AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Femizid
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73. Jahrgang, 14/2023, 3. April 2023 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Femizid Asha Hedayati Julia Habermann „WIR LEBEN IN EINEM BEZIEHUNGSFEMIZIDE SYSTEM, DAS GEWALT IN DER JURISTISCHEN PRAXIS BEGÜNSTIGT“ Christine E. Meltzer Sabine P. Maier · Paulina Lutz · GEWALT GEGEN FRAUEN Nora Labarta Greven · IN DEN NACHRICHTEN Florian Rebmann WIE TÖDLICH IST DAS Alyssa Bedrosian GESCHLECHTERVERHÄLTNIS? NI UNA MENOS Birgit Sauer Claudia Opitz-Belakhal NAME IT, COUNT IT, HEXENVERFOLGUNG. END IT EIN HISTORISCHER FEMIZID? Der APuZ-Podcast ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE dcast FÜR POLITISCHE BILDUNG bpb.de/apuz-po Beilage zur Wochenzeitung
Femizid APuZ 14/2023 ASHA HEDAYATI CHRISTINE E. MELTZER „WIR LEBEN IN EINEM SYSTEM, DAS GEWALT GEWALT GEGEN FRAUEN IN DEN BEGÜNSTIGT“ NACHRICHTEN Wie können Betroffene von Partnerschaftsgewalt Gewaltverbrechen und insbesondere Tö- besser geschützt werden? Ein Gespräch über tungsdelikte werden von den Medien häufig physische und psychische Gewalt, den Umgang aufgegriffen. Dies gilt auch für Meldungen über deutscher Familiengerichte mit Betroffenen und Gewalt gegen Frauen. Auf welche Art und Weise darüber, warum es der Gesellschaft oft schwer- wird berichtet? Gibt es Besonderheiten in der fällt, über diese Probleme zu sprechen. deutschen Berichterstattung? Seite 04–08 Seite 29–34 SABINE P. MAIER · PAULINA LUTZ · ALYSSA BEDROSIAN NORA LABARTA GREVEN · FLORIAN REBMANN NI UNA MENOS WIE TÖDLICH IST DAS Am 3. Juni 2015 versammelten sich über GESCHLECHTERVERHÄLTNIS? 250 000 Menschen in Buenos Aires zur ersten Der Begriff „Femizid“ verweist auf unterschied- Demonstration von Ni Una Menos. Aus den liche Formen von Sexismus im Kontext tödlicher Protesten hat sich eine transnationale femi- Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Woher nistische Bewegung entwickelt, die sich gegen kommt der Begriff? Wie wird er verwendet? geschlechtsspezifische Gewalt wendet. Und welche Ausprägungen von Femiziden sind Seite 35–39 für den deutschen Kontext relevant? Seite 09–15 CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL HEXENVERFOLGUNG. BIRGIT SAUER EIN HISTORISCHER FEMIZID? NAME IT, COUNT IT, END IT In der Frühen Neuzeit in Europa machten Frauen Ob eine Verschärfung des Strafrechts die bei schweren Delikten wie Raub oder Mord kaum Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts zwei Prozent der Angeklagten aus. Bei Hexen- verhindern kann, ist umstritten. Unbestritten prozessen hingegen wurden Frauen wesentlich ist jedoch, dass einheitliche Maßnahmen zur häufiger angeklagt als Männer. Warum richtete Sichtbarmachung und Sensibilisierung für die sich die Hexenverfolgung vor allem gegen sie? Prävention von Femiziden wichtig sind. Seite 40–45 Seite 16–22 JULIA HABERMANN BEZIEHUNGSFEMIZIDE IN DER JURISTISCHEN PRAXIS Beziehungsfemizide sind die bedeutendste Form des Femizids in Deutschland und werden entsprechend häufig vor Gericht verhandelt. Im Rahmen der gerichtlichen Beurteilung werden kritische Entscheidungen getroffen, die nicht selten problematisch sind. Seite 23–28
EDITORIAL Gewalt gegen Frauen gehört weltweit zu den häufigsten Menschenrechtsver- letzungen. Auch in Deutschland ist ihr Ausmaß erschreckend – in sämtlichen sozialen Schichten und vor allem in Paarbeziehungen. 2021 gab es laut Polizeili- cher Kriminalstatistik in Deutschland über 140 000 Opfer von psychischer und physischer Partnerschaftsgewalt. 80 Prozent der Opfer waren Frauen – 79 Pro- zent der Täter waren Männer. Im selben Jahr wurden 121 Personen Opfer von Partnerschaftsgewalt mit tödlichem Ausgang, davon 109 Frauen. Somit wird in Deutschland an jedem dritten Tag eine Frau Opfer von Mord oder Tot- schlag durch ihren Partner oder Ex-Partner. Wenn diese Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, spricht man von „Femizid“. Der Begriff wurde in den 1970er Jahren von Feministinnen geprägt, um zu verdeutlichen, dass ein Großteil der Tötungsdelikte an Frauen auf Machtdyna- miken zwischen den Geschlechtern zurückzuführen ist: Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Opfer in Paarbeziehungen oder in gemeinsamen Haushalten Frauen sind. Femizide haben somit eine strukturelle und gesamtgesellschaftliche Tragweite und resultieren aus dem Besitz- und Machtstreben von gewalttätigen Männern gegenüber Frauen und Mädchen. Zu den Tätern gehören Expartner, Lebensgefährten, Väter, Brüder, aber auch Fremde. Wie kann die Gewalt gegen Frauen effektiv bekämpft werden? In Deutsch- land wird mitunter über die Verschärfung des Strafrechts diskutiert. So plant die Bundesregierung, geschlechtsspezifische Tatmotive explizit in die Liste der menschenverachtenden Beweggründe aufzunehmen, was letztlich strafver- schärfend wirken könnte. Ob dies zur Verhinderung von Femiziden beiträgt, ist umstritten. Sicher ist aber, dass das Bewusstsein für das Ausmaß geschlechts- spezifischer Gewalt geschärft werden sollte. Wenn die Taten nur als tragische Einzelschicksale dargestellt werden, bleiben die zugrunde liegenden gesellschaft- lichen Muster verborgen. Lorenz Abu Ayyash 03
APuZ 14/2023 INTERVIEW klesschwert über den Frau- en. Wenn sie häusliche Gewalt „WIR LEBEN IN EINEM ansprechen, dann besteht die Gefahr, dass ihnen vorgewor- SYSTEM, DAS GEWALT fen wird, die Kinder gegen den Vater zu instrumentalisie- BEGÜNSTIGT“ ren. Oder es kommen misogy- ne Mythen dazu, etwa dass die Frauen die Bindung der Kinder Ein Gespräch über Partnerschafts zum Vater unterbinden wollen. Dabei geht es ihnen in erster gewalt, den Umgang deutscher Linie darum, sich selbst und Familiengerichte mit Betroffenen die Kinder zu schützen. und darüber, warum sich die Wie viele Frauen in Deutschland sind von häuslicher Gewalt Gesellschaft schwertut, über diese betroffen? Probleme zu sprechen. – Laut einer Studie aus dem Jahr 2004 hat jede vierte Frau in Deutschland mindestens ein- Mit Asha Hedayati mal in ihrem Leben Partner- schaftsgewalt erlebt. Und jede dritte Frau ist, unabhängig von Frau Hedayati, als Anwältin für ihrem Mann psychisch und einer Partnerschaft, einmal im Familienrecht vertreten Sie vor körperlich misshandelt wurde, Leben von Gewalt betroffen. allem Frauen, die von häuslicher ist nach der Trennung Opfer Gewalt betroffen sind. Gibt dieser Nachtrennungsgewalt Ist das ein Problem, dass auch es einen Fall, der Sie gerade geworden – mithilfe