AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
73. Jahrgang, 14/2023, 3. April 2023

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
      Femizid
          Asha Hedayati                              Julia Habermann
   „WIR LEBEN IN EINEM                        BEZIEHUNGSFEMIZIDE
   SYSTEM, DAS GEWALT                      IN DER JURISTISCHEN PRAXIS
       BEGÜNSTIGT“
                                                    Christine E. Meltzer
  Sabine P. Maier · Paulina Lutz ·           GEWALT GEGEN FRAUEN
      Nora Labarta Greven ·                   IN DEN NACHRICHTEN
         Florian Rebmann
   WIE TÖDLICH IST DAS                               Alyssa Bedrosian
 GESCHLECHTERVERHÄLTNIS?                           NI UNA MENOS

           Birgit Sauer                          Claudia Opitz-Belakhal
     NAME IT, COUNT IT,                        HEXENVERFOLGUNG.
          END IT                            EIN HISTORISCHER FEMIZID?

                                                                               Der
                                                                           APuZ-Podcast

                     ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                                                                                         dcast
                          FÜR POLITISCHE BILDUNG                           bpb.de/apuz-po

                 Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
Femizid
                                     APuZ 14/2023
ASHA HEDAYATI                                     CHRISTINE E. MELTZER
„WIR LEBEN IN EINEM SYSTEM, DAS GEWALT            GEWALT GEGEN FRAUEN IN DEN
BEGÜNSTIGT“                                       NACHRICHTEN
Wie können Betroffene von Partnerschaftsgewalt    Gewaltverbrechen und insbesondere Tö-
besser geschützt werden? Ein Gespräch über        tungsdelikte werden von den Medien häufig
physische und psychische Gewalt, den Umgang       aufgegriffen. Dies gilt auch für Meldungen über
deutscher Familiengerichte mit Betroffenen und    Gewalt gegen Frauen. Auf welche Art und Weise
darüber, warum es der Gesellschaft oft schwer-    wird berichtet? Gibt es Besonderheiten in der
fällt, über diese Probleme zu sprechen.           deutschen Berichterstattung?
Seite 04–08                                       Seite 29–34

SABINE P. MAIER · PAULINA LUTZ ·                  ALYSSA BEDROSIAN
NORA LABARTA GREVEN · FLORIAN REBMANN             NI UNA MENOS
WIE TÖDLICH IST DAS                               Am 3. Juni 2015 versammelten sich über
GESCHLECHTERVERHÄLTNIS?                           250 000 Menschen in Buenos Aires zur ersten
Der Begriff „Femizid“ verweist auf unterschied-   Demonstration von Ni Una Menos. Aus den
liche Formen von Sexismus im Kontext tödlicher    Protesten hat sich eine transnationale femi-
Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Woher            nistische Bewegung entwickelt, die sich gegen
kommt der Begriff? Wie wird er verwendet?         geschlechtsspezifische Gewalt wendet.
Und welche Ausprägungen von Femiziden sind        Seite 35–39
für den deutschen Kontext relevant?
Seite 09–15
                                                  CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL
                                                  HEXENVERFOLGUNG.
BIRGIT SAUER                                      EIN HISTORISCHER FEMIZID?
NAME IT, COUNT IT, END IT                         In der Frühen Neuzeit in Europa machten Frauen
Ob eine Verschärfung des Strafrechts die          bei schweren Delikten wie Raub oder Mord kaum
Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts      zwei Prozent der Angeklagten aus. Bei Hexen-
verhindern kann, ist umstritten. Unbestritten     prozessen hingegen wurden Frauen wesentlich
ist jedoch, dass einheitliche Maßnahmen zur       häufiger angeklagt als Männer. Warum richtete
Sichtbarmachung und Sensibilisierung für die      sich die Hexenverfolgung vor allem gegen sie?
Prävention von Femiziden wichtig sind.            Seite 40–45
Seite 16–22

JULIA HABERMANN
BEZIEHUNGSFEMIZIDE IN DER
JURISTISCHEN PRAXIS
Beziehungsfemizide sind die bedeutendste
Form des Femizids in Deutschland und werden
entsprechend häufig vor Gericht verhandelt. Im
Rahmen der gerichtlichen Beurteilung werden
kritische Entscheidungen getroffen, die nicht
selten problematisch sind.
Seite 23–28
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
EDITORIAL
Gewalt gegen Frauen gehört weltweit zu den häufigsten Menschenrechtsver-
letzungen. Auch in Deutschland ist ihr Ausmaß erschreckend – in sämtlichen
sozialen Schichten und vor allem in Paarbeziehungen. 2021 gab es laut Polizeili-
cher Kriminalstatistik in Deutschland über 140 000 Opfer von psychischer und
physischer Partnerschaftsgewalt. 80 Prozent der Opfer waren Frauen – 79 Pro-
zent der Täter waren Männer. Im selben Jahr wurden 121 Personen Opfer von
Partnerschaftsgewalt mit tödlichem Ausgang, davon 109 Frauen. Somit wird
in Deutschland an jedem dritten Tag eine Frau Opfer von Mord oder Tot-
schlag durch ihren Partner oder Ex-Partner. Wenn diese Frauen aufgrund ihres
Geschlechts getötet werden, spricht man von „Femizid“.
    Der Begriff wurde in den 1970er Jahren von Feministinnen geprägt, um zu
verdeutlichen, dass ein Großteil der Tötungsdelikte an Frauen auf Machtdyna-
miken zwischen den Geschlechtern zurückzuführen ist: Es ist kein Zufall, dass
die Mehrheit der Opfer in Paarbeziehungen oder in gemeinsamen Haushalten
Frauen sind. Femizide haben somit eine strukturelle und gesamtgesellschaftliche
Tragweite und resultieren aus dem Besitz- und Machtstreben von gewalttätigen
Männern gegenüber Frauen und Mädchen. Zu den Tätern gehören Expartner,
Lebensgefährten, Väter, Brüder, aber auch Fremde.
    Wie kann die Gewalt gegen Frauen effektiv bekämpft werden? In Deutsch-
land wird mitunter über die Verschärfung des Strafrechts diskutiert. So plant
die Bundesregierung, geschlechtsspezifische Tatmotive explizit in die Liste der
menschenverachtenden Beweggründe aufzunehmen, was letztlich strafver-
schärfend wirken könnte. Ob dies zur Verhinderung von Femiziden beiträgt,
ist umstritten. Sicher ist aber, dass das Bewusstsein für das Ausmaß geschlechts-
spezifischer Gewalt geschärft werden sollte. Wenn die Taten nur als tragische
Einzelschicksale dargestellt werden, bleiben die zugrunde liegenden gesellschaft-
lichen Muster verborgen.

                                                   Lorenz Abu Ayyash

                                                                               03
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
APuZ 14/2023

INTERVIEW                                                            klesschwert über den Frau-
                                                                     en. Wenn sie häusliche Gewalt

„WIR LEBEN IN EINEM
                                                                     ansprechen, dann besteht die
                                                                     Gefahr, dass ihnen vorgewor-

SYSTEM, DAS GEWALT
                                                                     fen wird, die Kinder gegen
                                                                     den Vater zu instrumentalisie-

BEGÜNSTIGT“
                                                                     ren. Oder es kommen misogy-
                                                                     ne Mythen dazu, etwa dass die
                                                                     Frauen die Bindung der Kinder
Ein Gespräch über Partnerschafts­                                    zum Vater unterbinden wollen.
                                                                     Dabei geht es ihnen in erster
gewalt, den Umgang deutscher                                         Linie darum, sich selbst und
Familiengerichte mit Betroffenen                                     die Kinder zu schützen.

