenz wurde mit dem Konzept           eine zentrale Stellung ein und kann Zufriedenheit und
des «Maternal Gate­  keeping» (der mütterlichen Ab-         Spannungen erzeugen. Für die Beziehung zwischen
schottung) beschrieben. Die Mutter kann den Zugang          den Eltern handelt es sich also entweder um eine Be-
des Vaters zum Kind und damit die Beteiligung des           reicherung oder um eine Gefährdung. Als langfristig
Vaters also fördern oder diesen im Gegenteil entmu-         entscheidend erweisen sich das Gefühl, ein Team zu
tigen, indem sie «sich abschottet», was zum Rückzug         bilden, und die von beiden Partnern geteilte Einschät-
des Vaters beiträgt.                                        zung, dass die Aufgaben gerecht aufgeteilt sind. 
     Dieses Pendeln zwischen Beteiligung und Rück-
zug einerseits und Öffnung und Abschottung ande-
rerseits spiegelt die aktuelle Zeit wider, in der die
Eltern zwischen der traditionellen, spezialisierten
Organisation und einer progressiven, egalitären und
aufgeteilten Organisation hin- und hergerissen sind.
Die Vorstellungen der Eltern von den elterlichen Rol-
len beziehungsweise den Geschlechterrollen im All-
gemeinen sind dabei von grundlegender Bedeutung:                                     DER AUTOR
Die Aufgabenaufteilung bei der gemeinsamen Eltern-
beziehung hängt stärker von diesen Vorstellungen als                                 Nicolas Favez ist Professor für Klinische
                                                                                     Psychologie an der Universität Genf.
vom Geschlecht des jeweiligen Elternteils ab. Stu-                                   Darüber hinaus ist er für die Forschungs­
dien auf Basis der «Theorie der Genderrollen» haben                                  einheit des Zentrums für Familienstudien
gezeigt, dass die gesellschaftlich als weiblich oder                                 der psychiatrischen Abteilung des Chuv
                                                                                     mitverantwortlich. Er forscht in den
männlich angesehenen Eigenschaften (beispielswei-                                    Bereichen Paar- und Familienbeziehun­
se Zuneigung, Kontakt mit anderen beziehungswei-                                     gen, Übergang zur Elternschaft sowie
                                                                                     Evaluierung und therapeutische Arbeit
se Behauptung, Führungsstärke) sowohl bei Män-                                       mit Familien.
nern als auch bei Frauen und sogar in «androgyner
Form» bei ein und derselben Person vorhanden sein                                    KONTAKT
können. Die androgyne Form begünstigt sowohl die
                                                                                     nicolas.favez@unige.ch
Beteiligung an den nahestehenden Beziehungen als
auch die Fähigkeit, sich für die elterlichen Aufgaben
                                                                                     LITERATUR
zu koordinieren; die Eltern können ihre Aufgaben bei
                                                                                     Favez, N. (2017). Psychologie de la co-
Bedarf tauschen, weil die Aufteilung nicht starr mit                                 parentalité. Concepts, modèles et outils
dem männlichen oder dem weiblichen Charakter ver-                                    d’évaluation. Paris: Dunod.
bunden ist. Dies fördert die elterliche Beteiligung und                              Favez, N. (2020). L’art d’être coparents.
die «Öffnung».                                                                       Se soutenir pour élever ses enfants. Paris:
                                                                                     Odile Jacob.
     Studien über die gemeinsame Elternbeziehung
                                                                                     Kuersten-Hogan, R., & McHale, J. P.
waren zunächst überwiegend den sogenannten «tra-
                                                                                     (Eds.). (2021). Prenatal family dynamics.
ditionellen» Familien gewidmet, wurden mittlerwei-                                   Couple and coparenting relationships du-
le aber auch auf neue Familientypen ausgeweitet. Es                                  ring and postpregnancy. Berlin: Springer.
konnte nachgewiesen werden, dass die Probleme                                        Die komplette Bibliografie kann beim
und Risiken im Übergang zur gemeinsamen Eltern­                                      Autor angefragt werden.