staatlicher LGBTQA*-Personen betrifft? besonders beschäftigt? Institutionen. Irgendwann ist – Dazu kenne ich keine Studi- Asha Hedayati – Mich beschäf- sie im Verfahren zusammenge- en, aber man kann sicher davon tigen in besonderem Maße Fäl- brochen und als Betreuungs- ausgehen, dass LGBTQA*- le, die einen Bezug zu Kindern und Bezugsperson ausgefallen. Personen genauso betroffen haben. Ich habe eine Mandan- Seitdem leben die Kinder beim sind. Sie haben oft das Pro- tin, die mit ihren drei Kin- Vater. Und da frage ich mich blem, dass sie beispielsweise dern vor ihrem gewalttätigen schon, was das mit Kindern bei der Polizei diskriminieren- Expartner in ein Frauenhaus macht, wenn sie sehen, dass der de Erfahrungen machen und geflüchtet ist. In der familien- Staat diese männliche Gewalt den staatlichen Institutionen gerichtlichen Anhörung haben nicht ernst nimmt. dadurch weniger vertrauen. Sie die Kinder der Richterin von suchen entsprechend weniger der Gewalt gegen die Mutter Ist das ein besonderer Fall nach Hilfe, können schlechter und gegen sich selbst berich- oder haben Sie das schon öfter geschützt werden. Die Dun- tet. Aber weder die Mutter erlebt? kelziffer dürfte bei dieser Per- noch die Kinder wurden ernst – Das ist kein Einzelfall. Es sonengruppe besonders hoch genommen. Der Vater hat die gibt von Gewalt betroffene sein. Mutter dann mit Verfahren Frauen, die sich durch gericht- überzogen, sie mit Lügen über- liche Verfahren durchbeißen. Wenn man sich die Zahlen kippt. Und weder das Jugend- Aber es kann eigentlich nicht anschaut, kann man davon amt noch das Familiengericht an der Widerstandskraft des ausgehen, dass jede:r von haben ihm Grenzen gesetzt, Opfers liegen, ob man Recht uns entweder eine Betroffene weil seine Seite ja auch immer bekommt oder nicht. In diesen häuslicher Gewalt oder einen angehört werden muss. Und familiengerichtlichen Verfah- Täter persönlich kennt. Dennoch diese Frau, die jahrelang von ren hängt immer so ein Damo- ist Partnerschaftsgewalt fast 04
Femizid APuZ ein Tabuthema in Deutschland. Ich habe kürzlich ein Buch über Arbeitsverhältnissen etwa oder Haben Sie eine Erklärung, die Frauenhausbewegung der Frauen mit unsicherem Auf- warum das so ist? 1970er Jahre gelesen. Da wur- enthaltsstatus. Diese Personen- – Tabus haben immer mit de eine Historikerin gefragt, gruppen rutschen viel schneller Scham zu tun. Frauen, die von ob sie sich erinnern könne, wer und leichter in Abhängigkeits- Gewalt betroffen sind, schä- die erste Bewohnerin des ers- verhältnisse. Trans Frauen sind men sich für ihre Opferrol- ten Frauenhauses in Berlin war. besonders gefährdet, weil sie le. Und das tun sie auch, weil Sie antwortete, dass sei die Frau weniger Zugang zu Schutzräu- ihnen die Gesellschaft und die eines hochrangigen Richters men haben und weniger Un- staatlichen Institutionen durch gewesen. Häufig, wenn wir an terstützung bekommen. Aber Täter-Opfer-Umkehr, durch häusliche Gewalt denken, den- auch Akademikerinnen kön- Sexismus, durch misogyne My- ken wir nicht an Personen, die nen betroffen sein. Ich habe then immer wieder die Verant- uns ähnlich sind oder aus un- oft erlebt, wie die Gewalt vor wortung für das gewalttätige serer Blase kommen. Das will allem dann zunimmt, wenn Verhalten ihrer Partner über- man lieber verdrängen. die Frauen sich emanzipieren tragen. Scham ist also bei den und selbstständiger werden, Betroffenen ein Thema. Bei Oft wird Gewalt gegen Frauen wenn sie plötzlich mehr Geld den Tätern, bei den Cis-Män- nur dann als gesellschaftliches verdienen als ihre Ehemänner. nern, die ja in den allermeis- Problem angesprochen, wenn Akademikerinnen sind oft Op- ten Fällen die Täter sind, ist es die Täter People of Color sind. fer psychischer Gewalt, weil vielleicht so, dass sie kein be- Warum? Männer aus Akademikerkrei- sonders großes Interesse daran – Ich glaube, dass das eine sen sehr gut wissen, wie sie die- haben, darüber zu reden, weil Funktion erfüllt. Es ist leichter se Form der Gewalt einsetzen sie sich dann mit sich selbst, für die Gesellschaft, diese Pro- können, ohne dass es das Um- mit ihren Privilegien und ihrer bleme auszuhalten, wenn sie feld mitbekommt. Gewalttätigkeit auseinander- an den Rand gedrängt werden setzen müssten. Und die Poli- können, wenn Menschen sagen Was meinen Sie mit psychischer tik hat kein besonders großes können, „Ich bin nicht Täter. Gewalt? Interesse am Thema Partner- Das ist die sozial benachteilig- – Das ist eine viel subtilere schaftsgewalt, weil es für dieses te Person of Color in Neu- Form von Gewalt, die sicher- Problem keine einfachen und kölln“, wenn die Täter frem- lich ähnlich schwere Folgen schnellen Lösungen gibt. Echte de Vornamen haben – wenn es für die Betroffenen hat wie Präventionsmaßnahmen zahlen eben nicht um meinen Arbeits- körperliche. Der Täter schafft sich erst Jahrzehnte später aus. kollegen Thomas oder mei- es, nach und nach seine Frau Und weil die Ergebnisse nicht nen Bruder Markus oder mei- zu isolieren, sodass sie keine sofort geliefert werden können, nen Freund Jonas geht. Das Freund:innen mehr trifft, kei- führt das nicht unbedingt zu macht den Blick in den Spiegel nen Hobbys mehr nachgeht, mehr Wählerstimmen. Das sind leichter zu ertragen, weil sonst keine Selbstwertquellen mehr einige der Gründe, die meiner müsste man sich damit ausei- pflegt. Dann kommen die Be- Meinung dazu führen, dass das nandersetzen, dass man sicher leidigungen, die Herabwürdi- Thema nicht die Aufmerksam- irgendwelche Freunde hat, die gungen und die Bedrohungen keit bekommt, die es verdient. Täter sind, oder dass man viel- dazu. Und irgendwann verliert leicht sogar selbst mal Täter die Frau ihr Selbstwertgefühl, Sie haben gerade die Cis- war. ihr komplettes Ich. Die Ge- Männer angesprochen. Wer sind fahr ist, dass psychische Ge- die Täter häuslicher Gewalt? Gibt es Frauen, die besonders walt schleichend ist. Sie wird – Häusliche Gewalt zieht sich gefährdet sind, Betroffene zu von den Betroffenen erst re- durch alle sozialen Schichten werden? lativ spät erkannt, manchmal und Milieus. Es ist ein Trug- – Mehrfach marginalisierte erst, wenn körperliche Gewalt schluss zu glauben, dass die Personen sind sicherlich be- dazukommt. Die Journalis- Täter vor allem sozial benach- sonders betroffen. Rassifizier- tin Antje Joel veranschaulicht teiligte People of Color wären. te, arme Frauen mit prekären dies in ihrem Buch „Prügel“ 05
