Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter - Ernst Hüsmert - Herscheid 2016 / Münster 2019
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Ernst Hüsmert Das Herscheider Chorgestühl von 1548 und seine Stifter bearbeitet von Roland Pieper Herscheid 2016 / Münster 2019
Inhalt Zur Edition des Manuskripts von Ernst Hüsmert (Roland Pieper) 4 Die Herscheider Kirche und ihr Chorgestühl (Roland Pieper) 6 Vorwort 10 Überblick über die Elemente des Chorgestühls 11 1. Behemoth und Leviathan 14 2. Der Hirsch und der Heilige 19 3. Wasser, Land, Wind und Mischgestalten 25 4. Die Geburt der Groteske als illegitime Tochter der Renaissance 29 5. Die Holzkohlekrise der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts in Hessen und dem Siegerland 33 6. Die beliebige Austauschbarkeit der Ornamentgrotesken des Herscheider Chorgestühls 36 7. Das Jahr 1548 und die Verhältnisse in Herscheid 46 8. Die Familienallianz Neuhoff ‒ Wrede ‒ Rump 56 1. Zur Geschichte der Burg Pungelscheid 56 2. Biographie des Jasper Neuhoff 58 3. Biographie des Jasper Rump 61 4. Die Erben des Jasper Rump 66 5. Biographie des Diederich Rump 67 9. Die Stifter des Herscheider Chorgestühls 70 10. Anhänge 74 1. Die Vorfahren des Theodor von Neuhoff, Königs von Korsika 74 2. Dokument der Kohlekrise (NRW-Staatsarchiv, Abt. Münster) 76 3. Die Reformation in der Grafschaft Mark 80 4. Der Humanist und seine Brille 86 5. Literaturverzeichnis 90 6. Abbildungsnachweis 94 3
Zur Edition des Manuskripts von Ernst Hüsmert Ernst Hüsmert war ein engagierter, aber kein „studierter“ Historiker. Am 12. April 1928 in Pletten- berg geboren, absolvierte er nach dem Schulabschluss von 1945 bis 1948 eine Ausbildung an der staatlichen Ingenieurschule in Hagen zum Diplom-Ingenieur. Zunächst Betriebsassistent und Betriebsleiter in einer Plettenberger Gesenkschmiede, wechselte er 1957 nach Essen zu Krupp Schmiede & Gießerei, wo er bis zum Eintritt in den Ruhestand 1988 blieb. Er blieb jedoch in Her- scheid wohnen und bereiste beruflich im Außendienst vorwiegend Walzwerke. 1979 wurde er Mitglied des Lions Clubs Lüdenscheid-Lennetal, dessen Präsident er 1987/88 war, aktiv war er zudem als Presbyter der Kirchengemeinde Herscheid sowie im Geschichts– und Heimatverein Herscheid e.V. Ernst Hüsmert starb am 22. November 2017. Er hinterließ seine Frau Ursula geb. Vetter, mit der er seit 1955 verheiratet war, und die 1957 geborene Tochter Nicola. Abseits seiner beruflichen Tätigkeit kennzeichneten ihn zwei Interessen ganz besonders: Er schrieb Gedichte, die 1952 in der FAZ, 1958 in der Westdeutschen Rundschau, 1973 im Deut- schen Allgemeinen Sonntagsblatt und 1997 im Märkischen Jahrbuch erschienen. 1998 fasste er eine Auswahl in einem Gedichtband zusammen (Zwischen Mond und Stern. Ausgewählte Ge- dichte aus fünfzig Jahren. Heidelberg 1998). Seine weitere Liebe galt der Geschichtswissenschaft, die auf seiner Bekanntschaft mit dem Staatstheoretiker Carl Schmitt zurückgehen dürfte, den er 1948 kennengelernt, später auf Rei- sen begleitete und dessen Nachlass er teilweise bearbeitet hat. 1 Dabei machte ihn nach eigenen Angaben der Herscheider Pfarrer Wilhelm Baberg auf das Herscheider Chorgestühl aufmerk- sam, dessen vorliegende Bearbeitung durch Hüsmert auf den Ideen Carl Schmitts beruht: Er zeigt im Bezug auf das Gestühl kein Interesse an dessen technischem Aufbau, an den erkennba- ren Umgestaltungen oder an der Denkmalpflege, sondern ausschließlich an der Ikonografie, also an den Darstellungen, ihre Interpretation und historische Einordnung. Zwischen 1988 und 1992 war Ernst Hüsmert an der UNI Dortmund als Gaststudent eingeschrieben, und in dieser Zeit reif- te sein Entschluss, das Herscheider Chorgestühl zum Gegenstand einer Dissertation zu machen. Einige Jahre später legte er seine erste Studie dazu vor, die allerdings knapp gehalten ist und von der Edition her umfangreiche Abbildungen nicht ermöglichte.2 Das nachgelassene Manuskript beinhaltet die zentralen Kapitel seiner Dissertation, die in in- formative Rahmenkapitel einzubinden und um einen wissenschaftlichen Apparat zu ergänzen im nicht mehr vergönnt war. Er widmete seine Studie seinen Eltern Ernst Ferdinand Hüsmert (1899 –1960) und Lydia Hüsmert geborene Wisotzky (1905‒1991) zur Erinnerung. 1 Bredekamp 2016, S. 77. 2 Hüsmert 1998. 4
Die Edition folgt dem Wunsch der Familie und geschichtsinte- ressierten Herscheidern, die Studie zu Beurteilung und Kritik an die Öffentlichkeit zu bringen. Dem Lions Club Lüdenscheid- Lennetal ist als Sponsor für eine großzügige Spende zu dan- ken, die die Edition überhaupt erst ermöglicht hat, dem Ge- schichts- und Heimatverein Herscheid e.V. dafür, den Beitrag auf seine Homepage zu nehmen. Das Dateiformat PDF ermög- licht es dem Leser, die Datei herunterzuladen, (doppelseitig) auszudrucken und als selbständiges Heft zu binden. Das Manuskript eines Verstorbenen zu edieren bedarf einiger Vorüberlegungen, da zu dessen Bearbeitung mit dem Autor kei- ne Rücksprache gehalten werden kann. Hüsmerts Manuskript blieb für diese Edition textlich grundsätzlich im hinterlassenen Zustand. Es ist sicherlich nicht die von ihm selbst als endgültig angesehene Form, aber in Herlei- tung und Darstellung so weit gediehen, dass eine Edition gerechtfertigt erscheint. Wissenschaft- lich korrekt ist es allerdings nur bedingt, weil Belege für viele Zitate vollständig fehlen oder durch fehlende Seitenangaben ungenau sind. Die redaktionelle Bearbeitung umfasste vorallem behut- same sprachliche, insbesondere satztechnische Korrekturen, sowie vereinzelt eindeutigere oder prägnantere Ausdrucksweisen. Vollständig überarbeitet wurde das von ihm zwar angelegte, aber durch spätere Umarbeitungen und Benutzung eines einfachen Textprogramms als Grundlage ungeeignete Layout. Um auch „Nicht-Herscheidern“ eine Benutzung zu ermöglichen, wurde eine Einführung zur Kirche und als knapper, einführender Überblick zum Chorgestühl vorangestellt. Zwar hatte Ernst Hüsmert vom damaligen Plettenberger Fotografen Günter Konetzko in den 1960er Jahren schwarzweiße Fotos anfertigen lassen, es empfahl sich für die vorliegende Publi- kation aber, sie in Farbe und mit hochauflösender Digitalkamera neu zu erstellen, was im No- vember 2018 erfolgte. Ein erhebliches Problem stellte die übrige, vergleichende Bebilderung des Manuskripts dar, die in Hüsmerts Textdatei eingebunden, qualitativ aber schlecht ist. Großenteils handelt es sich offensichtlich um Fotokopien, die sich aber im Nachlass nicht mehr auffinden lie- ßen. Die Buchvorlagen zu Neuscans konnten zwar in den meisten, aber nicht allen Fällen ermit- telt werden, ein Umstand, der letztlich der posthumen Veröffentlichung geschuldet ist. Einige we- nige Aufnahmen des Manuskripts mussten daher entfallen. Dr. Roland Pieper, Münster, im Februar 2019 5
