Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Ernst Hüsmert

Das Herscheider Chorgestühl von 1548
          und seine Stifter

                  bearbeitet von
                  Roland Pieper

         Herscheid 2016 / Münster 2019
Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Inhalt

Zur Edition des Manuskripts von Ernst Hüsmert (Roland Pieper)            4
Die Herscheider Kirche und ihr Chorgestühl (Roland Pieper)                6

Vorwort                                                                  10
Überblick über die Elemente des Chorgestühls                             11
1.    Behemoth und Leviathan                                             14
2.    Der Hirsch und der Heilige                                         19
3.    Wasser, Land, Wind und Mischgestalten                              25
4.    Die Geburt der Groteske als illegitime Tochter der Renaissance     29
5.    Die Holzkohlekrise der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts in Hessen
      und dem Siegerland                                                 33
6.    Die beliebige Austauschbarkeit der Ornamentgrotesken des
      Herscheider Chorgestühls                                           36
7.    Das Jahr 1548 und die Verhältnisse in Herscheid                    46
8.    Die Familienallianz Neuhoff ‒ Wrede ‒ Rump                         56
      1. Zur Geschichte der Burg Pungelscheid                            56
      2. Biographie des Jasper Neuhoff                                   58
      3. Biographie des Jasper Rump                                      61
      4. Die Erben des Jasper Rump                                       66
      5. Biographie des Diederich Rump                                   67
9.    Die Stifter des Herscheider Chorgestühls                           70
10.   Anhänge                                                            74
      1. Die Vorfahren des Theodor von Neuhoff, Königs von Korsika       74
      2. Dokument der Kohlekrise (NRW-Staatsarchiv, Abt. Münster)        76
      3. Die Reformation in der Grafschaft Mark                          80
      4. Der Humanist und seine Brille                                   86
      5. Literaturverzeichnis                                            90
      6. Abbildungsnachweis                                              94

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Zur Edition des Manuskripts von Ernst Hüsmert

Ernst Hüsmert war ein engagierter, aber kein „studierter“ Historiker. Am 12. April 1928 in Pletten-
berg geboren, absolvierte er nach dem Schulabschluss von 1945 bis 1948 eine Ausbildung an
der staatlichen Ingenieurschule in Hagen zum Diplom-Ingenieur. Zunächst Betriebsassistent und
Betriebsleiter in einer Plettenberger Gesenkschmiede, wechselte er 1957 nach Essen zu Krupp
Schmiede & Gießerei, wo er bis zum Eintritt in den Ruhestand 1988 blieb. Er blieb jedoch in Her-
scheid wohnen und bereiste beruflich im Außendienst vorwiegend Walzwerke. 1979 wurde er
Mitglied des Lions Clubs Lüdenscheid-Lennetal, dessen Präsident er 1987/88 war, aktiv war er
zudem als Presbyter der Kirchengemeinde Herscheid sowie im Geschichts– und Heimatverein
Herscheid e.V. Ernst Hüsmert starb am 22. November 2017. Er hinterließ seine Frau Ursula geb.
Vetter, mit der er seit 1955 verheiratet war, und die 1957 geborene Tochter Nicola.
    Abseits seiner beruflichen Tätigkeit kennzeichneten ihn zwei Interessen ganz besonders: Er
schrieb Gedichte, die 1952 in der FAZ, 1958 in der Westdeutschen Rundschau, 1973 im Deut-
schen Allgemeinen Sonntagsblatt und 1997 im Märkischen Jahrbuch erschienen. 1998 fasste er
eine Auswahl in einem Gedichtband zusammen (Zwischen Mond und Stern. Ausgewählte Ge-
dichte aus fünfzig Jahren. Heidelberg 1998).
    Seine weitere Liebe galt der Geschichtswissenschaft, die auf seiner Bekanntschaft mit dem
Staatstheoretiker Carl Schmitt zurückgehen dürfte, den er 1948 kennengelernt, später auf Rei-
sen begleitete und dessen Nachlass er teilweise bearbeitet hat. 1 Dabei machte ihn nach eigenen
Angaben der Herscheider Pfarrer Wilhelm Baberg auf das Herscheider Chorgestühl aufmerk-
sam, dessen vorliegende Bearbeitung durch Hüsmert auf den Ideen Carl Schmitts beruht: Er
zeigt im Bezug auf das Gestühl kein Interesse an dessen technischem Aufbau, an den erkennba-
ren Umgestaltungen oder an der Denkmalpflege, sondern ausschließlich an der Ikonografie, also
an den Darstellungen, ihre Interpretation und historische Einordnung. Zwischen 1988 und 1992
war Ernst Hüsmert an der UNI Dortmund als Gaststudent eingeschrieben, und in dieser Zeit reif-
te sein Entschluss, das Herscheider Chorgestühl zum Gegenstand einer Dissertation zu machen.
Einige Jahre später legte er seine erste Studie dazu vor, die allerdings knapp gehalten ist und
von der Edition her umfangreiche Abbildungen nicht ermöglichte.2
    Das nachgelassene Manuskript beinhaltet die zentralen Kapitel seiner Dissertation, die in in-
formative Rahmenkapitel einzubinden und um einen wissenschaftlichen Apparat zu ergänzen im
nicht mehr vergönnt war. Er widmete seine Studie seinen Eltern Ernst Ferdinand Hüsmert (1899
–1960) und Lydia Hüsmert geborene Wisotzky (1905‒1991) zur Erinnerung.

1       Bredekamp 2016, S. 77.
2       Hüsmert 1998.

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Die Edition folgt dem Wunsch der Familie und geschichtsinte-
                                  ressierten Herscheidern, die Studie zu Beurteilung und Kritik an
                                  die Öffentlichkeit zu bringen. Dem Lions Club Lüdenscheid-
                                  Lennetal ist als Sponsor für eine großzügige Spende zu dan-
                                  ken, die die Edition überhaupt erst ermöglicht hat, dem Ge-
                                  schichts- und Heimatverein Herscheid e.V. dafür, den Beitrag
                                  auf seine Homepage zu nehmen. Das Dateiformat PDF ermög-
                                  licht es dem Leser, die Datei herunterzuladen, (doppelseitig)
                                  auszudrucken und als selbständiges Heft zu binden.
                                  Das Manuskript eines Verstorbenen zu edieren bedarf einiger
                                  Vorüberlegungen, da zu dessen Bearbeitung mit dem Autor kei-
                                  ne Rücksprache gehalten werden kann. Hüsmerts Manuskript
                                  blieb für diese Edition textlich grundsätzlich im hinterlassenen
Zustand. Es ist sicherlich nicht die von ihm selbst als endgültig angesehene Form, aber in Herlei-
tung und Darstellung so weit gediehen, dass eine Edition gerechtfertigt erscheint. Wissenschaft-
lich korrekt ist es allerdings nur bedingt, weil Belege für viele Zitate vollständig fehlen oder durch
fehlende Seitenangaben ungenau sind. Die redaktionelle Bearbeitung umfasste vorallem behut-
same sprachliche, insbesondere satztechnische Korrekturen, sowie vereinzelt eindeutigere oder
prägnantere Ausdrucksweisen. Vollständig überarbeitet wurde das von ihm zwar angelegte, aber
durch spätere Umarbeitungen und Benutzung eines einfachen Textprogramms als Grundlage
ungeeignete Layout. Um auch „Nicht-Herscheidern“ eine Benutzung zu ermöglichen, wurde eine
Einführung zur Kirche und als knapper, einführender Überblick zum Chorgestühl vorangestellt.
  Zwar hatte Ernst Hüsmert vom damaligen Plettenberger Fotografen Günter Konetzko in den
1960er Jahren schwarzweiße Fotos anfertigen lassen, es empfahl sich für die vorliegende Publi-
kation aber, sie in Farbe und mit hochauflösender Digitalkamera neu zu erstellen, was im No-
vember 2018 erfolgte. Ein erhebliches Problem stellte die übrige, vergleichende Bebilderung des
Manuskripts dar, die in Hüsmerts Textdatei eingebunden, qualitativ aber schlecht ist. Großenteils
handelt es sich offensichtlich um Fotokopien, die sich aber im Nachlass nicht mehr auffinden lie-
ßen. Die Buchvorlagen zu Neuscans konnten zwar in den meisten, aber nicht allen Fällen ermit-
telt werden, ein Umstand, der letztlich der posthumen Veröffentlichung geschuldet ist. Einige we-
nige Aufnahmen des Manuskripts mussten daher entfallen.

