Baumbrüter, Wald- oder Niederungswanderfalken? - Betrachtungen zur Bedeutung des Waldfaktors für Mitteleuropas Wanderfalken Falco peregrinus
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Greifvögel und Falknerei 2020 Wolfgang Baumgart Baumbrüter, Wald- oder Niederungswanderfalken? Betrachtungen zur Bedeutung des Waldfaktors für Mitteleuropas Wanderfalken Falco peregrinus 1. Problemstellung Die daraus für die ökologische Bewertung Bei der weltweiten Verbreitung des Wander- und Namensgebung ableitbaren Aspekte wurden falken in recht unterschiedlichen Regionen in Greifvögel und Falknerei 2019 (S. 50 – 61) von und Lebensräumen fällt es oft schwer, sich auf Bednarek (2019) in Würdigung der Verdienste grundlegende Kriterien zu seiner ökologischen von Professor Christian Saar um den Wander- Differenzierung und Einbindung ins Umwelt- falken zu dessen 90. Geburtstag unter teilweise gefüge festzulegen. Meist definieren wir ihn als neuen Aspekten eingehend erörtert. In Verbin- hochspezialisierten Vogeljäger, was aber, da er dung damit erscheint mir eine vertiefende Be- regional auch in hohem Grade von Flattertieren trachtung zur Rolle des Waldfaktors für mittel- und Großinsekten leben kann, ebenso zu kurz europäische Wanderfalken in einigen Punkten greift wie Fords (1999) Feststellung, er sei bei jedoch geboten, denn grundlegende Kausalbe- der Vielfalt der von ihm bewohnten Lebensräu- züge, die für die Herausbildung der von Saar als me ein ausgesprochener Universalist. Es ist da- „Waldwanderfalken“ bezeichneten Populations- her treffender, ihn als Verfolgungsjäger im freien gruppe maßgeblich sein dürften, bleiben bisher Luftraum einzustufen, was auch seine nahezu weitgehend unberücksichtigt. kosmopolitische Verbreitung erklärt, denn die Atmosphäre, der freie Luftraum schließt unse- 2. Für den Wanderfalken jagdbegünstigend re Erde ja universell ein. wirkende Strukturierungen Obwohl Wanderfalken somit überall vor- Bezüglich der für ihn jagdbegünstigenden kommen könnten und in Höhen von einigen Strukturen sind die Verhältnisse in den Mittel- tausend Metern jagen können, unterliegt ihre gebirgslagen am besten bekannt, wo die Falken Verbreitung doch in Abhängigkeit von Beute- auch, in mäßiger Höhe agierend, gut beobach- angebot und Landschaftsstrukturierung bemer- tet werden können. Frei anzufliegende, oft hoch kenswerten Regulativen. Beutetiere, insbeson- aufragende Felsgruppierungen bieten hier zu- dere Vögel sind für sie nur bedeutsam, wenn meist sowohl Horstgelegenheiten als auch Start- sie regelmäßig im gesamten Jahreszyklus den positionen für die Jagd im freien Luftraum. In freien Luftraum fliegend frequentieren. Darüber Abhängigkeit von der Oberflächen-Strukturie- hinaus ist eine Reihe von Landschaftsstruktu- rung sind potentielle Beutevögel vielfach ge- ren für sie besonders attraktiv, weil ihnen eine zwungen, Täler, insbesondere weite Haupttäler, jagdbegünstigende Rolle zukommt, einerseits in großer Höhe zu überfliegen, und auch nach weil sie vor allem Vögel zum längerem Ver- dem Überqueren der Hochlagen setzen sie ihren weilen im Luftraum zwingen, andererseits aber Flug oft auf gleichem Niveau fort oder streben auch, weil sie zu einer Verdichtung der Flugfor- abgleitend erst allmählich tiefere Lagen an. Das mationen führen. ist die Chance für den Falken, der von einem 159