Die Herscheider Kirche und ihr Chorgestühl Roland Pieper Die Gemeinde Herscheid liegt im heutigen Märkischen Kreis im Nordrhein-Westfälischen Sauer- land, unweit der Autobahn 45 und der Versetalsperre. Die heutige evangelische Apostelkirche in- mitten des alten Ortskerns geht mit dem Patronat St. Cyriakus gesichert in die Zeit vor 1072 zu- rück,3 die Gründung dürfte aber älter sein. 1. Herscheid, evang. Apostelkirche. Ansicht von Nordosten und Blick in den Innenraum nach Osten, 2018 Die Baugeschichte der Kirche ist bislang nicht hinreichend erforscht. 4 Erkennbar ist, dass der Turm das älteste Bauteil bildet. An seiner Ostseite zeichnet sich im Dachraum der heutigen Kir- che eine Dachlinie ab, die vermutlich zu einer einschiffigen Saalkirche gehört, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts von jener klei- nen dreischiffigen Hallenkirche abgelöst wurde, die den heutigen Westteil der gan- zen Kirche bildet. Sie gehört zu einer klei- nen Gruppe früher Hallenkirchen mit massi- gen, aus Bruchstein errichteten Rundpfei- lern, von denen weitere Vertreter in (Nachrodt-Wiblingwerde-)Wiblingwerde und 2. Herscheid, evang. Apostelkirche. Grundriss nach Ludorff ‒ nur noch in Ansätzen erhalten ‒ in 1911 (mit Korrektur späterer Veränderungen). (Schmallenberg-)Dorlar stehen. 3 Der Kölner Erzbischof Anno II. übertrug die Kirche zu „Hertceido“ 1072 dem neu gegründeten Benediktiner- kloster Grafschaft; vgl. Däumer 1934, S. 12; FS 1952, S. 13. ‒ Die Nachricht zu 904 dürfte sich auf ein an- deres Herscheid beziehen; vgl. Apostelkirche o.J.; Dehio Westfalen 2011, S. 445. ‒ Ein Priester ist erstmals 1214 genannt. 4 Vgl. Däumer 1958, S. 85; Barth/Hartmann/Kracht/Störing 1993, S. 207‒210; Dehio Westfalen 2011, S. 445. 6
Nach Osten folgen zwei weitere, sukzessive angefügte und daher ungleiche Joche, von denen das westliche im Mittelschiff durch seinen trapezförmigen Grundriss eine Verbreiterung herbei- führt, offenbar schon im Hinblick auf die Anfügung eines archäologisch nachgewiesenen 5/8- Polygons als Chor, der im Kern ‒ ohne Dreiseitschluss und mit später erneuertem Gewölbe ‒ im 3. Herscheid, evang. Apostelkirche. Blick in den Chor nach Osten mit dem Chorgestühl auf der Nordseite, 2018 östlichen Langhausjoch erhalten ist.5 Das Joch ist nach Süden einem Querarm ähnlich verbrei- tert, nach Norden durch einen Kapellenanbau erweitert. Die zweite Erweiterung bildet der heuti- ge, gegen die älteren Teile nochmals breitere Chor aus querrechteckigem Joch und einem etwas gedrückten 5/8-Polygon. Baudekor und Gewölberippen fehlen, sodass eine Datierung nur grob für die beiden östlichen Langhausjoche in die zweite Hälfte des 13. und für den Chor in das 15. Jahrhundert vorgenommen werden kann. Als Konsolen für die Wölbung an der Chornordwand sowie an den Triumphbogenvorlagen nach Westen wurden Spolien verbaut, die von früheren Ostteilen der Kirche stammen dürften. An der Chornordseite ist eine Sakristei von zwei Jochen Länge angebaut. Abgesehen vom 1881 nach Altena gelangten Altartryptichon stammt die mobile Ausstattung der Kirche aus der Barockzeit ‒ mit einer Ausnahme: Das Chorgestühl von 1548, das damit noch in der katholischen Zeit entstand, kurz vor der Einführung der Reformation in Herscheid 1552. Es befindet sich als Solitär an der Nordwand des Chorjoches, während an der Südwand eine barock- 5 Notiz in Westfalen 50, 1972, S. 17. Die Maßnahme wurde vom Westfälischen Museum für Archäologie, Amt für Bodendenkmalpflege, Referat Mittelalter begleitet (Dr. Uwe Lobbedey); dort Befundakten Nr. 570. 7
4. Herscheid, evang. Apostelkirche. Das Chorgestühl in der Ansicht von Süden, 2018. zeitliche, neuzeitlich um kopierte Elemente des Renaissancegestühls ergänzte Stuhlreihe steht. Es ist weit nach Westen an den Zugang zur Sakristei gerückt, wobei die Verlängerung des Ge- stühlpodestes den Treppenzugang zur unterkellerten und daher etwas erhöht liegenden Sakristei bildet. Erkennbar ist das Bemühen, eine Distanz zur gotischen Sakramentsnische in der Wand östlich des Gestühls zu schaffen, möglicherweise deswegen, weil im Gestühl keine Geistlichen, sondern weltliche Würdenträger Platz fanden. Inwieweit das im Kern aus vier Stallen bestehende, aber in vielen Bereichen auf eine Sechsertei- lung Bezug nehmende Gestühl in originaler Zusammensetzung besteht, wurde bei seiner In- standsetzung 1970 nicht ermittelt und ist auch nicht Gegenstand der Untersuchung von Ernst Hüsmert.6 Sein Augenmerk richtet sich auf die Ikonografie des Gestühls, die im Gegensatz zum 6 1970 wurden alte Ölfarbenanstriche abgenommen und die Holzsichtigkeit des Gestühls konserviert; Ausfüh- rung durch die Fa. Hesse in Lippstadt. Denkmalpflegebericht in: Westfalen 53, 1975, S. 496 f. mit Abb. 351 (von 1974). 8
in der handwerklich-künstlerischen Machart durchaus ähnlichen, aber etwas jüngeren Gestühl im nahen Valbert ohne eindeutig erkennbare biblische Bezüge ist. 7 Nach einem Vorwort beginnt Hüsmert seine Darstellung unmittelbar mit einem Überblick über die einzelnen Ele- mente des Gestühls. 5. Herscheid. Nördliches Gestühl in ursprünglicher Aufstellung mit Dorsal, Klappsitzreihe, Schnitzbank und kleiner Pultfront versehen (Foto 1909). 6. Herscheid. Klappsitzreihe mit zugehöriger reliefverzierter und mit geschnitzten Wangen versehener Bank. Foto: Al- bert Ludorff, 1910. 7. Herscheid. Frontpult der Südseite mit Behemoth und Leviathan und angefügter Sitzbank sowie dem kleinen Frontpult der Klappsitzreihe versehen. Foto: Albert Lu- dorff, 1910. 7 Zu Valbert: BKW Ludorff 1911 mit Fotos der Flachschnitzereien des Gestühls im Band verteilt. ‒ Hüsmerts Interpretation der Ikonografie ist nicht unumstritten. Im Kirchenführer der Gemeinde (Apostelkirche o.J.) wird vermutet, „daß die Schlangen- und Drachendarstellungen als Sinnbilder des Hlg. Cyriacus auf den Schutz- heiligen der Kirche hinweisen wollen“. Die Tafeln werden als Stifter und Darstellung der gesellschaftlichen Stände gedeutet, ergänzt um Christi Tod am Kreuz. 9