APuZ 14/2023 mit dem Bild eines Frosches: von Armut betroffen. Es kann ganz großen Verunsicherung Wirft man ihn in heißes Wasser, nicht sein, dass Frauen bei ei- bei den Betroffenen, die dann springt er sofort heraus. Wirft ner Trennung zwischen Gewalt häufig die Schuld bei sich su- man einen Frosch aber in kal- und Armut wählen müssen. chen, sich fragen, was sie hätten tes Wasser und lässt es lang- besser machen können – wie sie sam aufkochen, dann springt er Gibt es auch Betroffene, die sich hätten verhindern können, dass nicht mehr heraus, er stirbt am davor scheuen, Hilfe zu suchen, man ihnen keine Gewalt antut. Ende trotzdem, weil es zu heiß weil sie Angst haben, sie könnten Ein ganz großes Problem bei ist. So schleichend ist psychi- durch die Trennung ihre Kinder Familiengerichten ist, dass der sche Gewalt. Deswegen ist es verlieren? Schwerpunkt der Betrachtung auch schwierig, wenn wir als – Ja. Das ist auch eine Gewalt- auf dem Verhalten der Müt- Gesellschaft den Frauen immer methode, die Männer oft ein- ter liegt. Es ist gnadenlos, wie wieder die Frage stellen: „Aber setzen, wenn es Kinder in der unsere Gesellschaft Mütter be- wie konntest du das so lange Familie gibt. Sie drohen dann urteilt und bewertet, während mit dir machen lassen?“ der Frau mit der Wegnahme die Gewalt des Vaters häufig oder der Entführung der Kin- weggewischt wird. Bei Kind- Betroffenen häuslicher Gewalt der. Sie sagen Dinge wie: „Ich schaftsverfahren höre ich dann fällt es oft nicht leicht, nach Hilfe werde dafür sorgen, dass du sie oft Sätze wie: „Die Gewalt des zu suchen, auch aufgrund der nie wieder siehst“, oder „ich Vaters gegen die Mutter betrifft Reaktionen, die sie manchmal werde allen sagen, dass du psy- nicht die Beziehung des Vaters erleben. Welche anderen chisch krank bist und die Kin- zum Kind“, oder „ein schlech- Gründe gibt es? der nicht erziehen kannst.“ ter Partner ist ja kein schlechter – Scham spielt sicherlich eine Und damit kommen sie oft Vater.“ Es gibt Situationen, da Rolle. Aber es gibt auch struk- durch. Ganz häufig muss ich wünschte ich mir wirklich, das turelle Probleme. Frauen sitzen bei der Beratung den Frauen Verfahren wäre öffentlich. Was in dieser völlig ausgelieferten immer wieder gut zusprechen sich da in diesen verschlossenen Situation zu Hause und fragen und sagen: „Hör auf, ihm zu Sälen abspielt, in Deutschland, sich: „Was kann ich tun, wie glauben“. ist für Betroffene häuslicher komme ich aus dieser Situation Gewalt oft ein Albtraum. heraus?“ Gleichzeitig wissen Die Kinder und das Sorgerecht sie, sie werden etwa mit ihren spielen oft auch bei den Haben Sie ein konkretes Beispiel zwei Kindern in Berlin keinen Gerichtsverfahren ihrer Man für eine solche Situation? bezahlbaren Wohnraum mehr dantinnen eine wichtige Rolle. – Ich habe häufig Schwierig- finden. Das ist eine ganz kon- Welche Probleme erleben Sie im keiten mit Verfahrensbeistän- krete Hürde. Nicht alle kön- Gerichtssaal am häufigsten? den bei Kindschaftsverfah- nen in ein Frauenhaus ziehen – Ich erlebe dort häufig viel ren. Das sind von Gerichten – und das ist auch nicht für Unkenntnis zum Thema Part- beauftragte Interessenvertre jede eine Lösung. Das ist mit nerschaftsgewalt. Dynamiken ter:innen des Kindes. Sie sol- extrem hohen Verlusten ver- von Partnerschaftsgewalt oder len eine Empfehlung ausspre- bunden: Verlust des sozialen überhaupt der Gewaltbegriff chen, wie der Umgang mit den Netzwerks oder der Kitaplät- an sich werden meiner Mei- Elternteilen gestaltet werden ze, Verlust des Arbeitsplatzes. nung nach zu wenig ernst ge- könnte oder bei wem das Kind Da müsste man strukturell was nommen. Wenn es um Gewalt leben soll. Bis vor einem Jahr tun, man müsste den Frauen geht, dann rein um die physi- konnte jede:r, egal mit wel- sofort Wohnraum zur Verfü- sche – und selbst da wird dem chem Background, nach einer gung stellen und ihnen versi- Täter oft genauso viel Platz mehrwöchigen Ausbildung chern, dass sie auch nach der eingeräumt wie der Betroffe- Verfahrensbeistand werden. Trennung finanziell auskom- nen. Aber wie kann man bei so Ich habe schon ehemalige Ver men werden, denn – und auch einem Machtgefälle von zwei sicherungsmakler:innen erlebt, das ist ein strukturelles Pro- Seiten sprechen, wenn die eine oder Tanztherapeut:innen, die blem – als Alleinerziehende in Seite so offensichtlich der Ag- Empfehlungen aussprechen. Deutschland ist man massiv gressor ist? Das führt zu einer Und manchmal lassen Verfah- 06
Femizid APuZ rensbeistände Sätze fallen, bei ben, die bestimmte Personen- – Ich habe das Gefühl, dass die denen mir der Kopf platzt. Ich gruppen benachteiligen. Und Mandantinnen ziemlich gut hatte etwa eine Mandantin, die vermeintliche Neutralität wissen, wie bedrohlich die Si- die mehrfach das Frauenhaus von Richter:innen führt auch tuation ist. Und das ist auch ei- wechseln musste, weil der Va- dazu, dass wir ein benachteili- ner der Gründe, warum Sie die ter der gemeinsamen Kinder sie gendes System stabilisieren. Trennung teilweise verzögern. immer wieder aufgespürt hat. Weil sie Angst davor haben, Er hat den Kindern manipu- Schützen deutsche Gesetze nicht genügend geschützt zu lative Fragen gestellt, um die Betroffene häuslicher Gewalt werden vor der Rache des Part- Adresse des Frauenhauses he- genügend? ners. Bei eskalierenden Fällen rauszufinden. Da hat die Ver- – Ich würde das so drehen: Vor versuche ich allerdings schon fahrensbeiständin dann in der fünf Jahren ist in Deutschland mehr darauf einzuwirken, dass Verhandlung vor der Mutter die Istanbul-Konvention in meine Mandantinnen in ein und dem Vater gesagt, die Mut- Kraft getreten, ein völkerrecht- Frauenhaus gehen. Obwohl sie ter würde „mit ihrem Frauen- licher Vertrag zur Bekämpfung wissen, in welcher Gefahr sie haus-Hopping den Kindern von Gewalt gegen Frauen. Da sich befinden, wollen manche schaden“. Und die Richterin stehen Forderungen drin und Frauen ihre Kinder nicht aus hat diesen Satz kommentarlos konkrete Maßnahmen. Wenn deren sozialem Umfeld reißen. hingenommen, ohne Bewer- Deutschland das umsetzen Sie sagen: „Wenn ich da hin- tung, ohne Einordnung, ohne würde, was in der Istanbul- ziehe, dann nehme ich mei- Reaktion. Und die Betroffe- Konvention steht, dann wären nen Kindern auch ihre Freun- ne musste damit umgehen. Das wir einen ganz großen Schritt de weg, und die Trennung ist ist Nachtrennungsgewalt, eine weiter. ja schon schwer genug für sie.