                                                        17
ELTERN WERDEN

   Die Elternschaft
psychologisch begleiten
  Die Paarqualität neuer Eltern nimmt meist ab.
Sie sind den Veränderungen aber nicht ausgeliefert
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                                                                      psychisch erkranken, kann das die Entwicklung eines
                                                                      Kinds direkt und indirekt beeinflussen. Effekte finden
                                                                      sich bereits intrauterin und bis 20 Jahre nach Geburt.

                                                                      Als Eltern gesund und glücklich bleiben
                                                                      Eltern sind diesen Veränderungen allerdings nicht
                                                                      schutzlos ausgeliefert. Es gibt viele Faktoren, welche
                                                                      ihre psychische Gesundheit im Übergang zur Eltern­
                                                                      schaft schützen können. Eine gute soziale Einbettung
                                                                      sowie eine tragende Partnerschaft gehören zu den
         Der Übergang in die Elternschaft                             wichtigsten Schutzfaktoren. In einer unserer Studien
         bringt Herausforderungen mit sich.                           an der Universität Zürich zeigten diejenigen Paare, die
         Bei der psychologischen Begleitung                           sich häufig positiv unterstützten, ein besseres Wohl­
                                                                      befinden während der Schwangerschaft und im ersten
         von Eltern ist es daher wichtig, die                         Jahr nach der Geburt. Diese Paare hörten einander
         Risikofaktoren für die Entwicklung                           etwa bei Stress zu und zeigten Verständnis. Nieder­
         psychischer Störungen zu kennen.                             schwellige Angebote zur Vermittlung und Aktivierung
                                                                      von Paarkompetenzen, wie beispielsweise das an der
         FABIENNE MEIER                                               Universität Zürich entwickelte Programm paarlife.ch,
         Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung (circa 60             können hier Hand bieten.
         Prozent) hat Kinder. Fast alle (circa 90 Prozent) wün­            Darüber hinaus fanden wir in unserer Studie, dass
         schen sich, einmal Eltern zu werden und für die meis­        eine ausgewogene Unterstützung innerhalb des Paars
         ten Menschen bedeutet die Geburt eines Kinds Glück,          mit weniger depressiven Symptomen assoziiert ist.
         Freude und die Erfüllung eines Lebenstraums. Gleich­         Diejenigen Paare aber, die das Gefühl hatten, sie bekä­
         zeitig geht die Geburt eines gemeinsamen Kinds mit
         Herausforderungen einher, die in ihrem Ausmass
         frisch­gebackene Eltern häufig überraschen. Entgegen
         den Erwartungen erleben die meisten Paare eine Ab­                 Unterstützung inner-
                                                                            halb des Paars ist mit
         nahme der Partnerschaftsqualität.
              Gründe für die Abnahme gibt es viele. Zum Bei­
         spiel müssen die Eltern nach der Geburt einen zu­
         sätzlichen Haushalts- und Betreuungsaufwand von
                                                                             weniger depressiven
         durchschnittlich 32 Stunden pro Woche bewältigen.
         In gemischt-geschlechtlichen Partnerschaften werden
                                                                           Symptomen assoziiert.
         diese Aufgaben zu Ungunsten der Frau aufgeteilt. Stu­
         dien zeigen, dass diese Ungleichverteilung mit einer
         tieferen Partnerschaftszufriedenheit bei Männern und         men nicht gleich viel Unterstützung als sie geben, be­
         Frauen zusammenhängt. Zudem schlafen die meisten             richteten von mehr depressiven Symptomen. Entspre­
         Menschen im ersten Jahr nach der Geburt deutlich we­         chend sollten in der Beratung und Therapie bestenfalls
         niger und die Zeit für Selbstfürsorge, Freizeit und sozi­    beide Elternteile einbezogen werden. Studien weisen
         ale Kontakte nimmt ab. Das Risiko für die Entwicklung        darauf hin, dass Beratungs- und Therapieangebote da­
         einer psychischen Störung steigt. Jede fünfte Frau (cir­     durch an Wirksamkeit gewinnen.
         ca 20 Prozent) und jeder siebte Mann (circa 15 Prozent)
         entwickelt eine psychische Störung im Übergang zur           Eltern psychologisch unterstützen
         Elternschaft. Damit gehören psychische Störungen zu          Eltern sollten immer wieder dazu ermuntert werden,
         den häufigsten Gesundheitskomplikationen, wie die            sich selbst und der Partnerschaft etwas Gutes zu tun.