und darüber, warum sich die                                          Wie viele Frauen in Deutschland
                                                                     sind von häuslicher Gewalt
Gesellschaft schwertut, über diese                                   betroffen?
Probleme zu sprechen.                                                – Laut einer Studie aus dem
                                                                     Jahr 2004 hat jede vierte Frau
                                                                     in Deutschland mindestens ein-
Mit Asha Hedayati                                                    mal in ihrem Leben Partner-
                                                                     schaftsgewalt erlebt. Und jede
                                                                     dritte Frau ist, unabhängig von
Frau Hedayati, als Anwältin für    ihrem Mann psychisch und          einer Partnerschaft, einmal im
Familienrecht vertreten Sie vor    körperlich misshandelt wurde,     Leben von Gewalt betroffen.
allem Frauen, die von häuslicher   ist nach der Trennung Opfer
Gewalt betroffen sind. Gibt        dieser Nachtrennungsgewalt        Ist das ein Problem, dass auch
es einen Fall, der Sie gerade      geworden – mithilfe staatlicher   LGBTQA*-Personen betrifft?
besonders beschäftigt?             Institutionen. Irgendwann ist     – Dazu kenne ich keine Studi-
Asha Hedayati – Mich beschäf-      sie im Verfahren zusammenge-      en, aber man kann sicher davon
tigen in besonderem Maße Fäl-      brochen und als Betreuungs-       ausgehen, dass LGBTQA*-
le, die einen Bezug zu Kindern     und Bezugsperson ausgefallen.     Personen genauso betroffen
haben. Ich habe eine Mandan-       Seitdem leben die Kinder beim     sind. Sie haben oft das Pro-
tin, die mit ihren drei Kin-       Vater. Und da frage ich mich      blem, dass sie beispielsweise
dern vor ihrem gewalttätigen       schon, was das mit Kindern        bei der Polizei diskriminieren-
Expartner in ein Frauenhaus        macht, wenn sie sehen, dass der   de Erfahrungen machen und
geflüchtet ist. In der familien-   Staat diese männliche Gewalt      den staatlichen Institutionen
gerichtlichen Anhörung haben       nicht ernst nimmt.                dadurch weniger vertrauen. Sie
die Kinder der Richterin von                                         suchen entsprechend weniger
der Gewalt gegen die Mutter        Ist das ein besonderer Fall       nach Hilfe, können schlechter
und gegen sich selbst berich-      oder haben Sie das schon öfter    geschützt werden. Die Dun-
tet. Aber weder die Mutter         erlebt?                           kelziffer dürfte bei dieser Per-
noch die Kinder wurden ernst       – Das ist kein Einzelfall. Es     sonengruppe besonders hoch
genommen. Der Vater hat die        gibt von Gewalt betroffene        sein.
Mutter dann mit Verfahren          Frauen, die sich durch gericht-
überzogen, sie mit Lügen über-     liche Verfahren durchbeißen.      Wenn man sich die Zahlen
kippt. Und weder das Jugend-       Aber es kann eigentlich nicht     anschaut, kann man davon
amt noch das Familiengericht       an der Widerstandskraft des       ausgehen, dass jede:r von
haben ihm Grenzen gesetzt,         Opfers liegen, ob man Recht       uns entweder eine Betroffene
weil seine Seite ja auch immer     bekommt oder nicht. In diesen     häuslicher Gewalt oder einen
angehört werden muss. Und          familiengerichtlichen Verfah-     Täter persönlich kennt. Dennoch
diese Frau, die jahrelang von      ren hängt immer so ein Damo-      ist Partnerschaftsgewalt fast

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
Femizid APuZ

ein Tabuthema in Deutschland.       Ich habe kürzlich ein Buch über     Arbeitsverhältnissen etwa oder
Haben Sie eine Erklärung,           die Frauenhausbewegung der          Frauen mit unsicherem Auf-
warum das so ist?                   1970er Jahre gelesen. Da wur-       enthaltsstatus. Diese Personen-
– Tabus haben immer mit             de eine Historikerin gefragt,       gruppen rutschen viel schneller
Scham zu tun. Frauen, die von       ob sie sich erinnern könne, wer     und leichter in Abhängigkeits-
Gewalt betroffen sind, schä-        die erste Bewohnerin des ers-       verhältnisse. Trans Frauen sind
men sich für ihre Opferrol-         ten Frauenhauses in Berlin war.     besonders gefährdet, weil sie
le. Und das tun sie auch, weil      Sie antwortete, dass sei die Frau   weniger Zugang zu Schutzräu-
ihnen die Gesellschaft und die      eines hochrangigen Richters         men haben und weniger Un-
staatlichen Institutionen durch     gewesen. Häufig, wenn wir an        terstützung bekommen. Aber
Täter-Opfer-Umkehr, durch           häusliche Gewalt denken, den-       auch Akademikerinnen kön-
Sexismus, durch misogyne My-        ken wir nicht an Personen, die      nen betroffen sein. Ich habe
then immer wieder die Verant-       uns ähnlich sind oder aus un-       oft erlebt, wie die Gewalt vor
wortung für das gewalttätige        serer Blase kommen. Das will        allem dann zunimmt, wenn
Verhalten ihrer Partner über-       man lieber verdrängen.              die Frauen sich emanzipieren
tragen. Scham ist also bei den                                          und selbstständiger werden,
Betroffenen ein Thema. Bei          Oft wird Gewalt gegen Frauen        wenn sie plötzlich mehr Geld
den Tätern, bei den Cis-Män-        nur dann als gesellschaftliches     verdienen als ihre Ehemänner.
nern, die ja in den allermeis-      Problem angesprochen, wenn          Akademikerinnen sind oft Op-
ten Fällen die Täter sind, ist es   die Täter People of Color sind.     fer psychischer Gewalt, weil
vielleicht so, dass sie kein be-    Warum?                              Männer aus Akademikerkrei-
sonders großes Interesse daran      – Ich glaube, dass das eine         sen sehr gut wissen, wie sie die-
haben, darüber zu reden, weil       Funktion erfüllt. Es ist leichter   se Form der Gewalt einsetzen
sie sich dann mit sich selbst,      für die Gesellschaft, diese Pro-    können, ohne dass es das Um-
mit ihren Privilegien und ihrer     bleme auszuhalten, wenn sie         feld mitbekommt.
Gewalttätigkeit auseinander-        an den Rand gedrängt werden
setzen müssten. Und die Poli-       können, wenn Menschen sagen         Was meinen Sie mit psychischer
tik hat kein besonders großes       können, „Ich bin nicht Täter.       Gewalt?
Interesse am Thema Partner-         Das ist die sozial benachteilig-    – Das ist eine viel subtilere
schaftsgewalt, weil es für dieses   te Person of Color in Neu-          Form von Gewalt, die sicher-
Problem keine einfachen und         kölln“, wenn die Täter frem-        lich ähnlich schwere Folgen
schnellen Lösungen gibt. Echte      de Vornamen haben – wenn es         für die Betroffenen hat wie
Präventionsmaßnahmen zahlen         eben nicht um meinen Arbeits-       körperliche. Der Täter schafft
sich erst Jahrzehnte später aus.    kollegen Thomas oder mei-           es, nach und nach seine Frau
Und weil die Ergebnisse nicht       nen Bruder Markus oder mei-         zu isolieren, sodass sie keine
sofort geliefert werden können,     nen Freund Jonas geht. Das          Freund:­innen mehr trifft, kei-
führt das nicht unbedingt zu        macht den Blick in den Spiegel      nen Hobbys mehr nachgeht,
mehr Wählerstimmen. Das sind        leichter zu ertragen, weil sonst    keine Selbstwertquellen mehr
einige der Gründe, die meiner       müsste man sich damit ausei-        pflegt. Dann kommen die Be-
Meinung dazu führen, dass das       nandersetzen, dass man sicher       leidigungen, die Herabwürdi-
Thema nicht die Aufmerksam-         irgendwelche Freunde hat, die       gungen und die Bedrohungen
keit bekommt, die es verdient.      Täter sind, oder dass man viel-     dazu. Und irgendwann verliert
                                    leicht sogar selbst mal Täter       die Frau ihr Selbstwertgefühl,
Sie haben gerade die Cis-           war.                                ihr komplettes Ich. Die Ge-
Männer angesprochen. Wer sind                                           fahr ist, dass psychische Ge-
die Täter häuslicher Gewalt?        Gibt es Frauen, die besonders       walt schleichend ist. Sie wird
– Häusliche Gewalt zieht sich       gefährdet sind, Betroffene zu       von den Betroffenen erst re-
durch alle sozialen Schichten       werden?                             lativ spät erkannt, manchmal
und Milieus. Es ist ein Trug-       – Mehrfach marginalisierte          erst, wenn körperliche Gewalt
schluss zu glauben, dass die        Personen sind sicherlich be-        dazukommt. Die Journalis-
Täter vor allem sozial benach-      sonders betroffen. Rassifizier-     tin Antje Joel veranschaulicht
teiligte People of Color wären.     te, arme Frauen mit prekären        dies in ihrem Buch „Prügel“