“ sekundäre Gewalt durch den Aber dann ist es mir wichtig, Staat und die Richter:innen. Ich würde zum Schluss noch auf ihnen zu erklären: „Wenn du die extremste Form von Part als Mutter nicht mehr exis- Welche Lösungsansätze sehen nerschaftsgewalt zu sprechen tierst, dann ist das für die Kin- Sie an dieser Stelle? kommen: Femizide, Morde an der noch schlimmer.“ – Ich glaube, dass wir eine Frauen, weil sie Frauen sind. Wie Pflichtfortbildung zum Thema oft passieren sie in Deutschland? Warum ist es so schwer, Femizide Partnerschaftsgewalt für Rich – Alle drei Tage wird in zu verhindern? ter:innen veranlassen müssten. Deutschland eine Frau durch – Vorrangig, weil es unbequem Schon bei der Ausbildung von die Gewalt ihres Ex- oder ist, sie zu verhindern. Weil Jurist:innen müsste man mehr Noch-Partners getötet. Der wir dann unser System infrage Familien- und Gewaltschutz- größte Teil ereignet sich kurz stellen müssten. Femizide zu recht anbieten. Ich finde, dass nach der Trennung. Ich habe bekämpfen, würde bedeuten, man generell Menschen im Ju- schon die Gefahr der Eman- dass manche Menschen ihre rastudium mehr zu kritischem zipation angesprochen. Der Privilegien und Macht abgeben Denken verleiten müsste, so- Partner erträgt den Emanzi- müssten. Wir müssten nach dass sie nicht „so sind aber nun pationsprozess der Frau nicht, Lösungen suchen, um etwa mal die Gesetze“ sagen, son- ihr Mächtigwerden. Und er be- Abhängigkeitsverhältnisse zu dern sich auch fragen, ob das, kommt dann das Gefühlt, das verringern. Und das würde was sie entscheiden, auch wirk- würde seine Gewalt legitimie- wiederum bedeuten, dass wir lich gerecht ist. Ich erlebe noch ren, er müsse diese Macht nun uns die ökonomische Gleich- viel zu wenig Richter:innen, die zerstören, er müsse die Frau stellung genauer anschauen sich dessen bewusst sind, dass zerstören. müssten, etwa den Gender Pay Frauen immer noch benachtei- Gap oder die unbezahlte Care- ligt sind. Oder dass es People Sie arbeiten ja oft mit Arbeit der Frauen. Wir haben of Color in Deutschland gibt, Mandantinnen, die sich trennen Gesetze, die Abhängigkeitsver- die benachteiligt sind. Oder wollen. Machen Sie die Frauen hältnisse begünstigen, wie etwa dass wir eben rassistische, dis- auch auf diese konkrete Gefahr das Ehegattensplitting, das An- kriminierende Strukturen ha- aufmerksam? reize dafür schafft, dass eine 07
APuZ 14/2023 Person sehr viel Geld verdient Gleichstellung, über Feminis- verstehen, dass eine Gesell- und die andere besser gar nicht mus, über falsch verstandene schaft nur frei und lebenswert arbeiten geht. Wir leben in ei- Männlichkeit sprechen. Über- ist, wenn alle in ihr ein frei- nem System, das nicht nur Ge- haupt müsste man Kindern es, lebenswertes Leben führen walt nicht verhindert, sondern helfen, eine Sprache für männ- können. sie tatsächlich begünstigt. liche Gewalt zu finden. Und ich denke, wir müssen davon Das Interview führte die Was müsste ihrer Meinung nach wegkommen, zu denken, dass Journalistin Margherita Bettoni passieren, damit wir es schaffen, eine Veränderung nur durch am 23. Februar 2023. dass es überhaupt nicht mehr Frauen erwirkt werden kann. zu Partnerschaftsgewalt oder zu Wir brauchen die Cis-Männer ASHA HEDAYATI Femiziden kommt? für eine echte Veränderung. ist Anwältin für Familienrecht – Es ist sehr wichtig, an den Wir werden ohne sie da nicht in Berlin-Neukölln. Im Herbst Geschlechterrollen zu arbeiten. weiterkommen. Auch sie müs- 2023 erscheint ihr Buch zum Man sollte schon mit Kindern sen Verantwortung dafür über- Thema Gewalt gegen Frauen im im Kita- und Schulalter über nehmen. Und auch sie müssen Rowohlt-Verlag. Schon gehört? Die APuZ gibt es auch als Podcast! APuZ – Der Podcast bpb.de/ apuz-podcast AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Geldpolitik APuZ – Der Podcast 0:00 -31:20 08
Femizid APuZ WIE TÖDLICH IST DAS GESCHLECHTERVERHÄLTNIS? Sabine P. Maier · Paulina Lutz · Nora Labarta Greven · Florian Rebmann „Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau Umfassende gesellschaftspolitische Bedeu- von ihrem (Ex-)Partner getötet, jeden Tag ver- tung erlangte der Ausdruck insbesondere in La- sucht es einer.“ Auf diese Tatsache wird aktuell teinamerika, wo er ab den 1990er Jahren von häufig verwiesen, um auf Femizide aufmerksam feministischen Wissenschaftler*innen und Akti zu machen.01 Während in Deutschland und Eu- vist*innen aufgegriffen, als femicidio oder femi- ropa ein genereller Rückgang der Tötungsdelikte nicidio ins Spanische übersetzt und konzeptionell zu beobachten ist, fällt dieser bei weiblichen Op- weiterentwickelt wurde.06 fern geringer aus. Es gibt somit nicht mehr Frau- In den 1990er Jahren gab es etwa in Costa entötungen, ihr relativer Anteil an allen Tötungs- Rica und Brasilien basierend auf Russells Kon- delikten wird jedoch größer.02 Das weist darauf zept erste Forschungen zu Femiziden.07 Als Ka- hin, dass Tötungsdelikte an Männern und Frauen talysator für feministische Wissensproduktion in unterschiedlichen Kontexten stattfinden und und Aktivismus wirkten die brutalen Tötungen anderen Einflussfaktoren unterliegen. Während von meist jungen Frauen of Color, die seit den Männer überwiegend gewaltsamen Auseinander- frühen 1990er Jahren im mexikanischen Ciudad setzungen mit anderen Männern im öffentlichen Juárez vermehrt auftraten. Die Frauen wurden Raum zum Opfer fallen, werden Frauen deutlich entführt und ihre Leichen mit Spuren von Ver- häufiger von Männern aus ihrem nahen Umfeld gewaltigung und sexualisierter Folter im öffentli- getötet. Um diese Unterschiede genauer zu be- chen Raum deponiert. Strafverfolgung fand kaum leuchten, ist eine Analyse aus Geschlechterper- statt, während Medien und Behörden den Opfern spektive notwendig. Hierfür kann das Konzept mittels sexistischer und klassistischer Stereotype Femizid hilfreich sein. die Verantwortung für die erfahrene Gewalt zu- schrieben.08 Die tödliche Gewalt gegen Frauen KLEINE BEGRIFFSGESCHICHTE wurde zunächst als „innerfamiliäre Gewalt“ und später als „Kollateralschaden des Drogenkriegs“ Heutige Verwendungen des Begriffs „Femizid“ verharmlost und normalisiert.09 (englisch: femicide) beziehen sich meist auf die Die mexikanische Anthropologin und Kon- feministische Soziologin Diana E. H. Russell, gressabgeordnete Marcela Lagarde erweiter- die ihn beim Internationalen Tribunal gegen Ge- te vor diesem Hintergrund Russells Definition walt an Frauen 1976 einführte. 