         Hebamme und Biologin Anke Berger von der Berner              Das ist besonders im ersten Jahr nach der Geburt eine
         Fachhochschule feststellt.                                   Herausforderung, die sich aber meist lohnt – für die
              Das Wohlbefinden von Familienmitgliedern beein­         ganze Familie. Neben der Normalisierung von Belas­
         flusst sich wechselseitig. Zum Beispiel gilt eine psychi­    tungen im Übergang zur Elternschaft erleben es El­
         sche Erkrankung bei einem Elternteil als Hauptrisiko­        tern als stärkend, wenn ihren Stärken und Fähigkeiten
         faktor für die Entwicklung einer solchen beim zweiten        Beachtung geschenkt wird. Dazu zählen Humor, Of­
         Elternteil. Wenn Eltern in der Zeit rund um die Geburt       fenheit, Genuss- und Entspannungsfähigkeit, soziale

Eltern sollten immer wieder dazu ermuntert
werden, sich selbst und der Partnerschaft
etwas Gutes zu tun.                                               19
Psychoscope 5/2021   E LT E R N W E R D E N

Kompetenzen oder Kreativität. Auch ein Perspekti­            das Ergebnis der Behandlung. Die Wahrscheinlich­
venwechsel auf die schönen Seiten der Elternschaft           keit einer Konzeption beläuft sich aber nur auf circa
und achtsame Genussmomente sind für das elterliche           25 Prozent pro Eingriff. Die Wahrscheinlichkeit einer
Wohlbefinden oft zuträglich.                                 Lebendgeburt ist noch tiefer. Häufig werden Paare von
     Bei der Begleitung von Eltern ist es ausserdem          einem negativen Bescheid enttäuscht, sind traurig und
wichtig, zentrale Risikofaktoren für die Entwicklung         frustriert. Mit weiteren erfolglosen Versuchen steigt
psychischer Störungen zu kennen. Neben Paarkonflik­          das Misserfolgserleben und die Hoffnungslosigkeit.
ten gehören psychische Störungen in der eigenen oder         Häufig kommt es dann auch zu einer Verschlechterung
familiären Vorgeschichte zu den Hauptrisikofaktoren.         der partnerschaftlichen Zufriedenheit und Sexualität.
Bei Personen mit erhöhtem Risiko können frühzei­             In einer Studie der Zürcher Psychotherapeutin Misa
tig Warnsignale und Strategien ausgearbeitet werden.         Yamanaka-Altenstein zeigten 59 Prozent der Frauen
Dazu ist etwa die Krisen-App des Vereins Postpartale         und 23 Prozent der Männer eine klinisch bedeutsame
Depression Schweiz praktisch, mit der Eltern selbst          psychische Belastung bei gleichzeitig hoher Partner­
ihre Belastung einordnen und pro­aktiv beeinflussen          schaftszufriedenheit.