                                                                                                      05
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APuZ 14/2023

mit dem Bild eines Frosches:            von Armut betroffen. Es kann        ganz großen Verunsicherung
Wirft man ihn in heißes Wasser,         nicht sein, dass Frauen bei ei-     bei den Betroffenen, die dann
springt er sofort heraus. Wirft         ner Trennung zwischen Gewalt        häufig die Schuld bei sich su-
man einen Frosch aber in kal-           und Armut wählen müssen.            chen, sich fragen, was sie hätten
tes Wasser und lässt es lang-                                               besser machen können – wie sie
sam aufkochen, dann springt er          Gibt es auch Betroffene, die sich   hätten verhindern können, dass
nicht mehr heraus, er stirbt am         davor scheuen, Hilfe zu suchen,     man ihnen keine Gewalt antut.
Ende trotzdem, weil es zu heiß          weil sie Angst haben, sie könnten   Ein ganz großes Problem bei
ist. So schleichend ist psychi-         durch die Trennung ihre Kinder      Familiengerichten ist, dass der
sche Gewalt. Deswegen ist es            verlieren?                          Schwerpunkt der Betrachtung
auch schwierig, wenn wir als            – Ja. Das ist auch eine Gewalt-     auf dem Verhalten der Müt-
Gesellschaft den Frauen immer           methode, die Männer oft ein-        ter liegt. Es ist gnadenlos, wie
wieder die Frage stellen: „Aber         setzen, wenn es Kinder in der       unsere Gesellschaft Mütter be-
wie konntest du das so lange            Familie gibt. Sie drohen dann       urteilt und bewertet, während
mit dir machen lassen?“                 der Frau mit der Wegnahme           die Gewalt des Vaters häufig
                                        oder der Entführung der Kin-        weggewischt wird. Bei Kind-
Betroffenen häuslicher Gewalt           der. Sie sagen Dinge wie: „Ich      schaftsverfahren höre ich dann
fällt es oft nicht leicht, nach Hilfe   werde dafür sorgen, dass du sie     oft Sätze wie: „Die Gewalt des
zu suchen, auch aufgrund der            nie wieder siehst“, oder „ich       Vaters gegen die Mutter betrifft
Reaktionen, die sie manchmal            werde allen sagen, dass du psy-     nicht die Beziehung des Vaters
erleben. Welche anderen                 chisch krank bist und die Kin-      zum Kind“, oder „ein schlech-
Gründe gibt es?                         der nicht erziehen kannst.“         ter Partner ist ja kein schlechter
– Scham spielt sicherlich eine          Und damit kommen sie oft            Vater.“ Es gibt Situationen, da
Rolle. Aber es gibt auch struk-         durch. Ganz häufig muss ich         wünschte ich mir wirklich, das
turelle Probleme. Frauen sitzen         bei der Beratung den Frauen         Verfahren wäre öffentlich. Was
in dieser völlig ausgelieferten         immer wieder gut zusprechen         sich da in diesen verschlossenen
Situation zu Hause und fragen           und sagen: „Hör auf, ihm zu         Sälen abspielt, in Deutschland,
sich: „Was kann ich tun, wie            glauben“.                           ist für Betroffene häuslicher
komme ich aus dieser Situation                                              Gewalt oft ein Albtraum.
heraus?“ Gleichzeitig wissen            Die Kinder und das Sorgerecht
sie, sie werden etwa mit ihren          spielen oft auch bei den            Haben Sie ein konkretes Beispiel
zwei Kindern in Berlin keinen           Gerichtsverfahren ihrer Man­        für eine solche Situation?
bezahlbaren Wohnraum mehr               dantinnen eine wichtige Rolle.      – Ich habe häufig Schwierig-
finden. Das ist eine ganz kon-          Welche Probleme erleben Sie im      keiten mit Verfahrensbeistän-
krete Hürde. Nicht alle kön-            Gerichtssaal am häufigsten?         den bei Kindschaftsverfah-
nen in ein Frauenhaus ziehen            – Ich erlebe dort häufig viel       ren. Das sind von Gerichten
– und das ist auch nicht für            Unkenntnis zum Thema Part-          beauftragte In­ter­es­sen­ver­tre­
jede eine Lösung. Das ist mit           nerschaftsgewalt. Dynamiken         ter:­innen des Kindes. Sie sol-
extrem hohen Verlusten ver-             von Partnerschaftsgewalt oder       len eine Empfehlung ausspre-
bunden: Verlust des sozialen            überhaupt der Gewaltbegriff         chen, wie der Umgang mit den
Netzwerks oder der Kitaplät-            an sich werden meiner Mei-          Elternteilen gestaltet werden
ze, Verlust des Arbeitsplatzes.         nung nach zu wenig ernst ge-        könnte oder bei wem das Kind
Da müsste man strukturell was           nommen. Wenn es um Gewalt           leben soll. Bis vor einem Jahr
tun, man müsste den Frauen              geht, dann rein um die physi-       konnte jede:r, egal mit wel-
sofort Wohnraum zur Verfü-              sche – und selbst da wird dem       chem Background, nach einer
gung stellen und ihnen versi-           Täter oft genauso viel Platz        mehrwöchigen Ausbildung
chern, dass sie auch nach der           eingeräumt wie der Betroffe-        Verfahrensbeistand werden.
Trennung finanziell auskom-             nen. Aber wie kann man bei so       Ich habe schon ehemalige Ver­
men werden, denn – und auch             einem Machtgefälle von zwei         sich­er­ungs­mak­ler:­innen erlebt,
das ist ein strukturelles Pro-          Seiten sprechen, wenn die eine      oder Tanz­the­ra­peut:­innen, die
blem – als Alleinerziehende in          Seite so offensichtlich der Ag-     Empfehlungen aussprechen.
Deutschland ist man massiv              gressor ist? Das führt zu einer     Und manchmal lassen Verfah-