Greifvögel und Falknerei 2020 An den 426 m hohen Felsen von Gibraltar orientieren sich zahlreiche aus Afrika zurückkehrende Zugvögel. Dieser Verdichtungseffekt bedingt ein reiches Nahrungsangebot für Küsten-Wanderfalken. Hier brüten bis zu fünf Paare auf 6,25 km², was aber auch anderenorts von Küsten- und Inselwanderfalken erreicht werden kann. Foto: Verfasser exponierten Ansitz oder aus dem hohen Anwar- hohe Siedlungsdichte von fünf Wanderfalken- ten heraus, der Beute an Fluggeschwindigkeit Paaren auf 6,5 km² an diesem Felsmassiv (Mebs um ein Mehrfaches überlegen, nachsetzt und sie & Schmidt 2006). dann, oft ehe diese das gewahr wird, vor Errei- Im Hochgebirge brütende, ernährungsmäßig chen einer schützenden Deckung schlagen kann. hochgradig vom Vogelzug abhängige Wander- Täler entlang ziehende Vogelscharen rüc- falken finden sich bis in Höhen um 2000 m üNN ken zudem dort enger zusammen, wo diese sich (Jenny 2011). Die Falken entgehen den Beobach- verengen oder einer Richtungsänderung unter- tern aber oft, weshalb ihr Vorkommen teilweise liegen, was die Chance auf erfolgreiche Jagd- sogar in Frage gestellt wurde. Meist werden sie flüge erhöht. Das erlebte ich am Iskurpaß im erst entdeckt, wenn sie hier bei Steinadler- und Westbalkan bei Lakatnik während des Früh- Bartgeier-Horstkontrollen als Nachnutzer fest- jahrszuges in den 1960er Jahren bei einem hier gestellt werden. Ich erlebte sie in Hochlagen ansässigen Falkenpaar. Auch ins Meer auslau- jagend bei meiner Geiersuche in den Balkan- fenden Landzungen wie am Kap Arcona auf gebirgen, im Kaukasus und auch in den Alpen. Rügen folgende oder herausragende – etwa nach In Mittelgebirgslagen erlangt dann auch der Überqueren des Mittelmeeres Orientierung bie- Bewaldungsgrad zunehmende Bedeutung. tende – Erhebungen, wie der Felsen von Gibral- Schon Vogt (1978) wies in ihren Untersu- tar (426 m üNN), bewirken Verdichtungseffek- chungen nach, daß von ausgedehnten Waldgür- te bei Migranten. Das erklärt auch die extrem teln eingeschlossene Mittelgebirgs-Brutplätze 160
Greifvögel und Falknerei 2020 während der Rückgangsperi- ode Mitte des vorigen Jahr- hunderts länger als freistehen- de besetzt blieben, was sie aber unter anderem auf einen gerin- geren Pestizideinsatz in Wald- gebieten zurückführte. Doch, wenn man sich aus- giebig Zeit zur Beobachtung des erweiterten Horstumfel- des nimmt, wird bald klar, daß auch hier der Wald als jagdbe- günstigende Umweltstruktur wirkt. Vor allem Haustauben vermeiden es, vor dem sie at- tackierenden Falken im Wald Schutz zu suchen. Sie bleiben so für diesen länger und damit auch erfolgreich bejagbar. Das trifft auch für Enten, Limiko- len, Möwen und Seeschwalben, Taucher und Rallen sowie si- Von Wanderfalken 2007 bezogener ehemaliger Steinadlerhorst im Hochge- cher auch andere Vogelarten, birge (Alpines Hochengadin, Schweiz) in 2030 m üNN. Im folgenden Jahr die den Wald gleichfalls scheu- wurde er vom Bartgeier genutzt. Hier spielt der Waldfaktor kaum eine Rolle. en, zu. Foto: D. Jenny Eigene Beobachtungen von langdauernden Verfolgungsflü- gen auf Haustauben über ausge- dehnten Waldflächen verzeich- nete ich beispielsweise in den dem Kleinen Winterberg nörd- lich vorgelagerten weiträumi- gen Waldgebieten im Elbsand- steingebirge und im Thüringer Wald (Baumgart 1985/86, Baumgart & Weick 2011). Am erstgenannten Platz erleb- te ich obendrein das diesbezüg- lich abweichende Fluchtverhal- ten von Ringeltauben, die im Oktober 1959 hier geradezu in Massen durchzogen. Dem Kleinen Winterberg in der Sächsichen Schweiz sind nach Norden hin Vom Falken attackiert stürz- ausgedehnte Waldflächen vorgelagert. Hier hielten sich die Wanderfalken ten sie in der Regel aus großer mit am längsten und kehrten im Rahmen des Wiederansiedlungsprojek- Höhe sofort in den Wald, so daß tes früh zurück. Das Foto belegt die Bedeutung des Waldfaktors auch an drei hier aktiv jagende Falken Mittelgebirgsplätzen des Wanderfalken. Foto: A. Steinhoff, gemeinfrei. 161