Dr. Roland Pieper, Münster, im Februar 2019

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Die Herscheider Kirche und ihr Chorgestühl

Roland Pieper

Die Gemeinde Herscheid liegt im heutigen Märkischen Kreis im Nordrhein-Westfälischen Sauer-
land, unweit der Autobahn 45 und der Versetalsperre. Die heutige evangelische Apostelkirche in-
mitten des alten Ortskerns geht mit dem Patronat St. Cyriakus gesichert in die Zeit vor 1072 zu-
rück,3 die Gründung dürfte aber älter sein.

     1. Herscheid, evang. Apostelkirche. Ansicht von Nordosten und Blick in den Innenraum nach Osten, 2018

Die Baugeschichte der Kirche ist bislang nicht hinreichend erforscht. 4 Erkennbar ist, dass der
Turm das älteste Bauteil bildet. An seiner Ostseite zeichnet sich im Dachraum der heutigen Kir-
che eine Dachlinie ab, die vermutlich zu einer einschiffigen Saalkirche gehört, die in der ersten
                                                                 Hälfte des 13. Jahrhunderts von jener klei-
                                                                 nen dreischiffigen Hallenkirche abgelöst
                                                                 wurde, die den heutigen Westteil der gan-
                                                                 zen Kirche bildet. Sie gehört zu einer klei-
                                                                 nen Gruppe früher Hallenkirchen mit massi-
                                                                 gen, aus Bruchstein errichteten Rundpfei-
                                                                 lern,   von   denen      weitere    Vertreter     in
                                                                 (Nachrodt-Wiblingwerde-)Wiblingwerde und
    2. Herscheid, evang. Apostelkirche. Grundriss nach Ludorff   ‒ nur noch in Ansätzen erhalten ‒ in
          1911 (mit Korrektur späterer Veränderungen).
                                                                 (Schmallenberg-)Dorlar stehen.

3       Der Kölner Erzbischof Anno II. übertrug die Kirche zu „Hertceido“ 1072 dem neu gegründeten Benediktiner-
        kloster Grafschaft; vgl. Däumer 1934, S. 12; FS 1952, S. 13. ‒ Die Nachricht zu 904 dürfte sich auf ein an-
        deres Herscheid beziehen; vgl. Apostelkirche o.J.; Dehio Westfalen 2011, S. 445. ‒ Ein Priester ist erstmals
        1214 genannt.
4       Vgl. Däumer 1958, S. 85; Barth/Hartmann/Kracht/Störing 1993, S. 207‒210; Dehio Westfalen 2011, S. 445.

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Nach Osten folgen zwei weitere, sukzessive angefügte und daher ungleiche Joche, von denen
das westliche im Mittelschiff durch seinen trapezförmigen Grundriss eine Verbreiterung herbei-
führt, offenbar schon im Hinblick auf die Anfügung eines archäologisch nachgewiesenen 5/8-
Polygons als Chor, der im Kern ‒ ohne Dreiseitschluss und mit später erneuertem Gewölbe ‒ im

    3. Herscheid, evang. Apostelkirche. Blick in den Chor nach Osten mit dem Chorgestühl auf der Nordseite, 2018

östlichen Langhausjoch erhalten ist.5 Das Joch ist nach Süden einem Querarm ähnlich verbrei-
tert, nach Norden durch einen Kapellenanbau erweitert. Die zweite Erweiterung bildet der heuti-
ge, gegen die älteren Teile nochmals breitere Chor aus querrechteckigem Joch und einem etwas
gedrückten 5/8-Polygon. Baudekor und Gewölberippen fehlen, sodass eine Datierung nur grob
für die beiden östlichen Langhausjoche in die zweite Hälfte des 13. und für den Chor in das 15.
Jahrhundert vorgenommen werden kann. Als Konsolen für die Wölbung an der Chornordwand
sowie an den Triumphbogenvorlagen nach Westen wurden Spolien verbaut, die von früheren
Ostteilen der Kirche stammen dürften. An der Chornordseite ist eine Sakristei von zwei Jochen
Länge angebaut.
Abgesehen vom 1881 nach Altena gelangten Altartryptichon stammt die mobile Ausstattung der
Kirche aus der Barockzeit ‒ mit einer Ausnahme: Das Chorgestühl von 1548, das damit noch in
der katholischen Zeit entstand, kurz vor der Einführung der Reformation in Herscheid 1552. Es
befindet sich als Solitär an der Nordwand des Chorjoches, während an der Südwand eine barock-

5       Notiz in Westfalen 50, 1972, S. 17. Die Maßnahme wurde vom Westfälischen Museum für Archäologie, Amt
        für Bodendenkmalpflege, Referat Mittelalter begleitet (Dr. Uwe Lobbedey); dort Befundakten Nr. 570.

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
4. Herscheid, evang. Apostelkirche. Das Chorgestühl in der Ansicht von Süden, 2018.

zeitliche, neuzeitlich um kopierte Elemente des Renaissancegestühls ergänzte Stuhlreihe steht.
Es ist weit nach Westen an den Zugang zur Sakristei gerückt, wobei die Verlängerung des Ge-
stühlpodestes den Treppenzugang zur unterkellerten und daher etwas erhöht liegenden Sakristei
bildet. Erkennbar ist das Bemühen, eine Distanz zur gotischen Sakramentsnische in der Wand
östlich des Gestühls zu schaffen, möglicherweise deswegen, weil im Gestühl keine Geistlichen,
sondern weltliche Würdenträger Platz fanden.
Inwieweit das im Kern aus vier Stallen bestehende, aber in vielen Bereichen auf eine Sechsertei-
lung Bezug nehmende Gestühl in originaler Zusammensetzung besteht, wurde bei seiner In-
standsetzung 1970 nicht ermittelt und ist auch nicht Gegenstand der Untersuchung von Ernst
Hüsmert.6 Sein Augenmerk richtet sich auf die Ikonografie des Gestühls, die im Gegensatz zum

6     1970 wurden alte Ölfarbenanstriche abgenommen und die Holzsichtigkeit des Gestühls konserviert; Ausfüh-
      rung durch die Fa. Hesse in Lippstadt. Denkmalpflegebericht in: Westfalen 53, 1975, S. 496 f. mit Abb. 351
      (von 1974).

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
in der handwerklich-künstlerischen Machart durchaus ähnlichen, aber etwas jüngeren Gestühl im
nahen Valbert ohne eindeutig erkennbare biblische Bezüge ist. 7 Nach einem Vorwort beginnt
                                                                Hüsmert seine Darstellung unmittelbar mit
                                                                einem Überblick über die einzelnen Ele-
                                                                mente des Gestühls.

                                                                5. Herscheid. Nördliches Gestühl in ursprünglicher
                                                                Aufstellung mit Dorsal, Klappsitzreihe, Schnitzbank
                                                                und kleiner Pultfront versehen (Foto 1909).

6. Herscheid. Klappsitzreihe mit zugehöriger reliefverzierter
und mit geschnitzten Wangen versehener Bank. Foto: Al-
bert Ludorff, 1910.

                                                                          7. Herscheid. Frontpult der Südseite mit
                                                                          Behemoth und Leviathan und angefügter
                                                                          Sitzbank sowie dem kleinen Frontpult der
                                                                          Klappsitzreihe versehen. Foto: Albert Lu-
                                                                          dorff, 1910.

7      Zu Valbert: BKW Ludorff 1911 mit Fotos der Flachschnitzereien des Gestühls im Band verteilt. ‒ Hüsmerts
       Interpretation der Ikonografie ist nicht unumstritten. Im Kirchenführer der Gemeinde (Apostelkirche o.J.) wird
       vermutet, „daß die Schlangen- und Drachendarstellungen als Sinnbilder des Hlg. Cyriacus auf den Schutz-
       heiligen der Kirche hinweisen wollen“. Die Tafeln werden als Stifter und Darstellung der gesellschaftlichen
       Stände gedeutet, ergänzt um Christi Tod am Kreuz.