03 Sie wollte her- und hob hervor, dass feminicidio nur die „Spit- ausstellen, dass ein Großteil der Frauentötungen ze des Eisberges“ und die Folge struktureller im Kontext der Machtdynamiken von Sexismus und institutioneller Gewalt gegen Frauen und und Misogynie patriarchal strukturierter Gesell- Mädchen darstelle, was die Straflosigkeit der Tä- schaften stattfindet. Eine Definition erarbeite- ter einschließe.10 Mit diesem breiten Begriffsver- te sie erst später und passte diese im Laufe der ständnis werden nicht nur Tötungsdelikte, son- Zeit an. 04 Zuletzt beschrieb sie femicide als „die dern auch Todesfälle von Mädchen und Frauen Tötung von weiblichen Personen durch männli- beispielsweise infolge illegalisierter Schwanger- che Personen, weil sie weiblich sind“. 05 Russell schaftsabbrüche oder fehlenden Zugangs zu Ge- meint damit Tötungen von Frauen und Mädchen, sundheitsversorgung einbezogen.11 Die Begriffs- die auf misogyne Einstellungen oder sexistische version „Feminizid“ statt „Femizid“ wird daher Erwartungen der Täter zurückgehen – Tötungen oft verwendet, um die Aspekte der Straflosigkeit also, bei denen das Geschlecht der Opfer nicht und staatlichen Verantwortung hervorzuheben. zufällig weiblich ist. In den 2000er Jahren wurden teils heftige Diskus- 09
APuZ 14/2023 sionen über die Begriffsvarianten und konzeptio- beitsteilung für das Funktionieren der neolibera- nellen Unterschiede geführt, die in jüngerer Zeit len Gesellschaftsordnung wesentlich seien.15 jedoch an Bedeutung verloren haben. Inspiriert von Lateinamerika begannen Femi Familienangehörige der Opfer in Ciudad Juá- nist*innen unter anderem in Spanien, Italien und rez brachten ihren Protest bis vor123456789 den Intera- Frankreich von Femiziden beziehungsweise Femi- merikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. niziden zu sprechen.102345 Stark in Europa wahrgenom- Dieser stellte 2009 im Fall „Campo Algodone- men wurde die Bewegung Ni Una Menos, die ab ro“ fest, dass der mexikanische Staat die Men- 2015 massive Proteste in Argentinien mobilisier- schenrechte der getöteten Frauen verletzt habe. te.16 In Deutschland nutzten zunächst migrantische Das vorherrschende Klima der Straflosigkeit nor- Frauen den Begriff, zum Beispiel aus der kurdi- malisiere Gewalt gegen Frauen und trage dazu schen Frauenbewegung. Schließlich wurde er in den bei, dass diese weiterhin ausgeübt werde.12 Es ist 2010er Jahren von internationalen Organisationen das erste Urteil, das Feminizid als den „[Homi- wie der Weltgesundheitsorganisation und den Ver- zid] von Frauen aufgrund des Geschlechts“ de- einten Nationen aufgegriffen.17 Während aktivisti- finiert.13 Die Aufmerksamkeit, die die spektaku- sche Verwendungen des Begriffs meist ein breites lären Fälle in Ciudad Juárez generierten, wurde Verständnis von Femiziden umfassen, strukturelle aufgegriffen, um tödliche Gewalt gegen Frauen Zusammenhänge und staatliche Verantwortung be- auch in anderen Kontexten anzuprangern, wo- tonen, findet sich bei staatlichen Akteur*innen und durch die Gewalt in Paarbeziehungen und Fami- in der Forschung eine Tendenz, sich auf bestimm- lien stärker in den Blick geriet. te Formen von Tötungsdelikten zu konzentrieren. Die meisten lateinamerikanischen Autor* innen analysieren tödliche Gewalt gegen Frauen GESCHLECHTSBEZOGENE in einem engen Zusammenhang mit neoliberal- GEWALT GEGEN FRAUEN kapitalistischen, kolonial-rassistischen und hete- ronormativen Strukturen.14 Die extreme Gewalt, Die unterschiedlichen Definitionen haben ge- insbesondere gegen vulnerable Frauen, halte den meinsam, dass sie Femizid als extreme Form von Status quo des Geschlechterverhältnisses auf- geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen ver- recht, da traditionelle Geschlechterrollen und Ar- stehen. Femizide stehen demnach in einem „Kon- tinuum“ mit anderen, auch strukturellen Gewalt- 01 Vgl. Laura Backes/Margherita Bettoni, Alle drei Tage, formen, die teils fließend ineinander übergehen, Hamburg 2021. denselben Ursprung und ähnliche Funktionen 02 Vgl. Office on Drugs and Crime (UNODC), Global Study haben.18 Geschlechtsbezogene Gewalt gegen on Homicide. Gender-Related Killing of Women and Girls, Wien 2019. 03 Diana E. H. Russell/Nicole van de Ven (Hrsg.), Crimes 10 Vgl. Marcela Lagarde y de los Ríos, Anthropologie, Feminis Against Women. Proceedings of the International Tribunal, mus und Politik, in: Dyroff et al. (Anm. 8). Berkeley 1976. 11 Vgl. Jill Radford, Introduction, in: Radford/Russel (Anm. 4), 04 Vgl. Jill Radford/Diana E. H. Russell (Hrsg.), Femicide, New hier S. 3–12. York 1992. 12 Vgl. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte, 05 Diana E. H. Russell, Defining Femicide and Related Con Caso González y Otras („Campo Algodonero“) vs. México, cepts, in: dies./Roberta Harmes (Hrsg.), Femicide in Global Urteil v. 16. 11. 2009. Perspective, New York 2001, S. 12–25, hier S. 13. 13 Melgar (Anm. 9), S. 95. 06 Im Folgenden wird überwiegend der Begriff „Femizid“ 14 Siehe etwa Berlanga Gayón (Anm. 8). verwendet. Bei direkten oder indirekten Zitaten findet eine 15 Vgl. Montserrat Sagot, Gendered Necropolitics, in: Pablo Anlehnung an den Originaltext statt. Vommaro/Pablo Baisotti (Hrsg.), Persistence and Emergencies of 07 Vgl. Ana Carcedo/Montserrat Sagot, Femicidio en Costa Inequalities in Latin America, Cham 2022, S. 95–110. Rica 1990–1999, San José 2000; Suely Souza de Almeida, 16 Vgl. Dyroff et al., Einleitung. Zur Relevanz der Feminizid- Femicídio, Rio de Janeiro 1998. Forschung aus Lateinamerika, in: dies. (Anm. 8). 08 Vgl. Mariana Berlanga Gayón, Rassismus und Feminizid, in: 17 Vgl. Vereinte Nationen, Vienna Declaration on Femicide, Merle Dyroff/Sabine Maier/Marlene Pardeller/Alex Wischnew 1. 2. 2013, www.unodc.org/documents/commissions/CCPCJ/ ski (Hrsg.), Feminizide – Grundlagentexte und Analysen aus CCPCJ_Sessions/CCPCJ_22/_E-C N15-2013-NGO1/E-C N15- Lateinamerika, Leverkusen 2023, (i. E.). 2013-NGO1_E.pdf; Weltgesundheitsorganisation, Understan 09 Lucía Melgar, Labyrinthe der Straflosigkeit. Frauenmorde in ding and Addressing Violence Against Women: Femicide, 2012, Ciudad Juárez und extreme Gewalt in Mexiko heute, in: Gender. www.who.int/publications/i/item/WHO-R HR-12.38. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 3/2011, 18 Vgl. Liz Kelly, Surviving Sexual Violence, Cambridge–Ox S. 90–97. ford 1988. 10