Vorwort Der vorliegende Beitrag geht der Herkunft und Bedeutung des Gestühls aus dem Jahr 1548 in der evangelischen Apostelkirche (ehem. St. Cyriakus) in Herscheid im Märkischen Sauerland nach. Der Umstand, dass es für die Errichtung dieses Gestühls keine Belege gibt und frühere Erwäh- nungen in der heimischen Literatur auf Vermutungen beruhen ‒ bis hin zu Zweifeln an der Voll- ständigkeit des heutigen Zustandes ‒, ist zum Anlass genommen worden, dieses rätselhafte Er- zeugnis der Reformationszeit von seinen ureigenen Elementen her zu interpretieren und in den geschichtlichen Zusammenhang zu stellen, allerdings unter Berücksichtigung der niemals infrage gestellten mündlichen Überlieferung, dass es sich bei den dargestellten Personen unter anderem um die Stifter des Gestühls handelt. Die daraus resultierende Vorgehensweise, über Mythologie und Symbolik zur geschichtlichen Interpretation und Einordnung zu gelangen, mag wissenschaft- lich bedenklich sein und dem Leser ungewohnte Rückschlüsse zumuten. Sie verpflichtet gleich- zeitig den Autor zu einer umfassenden plausiblen Darstellung. Voraussetzung dafür ist die Erfas- sung des Gegenstandes in allen seinen Elementen. In diesem Sinne sei dem Leser die Benut- zung des vorangestellten Plans des derzeitigen Zustandes empfohlen. Ergänzend hierzu ist auf eine im bisherigen Schrifttum nicht berücksichtigte Literatur aus dem Jahr 1911 hinzuweisen, aus der sich die ursprüngliche Aufstellung des Gestühls rekonstruieren lässt. Dort ist angegeben: „2 Chorgestühle, Renaissance, von 1548, geschnitzt mit Köpfen, Thie- ren und Rankenwerk: 1. an der Nordseite, mit 4 Klappsitzen; Füllungen mit Flachschnitzerei, 2,97 m lang, 2. an der Südseite, bankförmig. 2,86 m lang. (Abbildungen Tafel 20.)“ Demnach blieb das Gestühl an der Nordseite einschließlich des zugehörigen Dorsals und der vor den Klappsitzen stehenden Schnitzbank mit Reliefschmuck unverändert, während das Pult des südlichen Gestühls am Anfang des vorigen Jahrhunderts der Nordseite vorangestellt wurde. Mein Interesse am Herscheider Gestühl verdanke ich Pfarrer Wilhelm Baberg (1911‒1978), den ich in meiner achtjährigen Amtsperiode als Presbyter der Herscheider Kirchengemeinde ken- nenlernen durfte. Besonderen Dank schulde ich meiner Frau Ursula und meiner Tochter Nicola, die mich während der zeitaufwändigen Arbeiten am Manuskript entbehren mussten. Für fachliche Unterstützung danke ich Prof. Dr. Ingeborg Villinger, Kunsthistorikerin Anja Seliger (Berlin), Dr. Gerd Giesler (Berlin), Prof. Dr. Reinhard Mehring (Heidelberg), Dr. Peter Prange (Tübingen), Christian Linder (Nideggen) und meinem Lehrer an der UNI-Dortmund, Prof. Dr. Klaus Goebel (Wuppertal-Ronsdorf). Ebenso danke ich den Mitarbeitern der historischen Archive in Marburg, Münster, Köln, Hagen, Siegen, Lüdenscheid, Herscheid und Plettenberg für ihre zuvorkommende Auskunftsbereitschaft. Bei den Mitgliedern vom Lions Club Lüdenscheid-Lennetal bedanke ich mich für bereitwillige Diskussionen meiner Forschungsergebnisse, insbesondere bei Hans Bartholomay, Klaus Erger, Wolfgang Luck, Helmut Noll und Uwe Schmalenbach. Ernst Hüsmert, Herscheid, Pfingsten 2016 10
Überblick über die Elemente des Chorgestühls 8. Bezeichnung und Verortung der Elemente des heutigen Gestühls. A. Die Elemente des Herscheider Chorgestühls oberhalb und unterhalb der Klappsitzreihe Dorsal: D1 = Mann mit Barett D2 = Frau mit Rosettenhaube D3 = Jahreszahl 1548 D4 = barhäuptiger Mann, zu D5 gehörig (Vater & Tochter) D5 = Frau mit Stirnband D6 = Allianzwappen D7 = Einzelwappen Säulen: S1 = blattverziert S2 = spiralkanneliert S3 = senkrecht kanneliert S4 = spiralkanneliert S5 = blattverziert Armlehnen: A1 = Delphin A2 = Drache mit Halsband A3 = sechsblättrige Rose 11
A4 = geflügelter Drache A5 = Paradiesschlange Fußstahlen: St1 = spiralkanneliert St2 = nicht kanneliert (vermutlich Ersatz) St3 = senkrecht kanneliert St4 = spiralkanneliert Miserikordien: M1 = Stier M2 = entfernt M3 = entfernt M4 = entfernt B. Die Elemente des Herscheider Chorgestühls (vormals Südseite, im Laufe des 20. Jahrhun- derts vor die Klappstuhlreihe der Nordseite gestellt) Rechte Bankwangen Sitzbereich Linke Bankwangen Lehne Rückenlehne Lehne RB1 = barhäuptiger M. B1 = M. mit Gelehrtenbarett LB1 = Püsterich RB2 = Dreiblattlilie B2 = F. mit Schleifenhaube LB2 = gehörnter M. RB3 = Sechsblattrose B3 = M. mit Helm LB3 = gehörnter M. RB4 = M. mit Barett B4 = F. mit Spiralhaube LB4 = barhäupt. M. (mit LB5) RB5 = F. mit Stirnband B5 = M. mit Krone LB5 = F. mit Schleifenhaube B6 = F. mit Krone Pult: RP1 = Leviathan P1 = Med. zw. Delphinen LP1 = Behemoth RP2 = barhäuptiger M. P2 = Med. zw. Blattmasken P2 = F. mit Schleifenhaube P3 Med. zw. Dreiblattmasken P4 Med. zw. Schlangenmasken Abkürzungen für die Elemente des Gestühls (A): R = rechts, L = links, D = Dorsal, Med. = Medail- lon, F = Pultfront, B = Bank, S = Säulen, A = Armlehnen, St = Fußstahlen, k = Miserikordien Abkürzungen für die Elemente des Gestühls (B): M. = Mann, F. = Frau, Med. = Medaillon, zw. = zwei 12
9. Ansicht des Gestühls von Südwesten, 2018. 13
1. Behemoth und Leviathan Das Entree des Herscheider Chorgestühls bezieht seine Motive aus derselben Quelle wie das Vorspiel zu Goethes „Faust“, dem Buch Hiob im Alten Testament. Gott macht mit dem Teufel ei- ne Wette. Das bedauernswerte Subjekt dieser Wette ist Hiob; bei Goethe heißt es Heinrich Faust. Dem Teufel wird alle Macht über Hiob bzw. Faust geben, um die Menschen vom rechten Weg abzubringen, doch darf er das Wettspiel nicht verderben indem er sie tötet. Im Falle Hiob tötet der Teufel Kinder und Gesinde, nimmt Hiob Haus, Hof, Vieh und alle Güter und schlägt ihn 10. R1 Leviathan. mit Krankheit. Zum Schluss liegt Hiob, bedeckt mit Geschwüren, auf einem Misthaufen und lobt Gott trotz und alledem. Damit hat der Teufel die Wette verloren. Und welchen Lohn trägt Hiob, der seinem Gott diesen Triumph beschert hat, davon? Die Bibel gibt eine merkwürdige Antwort. Gott gibt Hiob Einblick in seine Weltbetrachtung und führt ihm zwei gewaltige Tiere vor: Den Landdrachen Behemoth und das Seeungeheuer Leviathan. 14
Behemoth (LP1) und Leviathan (RP1) bekrönen die Pultwangen des Herscheider Chorgestühls. Vollplastisch stehen sie rechts und links auf den Enden des Frontpultes. Sie fangen den Blick des Betrachters. Behemoth und Leviathan waren den Menschen des Mittelalters und der Refor- mationszeit geläufiger als uns und unseren Zeitgenossen. 9 In einem Pilgerlied aus der Zeit der Kreuzzüge heißt es: 11. PL1 Behemoth. O crux benedicta / aller holze besziesta/ an dir wart gevangen / der gir leviathan. Noch für Luther waren die Drachen aus dem Buch Hiob Realität. Bei seinen Tischgesprächen erzählte er, dass Gott täglich drei Stunden mit Behemoth und Leviathan spielt, 10 und als der Re- formator von dem Straßburger Franziskanermönch Murner als Narr attackiert wurde, bezeichne- ten Luthers Freunde den Franziskaner als Leviathan.11 9 Über mittelalterliche Ikonographie: Sauer 1902, S. 223, 383. Döring 1940. 10 Zu Luther: Obendiek 1931, S. 75 und Martin Luthers Tischreden, Weimarer Ausgabe 2, Nr. 2598a und 6, Nr. 6829. 11 Zu Murner: Merker 1923. 15