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Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
Vorwort

Der vorliegende Beitrag geht der Herkunft und Bedeutung des Gestühls aus dem Jahr 1548 in der
evangelischen Apostelkirche (ehem. St. Cyriakus) in Herscheid im Märkischen Sauerland nach.
Der Umstand, dass es für die Errichtung dieses Gestühls keine Belege gibt und frühere Erwäh-
nungen in der heimischen Literatur auf Vermutungen beruhen ‒ bis hin zu Zweifeln an der Voll-
ständigkeit des heutigen Zustandes ‒, ist zum Anlass genommen worden, dieses rätselhafte Er-
zeugnis der Reformationszeit von seinen ureigenen Elementen her zu interpretieren und in den
geschichtlichen Zusammenhang zu stellen, allerdings unter Berücksichtigung der niemals infrage
gestellten mündlichen Überlieferung, dass es sich bei den dargestellten Personen unter anderem
um die Stifter des Gestühls handelt. Die daraus resultierende Vorgehensweise, über Mythologie
und Symbolik zur geschichtlichen Interpretation und Einordnung zu gelangen, mag wissenschaft-
lich bedenklich sein und dem Leser ungewohnte Rückschlüsse zumuten. Sie verpflichtet gleich-
zeitig den Autor zu einer umfassenden plausiblen Darstellung. Voraussetzung dafür ist die Erfas-
sung des Gegenstandes in allen seinen Elementen. In diesem Sinne sei dem Leser die Benut-
zung des vorangestellten Plans des derzeitigen Zustandes empfohlen.
  Ergänzend hierzu ist auf eine im bisherigen Schrifttum nicht berücksichtigte Literatur aus dem
Jahr 1911 hinzuweisen, aus der sich die ursprüngliche Aufstellung des Gestühls rekonstruieren
lässt. Dort ist angegeben: „2 Chorgestühle, Renaissance, von 1548, geschnitzt mit Köpfen, Thie-
ren und Rankenwerk: 1. an der Nordseite, mit 4 Klappsitzen; Füllungen mit Flachschnitzerei, 2,97
m lang, 2. an der Südseite, bankförmig. 2,86 m lang. (Abbildungen Tafel 20.)“ Demnach blieb das
Gestühl an der Nordseite einschließlich des zugehörigen Dorsals und der vor den Klappsitzen
stehenden Schnitzbank mit Reliefschmuck unverändert, während das Pult des südlichen Gestühls
am Anfang des vorigen Jahrhunderts der Nordseite vorangestellt wurde.
  Mein Interesse am Herscheider Gestühl verdanke ich Pfarrer Wilhelm Baberg (1911‒1978),
den ich in meiner achtjährigen Amtsperiode als Presbyter der Herscheider Kirchengemeinde ken-
nenlernen durfte. Besonderen Dank schulde ich meiner Frau Ursula und meiner Tochter Nicola,
die mich während der zeitaufwändigen Arbeiten am Manuskript entbehren mussten. Für fachliche
Unterstützung danke ich Prof. Dr. Ingeborg Villinger, Kunsthistorikerin Anja Seliger (Berlin), Dr.
Gerd Giesler (Berlin), Prof. Dr. Reinhard Mehring (Heidelberg), Dr. Peter Prange (Tübingen),
Christian Linder (Nideggen) und meinem Lehrer an der UNI-Dortmund, Prof. Dr. Klaus Goebel
(Wuppertal-Ronsdorf). Ebenso danke ich den Mitarbeitern der historischen Archive in Marburg,
Münster, Köln, Hagen, Siegen, Lüdenscheid, Herscheid und Plettenberg für ihre zuvorkommende
Auskunftsbereitschaft.
  Bei den Mitgliedern vom Lions Club Lüdenscheid-Lennetal bedanke ich mich für bereitwillige
Diskussionen meiner Forschungsergebnisse, insbesondere bei Hans Bartholomay, Klaus Erger,
Wolfgang Luck, Helmut Noll und Uwe Schmalenbach.

Ernst Hüsmert, Herscheid, Pfingsten 2016

                                               10
Überblick über die Elemente des Chorgestühls

                  8. Bezeichnung und Verortung der Elemente des heutigen Gestühls.

A.   Die Elemente des Herscheider Chorgestühls oberhalb und unterhalb der Klappsitzreihe

Dorsal:     D1 = Mann mit Barett
            D2 = Frau mit Rosettenhaube
            D3 = Jahreszahl 1548
            D4 = barhäuptiger Mann, zu D5 gehörig (Vater & Tochter)
            D5 = Frau mit Stirnband
            D6 = Allianzwappen
            D7 = Einzelwappen
Säulen:     S1 = blattverziert
            S2 = spiralkanneliert
            S3 = senkrecht kanneliert
            S4 = spiralkanneliert
            S5 = blattverziert
Armlehnen: A1 = Delphin
            A2 = Drache mit Halsband
            A3 = sechsblättrige Rose

                                                11
A4 = geflügelter Drache
                A5 = Paradiesschlange
Fußstahlen: St1 = spiralkanneliert
                St2 = nicht kanneliert (vermutlich Ersatz)
                St3 = senkrecht kanneliert
                St4 = spiralkanneliert
Miserikordien: M1 = Stier
                M2 = entfernt
                M3 = entfernt
                M4 = entfernt

B.      Die Elemente des Herscheider Chorgestühls (vormals Südseite, im Laufe des 20. Jahrhun-
        derts vor die Klappstuhlreihe der Nordseite gestellt)

Rechte Bankwangen                  Sitzbereich                  Linke Bankwangen
Lehne                              Rückenlehne                  Lehne
RB1 = barhäuptiger M.              B1 = M. mit Gelehrtenbarett LB1 = Püsterich
RB2 = Dreiblattlilie               B2 = F. mit Schleifenhaube LB2 = gehörnter M.
RB3 = Sechsblattrose               B3 = M. mit Helm             LB3 = gehörnter M.
RB4 = M. mit Barett                B4 = F. mit Spiralhaube      LB4 = barhäupt. M. (mit LB5)
RB5 = F. mit Stirnband             B5 = M. mit Krone            LB5 = F. mit Schleifenhaube
                                   B6 = F. mit Krone
Pult:
RP1 = Leviathan                    P1 = Med. zw. Delphinen      LP1 = Behemoth
RP2 = barhäuptiger M.              P2 = Med. zw. Blattmasken P2 = F. mit Schleifenhaube
                                   P3 Med. zw. Dreiblattmasken
                                   P4 Med. zw. Schlangenmasken

Abkürzungen für die Elemente des Gestühls (A): R = rechts, L = links, D = Dorsal, Med. = Medail-
lon, F = Pultfront, B = Bank, S = Säulen, A = Armlehnen, St = Fußstahlen, k = Miserikordien

Abkürzungen für die Elemente des Gestühls (B): M. = Mann, F. = Frau, Med. = Medaillon, zw. =
zwei

                                                   12
9. Ansicht des Gestühls von Südwesten, 2018.

                    13
1. Behemoth und Leviathan

Das Entree des Herscheider Chorgestühls bezieht seine Motive aus derselben Quelle wie das
Vorspiel zu Goethes „Faust“, dem Buch Hiob im Alten Testament. Gott macht mit dem Teufel ei-
ne Wette. Das bedauernswerte Subjekt dieser Wette ist Hiob; bei Goethe heißt es Heinrich
Faust. Dem Teufel wird alle Macht über Hiob bzw. Faust geben, um die Menschen vom rechten
Weg abzubringen, doch darf er das Wettspiel nicht verderben indem er sie tötet. Im Falle Hiob
tötet der Teufel Kinder und Gesinde, nimmt Hiob Haus, Hof, Vieh und alle Güter und schlägt ihn

                                         10. R1 Leviathan.

mit Krankheit. Zum Schluss liegt Hiob, bedeckt mit Geschwüren, auf einem Misthaufen und lobt
Gott trotz und alledem. Damit hat der Teufel die Wette verloren.
  Und welchen Lohn trägt Hiob, der seinem Gott diesen Triumph beschert hat, davon? Die Bibel
gibt eine merkwürdige Antwort. Gott gibt Hiob Einblick in seine Weltbetrachtung und führt ihm
zwei gewaltige Tiere vor: Den Landdrachen Behemoth und das Seeungeheuer Leviathan.

                                               14
Behemoth (LP1) und Leviathan (RP1) bekrönen die Pultwangen des Herscheider Chorgestühls.
Vollplastisch stehen sie rechts und links auf den Enden des Frontpultes. Sie fangen den Blick
des Betrachters. Behemoth und Leviathan waren den Menschen des Mittelalters und der Refor-
mationszeit geläufiger als uns und unseren Zeitgenossen. 9 In einem Pilgerlied aus der Zeit der
Kreuzzüge heißt es:

                                            11. PL1 Behemoth.

                              O crux benedicta / aller holze besziesta/
                               an dir wart gevangen / der gir leviathan.
Noch für Luther waren die Drachen aus dem Buch Hiob Realität. Bei seinen Tischgesprächen
erzählte er, dass Gott täglich drei Stunden mit Behemoth und Leviathan spielt, 10 und als der Re-
formator von dem Straßburger Franziskanermönch Murner als Narr attackiert wurde, bezeichne-
ten Luthers Freunde den Franziskaner als Leviathan.11

9    Über mittelalterliche Ikonographie: Sauer 1902, S. 223, 383. Döring 1940.
10   Zu Luther: Obendiek 1931, S. 75 und Martin Luthers Tischreden, Weimarer Ausgabe 2, Nr. 2598a und 6,
     Nr. 6829.
11   Zu Murner: Merker 1923.