Femizid APuZ Frauen wird in internationalen Konventionen de- während Täter eine Überlegenheitsposition bean- finiert als „Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet spruchen, ihre Macht demonstrieren und die Ge- ist, weil sie eine Frau ist; oder die Frauen unver- walt als legitim ansehen.22 hältnismäßig stark betrifft“ – die also mit Diskri- In Anlehnung an das Verständnis geschlechts- minierung zusammenhängt.19 bezogener Gewalt als Diskriminierung lässt sich Um geschlechtsbezogene Gewalt zu erfassen, argumentieren, dass mit dem Femizidbegriff auf muss Geschlecht als soziokulturelles Konstrukt Sexismus beziehungsweise Misogynie im Kon- (Gender) in einer binären Ordnung verstanden text tödlicher Gewalt gegen Frauen aufmerksam werden, die nur zwei Geschlechter kennt, die sich gemacht wird. Dieser Sexismus kann sich in un- heterosexuell aufeinander beziehen sollen. Frau- terschiedlichen Dimensionen manifestieren. en beziehungsweise als weiblich definierte Per- Auf individueller Ebene können sich ex- sonen sowie weiblich definierte Eigenschaften plizit frauenverachtende oder sexistische Mo- werden abgewertet und „dem Männlichen“ un- tive zeigen.23 Nicht immer lassen sich jedoch tergeordnet. Dieses historisch gewachsene struk- entsprechende Motive feststellen, weshalb der turelle Machtungleichgewicht zwischen Männern Tatkontext analysiert werden muss, um auch die und Frauen wird als patriarchal bezeichnet. Ge- strukturellen Hintergründe und die Ursachen der schlechtsbezogene Gewalt hält dieses Geschlech- Tat zu erfassen.24 So kann ein besonders bruta- terverhältnis aufrecht, indem Abweichungen von les Vorgehen (zum Beispiel in Form sogenannter Geschlechternormen sanktioniert werden. Insbe- overkills) oder die Anwendung sexualisierter Ge- sondere Frauen und Personen, die nicht ins binär- walt Misogynie ausdrücken. In einer Betrachtung heteronormative System passen, sind von dieser auf Makroebene weist die überproportionale Ge- Art von Gewalt betroffen.20 waltbetroffenheit von Frauen in heterosexuellen Die Anthropologin Rita Segato nennt in die- Paarbeziehungen darauf hin, dass diese besonders sem Zusammenhang die „zwei Gesetze des Pat- stark von ungleichen Geschlechterverhältnissen riarchats“: das Gesetz der Kontrolle und des Be- geprägt sind. Der Femizidbegriff hebt also das sitzes des weiblichen Körpers und das Gesetz komplexe Zusammenspiel individueller Motiva- der männlichen Überlegenheit.21 Der Besitz des tionen und Gewalthandlungen in verschiedenen weiblichen Körpers bezieht sich vor allem auf sozialen Kontexten hervor, die von strukturellen den Anspruch sexueller Verfügbarkeit – der bei- Machtungleichheiten aufgrund von Geschlecht spielsweise bei „Sexualverbrechen“ gewaltsam und anderen Faktoren und Machtverhältnissen durchgesetzt wird. Aber auch das Bestreben ei- geprägt sind. Daneben wird er verwendet, um ner Frau, ihr Leben frei zu gestalten, kann Grund den medialen, politischen und rechtlichen Um- für ihre Tötung sein. Femizide können demnach gang mit tödlicher Gewalt an Frauen zu kritisie- eine Antwort auf eine gefühlte oder tatsächli- ren. Die Verwendung des Femizidbegriffs kann che Bedrohung der männlichen Dominanz sein, daher je nach Kontext oder Bezugspunkt eine et- etwa wenn sich Geschlechterverhältnisse durch was andere Bedeutung haben. So gelten für eine zunehmende Gleichberechtigung ändern. Da- Definition für empirische Forschung andere An- her hat Gewalt gegen Frauen auch expressive be- sprüche als für eine juristische Betrachtung oder ziehungsweise kommunikative Funktionen: Ge- waltopfer werden auf ihren „Platz“ verwiesen, 22 Vgl. Carol Hagemann-White, Gewalt im Geschlechterver hältnis als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und 19 Vgl. das Gesetz zum Übereinkommen des Europarats Theoriebildung, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt (Hrsg.), Gewalt-Verhältnisse: feministische Perspektiven auf gegen Frauen und häuslicher Gewalt von 2017. Die offizielle Geschlecht und Gewalt, Frankfurt/M. 2002, S. 29–52. Übersetzung von „gender-based violence“ ist „geschlechtsspezi 23 Vgl. z. B. Luise Greuel/Axel Petermann, „Bis dass der Tod uns fische Gewalt“, wir finden den Ausdruck „geschlechtsbezogene scheidet …“ – Femizid im Rahmen von Partnerschaftskonflikten, Gewalt“ jedoch treffender. in: dies (Hrsg.), Macht – Nähe – Gewalt (?), Lengerich 2007, 20 Vgl. z. B. Aleida Luján Pinelo, A Theoretical Approach to the S. 11–37. Concept of Femi(ni)cide, in: Philosophical Journal of Conflict and 24 Vgl. UNODC/UN Women, Statistical Framework for Violence 2/2018, S. 40–63. Measuring the Gender-Related Killing of Women and Girls (Also 21 Vgl. Rita Laura Segato, ¿Qué es un feminicidio?, in: Marisa Referred to as „Femicide/Feminicide“), 2022, www.unodc.org/ Belausteguigoitia/Lucía Melgar (Hrsg.), Fronteras, violencia, jus documents/data-and-analysis/statistics/Statistical_framework_ ticia: nuevos discursos, Mexiko-Stadt 2008, S. 35–48, hier S. 37. femicide_2022.pdf. 11
APuZ 14/2023 politisch-aktivistische Verwendungen.25 Vor die- wie etwa beim Anschlag auf eine Synagoge in Hal- sem Hintergrund ist es schlüssig, dass Femizid le 2019, bei dem der Täter neben antisemitischen im politischen Diskurs vielfach mit der Tötung auch antifeministische Beweggründe für seine Tat weiblicher (Ex-)Partnerinnen gleichgesetzt wird. angab.29 Für eine kriminologisch-empirische Betrach- Eine weitere Form geschlechtsbezogener tung reicht eine solch enge Definition allerdings Hassverbrechen sind Tötungen aufgrund der Ge- nicht aus. Gleichzeitig können nicht alle Tötun- schlechtsidentität oder sexuellen Orientierung. gen von Frauen Femizide sein, sondern nur jene, Gewalt gegen LSBTIQ*-Personen kann als Be- in denen Sexismus oder eine Abwertung von strafung für die Abweichung von der Hetero- Weiblichkeit gefunden werden können. Ausge- norm erfolgen und gleichzeitig als doing mas- hend von einer Definition von Femiziden als ge- culinity, also zur Bestärkung von Männlichkeit schlechtsbezogene Tötungsdelikte an weiblich dienen.30 Während es speziell zur Tötung von les- definierten Personen stellen wir im Folgenden bischen Frauen keine konkreten Zahlen gibt, re- jene Ausprägungen dar, die für den deutschen gistriert das Netzwerk Transgender Europe von Kontext relevant sind. 2008 bis 2016 in Europa 113 Tötungen an trans oder gender-diversen Personen.31 Aktuelle Da- AUSPRÄGUNGEN VON FEMIZIDEN ten zeigen, dass 95 Prozent der weltweit im Trans Murder Monitoring (TMM) registrierten Tötun- Auf Motivebene sind Tötungen am offensicht- gen trans Frauen oder feminin-identifizierte Per- lichsten als Femizide einzuordnen, bei denen die sonen betrafen, überwiegend migrantische und