06
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
Femizid APuZ

rensbeistände Sätze fallen, bei      ben, die bestimmte Personen-        – Ich habe das Gefühl, dass die
denen mir der Kopf platzt. Ich       gruppen benachteiligen. Und         Mandantinnen ziemlich gut
hatte etwa eine Mandantin,           die vermeintliche Neutralität       wissen, wie bedrohlich die Si-
die mehrfach das Frauenhaus          von Rich­ter:­innen führt auch      tuation ist. Und das ist auch ei-
wechseln musste, weil der Va-        dazu, dass wir ein benachteili-     ner der Gründe, warum Sie die
ter der gemeinsamen Kinder sie       gendes System stabilisieren.        Trennung teilweise verzögern.
immer wieder aufgespürt hat.                                             Weil sie Angst davor haben,
Er hat den Kindern manipu-           Schützen deutsche Gesetze           nicht genügend geschützt zu
lative Fragen gestellt, um die       Betroffene häuslicher Gewalt        werden vor der Rache des Part-
Adresse des Frauenhauses he-         genügend?                           ners. Bei eskalierenden Fällen
rauszufinden. Da hat die Ver-        – Ich würde das so drehen: Vor      versuche ich allerdings schon
fahrensbeiständin dann in der        fünf Jahren ist in Deutschland      mehr darauf einzuwirken, dass
Verhandlung vor der Mutter           die Istanbul-Konvention in          meine Mandantinnen in ein
und dem Vater gesagt, die Mut-       Kraft getreten, ein völkerrecht-    Frauenhaus gehen. Obwohl sie
ter würde „mit ihrem Frauen-         licher Vertrag zur Bekämpfung       wissen, in welcher Gefahr sie
haus-Hopping den Kindern             von Gewalt gegen Frauen. Da         sich befinden, wollen manche
schaden“. Und die Richterin          stehen Forderungen drin und         Frauen ihre Kinder nicht aus
hat diesen Satz kommentarlos         konkrete Maßnahmen. Wenn            deren sozialem Umfeld reißen.
hingenommen, ohne Bewer-             Deutschland das umsetzen            Sie sagen: „Wenn ich da hin-
tung, ohne Einordnung, ohne          würde, was in der Istanbul-         ziehe, dann nehme ich mei-
Reaktion. Und die Betroffe-          Konvention steht, dann wären        nen Kindern auch ihre Freun-
ne musste damit umgehen. Das         wir einen ganz großen Schritt       de weg, und die Trennung ist
ist Nachtrennungsgewalt, eine        weiter.                             ja schon schwer genug für sie.“
sekundäre Gewalt durch den                                               Aber dann ist es mir wichtig,
Staat und die Rich­ter:­innen.       Ich würde zum Schluss noch auf      ihnen zu erklären: „Wenn du
                                     die extremste Form von Part­        als Mutter nicht mehr exis-
Welche Lösungsansätze sehen          nerschaftsgewalt zu sprechen        tierst, dann ist das für die Kin-
Sie an dieser Stelle?                kommen: Femizide, Morde an          der noch schlimmer.“
– Ich glaube, dass wir eine          Frauen, weil sie Frauen sind. Wie
Pflichtfortbildung zum Thema         oft passieren sie in Deutschland?   Warum ist es so schwer, Femizide
Partnerschaftsgewalt für Rich­       – Alle drei Tage wird in            zu verhindern?
ter:­innen veranlassen müssten.      Deutschland eine Frau durch         – Vorrangig, weil es unbequem
Schon bei der Ausbildung von         die Gewalt ihres Ex- oder           ist, sie zu verhindern. Weil
Jurist:innen müsste man mehr         Noch-Partners getötet. Der          wir dann unser System infrage
Familien- und Gewaltschutz-          größte Teil ereignet sich kurz      stellen müssten. Femizide zu
recht anbieten. Ich finde, dass      nach der Trennung. Ich habe         bekämpfen, würde bedeuten,
man generell Menschen im Ju-         schon die Gefahr der Eman-          dass manche Menschen ihre
rastudium mehr zu kritischem         zipation angesprochen. Der          Privilegien und Macht abgeben
Denken verleiten müsste, so-         Partner erträgt den Emanzi-         müssten. Wir müssten nach
dass sie nicht „so sind aber nun     pationsprozess der Frau nicht,      Lösungen suchen, um etwa
mal die Gesetze“ sagen, son-         ihr Mächtigwerden. Und er be-       Abhängigkeitsverhältnisse zu
dern sich auch fragen, ob das,       kommt dann das Gefühlt, das         verringern. Und das würde
was sie entscheiden, auch wirk-      würde seine Gewalt legitimie-       wiederum bedeuten, dass wir
lich gerecht ist. Ich erlebe noch    ren, er müsse diese Macht nun       uns die ökonomische Gleich-
viel zu wenig Rich­ter:­innen, die   zerstören, er müsse die Frau        stellung genauer anschauen
sich dessen bewusst sind, dass       zerstören.                          müssten, etwa den Gender Pay
Frauen immer noch benachtei-                                             Gap oder die unbezahlte Care-
ligt sind. Oder dass es People       Sie arbeiten ja oft mit             Arbeit der Frauen. Wir haben
of Color in Deutschland gibt,        Mandantinnen, die sich trennen      Gesetze, die Abhängigkeitsver-
die benachteiligt sind. Oder         wollen. Machen Sie die Frauen       hältnisse begünstigen, wie etwa
dass wir eben rassistische, dis-     auch auf diese konkrete Gefahr      das Ehegattensplitting, das An-
kriminierende Strukturen ha-         aufmerksam?                         reize dafür schafft, dass eine

                                                                                                       07
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
APuZ 14/2023

Person sehr viel Geld verdient      Gleichstellung, über Feminis-       verstehen, dass eine Gesell-
und die andere besser gar nicht     mus, über falsch verstandene        schaft nur frei und lebenswert
arbeiten geht. Wir leben in ei-     Männlichkeit sprechen. Über-        ist, wenn alle in ihr ein frei-
nem System, das nicht nur Ge-       haupt müsste man Kindern            es, lebenswertes Leben führen
walt nicht verhindert, sondern      helfen, eine Sprache für männ-      können.
sie tatsächlich begünstigt.         liche Gewalt zu finden. Und
                                    ich denke, wir müssen davon         Das Interview führte die
Was müsste ihrer Meinung nach       wegkommen, zu denken, dass          Journalistin Margherita Bettoni
passieren, damit wir es schaffen,   eine Veränderung nur durch          am 23. Februar 2023.
dass es überhaupt nicht mehr        Frauen erwirkt werden kann.
zu Partnerschaftsgewalt oder zu     Wir brauchen die Cis-Männer         ASHA HEDAYATI
Femiziden kommt?                    für eine echte Veränderung.         ist Anwältin für Familienrecht
– Es ist sehr wichtig, an den       Wir werden ohne sie da nicht        in Berlin-Neukölln. Im Herbst
Geschlechterrollen zu arbeiten.     weiterkommen. Auch sie müs-         2023 erscheint ihr Buch zum
Man sollte schon mit Kindern        sen Verantwortung dafür über-       Thema Gewalt gegen Frauen im
im Kita- und Schulalter über        nehmen. Und auch sie müssen         Rowohlt-Verlag.

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                                                                             APuZ – Der Podcast

                           bpb.de/
                         apuz-podcast
                                                                       AUS POLITIK
                                                                   UND ZEITGESCHICHTE

                                                                Geldpolitik
                                                                APuZ – Der Podcast

                                                                0:00                              -31:20

08
Femizid APuZ

                  WIE TÖDLICH IST DAS
                GESCHLECHTERVERHÄLTNIS?
    Sabine P. Maier · Paulina Lutz · Nora Labarta Greven · Florian Rebmann

„Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau          Umfassende gesellschaftspolitische Bedeu-
von ihrem (Ex-)Partner getötet, jeden Tag ver-        tung erlangte der Ausdruck insbesondere in La-
sucht es einer.“ Auf diese Tatsache wird aktuell      teinamerika, wo er ab den 1990er Jahren von
häufig verwiesen, um auf Femizide aufmerksam          feministischen Wis­sen­schaft­ler*­innen und Ak­ti­
zu machen.01 Während in Deutschland und Eu-           vist*­innen aufgegriffen, als femicidio oder femi-
ropa ein genereller Rückgang der Tötungsdelikte       nicidio ins Spanische übersetzt und konzeptionell
zu beobachten ist, fällt dieser bei weiblichen Op-    weiterentwickelt wurde.06
fern geringer aus. Es gibt somit nicht mehr Frau-         In den 1990er Jahren gab es etwa in Costa
entötungen, ihr relativer Anteil an allen Tötungs-    Rica und Brasilien basierend auf Russells Kon-
delikten wird jedoch größer.02 Das weist darauf       zept erste Forschungen zu Femiziden.07 Als Ka-
hin, dass Tötungsdelikte an Männern und Frauen        talysator für feministische Wissensproduktion
in unterschiedlichen Kontexten stattfinden und        und Aktivismus wirkten die brutalen Tötungen
anderen Einflussfaktoren unterliegen. Während         von meist jungen Frauen of Color, die seit den
Männer überwiegend gewaltsamen Auseinander-           frühen 1990er Jahren im mexikanischen Ciudad
setzungen mit anderen Männern im öffentlichen         Juárez vermehrt auftraten. Die Frauen wurden
Raum zum Opfer fallen, werden Frauen deutlich         entführt und ihre Leichen mit Spuren von Ver-
häufiger von Männern aus ihrem nahen Umfeld           gewaltigung und sexualisierter Folter im öffentli-
getötet. Um diese Unterschiede genauer zu be-         chen Raum deponiert. Strafverfolgung fand kaum
leuchten, ist eine Analyse aus Geschlechterper-       statt, während Medien und Behörden den Opfern
spektive notwendig. Hierfür kann das Konzept          mittels sexistischer und klassistischer Stereotype
Femizid hilfreich sein.                               die Verantwortung für die erfahrene Gewalt zu-
                                                      schrieben.08 Die tödliche Gewalt gegen Frauen
       KLEINE BEGRIFFSGESCHICHTE                      wurde zunächst als „innerfamiliäre Gewalt“ und
                                                      später als „Kollateralschaden des Drogenkriegs“
Heutige Verwendungen des Begriffs „Femizid“           verharmlost und normalisiert.09
(englisch: femicide) beziehen sich meist auf die          Die mexikanische Anthropologin und Kon-
feministische Soziologin Diana E. H. Russell,         gressabgeordnete Marcela Lagarde erweiter-
die ihn beim Internationalen Tribunal gegen Ge-       te vor diesem Hintergrund Russells Definition
walt an Frauen 1976 einführte. 03 Sie wollte her-     und hob hervor, dass feminicidio nur die „Spit-
ausstellen, dass ein Großteil der Frauentötungen      ze des Eisberges“ und die Folge struktureller
im Kontext der Machtdynamiken von Sexismus            und institutioneller Gewalt gegen Frauen und
und Misogynie patriarchal strukturierter Gesell-      Mädchen darstelle, was die Straflosigkeit der Tä-
schaften stattfindet. Eine Definition erarbeite-      ter einschließe.10 Mit diesem breiten Begriffsver-
te sie erst später und passte diese im Laufe der      ständnis werden nicht nur Tötungsdelikte, son-
Zeit an. 04 Zuletzt beschrieb sie femicide als „die   dern auch Todesfälle von Mädchen und Frauen
Tötung von weiblichen Personen durch männli-          beispielsweise infolge illegalisierter Schwanger-
che Personen, weil sie weiblich sind“. 05 Russell     schaftsabbrüche oder fehlenden Zugangs zu Ge-
meint damit Tötungen von Frauen und Mädchen,          sundheitsversorgung einbezogen.11 Die Begriffs-
die auf misogyne Einstellungen oder sexistische       version „Feminizid“ statt „Femizid“ wird daher
Erwartungen der Täter zurückgehen – Tötungen          oft verwendet, um die Aspekte der Straflosigkeit
also, bei denen das Geschlecht der Opfer nicht        und staatlichen Verantwortung hervorzuheben.
zufällig weiblich ist.                                In den 2000er Jahren wurden teils heftige Diskus-