                                                   15
Theologisch geprägt war auch das große
                                                             Spektakel des Kampfes von Drache und Wal-
                                                             fisch als Feuerwerk auf dem Rhein anlässlich
                                                             der Hochzeit von Johann Wilhelm, Herzog
                                                             von Jülich-Kleve-Berg, mit Jakobe, Markgrä-
                                                             fin von Baden, am 22. Juni 1585 in Düssel-
                                                             dorf. Bei dessen Beschreibung nimmt der Be-
                                                             richterstatter Dietrich Graminaeus ausdrück-
                                                             lich Bezug auf Behemoth und Leviathan im
                                                             Buch Hiob und bemerkt, dass die beiden aus
                                                             dem Himmel gestoßenen Drachen die von
                                                             der katholischen Lehre abgefallenen Luthera-
                                                             ner und Calvinisten symbolisieren sollten.12
                                                               Auch im 17. Jahrhundert waren die beiden
                                                             großen mythischen Tiere in der Vorstellungs-
                                                             welt noch so präsent, dass der englische
                                                             Staatsphilosoph Thomas Hobbes aus dem
                                                             Leviathan ein Symbol für den perfekt funktio-
                                                             nierenden Staat machen konnte. Die Bilder
  12. Matthaeus Gnidius, Dialogi Murnarus Leviathan [...],
                                                             verblassten aber im Laufe des Barock und
                      Holzschnitt, 1521.
                                                             der folgenden Aufklärung. Goethe, der sich
beim Vorspiel zum Faust
im Himmel eng an das
Buch Hiob anlehnt, über-
nimmt in seinem Nach-
spiel die Figuren Gott,

13. Anlässlich der Hochzeit
von Johann Wilhelm von Kle-
ve-Jülich-Berg mit Jakobe von
Baden fand auf dem Rhein vor
dem Düsseldorfer Schloss am
17. Juni 1585 ein Feuerwerk
statt, dem der Kampf des
Behemoth mit dem Leviathan
integriert war. Kupferstich aus:
Dietrich   Graminaeus,      Be-
schreibung derer Fürstlicher
Güligscher ec. Hochzeit. Köln
1587.

12      Graminaeus 1585. Siehe auch: Rümmler 1983.

                                                        16
Behemoth und Leviathan nicht mehr. Zwar findet sein Nachspiel weder im Himmel noch auf Er-
den statt, sondern in einem Schwebezustand, doch auch hier geht der Zusammenhang mit Hiob
nicht verloren: Als Engel Fausts Seele entführen, wird der Teufel mit jenen Eiterbeulen geschla-
gen, mit denen er die Leiden des Hiob bis zur Unerträglichkeit steigerte. „Wie wird mir! Hiobartig,
Beul an Beule“, stöhnt Mephisto auf. Wie Hiob wird auch er gerettet. „Gerettet sind die edlen
Teufelsteile“, reimt Goethe auf Beule.
     Schon die Redakteure des Alten Testaments belassen es am Schluss ihres Berichts nicht
beim Bild von Behemoth und Leviathan und legen Wert auf materielle Wiedergutmachung für
Hiob. Er bekommt bessere und schönere Kinder als er vorher besaß, und sein Hab und Gut wird
verdoppelt. Aus dieser Wieder-
gutmachung in Verbindung mit
Jesaja 27,1, wo Gott mit sei-
nem großen starken Schwert
den Leviathan, der dort auch
Drache des Meeres genannt
wird, erwürgt, entwickelte die
jüdische Mythologie der Kab-
bala das große Gastmahl, wel-
ches Gott seinem Volk vom
erlegten     Leviathan    bereitet.
Ein einprägsames Bild, das im
Wesen bei den von ihrer Reli-
gion     bestimmten      Menschen
seine Spuren hinterlassen hat.
In seinem 1938 erschienen
Buch      zur   Staatslehre    des
Thomas Hobbes gibt Carl Sch-
mitt eine umfassende Über-
sicht zur Entwicklung und Aus-
formung der Mythologie von
Behemoth        und   Leviathan.13
Dieser Veröffentlichung wurde
ein Teil der hier aufgeführten
Einzelheiten entnommen. Carl
Schmitt weist besonders auf
die andersartige Entwicklung 14. Leviathan. Herrad von Landsberg: Hortus deliciarum (um 1170), fol. 84r.
des Themas in der christlichen                    Straßburg (Original verschollen).

13     Schmitt 1938. Siehe auch Bredekamp 2006 und Bredekamp 2016.

                                                    17
Mythologie der Kirchväter hin. Das Kreuz wird hier zum Angelhaken umfunktioniert, mit dem Gott
als Fischer den großen Fisch Leviathan fängt. Dabei wird der Leviathan als Drache gesehen, der
durch die Menschengestalt des am Kreuz hängenden Gottessohns geködert wird. Berühmt für
diese Sicht ist die Zeichnung im Hortus Deliciarum, einem Andachtsbuch der Äbtissin Herrad von
Landsberg aus dem 12. Jahrhundert, die den Fischfang Gottes an der Angelrute des Stammes
Jesse darstellt.
  Die Christen des Mittelalters und der Reformationszeit sahen in Behemoth und Leviathan vor-
wiegend Erscheinungsformen des Teufels. Damit hat sich die Bedeutung gegenüber der alttesta-
mentarischen Überlieferung vergröbert. Auch für die Drachen auf den Pultwangen des Herschei-
der Chorgestühls gilt, dass hier Teufel dargestellt sind. Der Erddrache Behemoth ist eindeutig
diabolisch gestaltet, während der Meeresdrache Leviathan mit christlichen Symbolen überdeckt
und dadurch entschärft wird. Obwohl der Leviathan die Weltkugel in seinem Fang hält und sie zu
verschlingen droht, wird ihm dieses nicht gelingen, weil er ein von Christus besiegter Teufel ist.
Er ist gezeichnet durch zehn dreizackige Akanthusblätter, die die Dreieinigkeit symbolisieren und
in ihrer Anzahl auf die Gebote Gottes verweisen. Seine ganze Wildheit, die sich in den Spiralen
oder Rollwerken von Maul, Flossen und Schwanz ausdrückt, nützt ihm nichts, denn er ist, um bei
einer Erklärung Luthers zu bleiben, „Gottes Teufel“ geworden. Aber bei aller Dämonisierung und
Entdämonisierung wird der Zusammenhang mit dem Buch Hiob gewahrt, indem der Leviathan
eindeutig Fisch und der Behemoth eindeutig Landtier ist.

                                               18
2. Der Hirsch und der Heilige

Wo die Drachen des Landes und des Meeres erscheinen, darf der Drache der Luft nicht fehlen.
Er zeigt sich an weit weniger exponierter Stelle als Behemoth und Leviathan und dient beschei-
den als Armlehne zwischen zwei Klappsitzen (A4). Der Grund für diese Bescheidenheit wird in
seiner Niederlage im Kampf mit dem Erzengel Michael liegen. Johannes berichtet darüber in Of-
fenbarung 12, 7‒9:14
     „7. Und es entstand Krieg im Himmel, sodass Michael und seine Engel Krieg führten mit dem
Drachen. Und der Drache führte Krieg und seine Engel; 8. und sie vermochten nicht standzuhal-
ten, „und eine Stätte für sie war im Himmel nicht mehr zu finden“. 9. Und geworfen wurde der
große Drache, die alte Schlange, genannt der Teufel und der Satan, der den ganzen Erdkreis
verführt, geworfen wurde er auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm geworfen.“
     In dieser Erzählung vom Höllensturz des
Satans wird am Ende zwischen Teufel, Dra-
che und Schlange nicht mehr unterschieden.
Drachen und Schlangen waren Inkarnation
des Bösen, und die Symbolik des Mittelalters
macht keinen Unterschied zwischen ihnen.
     Zu dem geflügelten Drachen gesellen sich
im Chorgestühl gleichwertig als äußere Arm-
lehnen Lilith, die Schlange aus dem Paradies
mit gespaltenem Schwanz (A5), und zwischen
zwei anderen Klappsitzen ein weiterer Dra-
che. Letzterer wird durch ein Halsband als an-
geketteter Teufel ausgewiesen (A2). Mehr o-
der weniger tragen alle drei Teufelsgestalten
der Armlehnen Abzeichen ihrer Überwindung.
Der Schwanz des geflügelten Drachens bildet
eine Rosette aus vier kreuzförmig angeordne-
ten Akanthusblättern, der Rücken der Schlan-
ge aus dem Paradies ist von dreizackigen
Akanthusblättern bedeckt, und der gerollte
Schwanz der geketteten Schlange entrollt sich
                                                                    15. Rose am Herscheider Gestühl.
zum dreizackigen Akanthusblatt. Das Symbol
der dreieinigen Gottheit verkündet den Sieg über das Böse. In der Mitte der Klappsitzreihe wur-
de eine sechsblättrige Rose eingefügt (A3).