Greifvögel und Falknerei 2020 überwiegend geschlossen be- waldet und anfangs wahr- scheinlich nur in den Randzo- nen und erst später gebietsweise flächendeckend von Wanderfal- ken besiedelt (Fischer 1977). Denn erst ab dem ausgehenden Mittelalter wurden diese Ge- biete durch Menschen erschlos- sen. Zeitweilig stagnierten die Prozesse, da Pestausbrüche und Kriege die Bevölkerung im Mittelalter stark reduzierten. In die Wälder eingebettet fan- den sich hier im Spätmittelal- Jagdstrategie eines Wanderfalken am 8.10.1959 im Norden des Kleinen Winterberges. Von seinem Ansitz (x) an der Felsoberkante vermochte der ter oft nur verstreut Weiler und Falke anfliegende Ringeltaubenschwärme über 3-4 km auszumachen. Dann Kleinsiedlungen. schwang er sich ab, umflog das Felsmassiv, an dessen Rückseite sich ein Erst ab dem 18. Jh. mit dem Windkanal befand, der ihn in Sekundenschnelle mehrere hundert Meter Beginn der Industrialisierung in die Höhe trug. Erst dann stürmte er den Tauben entgegen, ohne über kam es dann zu einer zügigen mehrere Stunden zu einem Jagderfolg zu kommen, obwohl manchmal Erschließung und Urbarma- die Federn stoben, weil sich die Tauben bei seiner Annäherung sofort in chung weiter Gebiete und zur die schützenden Wälder der Quenwiesen stürzten. Foto: J. Hennersdorf Umwandlung der Wälder in großflächige Siedlungsgebiete über Stunden erfolglos blieben. Ringeltauben und moderne Agrarlandschaften (Dix 2003). Mit werden nur unter besonderen Umständen in hö- der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 herer Zahl von Wanderfalken erbeutet, wenn sie setzte zudem eine stürmische wirtschaftliche wie etwa als Überwinterer im südenglischen Es- Entwicklung ein und die Bevölkerung wuchs sex (Baker 1967) unter beständigem Beschuß von 41 Mio. in diesem Jahr über 56 Mio um von Jägern stehend, immer wieder zum Aufflie- 1900, trotz des Weltkrieges I auf 69 Mio im gen gezwungen werden. Auf den Beutelisten Jahre 1935. mitteleuropäischer Wanderfalken rücken sie da- Diese Öffnung der einst geschlossenen Wäl- gegen, wie auch andere Wildtauben gegenüber der mit ihren Randzoneneffekten führte schon der Haustaube meist deutlich in den Hintergrund. ausgangs des Mittelalters zu einem beachtli- chen Anstieg der Vogelzahl und der Artenviel- 3. Die Besonderheiten der von falt (Schnurre 1921). Das reflektiert auch die baumbrütenden „Waldwanderfalken“ Entwicklung der Wanderfalken-Bestände, die bewohnten Niederungsreviere in der Mark Brandenburg schon relativ früh er- Das sich von der norddeutschen Tiefebene mit faßt wurden. Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jh. Ausläufern nach Südskandinavien über die galt er noch als selten. Dann folgte eine Zunah- Baltische Platte bis zum Ural erstreckende, ge- me und Stabilisierung trotz Bejagung und Eier- schlossene Brutareal der bisher als „Baumbrü- sammelns sowie der oft intensiven Nachstellung ter“ bezeichneten Wanderfalken erweist sich durch Taubenhalter. Und Anfang des 20. Jh. gab als ausgesprochen nivelliert. Meist deutlich un- es in der Mark Brandenburg die meisten brüten- ter 200 m üNN liegend und nur punktuell dar- den Wanderfalken in Europa. Das hielt bis in die über hinausgehend war dieser Raum dereinst 1930er Jahre an. Dann setzte noch Jahrzehnte 162