Theologisch geprägt war auch das große Spektakel des Kampfes von Drache und Wal- fisch als Feuerwerk auf dem Rhein anlässlich der Hochzeit von Johann Wilhelm, Herzog von Jülich-Kleve-Berg, mit Jakobe, Markgrä- fin von Baden, am 22. Juni 1585 in Düssel- dorf. Bei dessen Beschreibung nimmt der Be- richterstatter Dietrich Graminaeus ausdrück- lich Bezug auf Behemoth und Leviathan im Buch Hiob und bemerkt, dass die beiden aus dem Himmel gestoßenen Drachen die von der katholischen Lehre abgefallenen Luthera- ner und Calvinisten symbolisieren sollten.12 Auch im 17. Jahrhundert waren die beiden großen mythischen Tiere in der Vorstellungs- welt noch so präsent, dass der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes aus dem Leviathan ein Symbol für den perfekt funktio- nierenden Staat machen konnte. Die Bilder 12. Matthaeus Gnidius, Dialogi Murnarus Leviathan [...], verblassten aber im Laufe des Barock und Holzschnitt, 1521. der folgenden Aufklärung. Goethe, der sich beim Vorspiel zum Faust im Himmel eng an das Buch Hiob anlehnt, über- nimmt in seinem Nach- spiel die Figuren Gott, 13. Anlässlich der Hochzeit von Johann Wilhelm von Kle- ve-Jülich-Berg mit Jakobe von Baden fand auf dem Rhein vor dem Düsseldorfer Schloss am 17. Juni 1585 ein Feuerwerk statt, dem der Kampf des Behemoth mit dem Leviathan integriert war. Kupferstich aus: Dietrich Graminaeus, Be- schreibung derer Fürstlicher Güligscher ec. Hochzeit. Köln 1587. 12 Graminaeus 1585. Siehe auch: Rümmler 1983. 16
Behemoth und Leviathan nicht mehr. Zwar findet sein Nachspiel weder im Himmel noch auf Er- den statt, sondern in einem Schwebezustand, doch auch hier geht der Zusammenhang mit Hiob nicht verloren: Als Engel Fausts Seele entführen, wird der Teufel mit jenen Eiterbeulen geschla- gen, mit denen er die Leiden des Hiob bis zur Unerträglichkeit steigerte. „Wie wird mir! Hiobartig, Beul an Beule“, stöhnt Mephisto auf. Wie Hiob wird auch er gerettet. „Gerettet sind die edlen Teufelsteile“, reimt Goethe auf Beule. Schon die Redakteure des Alten Testaments belassen es am Schluss ihres Berichts nicht beim Bild von Behemoth und Leviathan und legen Wert auf materielle Wiedergutmachung für Hiob. Er bekommt bessere und schönere Kinder als er vorher besaß, und sein Hab und Gut wird verdoppelt. Aus dieser Wieder- gutmachung in Verbindung mit Jesaja 27,1, wo Gott mit sei- nem großen starken Schwert den Leviathan, der dort auch Drache des Meeres genannt wird, erwürgt, entwickelte die jüdische Mythologie der Kab- bala das große Gastmahl, wel- ches Gott seinem Volk vom erlegten Leviathan bereitet. Ein einprägsames Bild, das im Wesen bei den von ihrer Reli- gion bestimmten Menschen seine Spuren hinterlassen hat. In seinem 1938 erschienen Buch zur Staatslehre des Thomas Hobbes gibt Carl Sch- mitt eine umfassende Über- sicht zur Entwicklung und Aus- formung der Mythologie von Behemoth und Leviathan.13 Dieser Veröffentlichung wurde ein Teil der hier aufgeführten Einzelheiten entnommen. Carl Schmitt weist besonders auf die andersartige Entwicklung 14. Leviathan. Herrad von Landsberg: Hortus deliciarum (um 1170), fol. 84r. des Themas in der christlichen Straßburg (Original verschollen). 13 Schmitt 1938. Siehe auch Bredekamp 2006 und Bredekamp 2016. 17
Mythologie der Kirchväter hin. Das Kreuz wird hier zum Angelhaken umfunktioniert, mit dem Gott als Fischer den großen Fisch Leviathan fängt. Dabei wird der Leviathan als Drache gesehen, der durch die Menschengestalt des am Kreuz hängenden Gottessohns geködert wird. Berühmt für diese Sicht ist die Zeichnung im Hortus Deliciarum, einem Andachtsbuch der Äbtissin Herrad von Landsberg aus dem 12. Jahrhundert, die den Fischfang Gottes an der Angelrute des Stammes Jesse darstellt. Die Christen des Mittelalters und der Reformationszeit sahen in Behemoth und Leviathan vor- wiegend Erscheinungsformen des Teufels. Damit hat sich die Bedeutung gegenüber der alttesta- mentarischen Überlieferung vergröbert. Auch für die Drachen auf den Pultwangen des Herschei- der Chorgestühls gilt, dass hier Teufel dargestellt sind. Der Erddrache Behemoth ist eindeutig diabolisch gestaltet, während der Meeresdrache Leviathan mit christlichen Symbolen überdeckt und dadurch entschärft wird. Obwohl der Leviathan die Weltkugel in seinem Fang hält und sie zu verschlingen droht, wird ihm dieses nicht gelingen, weil er ein von Christus besiegter Teufel ist. Er ist gezeichnet durch zehn dreizackige Akanthusblätter, die die Dreieinigkeit symbolisieren und in ihrer Anzahl auf die Gebote Gottes verweisen. Seine ganze Wildheit, die sich in den Spiralen oder Rollwerken von Maul, Flossen und Schwanz ausdrückt, nützt ihm nichts, denn er ist, um bei einer Erklärung Luthers zu bleiben, „Gottes Teufel“ geworden. Aber bei aller Dämonisierung und Entdämonisierung wird der Zusammenhang mit dem Buch Hiob gewahrt, indem der Leviathan eindeutig Fisch und der Behemoth eindeutig Landtier ist. 18
2. Der Hirsch und der Heilige Wo die Drachen des Landes und des Meeres erscheinen, darf der Drache der Luft nicht fehlen. Er zeigt sich an weit weniger exponierter Stelle als Behemoth und Leviathan und dient beschei- den als Armlehne zwischen zwei Klappsitzen (A4). Der Grund für diese Bescheidenheit wird in seiner Niederlage im Kampf mit dem Erzengel Michael liegen. Johannes berichtet darüber in Of- fenbarung 12, 7‒9:14 „7. Und es entstand Krieg im Himmel, sodass Michael und seine Engel Krieg führten mit dem Drachen. Und der Drache führte Krieg und seine Engel; 8. und sie vermochten nicht standzuhal- ten, „und eine Stätte für sie war im Himmel nicht mehr zu finden“. 9. Und geworfen wurde der große Drache, die alte Schlange, genannt der Teufel und der Satan, der den ganzen Erdkreis verführt, geworfen wurde er auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm geworfen.“ In dieser Erzählung vom Höllensturz des Satans wird am Ende zwischen Teufel, Dra- che und Schlange nicht mehr unterschieden. Drachen und Schlangen waren Inkarnation des Bösen, und die Symbolik des Mittelalters macht keinen Unterschied zwischen ihnen. Zu dem geflügelten Drachen gesellen sich im Chorgestühl gleichwertig als äußere Arm- lehnen Lilith, die Schlange aus dem Paradies mit gespaltenem Schwanz (A5), und zwischen zwei anderen Klappsitzen ein weiterer Dra- che. Letzterer wird durch ein Halsband als an- geketteter Teufel ausgewiesen (A2). Mehr o- der weniger tragen alle drei Teufelsgestalten der Armlehnen Abzeichen ihrer Überwindung. Der Schwanz des geflügelten Drachens bildet eine Rosette aus vier kreuzförmig angeordne- ten Akanthusblättern, der Rücken der Schlan- ge aus dem Paradies ist von dreizackigen Akanthusblättern bedeckt, und der gerollte Schwanz der geketteten Schlange entrollt sich 15. Rose am Herscheider Gestühl. zum dreizackigen Akanthusblatt. Das Symbol der dreieinigen Gottheit verkündet den Sieg über das Böse. In der Mitte der Klappsitzreihe wur- de eine sechsblättrige Rose eingefügt (A3). 14 Die Bibelzitate wurden redaktionell nach der Zürcher Bibelausgabe, Zürich 1955, Ausgabe 1987, vereinheit- lich. 19