14      Die Bibelzitate wurden redaktionell nach der Zürcher Bibelausgabe, Zürich 1955, Ausgabe 1987, vereinheit-
        lich.

                                                      19
16. Delphin und Drachen auf den Zwischenwangen.

                    20
Die Vorliebe für Drachen kommt in Herscheid nicht von ungefähr. Sie hängt mit dem für den
Exorzismus zuständigen Schutzheiligen der Kirche zusammen, mit Sankt Cyriakus, dem Nothel-
fer der Besessenen. Da dieser zu seinen Lebzeiten der Tochter des Kaisers Diokletian den Teu-
fel austrieb, wurde er meistens mit einem Drachen an der Kette dargestellt. Daher rührt das Hals-
band des schlangenähnlichen Unwesens.
     Zudem gibt es noch eine Beziehung zwischen Ortsnamen und Schlangensymbol, die wahr-
scheinlich älter ist, als die Bekanntschaft mit dem Patron Cyriakus. Herscheid leitet sich vom alt-
sächsischen „Hiruz“ = Hirsch ab und wird in Urkunden aus dem 10. Jahrhundert „Hiruzscetha“
genannt. Der Name bewahrt vermutlich die Erinnerung an ein kapitales Tier, das auf der Wasser-
scheide oder einem durch Rodung aus dem Wald ausgeschiedenen Gebiet seinen Platz hatte .
Für die Betrachtung der Drachen des Chorgestühls zählt indessen nur, dass der Hirsch für die
Menschen des Mittelalters ein mythisches Tier15 und nach vorderasiatischer Überlieferung in den
Tiergeschichten des Physiologus der Feind der Schlange war16.
     Allerdings ist der Zusammenhang zwischen vorderasiatischer Hirschlegende und mittelalterli-
chen Mythen nicht ohne weiteres einleuchtend, denn für uns als Betreibern einer wissenschaftlich
-analytischen Denkweise ist es kaum noch vorstellbar, dass alle jene römisch-griechischen Le-
genden, die einmal das Filter der christlichen Lehre passiert hatten, als unumstößliche Wahrheit
galten. Doch ist zum Beispiel fünfzehnhundert Jahre lang kein Seefahrer auf den Gedanken ge-
kommen, an der afrikanischen Küste nach Süden zu segeln, weil die einmal akzeptierte Behaup-
tung des Aristoteles, die heißen Zonen seien unbewohnbar, dagegen stand. Erst die Abenteuer
experimentierender Seefahrer machten den Weg nach Süden frei und die Umrisse Afrikas er-
kennbar.
     Vor dieser kopernikanischen Wende unseres Denkens war alles, was die Konzile sanktioniert
hatten, unumstößliches Postulat und im Sinne des Paulus interpretierbar, der im Brief an die Ko-
losser 1, V. 15‒17 über Christus geschrieben hatte: „15. Und er ist das Ebenbild des unsichtba-
ren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung; 16. denn in ihm ist alles, was in den Him-
meln und auf Erden ist, erschaffen worden, das Sichtbare und Unsichtbare, seien es Throne oder
Hoheiten oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen; 17. und er ist
vor allem, und alles hat in ihm seinen Bestand.“ Das bedeutet: In jeder Episode des Alten Testa-
mentes und in jeder als Tatsache geglaubten Überlieferung der Antike ‒ ebenso auch in den vor-
derasiatischen Tiergeschichten des Physiologus ‒ präfigurierte Christus. Darüber wurde gepre-
digt in Bildern und Worten. Vom Hirsch ist eine Predigt des berühmten Wanderpredigers Honori-
us von Autun aus der Zeit um 1200 überliefert.17 Sie lautet in der hochdeutschen Übersetzung:
     „Der Hirsch lebt fünfzig Jahre, und nach diesen fünfzig Jahren läuft er noch wie ein tüchtiger
Läufer durch die waldigen Täler und Schluchten der Berge, und er wittert die Löcher der Schlan-

15     Gregorius 1955.
16     Maurer 1964. Siehe auch Henkel 1976.
17     Honorius Augustodunensis, Speculun ecclesiae aus Patrologiae cursus completus [...], ed. J. P. Migne, Se-
       ries Latina. Paris 1844 ff.

                                                       21
gen, und sogleich legt er die Nüstern an den Eingang der Höhle und holt Atem, und die Schlange
geht heraus und geht in die Kehle des Hirsches, und er schluckt sie herunter, und deswegen wird
der Hirsch „Elchos“ genannt, weil er die Schlangen aus der Tiefe fängt. Mit der Schlange aber
läuft er zu den Wasserquellen; wenn er während drei Stunden nicht Wasser trinkt, stirbt er. Wenn
er aber Wasser findet, lebt er wiederum 50 Jahre. Deswegen sagt David in Psalm 42,2: „Wie der
Hirsch lechzt an versiegten Bächen, also lechzt meine Seele, o Gott, nach Dir!“ Und weiter:18
„Und du nun, vernünftiger Mensch, hast drei Erneuerungen in dir, dies sind eine Taufe der Unver-
gänglichkeit, die Gnade der Annahme an Sohnes statt, und die Buße. Und wenn du die Schlange
in deinem Herzen fängst, das heißt die Sünde, so laufe zugleich zu den Wasserquellen, das heißt
zu den Adern der Schrift
und      Prophezeiung.     Dies
wird erläutert, trinke das
Wasser des Lebens, das
heißt das heilige Geschenk
der Gemeinschaft mit der
Buße. Erneuere dich end-
lich mit der Buße, und die
Sünde wird getötet.“
     Diese Interpretation der
Erzählung vom Hirsch steht
keineswegs als Einzelfall
da. Die Heilige Hildegard
von Bingen hat sie in ihre
Schriften       aufgenommen
und hat den Hirsch bei
sonst unverändertem Ver-
halten     in   angemessener
Verniedlichung eine Unke
verschlingen lassen.19 Bei- 17. Freudenstadt, evang. Stadtkirche. Taufstein mit Darstellung eines Hirsches,
de Varianten verzeichnet lombardisch, um 1150.
Wera von Blankenburg, der
der Text der Hirschpredigt entnommen wurde.20 Als weiteres Beispiel für den Bekanntheitsgrad
der Hirschlegende nennt Wera von Blankenburg die Darstellung der Geschichte auf dem romani-
schen Taufstein in Freudenstadt, die im Kirchenbuch der Stadt später folgendermaßen erläutert
wurde:

18     (Hrsg.:) Das weitere nicht in der Bibelstelle, sondern wohl aus Blankenburg 1943.
19     Hildegard von Bingen, Physica (Buch 7 und 8), Hirsch VII aus: Patrologiae cursus completus, ed. J. P. Migne,
       Series Latina. Paris 1844 ff, Hirsch 197, S. 1321 ff.
20     Blankenburg 1943, S. 248 f.

                                                        22
„Gleich wie der Hirsch die Schlang’ verschlingt
                                  Und darauf zum frischen Wasser springt
                                    Und von dem Gift wird wieder rein:
                                  So steht‘s auch mit dem Menschen fein,
                                     Denn er von Sünden wird kuriert,
                                    Wenn er im Tauf gewaschen wird;
                                  Drum weicht alsbald das Schlangengift,
                                     Das sie uns beigebracht mit List.“
Unter solchen Voraussetzungen konnte die um die Re-
putation ihrer Heiligen bemühte Kirche einen nicht mehr
zeitgemäßen Hirsch durch einen schlangenbändigen-
den Heiligen ersetzen. Der Hirsch verschwand von der
Bildfläche; auftrat der Heilige Cyriakus mit dem Dra-
chen an der Kette.21
     Der Herscheider Schutzpatron war Opfer der Chris-
tenverfolgung unter Kaiser Diokletian, dessen Freund
Maximin von Mailand aus den Westen des Römischen
Reiches regierte. Cyriakus starb den Märtyrertod am
16. März des Jahres 309 in der Via Saleria in Rom. Es
nützte ihm nichts, dass er während der Haft die von bö-
sen Geistern besessene Tochter Arthemia des bereits
Im Jahr 305 abgedankten Kaisers Diokletian heilte. Er
starb gemeinsam mit zwei anderen Diakonen der Römi-
schen Gemeinde den Tod durch das Schwert und wird
bereits 354 erstmals als Heiliger erwähnt. Postmortal
beförderte St. Cyriakus den Exorzismus. Kaiser Otto I.
brachte um 1000 einen seiner Arme mit nach Worms. 18. Cyriakus auf der Predella des Herscheider
Unter den Deutschen avancierte Cyriakus zu einem der              Altars, Anfang 16. Jahrhundert. Altena,
                                                                              Burgmuseum
14 Nothelfer. In Bamberg, wo er besonders verehrt wur-
de, feiert man seinen Namenstag am 8. August.
     Das Schicksal des Heiligen Cyrikus in Herscheid gleicht dem seines tierischen Vorläufers,
dessen Verschwinden anscheinend niemanden bekümmerte. Ende des 16. Jahrhunderts taucht
er als Vorname in den Dokumenten des Archivs noch auf, am 1548 kurz vor der Reformation er-
richteten Chorgestühl aber fehlt er. Dagegen erwies sich der vom Hirsch überkommene Drache
als weniger vergänglich, denn er verselbstständigt und vervielfältigt sich in den Drolerien und
Armlehnen des Gestühls. Dreimal bleibt er der besiegte Teufel. Doch im Behemoth der linken
Pultwange erhebt er sich in ungebändigter Bosheit.