                                                                                                      09
APuZ 14/2023

sionen über die Begriffsvarianten und konzeptio-                  beitsteilung für das Funktionieren der neolibera-
nellen Unterschiede geführt, die in jüngerer Zeit                 len Gesellschaftsordnung wesentlich seien.15
jedoch an Bedeutung verloren haben.                                    Inspiriert von Lateinamerika begannen Fe­mi­
    Familienangehörige der Opfer in Ciudad Juá-                   nist*­innen unter anderem in Spanien, Italien und
rez brachten ihren Protest bis vor123456789 den Intera-           Frankreich von Femiziden beziehungsweise Femi-
merikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.                     niziden zu sprechen.102345 Stark in Europa wahrgenom-
Dieser stellte 2009 im Fall „Campo Algodone-                      men wurde die Bewegung Ni Una Menos, die ab
ro“ fest, dass der mexikanische Staat die Men-                    2015 massive Proteste in Argentinien mobilisier-
schenrechte der getöteten Frauen verletzt habe.                   te.16 In Deutschland nutzten zunächst migrantische
Das vorherrschende Klima der Straflosigkeit nor-                  Frauen den Begriff, zum Beispiel aus der kurdi-
malisiere Gewalt gegen Frauen und trage dazu                      schen Frauenbewegung. Schließlich wurde er in den
bei, dass diese weiterhin ausgeübt werde.12 Es ist                2010er Jahren von internationalen Organisationen
das erste Urteil, das Feminizid als den „[Homi-                   wie der Weltgesundheitsorganisation und den Ver-
zid] von Frauen aufgrund des Geschlechts“ de-                     einten Nationen aufgegriffen.17 Während aktivisti-
finiert.13 Die Aufmerksamkeit, die die spektaku-                  sche Verwendungen des Begriffs meist ein breites
lären Fälle in Ciudad Juárez generierten, wurde                   Verständnis von Femiziden umfassen, strukturelle
aufgegriffen, um tödliche Gewalt gegen Frauen                     Zusammenhänge und staatliche Verantwortung be-
auch in anderen Kontexten anzuprangern, wo-                       tonen, findet sich bei staatlichen Ak­teur*­innen und
durch die Gewalt in Paarbeziehungen und Fami-                     in der Forschung eine Tendenz, sich auf bestimm-
lien stärker in den Blick geriet.                                 te Formen von Tötungsdelikten zu konzentrieren.
    Die meisten lateinamerikanischen Autor*­
innen analysieren tödliche Gewalt gegen Frauen                                 GESCHLECHTSBEZOGENE
in einem engen Zusammenhang mit neoliberal-                                    GEWALT GEGEN FRAUEN
kapitalistischen, kolonial-rassistischen und hete-
ronormativen Strukturen.14 Die extreme Gewalt,                    Die unterschiedlichen Definitionen haben ge-
insbesondere gegen vulnerable Frauen, halte den                   meinsam, dass sie Femizid als extreme Form von
Status quo des Geschlechterverhältnisses auf-                     geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen ver-
recht, da traditionelle Geschlechterrollen und Ar-                stehen. Femizide stehen demnach in einem „Kon-
                                                                  tinuum“ mit anderen, auch strukturellen Gewalt-
01 Vgl. Laura Backes/Margherita Bettoni, Alle drei Tage,
                                                                  formen, die teils fließend ineinander übergehen,
Hamburg 2021.                                                     denselben Ursprung und ähnliche Funktionen
02 Vgl. Office on Drugs and Crime (UNODC), Global Study           haben.18 Geschlechtsbezogene Gewalt gegen
on Homicide. Gender-Related Killing of Women and Girls, Wien
2019.
03 Diana E. H. Russell/Nicole van de Ven (Hrsg.), Crimes          10 Vgl. Marcela Lagarde y de los Ríos, Anthropologie, Feminis­
Against Women. Proceedings of the International Tribunal,         mus und Politik, in: Dyroff et al. (Anm. 8).
Berkeley 1976.                                                    11 Vgl. Jill Radford, Introduction, in: Radford/Russel (Anm. 4),
04 Vgl. Jill Radford/Diana E. H. Russell (Hrsg.), Femicide, New   hier S. 3–12.
York 1992.                                                        12 Vgl. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte,
05 Diana E. H. Russell, Defining Femicide and Related Con­        Caso González y Otras („Campo Algodonero“) vs. México,
cepts, in: dies./Roberta Harmes (Hrsg.), Femicide in Global       Urteil v. 16. 11. 2009.
Perspective, New York 2001, S. 12–25, hier S. 13.                 13 Melgar (Anm. 9), S. 95.
06 Im Folgenden wird überwiegend der Begriff „Femizid“            14 Siehe etwa Berlanga Gayón (Anm. 8).
verwendet. Bei direkten oder indirekten Zitaten findet eine       15 Vgl. Montserrat Sagot, Gendered Necropolitics, in: Pablo
Anlehnung an den Originaltext statt.                              Vommaro/Pablo Baisotti (Hrsg.), Persistence and Emergencies of
07 Vgl. Ana Carcedo/Montserrat Sagot, Femicidio en Costa          Inequalities in Latin America, Cham 2022, S. 95–110.
Rica 1990–1999, San José 2000; Suely Souza de Almeida,            16 Vgl. Dyroff et al., Einleitung. Zur Relevanz der Feminizid-
Femicídio, Rio de Janeiro 1998.                                   Forschung aus Lateinamerika, in: dies. (Anm. 8).
08 Vgl. Mariana Berlanga Gayón, Rassismus und Feminizid, in:      17 Vgl. Vereinte Nationen, Vienna Declaration on Femicide,
Merle Dyroff/Sabine Maier/Marlene Pardeller/Alex Wischnew­        1. 2. 2013, www.unodc.org/documents/commissions/CCPCJ/
ski (Hrsg.), Feminizide – Grundlagentexte und Analysen aus        CCPCJ_Sessions/CCPCJ_​22/_E-​C N15-​2013-​NGO1/​E-​C N15-​
Lateinamerika, Leverkusen 2023, (i. E.).                          2013-​NGO1_E.pdf; Weltgesundheitsorganisation, Understan­
09 Lucía Melgar, Labyrinthe der Straflosigkeit. Frauenmorde in    ding and Addressing Violence Against Women: Femicide, 2012,
Ciudad Juárez und extreme Gewalt in Mexiko heute, in: Gender.     www.who.int/publications/i/item/WHO-​R HR-​12.​38.
Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 3/2011,       18 Vgl. Liz Kelly, Surviving Sexual Violence, Cambridge–Ox­
S. 90–97.                                                         ford 1988.