16. Delphin und Drachen auf den Zwischenwangen. 20
Die Vorliebe für Drachen kommt in Herscheid nicht von ungefähr. Sie hängt mit dem für den Exorzismus zuständigen Schutzheiligen der Kirche zusammen, mit Sankt Cyriakus, dem Nothel- fer der Besessenen. Da dieser zu seinen Lebzeiten der Tochter des Kaisers Diokletian den Teu- fel austrieb, wurde er meistens mit einem Drachen an der Kette dargestellt. Daher rührt das Hals- band des schlangenähnlichen Unwesens. Zudem gibt es noch eine Beziehung zwischen Ortsnamen und Schlangensymbol, die wahr- scheinlich älter ist, als die Bekanntschaft mit dem Patron Cyriakus. Herscheid leitet sich vom alt- sächsischen „Hiruz“ = Hirsch ab und wird in Urkunden aus dem 10. Jahrhundert „Hiruzscetha“ genannt. Der Name bewahrt vermutlich die Erinnerung an ein kapitales Tier, das auf der Wasser- scheide oder einem durch Rodung aus dem Wald ausgeschiedenen Gebiet seinen Platz hatte . Für die Betrachtung der Drachen des Chorgestühls zählt indessen nur, dass der Hirsch für die Menschen des Mittelalters ein mythisches Tier15 und nach vorderasiatischer Überlieferung in den Tiergeschichten des Physiologus der Feind der Schlange war16. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen vorderasiatischer Hirschlegende und mittelalterli- chen Mythen nicht ohne weiteres einleuchtend, denn für uns als Betreibern einer wissenschaftlich -analytischen Denkweise ist es kaum noch vorstellbar, dass alle jene römisch-griechischen Le- genden, die einmal das Filter der christlichen Lehre passiert hatten, als unumstößliche Wahrheit galten. Doch ist zum Beispiel fünfzehnhundert Jahre lang kein Seefahrer auf den Gedanken ge- kommen, an der afrikanischen Küste nach Süden zu segeln, weil die einmal akzeptierte Behaup- tung des Aristoteles, die heißen Zonen seien unbewohnbar, dagegen stand. Erst die Abenteuer experimentierender Seefahrer machten den Weg nach Süden frei und die Umrisse Afrikas er- kennbar. Vor dieser kopernikanischen Wende unseres Denkens war alles, was die Konzile sanktioniert hatten, unumstößliches Postulat und im Sinne des Paulus interpretierbar, der im Brief an die Ko- losser 1, V. 15‒17 über Christus geschrieben hatte: „15. Und er ist das Ebenbild des unsichtba- ren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung; 16. denn in ihm ist alles, was in den Him- meln und auf Erden ist, erschaffen worden, das Sichtbare und Unsichtbare, seien es Throne oder Hoheiten oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen; 17. und er ist vor allem, und alles hat in ihm seinen Bestand.“ Das bedeutet: In jeder Episode des Alten Testa- mentes und in jeder als Tatsache geglaubten Überlieferung der Antike ‒ ebenso auch in den vor- derasiatischen Tiergeschichten des Physiologus ‒ präfigurierte Christus. Darüber wurde gepre- digt in Bildern und Worten. Vom Hirsch ist eine Predigt des berühmten Wanderpredigers Honori- us von Autun aus der Zeit um 1200 überliefert.17 Sie lautet in der hochdeutschen Übersetzung: „Der Hirsch lebt fünfzig Jahre, und nach diesen fünfzig Jahren läuft er noch wie ein tüchtiger Läufer durch die waldigen Täler und Schluchten der Berge, und er wittert die Löcher der Schlan- 15 Gregorius 1955. 16 Maurer 1964. Siehe auch Henkel 1976. 17 Honorius Augustodunensis, Speculun ecclesiae aus Patrologiae cursus completus [...], ed. J. P. Migne, Se- ries Latina. Paris 1844 ff. 21
gen, und sogleich legt er die Nüstern an den Eingang der Höhle und holt Atem, und die Schlange geht heraus und geht in die Kehle des Hirsches, und er schluckt sie herunter, und deswegen wird der Hirsch „Elchos“ genannt, weil er die Schlangen aus der Tiefe fängt. Mit der Schlange aber läuft er zu den Wasserquellen; wenn er während drei Stunden nicht Wasser trinkt, stirbt er. Wenn er aber Wasser findet, lebt er wiederum 50 Jahre. Deswegen sagt David in Psalm 42,2: „Wie der Hirsch lechzt an versiegten Bächen, also lechzt meine Seele, o Gott, nach Dir!“ Und weiter:18 „Und du nun, vernünftiger Mensch, hast drei Erneuerungen in dir, dies sind eine Taufe der Unver- gänglichkeit, die Gnade der Annahme an Sohnes statt, und die Buße. Und wenn du die Schlange in deinem Herzen fängst, das heißt die Sünde, so laufe zugleich zu den Wasserquellen, das heißt zu den Adern der Schrift und Prophezeiung. Dies wird erläutert, trinke das Wasser des Lebens, das heißt das heilige Geschenk der Gemeinschaft mit der Buße. Erneuere dich end- lich mit der Buße, und die Sünde wird getötet.“ Diese Interpretation der Erzählung vom Hirsch steht keineswegs als Einzelfall da. Die Heilige Hildegard von Bingen hat sie in ihre Schriften aufgenommen und hat den Hirsch bei sonst unverändertem Ver- halten in angemessener Verniedlichung eine Unke verschlingen lassen.19 Bei- 17. Freudenstadt, evang. Stadtkirche. Taufstein mit Darstellung eines Hirsches, de Varianten verzeichnet lombardisch, um 1150. Wera von Blankenburg, der der Text der Hirschpredigt entnommen wurde.20 Als weiteres Beispiel für den Bekanntheitsgrad der Hirschlegende nennt Wera von Blankenburg die Darstellung der Geschichte auf dem romani- schen Taufstein in Freudenstadt, die im Kirchenbuch der Stadt später folgendermaßen erläutert wurde: 18 (Hrsg.:) Das weitere nicht in der Bibelstelle, sondern wohl aus Blankenburg 1943. 19 Hildegard von Bingen, Physica (Buch 7 und 8), Hirsch VII aus: Patrologiae cursus completus, ed. J. P. Migne, Series Latina. Paris 1844 ff, Hirsch 197, S. 1321 ff. 20 Blankenburg 1943, S. 248 f. 22