21     Cyriakus nach Doyé 1929.

                                                    23
19. Medaillons mit zu Wappenschilden umgearbeiteten Gesichtern: P1 zwischen aufeinander zustrebenden Delphi-
 nen; P2 zwischen zwei auseinanderstrebenden Zweiblattmasken; P3 zwischen zueinander strebenden Dreiblatt-
                     masken; P4 zwischen aufeinander zustrebenden Schlangenmasken.

                                                    24
3. Wasser, Land, Wind und Mischgestalten

Hinter dem mit christlichen Symbolen gespickten Leviathan (RP1) am Herscheider Chorgestühl
endet die mittelalterliche Phase der Ornamentik. Der Leviathan wandelt sich auf der Armlehne
des rechten äußeren Klappsitzes zum Delphin (A1), den wir als typisches Attribut der Kunst der
Renaissance zu deuten haben. Die Kugel im Maul verrät noch die Abkunft vom großen Meeres-
drachen.
  An der Pultfront des Chorge-
stühls wird das Motiv von rechts
nach links auf der ersten von vier
Relieftafeln weitergeführt. Zwei
Delphine halten von beiden Sei-
ten mit ihren Mäulern ein zentra-
les Medaillon (P1). Im Relief da-
neben       werden   daraus   zwei
Mischwesen,      bestehend    aus
Fischleibern und zweiblättrigen
weiblichen Gesichtsmasken (P2).
Beim dritten Relief sind es Fisch-
leiber mit bärtigen männlichen,
dreiblättrigen   Gesichtsmasken,
die das Medaillon halten (P3).
Dann folgt auf dem vierten und
letzten Relief der Pultfront ein
neues Motiv. Aus den beiden
oberen Ecken des Reliefs bläst je
ein Püsterich in der Gestalt einer
Schlangenmaske Spiralen und
Akanthuslaub gegen das Medail-
lon (P4).
   Dieselben Schlangenmasken
befinden sich auf der linken Wan-
ge der Pultfront über dem Me-
daillon der Frau mit Schleifen-
                                     20. Frau mit Schleifenhaube unterhalb des Behemoth mit Schlangenmas-
haube (LP2) als Ornament und                                    ken als Ornament
sind bereits 1542 auf der Ofen-
platte vom Jakobsbrunnen von Philipp Soldan aus Frankenberg zu finden.

                                                  25
21. Ofenplatte vom Jakobsbrunnen von Phi-
    lipp Soldan mit Schlangenmaske (oben
                 links),1542.

Die der Frau mit der Schleifenhaube be-
nachbarte linke Bankwange zeigt oben
einen Püsterich in Gestalt einer vierblätt-
rigen frontalen Gesichtsmaske im mittle-
ren von drei Kreisabschnitten (LB1), be-
gleitet von fischleibigen Mischwesen mit
gehörnten Menschenköpfen in den bei-
den anderen Kreisabschnitten (LB2 und
LB3). Darunter befindet sich ein Doppel-
portrait, bestehend aus zwei durch Ringe
miteinander verbundenen Medaillons, in
denen ein weiteres Mal die Frau mit der
Schleifenhaube (LB4) und daneben ihr Ehemann barhäuptig positioniert ist (LB 5).
  Die Einzelportraits lassen darauf schließen, dass in allen Medaillons des Chorgestühls einzel-
ne Personen abgebildet waren. Leider wurden alle vier Medaillons der Pultfront zerstört. Angeb-
                                                              lich störten die Besitzer die Na-
                                                              sen der Dargestellten, als zur
                                                              Zeit der Erweckungsbewegung
                                                              um die Wende vom 18. zum 19.
                                                              Jahrhundert wegen der überfüll-
                                                              ten Kirche eine zusätzliche Sitz-
                                                              gelegenheit    durch    eine   dem
                                                              Frontpult angefügte Bank ge-
                                                              schaffen und die frühere Front
                                                              zur Rückenlehne wurde. Dabei
                                                              blieben die Pult -und Bankwan-
                                                              gen, deren plastischen Knorpel
                                                              niemanden störten, unverändert.
                                                              In dem Medaillon der rechten
                                                              Pultwange unterhalb des Levia-

                                                               22. B1-5 Linke Bankwange mit Maske,
                                                               gehörnten Mischwesen und Ehepaar.

                                              26
thans wird ein weiteres Mal ein barhäuptiger Mann (RP2) inmitten von vier Rollwerken darge-
stellt.
   Derselbe      erscheint    auf
der rechten Bankwange, die
in ihrer Aufteilung bis auf ein
unten angefügtes Delphinre-
lief der gegenüberliegenden
linken     Bankwange         ent-
spricht,    im    oberen     Ab-
schlussbogen       (RB1)     zwi-
schen      dreiblättriger    Lilie
(RB2) und sechsblättriger
Rose (RB3) noch einmal .
Darunter befinden sich ne-
beneinander die Medaillons
eines Mannes mit Barett
(RB4) und einer Frau mit
Stirnband (RB5). Anders als
auf der gegenüber liegen-
den Bankwange gibt es hier
keine ausdrückliche Verbin-
dung zwischen den Medail-
lons von Mann und Frau.
Sie ist auch nicht zu erwar-
ten, da das Stirnband ange-
sichts der Kopfbedeckungen
aller anderen Damen be-
deutet, dass es sich bei ihr
um eine Jungfer handelt, sie
also nicht „unter der Haube“
ist. Besonders auffällig an
dieser rechten Bankwange
ist die Verlängerung des
Reliefs nach unten, um ein
weiteres Delphinmotiv mit
                                     23. RP 1/2, rechte Pultwange mit barhäuptigem Mann unterhalb des Leviathans
zwei auseinander streben-                             (beschädigt durch Artilleriebeschuss 1945).
den Delphinen anzufügen
(RB6). Allerdings ist es nicht statthaft, in solcher Geschlossenheit konkrete Hinweise auf den ge-
schmückten Personenkreis zu vermuten, denn die Ornamente sind darin beliebig austauschbar.

                                                        27
24.    RB1-6,   rechte
                                                                          Bankwange mit bar-
                                                                          häuptigen Mann, Lilie,
                                                                          Rose, Mann mit Barett,
                                                                          Frau mit Stirnband und
                                                                          Relief mit zwei Delphi-
                                                                          nen.

Die hinzugefügten Delphine schließen den Kreis der Figuren, denn sie leiten über zum Delphin
der rechten Armlehne der Klappsitzreihe (A1), dem Artverwandten des Leviathans. Auf der linken
Pultwange besorgen die pustenden Schlangenmasken (LP2) diese Funktion der thematischen
Verbindung zur Schlange aus dem Paradies auf der anderen äußeren Armlehne (A5) der Klapp-
sitzreihe. Das ganze Arrangement scheint typisch für die groteske Ornamentik der Renaissance
zu sein.