10
Femizid APuZ

Frauen wird in internationalen Konventionen de-                      während Täter eine Überlegenheitsposition bean-
finiert als „Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet                   spruchen, ihre Macht demonstrieren und die Ge-
ist, weil sie eine Frau ist; oder die Frauen unver-                  walt als legitim ansehen.22
hältnismäßig stark betrifft“ – die also mit Diskri-                      In Anlehnung an das Verständnis geschlechts-
minierung zusammenhängt.19                                           bezogener Gewalt als Diskriminierung lässt sich
     Um geschlechtsbezogene Gewalt zu erfassen,                      argumentieren, dass mit dem Femizidbegriff auf
muss Geschlecht als soziokulturelles Konstrukt                       Sexismus beziehungsweise Misogynie im Kon-
(Gender) in einer binären Ordnung verstanden                         text tödlicher Gewalt gegen Frauen aufmerksam
werden, die nur zwei Geschlechter kennt, die sich                    gemacht wird. Dieser Sexismus kann sich in un-
heterosexuell aufeinander beziehen sollen. Frau-                     terschiedlichen Dimensionen manifestieren.
en beziehungsweise als weiblich definierte Per-                          Auf individueller Ebene können sich ex-
sonen sowie weiblich definierte Eigenschaften                        plizit frauenverachtende oder sexistische Mo-
werden abgewertet und „dem Männlichen“ un-                           tive zeigen.23 Nicht immer lassen sich jedoch
tergeordnet. Dieses historisch gewachsene struk-                     entsprechende Motive feststellen, weshalb der
turelle Machtungleichgewicht zwischen Männern                        Tatkontext analysiert werden muss, um auch die
und Frauen wird als patriarchal bezeichnet. Ge-                      strukturellen Hintergründe und die Ursachen der
schlechtsbezogene Gewalt hält dieses Geschlech-                      Tat zu erfassen.24 So kann ein besonders bruta-
terverhältnis aufrecht, indem Abweichungen von                       les Vorgehen (zum Beispiel in Form sogenannter
Geschlechternormen sanktioniert werden. Insbe-                       overkills) oder die Anwendung sexualisierter Ge-
sondere Frauen und Personen, die nicht ins binär-                    walt Misogynie ausdrücken. In einer Betrachtung
heteronormative System passen, sind von dieser                       auf Makroebene weist die überproportionale Ge-
Art von Gewalt betroffen.20                                          waltbetroffenheit von Frauen in heterosexuellen
     Die Anthropologin Rita Segato nennt in die-                     Paarbeziehungen darauf hin, dass diese besonders
sem Zusammenhang die „zwei Gesetze des Pat-                          stark von ungleichen Geschlechterverhältnissen
riarchats“: das Gesetz der Kontrolle und des Be-                     geprägt sind. Der Femizidbegriff hebt also das
sitzes des weiblichen Körpers und das Gesetz                         komplexe Zusammenspiel individueller Motiva-
der männlichen Überlegenheit.21 Der Besitz des                       tionen und Gewalthandlungen in verschiedenen
weiblichen Körpers bezieht sich vor allem auf                        sozialen Kontexten hervor, die von strukturellen
den Anspruch sexueller Verfügbarkeit – der bei-                      Machtungleichheiten aufgrund von Geschlecht
spielsweise bei „Sexualverbrechen“ gewaltsam                         und anderen Faktoren und Machtverhältnissen
durchgesetzt wird. Aber auch das Bestreben ei-                       geprägt sind. Daneben wird er verwendet, um
ner Frau, ihr Leben frei zu gestalten, kann Grund                    den medialen, politischen und rechtlichen Um-
für ihre Tötung sein. Femizide können demnach                        gang mit tödlicher Gewalt an Frauen zu kritisie-
eine Antwort auf eine gefühlte oder tatsächli-                       ren. Die Verwendung des Femizidbegriffs kann
che Bedrohung der männlichen Dominanz sein,                          daher je nach Kontext oder Bezugspunkt eine et-
etwa wenn sich Geschlechterverhältnisse durch                        was andere Bedeutung haben. So gelten für eine
zunehmende Gleichberechtigung ändern. Da-                            Definition für empirische Forschung andere An-
her hat Gewalt gegen Frauen auch expressive be-                      sprüche als für eine juristische Betrachtung oder
ziehungsweise kommunikative Funktionen: Ge-
waltopfer werden auf ihren „Platz“ verwiesen,
                                                                     22 Vgl. Carol Hagemann-White, Gewalt im Geschlechterver­
                                                                     hältnis als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und
19 Vgl. das Gesetz zum Übereinkommen des Europarats                  Theoriebildung, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer
vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt             (Hrsg.), Gewalt-Verhältnisse: feministische Perspektiven auf
gegen Frauen und häuslicher Gewalt von 2017. Die offizielle          Geschlecht und Gewalt, Frank­furt/M. 2002, S. 29–52.
Übersetzung von „gender-based violence“ ist „geschlechtsspezi­       23 Vgl. z. B. Luise Greuel/Axel Petermann, „Bis dass der Tod uns
fische Gewalt“, wir finden den Ausdruck „geschlechtsbezogene         scheidet …“ – Femizid im Rahmen von Partnerschaftskonflikten,
Gewalt“ jedoch treffender.                                           in: dies (Hrsg.), Macht – Nähe – Gewalt (?), Lengerich 2007,
20 Vgl. z. B. Aleida Luján Pinelo, A Theoretical Approach to the     S. 11–37.
Concept of Femi(ni)cide, in: Philosophical Journal of Conflict and   24 Vgl. UNODC/UN Women, Statistical Framework for
Violence 2/2018, S. 40–63.                                           Measuring the Gender-Related Killing of Women and Girls (Also
21 Vgl. Rita Laura Segato, ¿Qué es un feminicidio?, in: Marisa       Referred to as „Femicide/Feminicide“), 2022, www.unodc.org/
Belausteguigoitia/Lucía Melgar (Hrsg.), Fronteras, violencia, jus­   documents/data-​and-​analysis/statistics/Statistical_framework_
ticia: nuevos discursos, Mexiko-Stadt 2008, S. 35–48, hier S. 37.    femicide_​2022.pdf.