Täter*innen ihren Frauenhass deutlich vermitteln. Personen of Color sowie Sexarbeiter*innen.32 Diese Femizide sind als Hassverbrechen zu verste- Dies weist darauf hin, dass neben der Abwei- hen, bei denen die Opfer allein aufgrund ihrer Zu- chung von der Heteronorm eine Identifizierung gehörigkeit zum Kollektiv „Frauen“ ausgewählt mit „Weiblichkeit“ die Vulnerabilität für tödliche werden.26 Beispielsweise tötete 1989 der 25-jährige Gewalt erhöht.33 Marc Lépine in Kanada ausschließlich und gezielt Wird die Tatausführung betrachtet, drückt 14 Frauen und gab als Grund Hass auf Feminis- sich Misogynie insbesondere in sexualisierter Ge- tinnen an.27 Auch der Attentäter Elliot Rodger er- walt aus. Dabei ist zu unterscheiden zwischen mordete 2014 in den USA unter Angabe antifemi- sexuell beziehungsweise sadistisch motivierten nistischer Motive sechs Menschen. Er gilt für die „Sexualmorden“ und sexualisierter Gewalt im sogenannte Incel-Szene, die auch in Deutschland Zusammenhang mit Taten, denen primär ande- zu finden ist, als Vorbild.28 „Incel“ steht für unfrei- re Motive zugrunde liegen, wie etwa Raub. Für williger Zölibat (englisch: involuntary celibate). Deutschland zeigt die Juristin Dagmar Oberlies, Es handelt sich um (junge) Männer, die frustriert dass circa 20 Prozent der von ihr untersuchten über ihre fehlende sexuelle Aktivität sind und die Tötungsdelikte von Männern an Frauen im Zu- Schuld dafür bei Frauen sehen, die ihnen ihr an- sammenhang mit sexualisierter Gewalt standen.34 gebliches Recht auf Sex verweigern. Massenmorde an Frauen werden als ultimatives Mittel gesehen, 29 Vgl. Veronika Kracher, Im Krieg gegen Frauen, in: Jean-Philipp sich gegen diese „Verschmähung“ aufzulehnen. Baeck/Andreas Speit (Hrsg.), Rechte Egoshooter – Von der virtuel Auch wenn in Deutschland bisher kein derarti- len Hetze zum Livestream-Attentat, Berlin 2020, S. 67–85. ges Attentat bekannt ist, finden sich bei rechtsra- 30 Vgl. Kristin Kelley/Jeff Gruenewald, Accomplishing Mas dikalen Attentätern Bezüge zu dieser Ideologie, culinity through Anti-Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Homicide, in: Men and Masculinities 1/2015, S. 3–29. 31 Vgl. Carsten Balzer/Carla LaGata/Lukas Berredo, TMM 25 Vgl. Ana Carcedo et al., No olvidamos ni aceptamos: femi Annual Report 2016, Berlin 2016, S. 19. cidio en Centroamérica, 2000–2006, San José 2010. 32 Vgl. Lukas Berredo, TMM Update Trans Day of Remembran 26 Vgl. Leonie Steinl, Hasskriminalität und geschlechtsbezo ce 2022, 8. 11. 2022, https://transrespect.org/en/tmm-update- gene Gewalt gegen Frauen, in: Zeitschrift für Rechtssoziolo tdor-2022. gie 2/2018, S. 179–207. 33 Vgl. Emerson Erivan de Araújo Ramos, Transfeminicídio, in: 27 Vgl. Eike Sanders/Anna O. Berg/Judith Goetz, Revista Direito e Práxis 2/2022, S. 1074–1096. Frauen*rechte und Frauen*hass – Antifeminismus und die Ethni 34 Vgl. Dagmar Oberlies, Tötungsdelikte zwischen Männern sierung von Gewalt, Berlin 2019. und Frauen: Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Unter 28 Vgl. Taisto Witt, „If I Cannot Have It, I Will Do Everything I schiede aus dem Blickwinkel gerichtlicher Rekonstruktionen, Can to Destroy It.“, in: Social Identities 5/2020, S. 675–689. Pfaffenweiler 1995, S. 64. 12
Femizid APuZ Die Linguistin Deborah Cameron und die Po- rinnen Ehrkonzepte eine wesentliche Rolle spie- litikwissenschaftlerin Elizabeth Frazer verwei- len und sich lediglich der Bezugspunkt von Ehre sen darauf, dass durch die Bedrohungskulisse des verändert habe. Während sich Ehre in als tradi- „Sexualmörders“ Frauen dazu gebracht werden, tionell bezeichneten Kontexten auf die Familie ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken und sich beziehe, betreffe sie in individualisierten Gesell- dem männlichen Geschlecht unterzuordnen.35 schaften den einzelnen Mann. Der dahinterste- Ein weiterer Kontext, in dem sexistische Be- hende Mechanismus sei jedoch im Wesentlichen züge naheliegen, sind Tötungen im Zusammen- derselbe. In beiden Fällen führe die Verletzung hang mit Sexarbeit. Wenn Frauen als konsumier- bestimmter Regeln durch eine weibliche Person bare Sexualobjekte oder Sexarbeiterinnen als zur „Schande“ ihres Partners beziehungsweise ih- moralisch „schlechte Frauen“ betrachtet werden, rer männlichen Familienmitglieder, welche durch scheint Gewalt gegen sie legitim. Einer Studie in die Bestrafung – im Extremfall Tötung – der Frau Deutschland zufolge sind sie von allen erfassten beseitigt werden könne. Der Unterschied liege le- Gewaltformen deutlich häufiger betroffen als an- diglich in der Beteiligung der Gemeinschaft an dere Frauen.36 Untersuchungen in den USA stel- der Kontrolle und Sanktionierung der Frau.39 len zudem fest, dass Frauen, die sexuelle Dienst- Während „Ehrenmorde“ im engeren Sinne in leistungen anbieten, häufiger als andere Frauen Deutschland sehr selten sind (schätzungsweise Opfer von Tötungsdelikten werden.37 maximal drei Fälle pro Jahr), sind Frauentötungen Femizide können sich auch hinter sogenann- im Kontext heterosexueller Paarbeziehungen die ten Ehrenmorden verbergen. Damit sind Tötun- wohl häufigste Form von Femiziden.40 Bei mehr gen gemeint, die zur Wiederherstellung einer ver- als jeder dritten (37 Prozent) versuchten oder meintlichen „Familienehre“ begangen werden. vollendeten Tötung einer Frau erfasst die Polizei- Diese wird durch die Verletzung von Verhal- liche Kriminalstatistik einen (Ex-)Partner als tat- tensnormen, die an Frauen und Mädchen gerich- verdächtig – 2021 waren das 301 Fälle. Nur vier tet sind, als gefährdet angesehen. Diese Normen Prozent aller Tötungsdelikte an Männern erfolgen beziehen sich im Wesentlichen auf sexuelle Zu- dagegen durch ihre (Ex-)Partnerin.41 Bei Partner- rückhaltung, sodass vor- und außereheliche sexu- schaftsgewalt scheint der Bezug zu Frauenverach- elle Beziehungen, Interaktionen mit männlichen tung weniger naheliegend – schließlich geben viele Personen außerhalb der Familie oder Autono- Männer an, ihre Partnerin geliebt zu haben. Aller- miebestrebungen als Affront gegen die Familie dings können sich in Tatkonstellationen und -mo- aufgefasst werden können. Es wird als Aufgabe tiven sexistische Aspekte zeigen, etwa wenn es der männlichen Familienmitglieder angesehen, um (vermeintliche) Verstöße gegen Rollenerwar- die Frau beziehungsweise das Mädchen dafür zu tungen in der Beziehung geht. Klassische Beispie- bestrafen.38 le sind ein Trennungswunsch der Frau oder eine Auf den ersten Blick scheint westlich gepräg- andere Art der Emanzipation, zum Beispiel eine ten Gesellschaften die Vorstellung, dass nonkon- vom Partner unerwünschte Berufstätigkeit. Zu- formes weibliches Verhalten zu einem Ehrverlust dem gibt es bei 60 bis 80 Prozent der Femizide an anderer Personen führt, fremd zu sein. Die Juris- Intimpartnerinnen vorausgehende Gewalt durch tin Nancy V. Baker und ihre Kolleg*innen zeigen den Mann. Die Juristin Luise Greuel beschreibt jedoch auf, dass auch bei Tötungen von Partne- dies als Manifestation von Besitzansprüchen, die auf patriarchalen Rollenvorstellungen basieren.42 „Ehrenmorde“ und „Beziehungstaten“ erfol- 35 Vgl. Deborah Cameron/Elizabeth Frazer, Lust am Töten: gen am häufigsten, wenn die Frau beziehungswei- Eine feministische Analyse von Sexualmorden, Berlin 1990. 