                                             28
4.      Die Geburt der Groteske als illegitime Tochter der Renaissance

Das Streben der Renaissance, der Wiedergeburt der Antike aus dem Geist des Christentums,
brachte es mit sich, dass griechisch-römische Götter und Gestalten Eingang in die christliche
Kunst fanden. Ihr Eindringen in den sakralen
Raum führte zur Integration des katholischen
Himmels in die antike Götterwelt. Ein gelunge-
ner Anlauf in dieser Richtung ist die Darstel-
lung von sieben Weisen der Antike, darunter
Pythagoras, Cicero, Terenz, Ptolemaeus und
Seneca unter den Propheten, Aposteln und
Heiligen am Ulmer Chorgestühl von 1473.22
1530 bereitete der neulateinische Dichter E-
oban Hesse den christlichen Heiligen in den
2.000 Distichen seiner Heroiden einen antiken
Himmel nach dem Muster Ovids.23 Dazwischen
liegt eine der spektakulärsten Inszenierungen
der Kunstgeschichte.
     Als habe man nur auf den richtigen Augen-
blick gewartet, brach 1505 in Rom der Fußbo-
den in den Bädern des Trajan über den ver-
gessenen und verschütteten Gewölben vom
Goldenen Haus des Kaisers Nero ein, und wie
durch wundersame Fügung gab das Loch den 25. Die Laokoon-Gruppe aus dem Goldenen Haus Kaiser
Blick in die mit dem Schutt der Jahrhunderte Neros. Rom, Vatikanische Museem.
gefüllten römischen Gewölbe genau an jener Stelle frei, wo auf dem Geröll strahlend weiß und na-
hezu unversehrt die Laokoon-Gruppe stand. Papst Julius II. ließ den überraschenden Fund so-
gleich in den Vatikan holen. Aus dem Transport wurde ein Triumphzug. Mit der Laokoon-Gruppe
im Vatikan hatte eine sich an den Bildern der Antike orientierende Kunst ihren Durchbruch ge-
schafft. Der Schmerz im Angesicht des Vaters, der sterbend das Sterben seiner Söhne durchlei-
det, ließ die Einwände scholastischer Kleriker verstummen.
     Jetzt stiegen Raffael und seine Schüler offiziell in die Grotten des Goldenen Hauses und stu-
dierten die Decken- und Wandbilder Neros. Was sie sahen, übertrugen sie in die Ornamentrah-
men ihrer Bilder in den Loggien des Vatikans. An die Decken der Grotten aber pinselten sie in gro-
ßen Lettern ihre Namen in die Kunst des Nero. Sie dokumentierten damit, woher die neuen Orna-

22     Seifert 1935.
23     Ellinger 1929.

                                                 29
26. Rom, Domus Aurea, Cryptoporticus 92. Detail aus        27. Giovanni da Udine (1487–1549): Detail aus dem
 einer der längsten Grotten im Goldenen Haus des                Wandgemälde im Goldenen Haus Neros.
                      Nero.
                                                              mente stammten, die fortan nach den
                                                              Grotten des Goldenen Hauses Grotesken
                                                              genannt wurden.24
                                                                    Grotesken gerieten alsbald auf die Titel-
                                                              blätter der seit Gutenberg in Serien ge-
                                                              druckten Bücher. Sie verbreiteten sich wie
                                                              von selbst in einer Welt, deren geistiges
                                                              Zentrum immer noch Rom war. Sie
                                                              schmückten die Frontispize der Drucke
                                                              antiker römisch-griechischer Dichter und
                                                              Philosophen, waren aber ebenso auf wis-
                                                              senschaftlichen Werken und den weit ver-
                                                              breiteten Schriften der Reformatoren zu
                                                              finden. Italienerfahrene deutsche Künstler
                                                              wie Dürer und Holbein trugen fördernd
                                                              durch Übernahme und Variation der Moti-
                                                              ve bei.

                                                               28. Hans Holbein: Titelblatt von Hesiodi Ascraei
                                                               poetae vetustissimi, opera et dies, Nicolao Valla
                                                               interprete. Holzschnitt, Basel 1518. Universitäts-
                                                               bibliothek Basel.

                                                               24       Jugli 1968. Sagalla/Sciortino 1999.

                                                      30
29. Hans Brosamer, Musterbogen für Gold-
                                                            schmiede, Holzschnitt in: Ein New Kunstbüch-
                                                            lein, Nürnberg 1540.

                                                           Bekannte Kupferstecher und Holzschnei-
                                                           der, darunter Lucas Cranach, Hans Bro-
                                                           samer, Erhard Schoen, Peter Flettner,
                                                           Heinrich Aldegrever sowie Sebald und
                                                           Barthel Beham brachten groteske Ele-
                                                           mente in ihre Illustrationen weltlicher und
                                                           biblischer Themenkreise ein und lieferten
                                                           den Handwerkern Entwürfe und Muster-
                                                           bögen. Spätestens 1530 hatte sich der
                                                           groteske Ornamentstil überall in Deutsch-
                                                           land und in weiten Teilen Europas durch-
                                                           gesetzt.
                                                             Dass es dafür nicht unbedingt der An-
                                                           regungen aus den Grotten im goldenen
                                                           Haus Neros bedurfte, dafür spricht eine
Querleiste eines unbekannten Metallstechers,
für   den   die    Groteske     gewiss     noch    ein
Fremdwort war, mit dem aus der Antike über-
kommenen Delphinmotiv, das im veneziani-
schen Buchdruck um 1506 verwendet wurde.
Dem gegenüber ist die Titeleinfassung aus der
Offizin des Sylvan Othmar in Augsburg, die Da-
niel Hopfer 1516 für den Sachsenspiegel
schuf,25 ohne den Einfluss grotesker Ornamen-
tik kaum noch erklärbar, während Hans Holbein
mit dem Titelornament aus Johann Frobens Of-
fizin in Basel für die Interpretation des Nicolao
Valla von Hesiods „Werke und Tage“ bereits
perfekte groteske Ornamentik liefert.

30. Daniel Hopfer: Titelblatt zum Druck des Sachsen-
spiegels.

25     Hopfers Zeichen ist in der Stirn des oben in der
Mitte befindlichen Mascarons angebracht.

                                                      31
Wie interessiert das Handwerk an der neuen Stilrichtung war, beweisen zahlreiche Musterbögen
der folgenden Jahre. Die damalige Praxis des Kopierens mag uns heute verwundern, weil sie
nicht mehr zu unserem Kunstbegriff passt, der auf Originalität beruht und Plagiate ausschließt.
Doch im 16. Jahrhundert kannte man solche Unterscheidungen nicht. Ein schönes Beispiel für
den Umgang mit dem Delphinmotiv ist der Ausschnitt aus einem Musterbogen, den Hans Brosa-
mer aus Nürnberg für Gold- und Silberschmiede gestaltete.
  Schließlich bereicherten französische Künstler das groteske Ornament mit Rollwerken, wie
diese z. B. die Titeleinfassung eines Lehrbuches der Mathematik von Oronce Finé mit dem Del-
phinmotiv bekränzen, gestaltet für die von König Franz I. geförderte Collinsche Offizin 1536. Hier
                                                                    kündigt sich, ausgehend von
                                                                    einem Maskaron zwischen
                                                                    den oberen Delphinen, das
                                                                    Rollwerk an und gelangte
                                                                    alsbald zu internationaler,
                                                                    nachahmenswerter Reife.
                                                                       Was die unaufhaltsame
                                                                    Rezeption         der      Grotesken
                                                                    anbelangt, kam ihr beson-
                                                                    ders die Manieriertheit der
                                                                    Hochgotik zustatten. So hat-
                                                                    ten sich z. B. in gotischen
                                                                    Chorgestühlen,           ausgehend
                                                                    von den Miserikordien, den
                                                                    Partien        mit    Gesäßberüh-
                                                                    rung, komische Figuren und
                                                                    drollige Szenen ausgebrei-
                                                                    tet, teils in Verbindung mit
                                                                    üppigem Rank- und Blatt-
                                                                    werk auf Armlehnen und
                                                                    Pultwangen.          Die    gotische
                                                                    Ornamentik ließ sich prob-
                                                                    lemlos mit grotesken Figu-
                                                                    ren kombinieren.

                                                                     31. Oronce Finé: In Sex Priores
                                                                     Libros Geometricorum Elemento-
                                                                     rum   Euclidis      Megarensis   De-
                                                                     monstrationes. Titelblatt für die
                                                                     Officin von Simon de Colines,
                                                                     Paris 1536.