können. Bei bipolaren und psychotischen Störungen
sollte dringend eine medikamentöse Unterstützung             Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch
bereits in der Schwangerschaft geprüft werden. Wich­         Die Psychologin Heike Stammer vom Universitätskli­
tig ist zudem, dass auch nichtpsychologisch/psychiat­        nikum Heidelberg rät zu einem stufenweisen Vor­gehen
rische Fachpersonen mit Eltern über ihr psychisches          bei der psychologischen Beratung von Paaren mit
Wohlbefinden sprechen. Das wünscht sich auch eine            unerfülltem Kinderwunsch. Sie erachtet nur für eine
grosse Mehrheit (über 80 Prozent) der Eltern.                besonders belastete Untergruppe eine psychothera­
     Bereits während der Schwangerschaft kann es             peutische Behandlung als nötig. Eine niederschwellige
sich lohnen, über vergangene Herausforderungen               Beratung zu den psychosozialen Folgen von Unfrucht­
und Bewältigungsstrategien nachzudenken. Eine Stu­           barkeit und reproduktionsmedizinischen Eingriffen
die der Psychologieprofessorin Birgit Kleim von der          sei hingegen für alle Paare mit Kinderwunsch empfeh­
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zeigte, dass       lenswert. Häufige Belastungen sollten in der Beratung
Personen, die sich lebhaft vorstellten, wie sie eine ver­    normalisiert statt pathologisiert werden. Zudem sollen
gangene Herausforderung gemeistert hatten, aktuelle          gemäss der Psychologin die Erfahrungen und Kom­
negative Situationen besser neu bewerten konnten und         petenzen der häufig ressourcenstarken Paare aktiv
Erinnerungen als weniger belastend einordneten als           genutzt werden. Kommt es zu negativen Ergebnissen,
Personen, die sich an positive Erlebnisse ohne Bewäl­        kann manchmal eine Krisenintervention angezeigt
tigung erinnerten.                                           sein. Besonders wichtig ist, frühzeitig den Abschluss
                                                             der medizinischen Behandlung und den damit einher­
Anteil ungewollt Kinderloser nimmt zu                        gehenden Trauer­prozess zu thematisieren.
In den vergangenen Jahren blieben lediglich 10 Pro­               Dieser Trauerprozess bietet die Chance, alternati­
zent der Bevölkerung gewollt kinderlos. Allerdings           ve Lebensentwürfe zu entwickeln. Deshalb ist es wich­
nimmt der Anteil ungewollt kinderloser Menschen              tig, dass sich die Paare mit den schwierigen Gefühlen
stetig zu. In der Schweiz bleibt circa jedes zehnte Paar     auseinandersetzen. Sie sollen aktiv dazu ermuntert
trotz Kinderwunsch kinderlos. Als Hauptgrund für die         werden, ihre Gefühle zuzulassen und zu verarbeiten.
Zunahme gilt das seit Jahren steigende Alter der Men­        Wie bei den meisten Verlusterlebnissen bleibt eine
schen, die erstmals Kinder bekommen. Die Gründe              Narbe, die auch noch viele Jahre später wieder auf­
dafür liegen nicht in psychologischen, sondern meist         brechen kann. Dann ist es wichtig, das Erlebte in den
in organischen Ursachen, die gleich verteilt sind auf        eigenen Lebensentwurf zu integrieren. Im Verlauf der
Männer und Frauen.                                           Beratung lösen sich viele Paare von ihrem engen Fokus
     Paare mit unerfülltem Kinderwunsch zeigen eine          auf den Kinderwunsch und können wieder andere re­
durchschnittlich höhere Beziehungszufriedenheit als          levante Lebensziele sehen.
Paare mit Kindern. Aktuelle Studien zeigen aber, dass
die psychische Belastung mit zunehmender Dauer der           Queere Eltern kämpfen mit Vorurteilen
Unfruchtbarkeit zunimmt. Viele Paare, die sich in einer      Der Diskurs über die Elternschaft ist heteronormativ
reproduktionsmedizinischen Behandlung befinden,              geprägt. Meistens wird von der Mutter gesprochen,
gelangen in eine Negativspirale. Nach einer Sterili­         manchmal auch noch von einem Vater. Dabei identi­
tätsdiagnose weckt diese Behandlung häufig Hoffnung          fizieren sich in der Schweiz nur circa 80 Prozent der
und Zuversicht. Darauf folgt ein banges Warten auf           Bevölkerung als komplett heterosexuell. Darüber hin­

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