36 Vgl. Monika Schröttle/Ursula Müller, Lebenssituation, Si cherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Teilpopu 39 Vgl. Nancy V. Baker/Peter R. Gregware/Margery A. Cas lationen – Erhebung bei Prostituierten, Berlin 2004. sidy, Family Killing Fields, in: Violence against women 2/1999, 37 Vgl. C. Gabrielle Salfati/Alison R. James/Lynn Fergu S. 164–184. son, Prostitute Homicides, in: Journal of Interpersonal Vio 40 Vgl. Dietrich Oberwittler/Julia Kasselt, Ehrenmorde in lence 4/2008, S. 505–543. Deutschland 1996–2005, Köln 2011. 38 Vgl. Carina Agel, (Ehren-)Mord in Deutschland. Eine 41 Vgl. Bundeskriminalamt, Partnerschaftsgewalt: Kriminalstatis empirische Untersuchung zu Phänomenologie und Ursachen tische Auswertung – Berichtsjahr 2021, Wiesbaden 2022, S. 5. von „Ehrenmorden“ sowie deren Erledigung durch die Justiz, 42 Vgl. Luise Greuel, Forschungsprojekt „Gewalteskalation in Lengerich 2013. Paarbeziehungen“. Abschlussbericht, Bremen 2009. 13
APuZ 14/2023 se das Mädchen die Trennung vom Partner beab- heitsstrafe. Für die Einstufung als Mord hinge- sichtigt und eine autonome Entscheidung über ihr gen muss zusätzlich eines der in § 211 Absatz 2 Leben trifft. Eine überbetonte Unterscheidung Strafgesetzbuch aufgezählten Mordmerkmale er- zwischen diesen Femizidformen ist daher wenig füllt sein. Wer zum Beispiel „heimtückisch“ oder zielführend: Die zugrundeliegende Motivation hat „aus niedrigen Beweggründen“ tötet, wird wegen den gleichen Ursprung. Dennoch wird in der deut- Mordes und dann grundsätzlich zu lebenslanger schen Medienberichterstattung anhand von Narra- Freiheitsstrafe verurteilt. tiven, die Gewalt gegen Frauen kulturalisieren, eine Eine Schräglage erkennt Dagmar Oberlies vermeintlich klare Grenze zwischen der „muslimi- beispielsweise in der Auslegung des Mordmerk- schen Einwanderungsgesellschaft“ und der „deut- mals „Heimtücke“, da diese „das Recht des Stär- schen Mehrheitsgesellschaft“ gezogen: „Ehren- keren“ privilegiere.45 So liegt Heimtücke nach morde“ wurzeln angeblich in den rückständigen ständiger Rechtsprechung regelmäßig vor, wenn und patriarchalen Traditionen von Migrant*innen, eine Frau ihren Mann im Schlaf tötet, der sie wohingegen deutsche Täter vermeintlich nicht vor über Jahre misshandelt hat. Die häufig körperlich dem Hintergrund einer sozialen und kulturellen überlegenen Männer werden ihr Opfer eher of- Geschlechterungleichheit handeln, sondern im fen konfrontieren. Tötet ein Mann seine Partnerin Kontext individueller „Beziehungsdramen“.43 Die im Zuge einer direkten Konfrontation, kann das Verwendung des Begriffs „Femizid“ dient in die- dazu führen, dass das Opfer nicht mehr als arg- sem Kontext dazu, verharmlosende oder kultura- los gilt, da es mit einem Angriff rechnen musste. lisierende Darstellungen von Gewalt gegen Frauen Heimtücke scheidet dann aus. zu vermeiden und den strukturellen Sexismus her- Im Zentrum der aktuellen Debatte steht aller- vorzuheben, der diese Gewalt ermöglicht. dings die Bewertung der Beweggründe als „nied- rig“ im Sinne des § 211 Absatz 2 Variante 4 Straf- FEMIZIDE IM DEUTSCHEN gesetzbuch. Ein Beweggrund ist niedrig, wenn er STRAFRECHT „nach sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist“ – ein In jüngerer Zeit wird vermehrt die Frage aufge- freilich sehr unbestimmter Rechtsbegriff.46 worfen, ob bei der strafrechtlichen Aufarbeitung Hass auf das weibliche Geschlecht im oben von Femiziden der Geschlechtsbezug der Taten beschriebenen Sinne ist ein solcher niedriger Be- beziehungsweise deren sexistische Hintergrün- weggrund.47 Die Realität ist aber zuweilen viel- de ausreichend berücksichtigt werden. In La- schichtiger – insbesondere in Partnerschaften. Be- teinamerika hat insbesondere die unzureichende reits der zweifelsfreie Nachweis des Motivs ist Strafverfolgung zur Schaffung von Straftatbe- mit Schwierigkeiten verbunden. Hüllt sich der ständen geführt, die Femizide als spezifisches De- Täter in Schweigen, können meist nur die Tat likt erfassen.44 Hierzulande ist aufgrund der ho- umstände Auskunft darüber geben. Die Ermitt- hen Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten indes lung der Beweggründe und deren Bewertung ge- nicht davon auszugehen, dass Femizide weithin hen zum Teil ineinander über. Es ist zum Beispiel ungesühnt bleiben. Dennoch stellen sie die Recht- umstritten, ob es für oder gegen die Niedrigkeit sprechung vor erhebliche Herausforderungen. der Beweggründe des Täters spricht, wenn sich Häufig hängt das mit der Abgrenzung von das Opfer vor der Tat vom Täter getrennt hat. Mord (§ 211 Strafgesetzbuch) und Totschlag Manche sehen hierin mit Verweis auf das moder- (§ 212 Strafgesetzbuch) im deutschen Strafrecht ne Scheidungsrecht einen Ausdruck patriarcha- zusammen. Für einen Totschlag ist erforderlich, ler Besitzansprüche beziehungsweise eine Form dass ein anderer Mensch vorsätzlich getötet wird. der Hasskriminalität.48 Nach einem Beschluss Die Strafe liegt zwischen fünf und 15 Jahren Frei- 45 Oberlies (Anm. 34), S. 131. Die Strafe kann dann aber nach 43 Vgl. Anna Korteweg/Gökçe Yurdakul, Islam, Gender, and ständiger Rechtsprechung gemildert werden. Immigrants Integration, in: Ethnic and Racial Studies 2/2009, 46 Siehe jüngst BGH, Urteil v. 30. 3. 2022 – 5 StR 358/21. S. 218–238. 47 Vgl. Hartmut Schneider, Trennungstötungen als Mord, in: 44 Übersicht bei Wania Pasinato/Thiago P. de Ávila, Criminali Zeitschrift für Rechtspolitik 6/2021, S. 183–186. zation of Femicide in Latin America, in: Current Sociology 1/2023, 48 Vgl. Inga Schuchmann/Leonie Steinl, Femizide, in: Kritische S. 61–77. Justiz 3/2021, S. 312–327. 14
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