                                                                                                                                  11
APuZ 14/2023

politisch-aktivistische Verwendungen.25 Vor die-                    wie etwa beim Anschlag auf eine Synagoge in Hal-
sem Hintergrund ist es schlüssig, dass Femizid                      le 2019, bei dem der Täter neben antisemitischen
im politischen Diskurs vielfach mit der Tötung                      auch antifeministische Beweggründe für seine Tat
weiblicher (Ex-)Partnerinnen gleichgesetzt wird.                    angab.29
    Für eine kriminologisch-empirische Betrach-                         Eine weitere Form geschlechtsbezogener
tung reicht eine solch enge Definition allerdings                   Hassverbrechen sind Tötungen aufgrund der Ge-
nicht aus. Gleichzeitig können nicht alle Tötun-                    schlechtsidentität oder sexuellen Orientierung.
gen von Frauen Femizide sein, sondern nur jene,                     Gewalt gegen LSBTIQ*-Personen kann als Be-
in denen Sexismus oder eine Abwertung von                           strafung für die Abweichung von der Hetero-
Weiblichkeit gefunden werden können. Ausge-                         norm erfolgen und gleichzeitig als doing mas-
hend von einer Definition von Femiziden als ge-                     culinity, also zur Bestärkung von Männlichkeit
schlechtsbezogene Tötungsdelikte an weiblich                        dienen.30 Während es speziell zur Tötung von les-
definierten Personen stellen wir im Folgenden                       bischen Frauen keine konkreten Zahlen gibt, re-
jene Ausprägungen dar, die für den deutschen                        gistriert das Netzwerk Transgender Europe von
Kontext relevant sind.                                              2008 bis 2016 in Europa 113 Tötungen an trans
                                                                    oder gender-diversen Personen.31 Aktuelle Da-
      AUSPRÄGUNGEN VON FEMIZIDEN                                    ten zeigen, dass 95 Prozent der weltweit im Trans
                                                                    Murder Monitoring (TMM) registrierten Tötun-
Auf Motivebene sind Tötungen am offensicht-                         gen trans Frauen oder feminin-identifizierte Per-
lichsten als Femizide einzuordnen, bei denen die                    sonen betrafen, überwiegend migrantische und
Täter*­innen ihren Frauenhass deutlich vermitteln.                  Personen of Color sowie Sex­ar­bei­ter*­innen.32
Diese Femizide sind als Hassverbrechen zu verste-                   Dies weist darauf hin, dass neben der Abwei-
hen, bei denen die Opfer allein aufgrund ihrer Zu-                  chung von der Heteronorm eine Identifizierung
gehörigkeit zum Kollektiv „Frauen“ ausgewählt                       mit „Weiblichkeit“ die Vulnerabilität für tödliche
werden.26 Beispielsweise tötete 1989 der 25-jährige                 Gewalt erhöht.33
Marc Lépine in Kanada ausschließlich und gezielt                        Wird die Tatausführung betrachtet, drückt
14 Frauen und gab als Grund Hass auf Feminis-                       sich Misogynie insbesondere in sexualisierter Ge-
tinnen an.27 Auch der Attentäter Elliot Rodger er-                  walt aus. Dabei ist zu unterscheiden zwischen
mordete 2014 in den USA unter Angabe antifemi-                      sexuell beziehungsweise sadistisch motivierten
nistischer Motive sechs Menschen. Er gilt für die                   „Sexualmorden“ und sexualisierter Gewalt im
sogenannte Incel-Szene, die auch in Deutschland                     Zusammenhang mit Taten, denen primär ande-
zu finden ist, als Vorbild.28 „Incel“ steht für unfrei-             re Motive zugrunde liegen, wie etwa Raub. Für
williger Zölibat (englisch: involuntary celibate).                  Deutschland zeigt die Juristin Dagmar Oberlies,
Es handelt sich um (junge) Männer, die frustriert                   dass circa 20 Prozent der von ihr untersuchten
über ihre fehlende sexuelle Aktivität sind und die                  Tötungsdelikte von Männern an Frauen im Zu-
Schuld dafür bei Frauen sehen, die ihnen ihr an-                    sammenhang mit sexualisierter Gewalt standen.34
gebliches Recht auf Sex verweigern. Massenmorde
an Frauen werden als ultimatives Mittel gesehen,
                                                                    29 Vgl. Veronika Kracher, Im Krieg gegen Frauen, in: Jean-Philipp
sich gegen diese „Verschmähung“ aufzulehnen.
                                                                    Baeck/Andreas Speit (Hrsg.), Rechte Egoshooter – Von der virtuel­
Auch wenn in Deutschland bisher kein derarti-                       len Hetze zum Livestream-Attentat, Berlin 2020, S. 67–85.
ges Attentat bekannt ist, finden sich bei rechtsra-                 30 Vgl. Kristin Kelley/Jeff Gruenewald, Accomplishing Mas­
dikalen Attentätern Bezüge zu dieser Ideologie,                     culinity through Anti-Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender
                                                                    Homicide, in: Men and Masculinities 1/2015, S. 3–29.
                                                                    31 Vgl. Carsten Balzer/Carla LaGata/Lukas Berredo, TMM
25 Vgl. Ana Carcedo et al., No olvidamos ni aceptamos: femi­        Annual Report 2016, Berlin 2016, S. 19.
cidio en Centroamérica, 2000–2006, San José 2010.                   32 Vgl. Lukas Berredo, TMM Update Trans Day of Remembran­
26 Vgl. Leonie Steinl, Hasskriminalität und geschlechtsbezo­        ce 2022, 8. 11. 2022, ­https://transrespect.org/en/tmm-​update-​
gene Gewalt gegen Frauen, in: Zeitschrift für Rechtssoziolo­        tdor-​2022.
gie 2/2018, S. 179–207.                                             33 Vgl. Emerson Erivan de Araújo Ramos, Transfeminicídio, in:
27 Vgl. Eike Sanders/Anna O. Berg/Judith Goetz,                     Revista Direito e Práxis 2/2022, S. 1074–1096.
Frauen*rechte und Frauen*hass – Antifeminismus und die Ethni­       34 Vgl. Dagmar Oberlies, Tötungsdelikte zwischen Männern
sierung von Gewalt, Berlin 2019.                                    und Frauen: Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Unter­
28 Vgl. Taisto Witt, „If I Cannot Have It, I Will Do Everything I   schiede aus dem Blickwinkel gerichtlicher Rekonstruktionen,
Can to Destroy It.“, in: Social Identities 5/2020, S. 675–689.      Pfaffenweiler 1995, S. 64.

12
Femizid APuZ

Die Linguistin Deborah Cameron und die Po-                      rinnen Ehrkonzepte eine wesentliche Rolle spie-
 litikwissenschaftlerin Elizabeth Frazer verwei-                len und sich lediglich der Bezugspunkt von Ehre
 sen darauf, dass durch die Bedrohungskulisse des               verändert habe. Während sich Ehre in als tradi-
 „Sexualmörders“ Frauen dazu gebracht werden,                   tionell bezeichneten Kontexten auf die Familie
 ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken und sich                 beziehe, betreffe sie in individualisierten Gesell-
 dem männlichen Geschlecht unterzuordnen.35                     schaften den einzelnen Mann. Der dahinterste-
      Ein weiterer Kontext, in dem sexistische Be-              hende Mechanismus sei jedoch im Wesentlichen
 züge naheliegen, sind Tötungen im Zusammen-                    derselbe. In beiden Fällen führe die Verletzung
 hang mit Sexarbeit. Wenn Frauen als konsumier-                 bestimmter Regeln durch eine weibliche Person
 bare Sexualobjekte oder Sexarbeiterinnen als                   zur „Schande“ ihres Partners beziehungsweise ih-
 moralisch „schlechte Frauen“ betrachtet werden,                rer männlichen Familienmitglieder, welche durch
 scheint Gewalt gegen sie legitim. Einer Studie in              die Bestrafung – im Extremfall Tötung – der Frau
 Deutschland zufolge sind sie von allen erfassten               beseitigt werden könne. Der Unterschied liege le-
 Gewaltformen deutlich häufiger betroffen als an-               diglich in der Beteiligung der Gemeinschaft an
 dere Frauen.36 Untersuchungen in den USA stel-                 der Kontrolle und Sanktionierung der Frau.39
 len zudem fest, dass Frauen, die sexuelle Dienst-                  Während „Ehrenmorde“ im engeren Sinne in
 leistungen anbieten, häufiger als andere Frauen                Deutschland sehr selten sind (schätzungsweise
 Opfer von Tötungsdelikten werden.37                            maximal drei Fälle pro Jahr), sind Frauentötungen
      Femizide können sich auch hinter sogenann-                im Kontext heterosexueller Paarbeziehungen die
 ten Ehrenmorden verbergen. Damit sind Tötun-                   wohl häufigste Form von Femiziden.40 Bei mehr
 gen gemeint, die zur Wiederherstellung einer ver-              als jeder dritten (37 Prozent) versuchten oder
 meintlichen „Familienehre“ begangen werden.                    vollendeten Tötung einer Frau erfasst die Polizei-
 Diese wird durch die Verletzung von Verhal-                    liche Kriminalstatistik einen (Ex-)Partner als tat-
 tensnormen, die an Frauen und Mädchen gerich-                  verdächtig – 2021 waren das 301 Fälle. Nur vier
 tet sind, als gefährdet angesehen. Diese Normen                Prozent aller Tötungsdelikte an Männern erfolgen
 beziehen sich im Wesentlichen auf sexuelle Zu-                 dagegen durch ihre (Ex-)Partnerin.41 Bei Partner-
 rückhaltung, sodass vor- und außereheliche sexu-               schaftsgewalt scheint der Bezug zu Frauenverach-
 elle Beziehungen, Interaktionen mit männlichen                 tung weniger naheliegend – schließlich geben viele
 Personen außerhalb der Familie oder Autono-                    Männer an, ihre Partnerin geliebt zu haben. Aller-
 miebestrebungen als Affront gegen die Familie                  dings können sich in Tatkonstellationen und -mo-
 aufgefasst werden können. Es wird als Aufgabe                  tiven sexistische Aspekte zeigen, etwa wenn es
 der männlichen Familienmitglieder angesehen,                   um (vermeintliche) Verstöße gegen Rollenerwar-
 die Frau beziehungsweise das Mädchen dafür zu                  tungen in der Beziehung geht. Klassische Beispie-
­bestrafen.38                                                   le sind ein Trennungswunsch der Frau oder eine
      Auf den ersten Blick scheint westlich gepräg-             andere Art der Emanzipation, zum Beispiel eine
 ten Gesellschaften die Vorstellung, dass nonkon-               vom Partner unerwünschte Berufstätigkeit. Zu-
 formes weibliches Verhalten zu einem Ehrverlust                dem gibt es bei 60 bis 80 Prozent der Femizide an
 anderer Personen führt, fremd zu sein. Die Juris-              Intimpartnerinnen vorausgehende Gewalt durch
 tin Nancy V. Baker und ihre Kol­leg*­innen zeigen              den Mann. Die Juristin Luise Greuel beschreibt
 jedoch auf, dass auch bei Tötungen von Partne-                 dies als Manifestation von Besitzansprüchen, die
                                                                auf patriarchalen Rollenvorstellungen basieren.42
                                                                    „Ehrenmorde“ und „Beziehungstaten“ erfol-
35 Vgl. Deborah Cameron/Elizabeth Frazer, Lust am Töten:        gen am häufigsten, wenn die Frau beziehungswei-
Eine feministische Analyse von Sexualmorden, Berlin 1990.
36 Vgl. Monika Schröttle/Ursula Müller, Lebenssituation, Si­
cherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Teilpopu­   39 Vgl. Nancy V. Baker/Peter R. Gregware/Margery A. Cas­
lationen – Erhebung bei Prostituierten, Berlin 2004.            sidy, Family Killing Fields, in: Violence against women 2/1999,
37 Vgl. C. Gabrielle Salfati/Alison R. James/Lynn Fergu­        S. 164–184.
son, Prostitute Homicides, in: Journal of Interpersonal Vio­    40 Vgl. Dietrich Oberwittler/Julia Kasselt, Ehrenmorde in
lence 4/2008, S. 505–543.                                       Deutschland 1996–2005, Köln 2011.
38 Vgl. Carina Agel, (Ehren-)Mord in Deutschland. Eine          41 Vgl. Bundeskriminalamt, Partnerschaftsgewalt: Kriminalstatis­
empirische Untersuchung zu Phänomenologie und Ursachen          tische Auswertung – Berichtsjahr 2021, Wiesbaden 2022, S. 5.
von „Ehrenmorden“ sowie deren Erledigung durch die Justiz,      42 Vgl. Luise Greuel, Forschungsprojekt „Gewalteskalation in
Lengerich 2013.                                                 Paarbeziehungen“. Abschlussbericht, Bremen 2009.