                                               32
5.      Die Holzkohlekrise der 1530er Jahre in Hessen und dem Sieger-
        land

Die grotesken Figuren des Herscheider Chorgestühls stammen vorwiegend aus dem Repertoire
des Soester Malers und Graphikers Heinrich Aldegrever. Aldegrevers kleinformatige Entwürfe
waren den Schnitzern der Herscheider Reliefs vermutlich bekannt. Ob diese den Herstellern der
Tafelschnitzereien allerdings vorgelegen haben, ist angesichts der naiven und handwerklich un-
vollkommenen Ausführung der Tafeln zu bezweifeln. Fast alles scheint bei diesen Schnitztafeln
„secondhand“ und anscheinend von den mitgelieferten Figuren abgeleitet zu sein. Der Betrachter
sollte sich deshalb bei der Zuweisung grotesker Motive zunächst nur an den teilweise zerstörten
Reliefs der Pultfront orientieren, denen ein ausgezeichnetes handwerkliches Können zu beschei-
nigen ist.
     Die zahlreichen Rückgriffe des Frankenberger Bildhauers Philipp Soldan auf Entwürfe des So-
ester Malers und Graphikers Heinrich Aldegrever hat Albert Kippenberger in seiner umfassenden
Untersuchung des soldanschen Œvres bereits 1926 nachgewiesen. 26 Hinsichtlich des Kippenber-
                                                                          ger nicht bekannten
                                                                          Herscheider         Chorge-
                                                                          stühls von 1548 ist
                                                                          anzumerken,           dass
                                                                          Soldan        und     seine
                                                                          Schüler um die Zeit
                                                                          der    Errichtung      des
                                                                          Chorgestühls mit der
                                                                          Ausschmückung          des
                                                                          Schlösschens in Rom-
                                                                          mershausen bei Trey-
                                                                          sa beschäftigt waren.

                                                                          32. (Bild 29‒32) Heinrich
                                                                          Aldegrever,    Ausschnitte
                                                                          aus Ornamentleisten: 1.
                                                                          Vertikale; 2. drei Agraffen,
                                                                          1536; 3. Delphine mit Put-
                                                                          ten und Pokal, signiert
                                                                          und datiert 1527; 4. weibli-
                                                                          cher Halbakt mit Delphi-
                                                                          nen.

                                                                          26   Kippenberger 1926.
                                                                          Kippenberger 1931.

                                               33
Abgesehen vom qualitativen Unterschied der hohen Kunst Soldans zum biederen Handwerk in
Herscheid, das beim Vergleich zwischen dem Frankenberger Ratsherrengestühl und dem Her-
scheider Chorgestühl besonders augenfällig wird, bietet Rommershausen erstaunlich viel Materi-
al für die auf Aldegrever zurückzuführende Identität einzelner Motive. Die Beispiele ließen sich
bei Berücksichtig früherer soldanscher Ofenplatten beliebig vermehren, sollten aber zur Vermei-
dung einer ausufernden Beweisführung nur ergänzend herangezogen werden. Grundsätzlich ist
aber darauf hinzuweisen, dass die Beschaffenheit des Herscheider Gestühls seine Herkunft aus
einer Werkstatt, in der vorwiegend Modeln für Ofenplatten hergestellt wurden, nicht verleugnen
kann.
     Neben der Hütte in Hai-
na in Oberhessen, für die
der Frankenberger haupt-
sächlich gearbeitet hat, ist
als Motivlieferant ‒ aller-
dings mit einem weit ge-
ringeren Anteil als Soldan
‒ eine Eisenhütte aus
dem Siegerland mit dem
Meister „P im Schild“ in
Betracht zu ziehen, den
Kippenberger im Zusam-
                                 33. Philipp Soldan: Delphinstein am „Schlösschen“ in Schwalmstadt-
menhang mit Soldan ent-
                                                      Rommershausen, 1549.
deckt hat und dem er we-
gen seines auffälligen Siegels den Notnamen gegeben hat. Um wen es sich dabei genau han-
delt, hat sich bisher nicht endgültig klären lassen. Sein Name könnte sowohl Pythan als auch
Pender sein, beides Angehörige von Familien, die im Siegener Gießereigewerbe tätig und mitei-
nander verwandtschaftlich verbunden waren. Zeitweilig hielt Kippenberger Pender für wahr-
scheinlicher, später bevorzugte er Pythan. Da beide um die Mitte des 16. Jahrhunderts je eine
Eisenhütte in Ferndorf an der Grenze zum Sauerland betrieben, ist unter Berücksichtigung der
räumlichen Nähe zum Sauerland ein Kontakt zu den Bildhauern des Herscheider Gestühls wahr-
scheinlich. Hinzu kommt der Umstand, dass es seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts durch
Maßnahmen der für das Siegerland zuständigen Hessisch-Nassauischen Regierung für die pri-
vaten Gießereien des Siegerlandes zu einem ihre Existenz bedrohenden Mangel an Holzkohle
kam. Darüber hat Bernd Rödig gründlich recherchiert und nachgewiesen, dass sich die Lage erst
nach 1555 wieder entspannt hat.27 Während solcher Kohlenot müssen die Eigentümer der um-
fangreichen Herscheider Waldmark mit ihrem ausgedehnten Waldbesitz im Ebbegebirge und im
Lennegebirge zwischen Lüdenscheid und Balve mit der Vielzahl der dort befindlichen Kohlemei-

27      Rödig 1970.

                                               34
34. Das Delphinrelief
                                                                                    der rechten Pultwange
                                                                                    in   Herscheid,   1548
                                                                                    (beschädigt durch Ar-
                                                                                    tilleriebeschuss 1945).

ler ein begehrter Geschäftspartner gewesen sein. Dabei scheint die Abwicklung der Geschäfte
bargeldlos durch die Kompensation von Holzkohle mit Sachleistungen erfolgt zu sein, denn die
Suche nach Rechnungen oder Quittungen blieb trotz aller Hilfsbereitschaft zuständiger Archive
ergebnislos.28 Anscheinend bedingte die Rücksicht auf Pythans Teilhabe an einer privaten Sie-
gener Gießerei im grenznahen Ferndorf neben seiner Tätigkeit als Direktor von drei staatlichen
Hüttenwerken bei gleichzeitiger Zuständigkeit für die erheblich gekürzte Kohlezuteilung an pri-
vate Gießereien eine stillschweigende Übereinkunft, um nicht in den Ruf illegaler Begünstigung
zu gelangen. Mehr als zwanzig Jahre stritt sich die Zunft der privaten Siegener Gießereien mit
dem Fürstenhaus wegen der Bevorzugung der staatlichen Hüttenwerke, weil es durch den Man-
gel an Holzkohle zu einer ruinösen Verteuerung des Kohlepreises kam. Sie brachte den Erzeu-
gern den Vorteil ein, ihr Herscheider Chorgestühl sozusagen aus der Westentasche zu bezahlen.
     Ein anderer Grund, dem Meister „P im Schild“ einen Kontext zu den Bestrebungen in Her-
scheid zuzumuten, liegt in seiner von Soldan abweichenden künstlerischen Gestaltungsweise.
Kippenberger verweist dabei auf das vorherrschende narrative Element in den Werken Soldans,
was beim Meister „P im Schild“ zu Gunsten reiner Ornamentik entfällt. Gerade Rommershausen
bei Treysa ist für Kippenberger ein Musterbeispiel soldanscher Erzählweise. Biblische Themen
wie Adam und Eva, Lot mit seinen Töchtern, die von Hunden zerfleischte Isabel, aber auch Tar-
quinius und Lucretia aus der frührömischen Geschichte berichten an den Fassaden des Schlöss-
chens von Unmoral und christlicher Nutzanwendung. Auch das Interieur des Schlösschens ist

28      Auch bei Rödig 1970 findet sich keine Erwähnung für den Bezug von Holzkohle aus der Herscheider
        Waldmark.

                                                    35
35. Relief eines Sitzes des Frankenberger
Ratsherrengestühl von Philipp Soldan im
Kasseler Landesmuseum.

von Soldans Erzählkunst geprägt.
Auf der steinernen Türeinfassung
des Jagdzimmers verschrecken mit
Knüppeln     bewaffnete     Schwimmer
angreifende Delphine mit aldegrever-
schen Blattmasken. Auf den gegen-
über liegenden Einfassungen der Tür
des Saales sind es spielende Kinder,
die das Wappen der Besitzer vorzei-
gen.
  Mit Bezug auf den Meister „P im
Schild“ urteilt Kippenberger: „Philipp
Soldan ist indessen der ältere und
noch ganz in der Gotik verwurzelt. Er
ist noch mehr vom Inhalt gepackt, ist
schwerfälliger, aber auch eindringli-
cher. Der Formenschneider P hat
eben die Leichtigkeit der dekorativen
Beherrschung der Fläche, den größeren Zug der Komposition und die größere Klarheit voraus;
es ist die reife Renaissance, die er vertritt.“29
  So gesehen sind prägende Einflüsse Soldans und des Meisters mit dem „ P im Schild“ auf ein
im grotesken Stil der Renaissance dekorativ gestaltetes Möbel, als welches sich das Herscheider

                                                                        36. Philipp Soldan: Rund-
                                                                        bilder des Ehepaares
                                                                        Rinck am „Schlösschen“
                                                                        in Schwalmstadt-
                                                                        Rommershausen, 1549.

 29    Kippenberger 1931, S. 32.

                                                    36
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