„Gleich wie der Hirsch die Schlang’ verschlingt Und darauf zum frischen Wasser springt Und von dem Gift wird wieder rein: So steht‘s auch mit dem Menschen fein, Denn er von Sünden wird kuriert, Wenn er im Tauf gewaschen wird; Drum weicht alsbald das Schlangengift, Das sie uns beigebracht mit List.“ Unter solchen Voraussetzungen konnte die um die Re- putation ihrer Heiligen bemühte Kirche einen nicht mehr zeitgemäßen Hirsch durch einen schlangenbändigen- den Heiligen ersetzen. Der Hirsch verschwand von der Bildfläche; auftrat der Heilige Cyriakus mit dem Dra- chen an der Kette.21 Der Herscheider Schutzpatron war Opfer der Chris- tenverfolgung unter Kaiser Diokletian, dessen Freund Maximin von Mailand aus den Westen des Römischen Reiches regierte. Cyriakus starb den Märtyrertod am 16. März des Jahres 309 in der Via Saleria in Rom. Es nützte ihm nichts, dass er während der Haft die von bö- sen Geistern besessene Tochter Arthemia des bereits Im Jahr 305 abgedankten Kaisers Diokletian heilte. Er starb gemeinsam mit zwei anderen Diakonen der Römi- schen Gemeinde den Tod durch das Schwert und wird bereits 354 erstmals als Heiliger erwähnt. Postmortal beförderte St. Cyriakus den Exorzismus. Kaiser Otto I. brachte um 1000 einen seiner Arme mit nach Worms. 18. Cyriakus auf der Predella des Herscheider Unter den Deutschen avancierte Cyriakus zu einem der Altars, Anfang 16. Jahrhundert. Altena, Burgmuseum 14 Nothelfer. In Bamberg, wo er besonders verehrt wur- de, feiert man seinen Namenstag am 8. August. Das Schicksal des Heiligen Cyrikus in Herscheid gleicht dem seines tierischen Vorläufers, dessen Verschwinden anscheinend niemanden bekümmerte. Ende des 16. Jahrhunderts taucht er als Vorname in den Dokumenten des Archivs noch auf, am 1548 kurz vor der Reformation er- richteten Chorgestühl aber fehlt er. Dagegen erwies sich der vom Hirsch überkommene Drache als weniger vergänglich, denn er verselbstständigt und vervielfältigt sich in den Drolerien und Armlehnen des Gestühls. Dreimal bleibt er der besiegte Teufel. Doch im Behemoth der linken Pultwange erhebt er sich in ungebändigter Bosheit. 21 Cyriakus nach Doyé 1929. 23
19. Medaillons mit zu Wappenschilden umgearbeiteten Gesichtern: P1 zwischen aufeinander zustrebenden Delphi- nen; P2 zwischen zwei auseinanderstrebenden Zweiblattmasken; P3 zwischen zueinander strebenden Dreiblatt- masken; P4 zwischen aufeinander zustrebenden Schlangenmasken. 24
3. Wasser, Land, Wind und Mischgestalten Hinter dem mit christlichen Symbolen gespickten Leviathan (RP1) am Herscheider Chorgestühl endet die mittelalterliche Phase der Ornamentik. Der Leviathan wandelt sich auf der Armlehne des rechten äußeren Klappsitzes zum Delphin (A1), den wir als typisches Attribut der Kunst der Renaissance zu deuten haben. Die Kugel im Maul verrät noch die Abkunft vom großen Meeres- drachen. An der Pultfront des Chorge- stühls wird das Motiv von rechts nach links auf der ersten von vier Relieftafeln weitergeführt. Zwei Delphine halten von beiden Sei- ten mit ihren Mäulern ein zentra- les Medaillon (P1). Im Relief da- neben werden daraus zwei Mischwesen, bestehend aus Fischleibern und zweiblättrigen weiblichen Gesichtsmasken (P2). Beim dritten Relief sind es Fisch- leiber mit bärtigen männlichen, dreiblättrigen Gesichtsmasken, die das Medaillon halten (P3). Dann folgt auf dem vierten und letzten Relief der Pultfront ein neues Motiv. Aus den beiden oberen Ecken des Reliefs bläst je ein Püsterich in der Gestalt einer Schlangenmaske Spiralen und Akanthuslaub gegen das Medail- lon (P4). Dieselben Schlangenmasken befinden sich auf der linken Wan- ge der Pultfront über dem Me- daillon der Frau mit Schleifen- 20. Frau mit Schleifenhaube unterhalb des Behemoth mit Schlangenmas- haube (LP2) als Ornament und ken als Ornament sind bereits 1542 auf der Ofen- platte vom Jakobsbrunnen von Philipp Soldan aus Frankenberg zu finden. 25
21. Ofenplatte vom Jakobsbrunnen von Phi- lipp Soldan mit Schlangenmaske (oben links),1542. Die der Frau mit der Schleifenhaube be- nachbarte linke Bankwange zeigt oben einen Püsterich in Gestalt einer vierblätt- rigen frontalen Gesichtsmaske im mittle- ren von drei Kreisabschnitten (LB1), be- gleitet von fischleibigen Mischwesen mit gehörnten Menschenköpfen in den bei- den anderen Kreisabschnitten (LB2 und LB3). Darunter befindet sich ein Doppel- portrait, bestehend aus zwei durch Ringe miteinander verbundenen Medaillons, in denen ein weiteres Mal die Frau mit der Schleifenhaube (LB4) und daneben ihr Ehemann barhäuptig positioniert ist (LB 5). Die Einzelportraits lassen darauf schließen, dass in allen Medaillons des Chorgestühls einzel- ne Personen abgebildet waren. Leider wurden alle vier Medaillons der Pultfront zerstört. Angeb- lich störten die Besitzer die Na- sen der Dargestellten, als zur Zeit der Erweckungsbewegung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wegen der überfüll- ten Kirche eine zusätzliche Sitz- gelegenheit durch eine dem Frontpult angefügte Bank ge- schaffen und die frühere Front zur Rückenlehne wurde. Dabei blieben die Pult -und Bankwan- gen, deren plastischen Knorpel niemanden störten, unverändert. In dem Medaillon der rechten Pultwange unterhalb des Levia- 22. B1-5 Linke Bankwange mit Maske, gehörnten Mischwesen und Ehepaar. 26
thans wird ein weiteres Mal ein barhäuptiger Mann (RP2) inmitten von vier Rollwerken darge- stellt. Derselbe erscheint auf der rechten Bankwange, die in ihrer Aufteilung bis auf ein unten angefügtes Delphinre- lief der gegenüberliegenden linken Bankwange ent- spricht, im oberen Ab- schlussbogen (RB1) zwi- schen dreiblättriger Lilie (RB2) und sechsblättriger Rose (RB3) noch einmal . Darunter befinden sich ne- beneinander die Medaillons eines Mannes mit Barett (RB4) und einer Frau mit Stirnband (RB5). Anders als auf der gegenüber liegen- den Bankwange gibt es hier keine ausdrückliche Verbin- dung zwischen den Medail- lons von Mann und Frau. Sie ist auch nicht zu erwar- ten, da das Stirnband ange- sichts der Kopfbedeckungen aller anderen Damen be- deutet, dass es sich bei ihr um eine Jungfer handelt, sie also nicht „unter der Haube“ ist. Besonders auffällig an dieser rechten Bankwange ist die Verlängerung des Reliefs nach unten, um ein weiteres Delphinmotiv mit 23. RP 1/2, rechte Pultwange mit barhäuptigem Mann unterhalb des Leviathans zwei auseinander streben- (beschädigt durch Artilleriebeschuss 1945). den Delphinen anzufügen (RB6). Allerdings ist es nicht statthaft, in solcher Geschlossenheit konkrete Hinweise auf den ge- schmückten Personenkreis zu vermuten, denn die Ornamente sind darin beliebig austauschbar. 27
24. RB1-6, rechte Bankwange mit bar- häuptigen Mann, Lilie, Rose, Mann mit Barett, Frau mit Stirnband und Relief mit zwei Delphi- nen. Die hinzugefügten Delphine schließen den Kreis der Figuren, denn sie leiten über zum Delphin der rechten Armlehne der Klappsitzreihe (A1), dem Artverwandten des Leviathans. Auf der linken Pultwange besorgen die pustenden Schlangenmasken (LP2) diese Funktion der thematischen Verbindung zur Schlange aus dem Paradies auf der anderen äußeren Armlehne (A5) der Klapp- sitzreihe. Das ganze Arrangement scheint typisch für die groteske Ornamentik der Renaissance zu sein. 28