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APuZ 14/2023

se das Mädchen die Trennung vom Partner beab-                        heitsstrafe. Für die Einstufung als Mord hinge-
sichtigt und eine autonome Entscheidung über ihr                     gen muss zusätzlich eines der in § 211 Absatz 2
Leben trifft. Eine überbetonte Unterscheidung                        Strafgesetzbuch aufgezählten Mordmerkmale er-
zwischen diesen Femizidformen ist daher wenig                        füllt sein. Wer zum Beispiel „heimtückisch“ oder
zielführend: Die zugrundeliegende Motivation hat                     „aus niedrigen Beweggründen“ tötet, wird wegen
den gleichen Ursprung. Dennoch wird in der deut-                     Mordes und dann grundsätzlich zu lebenslanger
schen Medienberichterstattung anhand von Narra-                      Freiheitsstrafe verurteilt.
tiven, die Gewalt gegen Frauen kulturalisieren, eine                     Eine Schräglage erkennt Dagmar Oberlies
vermeintlich klare Grenze zwischen der „muslimi-                     beispielsweise in der Auslegung des Mordmerk-
schen Einwanderungsgesellschaft“ und der „deut-                      mals „Heimtücke“, da diese „das Recht des Stär-
schen Mehrheitsgesellschaft“ gezogen: „Ehren-                        keren“ privilegiere.45 So liegt Heimtücke nach
morde“ wurzeln angeblich in den rückständigen                        ständiger Rechtsprechung regelmäßig vor, wenn
und patriarchalen Traditionen von Mi­grant*­innen,                   eine Frau ihren Mann im Schlaf tötet, der sie
wohingegen deutsche Täter vermeintlich nicht vor                     über Jahre misshandelt hat. Die häufig körperlich
dem Hintergrund einer sozialen und kulturellen                       überlegenen Männer werden ihr Opfer eher of-
Geschlechterungleichheit handeln, sondern im                         fen konfrontieren. Tötet ein Mann seine Partnerin
Kontext individueller „Beziehungsdramen“.43 Die                      im Zuge einer direkten Konfrontation, kann das
Verwendung des Begriffs „Femizid“ dient in die-                      dazu führen, dass das Opfer nicht mehr als arg-
sem Kontext dazu, verharmlosende oder kultura-                       los gilt, da es mit einem Angriff rechnen musste.
lisierende Darstellungen von Gewalt gegen Frauen                     Heimtücke scheidet dann aus.
zu vermeiden und den strukturellen Sexismus her-                         Im Zentrum der aktuellen Debatte steht aller-
vorzuheben, der diese Gewalt ermöglicht.                             dings die Bewertung der Beweggründe als „nied-
                                                                     rig“ im Sinne des § 211 Absatz 2 Variante 4 Straf-
             FEMIZIDE IM DEUTSCHEN                                   gesetzbuch. Ein Beweggrund ist niedrig, wenn er
                   STRAFRECHT                                        „nach sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht
                                                                     und deshalb besonders verachtenswert ist“ – ein
In jüngerer Zeit wird vermehrt die Frage aufge-                      freilich sehr unbestimmter Rechtsbegriff.46
worfen, ob bei der strafrechtlichen Aufarbeitung                         Hass auf das weibliche Geschlecht im oben
von Femiziden der Geschlechtsbezug der Taten                         beschriebenen Sinne ist ein solcher niedriger Be-
beziehungsweise deren sexistische Hintergrün-                        weggrund.47 Die Realität ist aber zuweilen viel-
de ausreichend berücksichtigt werden. In La-                         schichtiger – insbesondere in Partnerschaften. Be-
teinamerika hat insbesondere die unzureichende                       reits der zweifelsfreie Nachweis des Motivs ist
Strafverfolgung zur Schaffung von Straftatbe-                        mit Schwierigkeiten verbunden. Hüllt sich der
ständen geführt, die Femizide als spezifisches De-                   Täter in Schweigen, können meist nur die Tat­
likt erfassen.44 Hierzulande ist aufgrund der ho-                    umstände Auskunft darüber geben. Die Ermitt-
hen Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten indes                       lung der Beweggründe und deren Bewertung ge-
nicht davon auszugehen, dass Femizide weithin                        hen zum Teil ineinander über. Es ist zum Beispiel
ungesühnt bleiben. Dennoch stellen sie die Recht-                    umstritten, ob es für oder gegen die Niedrigkeit
sprechung vor erhebliche Heraus­forderungen.                         der Beweggründe des Täters spricht, wenn sich
    Häufig hängt das mit der Abgrenzung von                          das Opfer vor der Tat vom Täter getrennt hat.
Mord (§ 211 Strafgesetzbuch) und Totschlag                           Manche sehen hierin mit Verweis auf das moder-
(§ 212 Strafgesetzbuch) im deutschen Strafrecht                      ne Scheidungsrecht einen Ausdruck patriarcha-
zusammen. Für einen Totschlag ist erforderlich,                      ler Besitzansprüche beziehungsweise eine Form
dass ein anderer Mensch vorsätzlich getötet wird.                    der Hasskriminalität.48 Nach einem Beschluss
Die Strafe liegt zwischen fünf und 15 Jahren Frei-

                                                                     45 Oberlies (Anm. 34), S. 131. Die Strafe kann dann aber nach
43 Vgl. Anna Korteweg/Gökçe Yurdakul, Islam, Gender, and             ständiger Rechtsprechung gemildert werden.
Immigrants Integration, in: Ethnic and Racial Studies 2/2009,        46 Siehe jüngst BGH, Urteil v. 30. 3. 2022 – 5 StR 358/21.
S. 218–238.                                                          47 Vgl. Hartmut Schneider, Trennungstötungen als Mord, in:
44 Übersicht bei Wania Pasinato/Thiago P. de Ávila, Criminali­       Zeitschrift für Rechtspolitik 6/2021, S. 183–186.
zation of Femicide in Latin America, in: Current Sociology 1/2023,   48 Vgl. Inga Schuchmann/Leonie Steinl, Femizide, in: Kritische
S. 61–77.                                                            Justiz 3/2021, S. 312–327.

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