4. Die Geburt der Groteske als illegitime Tochter der Renaissance Das Streben der Renaissance, der Wiedergeburt der Antike aus dem Geist des Christentums, brachte es mit sich, dass griechisch-römische Götter und Gestalten Eingang in die christliche Kunst fanden. Ihr Eindringen in den sakralen Raum führte zur Integration des katholischen Himmels in die antike Götterwelt. Ein gelunge- ner Anlauf in dieser Richtung ist die Darstel- lung von sieben Weisen der Antike, darunter Pythagoras, Cicero, Terenz, Ptolemaeus und Seneca unter den Propheten, Aposteln und Heiligen am Ulmer Chorgestühl von 1473.22 1530 bereitete der neulateinische Dichter E- oban Hesse den christlichen Heiligen in den 2.000 Distichen seiner Heroiden einen antiken Himmel nach dem Muster Ovids.23 Dazwischen liegt eine der spektakulärsten Inszenierungen der Kunstgeschichte. Als habe man nur auf den richtigen Augen- blick gewartet, brach 1505 in Rom der Fußbo- den in den Bädern des Trajan über den ver- gessenen und verschütteten Gewölben vom Goldenen Haus des Kaisers Nero ein, und wie durch wundersame Fügung gab das Loch den 25. Die Laokoon-Gruppe aus dem Goldenen Haus Kaiser Blick in die mit dem Schutt der Jahrhunderte Neros. Rom, Vatikanische Museem. gefüllten römischen Gewölbe genau an jener Stelle frei, wo auf dem Geröll strahlend weiß und na- hezu unversehrt die Laokoon-Gruppe stand. Papst Julius II. ließ den überraschenden Fund so- gleich in den Vatikan holen. Aus dem Transport wurde ein Triumphzug. Mit der Laokoon-Gruppe im Vatikan hatte eine sich an den Bildern der Antike orientierende Kunst ihren Durchbruch ge- schafft. Der Schmerz im Angesicht des Vaters, der sterbend das Sterben seiner Söhne durchlei- det, ließ die Einwände scholastischer Kleriker verstummen. Jetzt stiegen Raffael und seine Schüler offiziell in die Grotten des Goldenen Hauses und stu- dierten die Decken- und Wandbilder Neros. Was sie sahen, übertrugen sie in die Ornamentrah- men ihrer Bilder in den Loggien des Vatikans. An die Decken der Grotten aber pinselten sie in gro- ßen Lettern ihre Namen in die Kunst des Nero. Sie dokumentierten damit, woher die neuen Orna- 22 Seifert 1935. 23 Ellinger 1929. 29
26. Rom, Domus Aurea, Cryptoporticus 92. Detail aus 27. Giovanni da Udine (1487–1549): Detail aus dem einer der längsten Grotten im Goldenen Haus des Wandgemälde im Goldenen Haus Neros. Nero. mente stammten, die fortan nach den Grotten des Goldenen Hauses Grotesken genannt wurden.24 Grotesken gerieten alsbald auf die Titel- blätter der seit Gutenberg in Serien ge- druckten Bücher. Sie verbreiteten sich wie von selbst in einer Welt, deren geistiges Zentrum immer noch Rom war. Sie schmückten die Frontispize der Drucke antiker römisch-griechischer Dichter und Philosophen, waren aber ebenso auf wis- senschaftlichen Werken und den weit ver- breiteten Schriften der Reformatoren zu finden. Italienerfahrene deutsche Künstler wie Dürer und Holbein trugen fördernd durch Übernahme und Variation der Moti- ve bei. 28. Hans Holbein: Titelblatt von Hesiodi Ascraei poetae vetustissimi, opera et dies, Nicolao Valla interprete. Holzschnitt, Basel 1518. Universitäts- bibliothek Basel. 24 Jugli 1968. Sagalla/Sciortino 1999. 30
29. Hans Brosamer, Musterbogen für Gold- schmiede, Holzschnitt in: Ein New Kunstbüch- lein, Nürnberg 1540. Bekannte Kupferstecher und Holzschnei- der, darunter Lucas Cranach, Hans Bro- samer, Erhard Schoen, Peter Flettner, Heinrich Aldegrever sowie Sebald und Barthel Beham brachten groteske Ele- mente in ihre Illustrationen weltlicher und biblischer Themenkreise ein und lieferten den Handwerkern Entwürfe und Muster- bögen. Spätestens 1530 hatte sich der groteske Ornamentstil überall in Deutsch- land und in weiten Teilen Europas durch- gesetzt. Dass es dafür nicht unbedingt der An- regungen aus den Grotten im goldenen Haus Neros bedurfte, dafür spricht eine Querleiste eines unbekannten Metallstechers, für den die Groteske gewiss noch ein Fremdwort war, mit dem aus der Antike über- kommenen Delphinmotiv, das im veneziani- schen Buchdruck um 1506 verwendet wurde. Dem gegenüber ist die Titeleinfassung aus der Offizin des Sylvan Othmar in Augsburg, die Da- niel Hopfer 1516 für den Sachsenspiegel schuf,25 ohne den Einfluss grotesker Ornamen- tik kaum noch erklärbar, während Hans Holbein mit dem Titelornament aus Johann Frobens Of- fizin in Basel für die Interpretation des Nicolao Valla von Hesiods „Werke und Tage“ bereits perfekte groteske Ornamentik liefert. 30. Daniel Hopfer: Titelblatt zum Druck des Sachsen- spiegels. 25 Hopfers Zeichen ist in der Stirn des oben in der Mitte befindlichen Mascarons angebracht. 31
Wie interessiert das Handwerk an der neuen Stilrichtung war, beweisen zahlreiche Musterbögen der folgenden Jahre. Die damalige Praxis des Kopierens mag uns heute verwundern, weil sie nicht mehr zu unserem Kunstbegriff passt, der auf Originalität beruht und Plagiate ausschließt. Doch im 16. Jahrhundert kannte man solche Unterscheidungen nicht. Ein schönes Beispiel für den Umgang mit dem Delphinmotiv ist der Ausschnitt aus einem Musterbogen, den Hans Brosa- mer aus Nürnberg für Gold- und Silberschmiede gestaltete. Schließlich bereicherten französische Künstler das groteske Ornament mit Rollwerken, wie diese z. B. die Titeleinfassung eines Lehrbuches der Mathematik von Oronce Finé mit dem Del- phinmotiv bekränzen, gestaltet für die von König Franz I. geförderte Collinsche Offizin 1536. Hier kündigt sich, ausgehend von einem Maskaron zwischen den oberen Delphinen, das Rollwerk an und gelangte alsbald zu internationaler, nachahmenswerter Reife. Was die unaufhaltsame Rezeption der Grotesken anbelangt, kam ihr beson- ders die Manieriertheit der Hochgotik zustatten. So hat- ten sich z. B. in gotischen Chorgestühlen, ausgehend von den Miserikordien, den Partien mit Gesäßberüh- rung, komische Figuren und drollige Szenen ausgebrei- tet, teils in Verbindung mit üppigem Rank- und Blatt- werk auf Armlehnen und Pultwangen. Die gotische Ornamentik ließ sich prob- lemlos mit grotesken Figu- ren kombinieren. 31. Oronce Finé: In Sex Priores Libros Geometricorum Elemento- rum Euclidis Megarensis De- monstrationes. Titelblatt für die Officin von Simon de Colines, Paris 1536. 32
5. Die Holzkohlekrise der 1530er Jahre in Hessen und dem Sieger- land Die grotesken Figuren des Herscheider Chorgestühls stammen vorwiegend aus dem Repertoire des Soester Malers und Graphikers Heinrich Aldegrever. Aldegrevers kleinformatige Entwürfe waren den Schnitzern der Herscheider Reliefs vermutlich bekannt. Ob diese den Herstellern der Tafelschnitzereien allerdings vorgelegen haben, ist angesichts der naiven und handwerklich un- vollkommenen Ausführung der Tafeln zu bezweifeln. Fast alles scheint bei diesen Schnitztafeln „secondhand“ und anscheinend von den mitgelieferten Figuren abgeleitet zu sein. Der Betrachter sollte sich deshalb bei der Zuweisung grotesker Motive zunächst nur an den teilweise zerstörten Reliefs der Pultfront orientieren, denen ein ausgezeichnetes handwerkliches Können zu beschei- nigen ist. Die zahlreichen Rückgriffe des Frankenberger Bildhauers Philipp Soldan auf Entwürfe des So- ester Malers und Graphikers Heinrich Aldegrever hat Albert Kippenberger in seiner umfassenden Untersuchung des soldanschen Œvres bereits 1926 nachgewiesen. 26 Hinsichtlich des Kippenber- ger nicht bekannten Herscheider Chorge- stühls von 1548 ist anzumerken, dass Soldan und seine Schüler um die Zeit der Errichtung des Chorgestühls mit der Ausschmückung des Schlösschens in Rom- mershausen bei Trey- sa beschäftigt waren. 32. (Bild 29‒32) Heinrich Aldegrever, Ausschnitte aus Ornamentleisten: 1. Vertikale; 2. drei Agraffen, 1536; 3. Delphine mit Put- ten und Pokal, signiert und datiert 1527; 4. weibli- cher Halbakt mit Delphi- nen. 26 Kippenberger 1926. Kippenberger 1931. 33
Abgesehen vom qualitativen Unterschied der hohen Kunst Soldans zum biederen Handwerk in Herscheid, das beim Vergleich zwischen dem Frankenberger Ratsherrengestühl und dem Her- scheider Chorgestühl besonders augenfällig wird, bietet Rommershausen erstaunlich viel Materi- al für die auf Aldegrever zurückzuführende Identität einzelner Motive. Die Beispiele ließen sich bei Berücksichtig früherer soldanscher Ofenplatten beliebig vermehren, sollten aber zur Vermei- dung einer ausufernden Beweisführung nur ergänzend herangezogen werden. Grundsätzlich ist aber darauf hinzuweisen, dass die Beschaffenheit des Herscheider Gestühls seine Herkunft aus einer Werkstatt, in der vorwiegend Modeln für Ofenplatten hergestellt wurden, nicht verleugnen kann. Neben der Hütte in Hai- na in Oberhessen, für die der Frankenberger haupt- sächlich gearbeitet hat, ist als Motivlieferant ‒ aller- dings mit einem weit ge- ringeren Anteil als Soldan ‒ eine Eisenhütte aus dem Siegerland mit dem Meister „P im Schild“ in Betracht zu ziehen, den Kippenberger im Zusam- 33. Philipp Soldan: Delphinstein am „Schlösschen“ in Schwalmstadt- menhang mit Soldan ent- Rommershausen, 1549. deckt hat und dem er we- gen seines auffälligen Siegels den Notnamen gegeben hat. Um wen es sich dabei genau han- delt, hat sich bisher nicht endgültig klären lassen. Sein Name könnte sowohl Pythan als auch Pender sein, beides Angehörige von Familien, die im Siegener Gießereigewerbe tätig und mitei- nander verwandtschaftlich verbunden waren. Zeitweilig hielt Kippenberger Pender für wahr- scheinlicher, später bevorzugte er Pythan. Da beide um die Mitte des 16. Jahrhunderts je eine Eisenhütte in Ferndorf an der Grenze zum Sauerland betrieben, ist unter Berücksichtigung der räumlichen Nähe zum Sauerland ein Kontakt zu den Bildhauern des Herscheider Gestühls wahr- scheinlich. Hinzu kommt der Umstand, dass es seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts durch Maßnahmen der für das Siegerland zuständigen Hessisch-Nassauischen Regierung für die pri- vaten Gießereien des Siegerlandes zu einem ihre Existenz bedrohenden Mangel an Holzkohle kam. Darüber hat Bernd Rödig gründlich recherchiert und nachgewiesen, dass sich die Lage erst nach 1555 wieder entspannt hat.27 Während solcher Kohlenot müssen die Eigentümer der um- fangreichen Herscheider Waldmark mit ihrem ausgedehnten Waldbesitz im Ebbegebirge und im Lennegebirge zwischen Lüdenscheid und Balve mit der Vielzahl der dort befindlichen Kohlemei- 27 Rödig 1970. 34
34. Das Delphinrelief der rechten Pultwange in Herscheid, 1548 (beschädigt durch Ar- tilleriebeschuss 1945). ler ein begehrter Geschäftspartner gewesen sein. Dabei scheint die Abwicklung der Geschäfte bargeldlos durch die Kompensation von Holzkohle mit Sachleistungen erfolgt zu sein, denn die Suche nach Rechnungen oder Quittungen blieb trotz aller Hilfsbereitschaft zuständiger Archive ergebnislos.28 Anscheinend bedingte die Rücksicht auf Pythans Teilhabe an einer privaten Sie- gener Gießerei im grenznahen Ferndorf neben seiner Tätigkeit als Direktor von drei staatlichen Hüttenwerken bei gleichzeitiger Zuständigkeit für die erheblich gekürzte Kohlezuteilung an pri- vate Gießereien eine stillschweigende Übereinkunft, um nicht in den Ruf illegaler Begünstigung zu gelangen. Mehr als zwanzig Jahre stritt sich die Zunft der privaten Siegener Gießereien mit dem Fürstenhaus wegen der Bevorzugung der staatlichen Hüttenwerke, weil es durch den Man- gel an Holzkohle zu einer ruinösen Verteuerung des Kohlepreises kam. Sie brachte den Erzeu- gern den Vorteil ein, ihr Herscheider Chorgestühl sozusagen aus der Westentasche zu bezahlen. Ein anderer Grund, dem Meister „P im Schild“ einen Kontext zu den Bestrebungen in Her- scheid zuzumuten, liegt in seiner von Soldan abweichenden künstlerischen Gestaltungsweise. Kippenberger verweist dabei auf das vorherrschende narrative Element in den Werken Soldans, was beim Meister „P im Schild“ zu Gunsten reiner Ornamentik entfällt. Gerade Rommershausen bei Treysa ist für Kippenberger ein Musterbeispiel soldanscher Erzählweise. Biblische Themen wie Adam und Eva, Lot mit seinen Töchtern, die von Hunden zerfleischte Isabel, aber auch Tar- quinius und Lucretia aus der frührömischen Geschichte berichten an den Fassaden des Schlöss- chens von Unmoral und christlicher Nutzanwendung. Auch das Interieur des Schlösschens ist 28 Auch bei Rödig 1970 findet sich keine Erwähnung für den Bezug von Holzkohle aus der Herscheider Waldmark. 35
35. Relief eines Sitzes des Frankenberger Ratsherrengestühl von Philipp Soldan im Kasseler Landesmuseum. von Soldans Erzählkunst geprägt. Auf der steinernen Türeinfassung des Jagdzimmers verschrecken mit Knüppeln bewaffnete Schwimmer angreifende Delphine mit aldegrever- schen Blattmasken. Auf den gegen- über liegenden Einfassungen der Tür des Saales sind es spielende Kinder, die das Wappen der Besitzer vorzei- gen. Mit Bezug auf den Meister „P im Schild“ urteilt Kippenberger: „Philipp Soldan ist indessen der ältere und noch ganz in der Gotik verwurzelt. Er ist noch mehr vom Inhalt gepackt, ist schwerfälliger, aber auch eindringli- cher. Der Formenschneider P hat eben die Leichtigkeit der dekorativen Beherrschung der Fläche, den größeren Zug der Komposition und die größere Klarheit voraus; es ist die reife Renaissance, die er vertritt.“29 So gesehen sind prägende Einflüsse Soldans und des Meisters mit dem „ P im Schild“ auf ein im grotesken Stil der Renaissance dekorativ gestaltetes Möbel, als welches sich das Herscheider 36. Philipp Soldan: Rund- bilder des Ehepaares Rinck am „Schlösschen“ in Schwalmstadt- Rommershausen, 1549. 29 Kippenberger 1931, S. 32. 36
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