Greifvögel und Falknerei 2020 Luftaufnahme der Schorfheide. In deren ausgedehnten ebenen Forsten gibt es für mehrere Waldwanderfalken- Paare Jagdreviere und Horstplätze. Das α-Revier befindet sich im Osten (rechter Bildteil). Foto: R. Roletschek, GFDL 1.2 vor Beginn des Pestizid-Desasters ein allmäh- In den ausgedehnten Wäldern lassen sich licher Rückgang ein (Schnurre 1950, Fischer die dortigen Wanderfalken nur schwer beobach- 1983). ten, und vieles blieb bis zu ihrem Verschwin- Bedeutsam für diese Entwicklung war ne- den weitgehend unklar. Otto Schnurre, der Pio- ben der ökologischen Umgestaltung und Öff- nierarbeit bei ihrer Erforschung leistete, war nung der Kulturlandschaft aber vor allem, daß der Meinung, daß sie zwar tief in den Wäldern die Landbevölkerung die Haustaube mitbrachte, brüten, doch über den anliegenden freien Flä- die die dereinst (und heute noch in vielen Teilen chen jagten. Er ermittelte so sogar über Beu- Skandinaviens) im Beutespektrum dominieren- tevögel Revierausdehnungen. Kiebitze sowie den Wasservögel (Limikolen, Enten, Möwen, Bekassine und Grünschenkel holten die Falken Kleinvögel etc.) von ihren Spitzenpositionen der Mönchsheide bei Eberswalde nach seinem verdrängte. Auf den Beutelisten mitteleuropä- Dafürhalten beispielsweise aus dem sieben km ischer Wanderfalken kamen dereinst Tauben, entfernten Oderbruch (Schnurre 1973). Diese womit überwiegend Haustauben gemeint sind, Feststellungen wurden nicht nur von Utten- auf 32 %, gefolgt von Star, Kiebitz, Feldlerche dörfer (1939) übernommen. Sie finden sich und Lachmöwe (Uttendörfer 1939). Heute auch im Handbuch (Glutz et al. 1971). Und dürften Kiebitze und Feldlerchen eine geringe- als ich begann, mich über die jagdbegünstigen- re Rolle spielen. Diese Niederungsgebiete waren de Rolle des Waldfaktors und die daraus resul- für Wanderfalken in wenigen Jahrzehnten zu- tierende vertikale, ja trichterförmige Ausdeh- nehmend attraktiv geworden. Es sind dieselben nung der Jagdräume dieser Wanderfalken zu Prinzipien wie sie Elton (1958) beschreibt, wo- äußern (Baumgart 1985/86), stieß das vielfach nach Arealerweiterungen von Vögeln durch den auf Vorbehalte. Sog ungenutzter Ressourcen induziert werden, Da es im gesamten Areal dieser baumbrü- die auch in der Funktionalevolution eine ent- tenden Waldwanderfalken keine nennenswerte scheidende Rolle bei der Überwindung der als vertikale Oberflächengliederung gibt, ist hier Arealgrenze wirkenden Leistungsgrenze sowie der Waldfaktor die einzige seine Jagd begün- bei der Erlangung der für die Artbildung wich- stigende Umweltstruktur, die aber auch eini- tigen geographischen Isolation spielen (Baum- gen Differenzierungen unterliegt. Weiträumig gart 2010, 2015). geschlossene Wälder, wie sie beispielsweise 163
Greifvögel und Falknerei 2020 zumeist östlich des Ural vorliegen, meidet er. Sie erlosch bereits 1952. Trotzdem suchte ich das müssen erschlossen sein und für seine Belange Gebiet über Jahre, ja Jahrzehnte immer wieder einen Wechsel von relativ weiträumigen Forsten, auf und konnte mir ein noch recht gutes Bild von über die Vögel regelmäßig pendeln, und einge- den Existenzbedingungen der dortigen Wander- streuten, gleichfalls ausgedehnten Siedlungs- falken machen, die ja anfangs noch so waren wie einheiten im Wechsel mit Feuchtgebieten, Seen zur Zeit ihres Brutvorkommens. und Flüssen aufweisen. Bei Nachtflügen über Das engere Horstgebiet bestand aus ei- die Taiga fällt die geringe Zahl an beleuchteten nem ziemlich geschlossenen Waldgebiet von Siedlungsschwerpunkten, die sich meist nur an ca. 4,0 x 3,5 km Ausdehnung, eingerahmt von den großen Strömen finden, auf. den Schloßteichen im Süden, den beiden Teilen Diese Verhältnisse ließen sich bei mehrjäh- des Großteiches im Osten bis Südosten sowie rigen Besuchen einer Reihe von Wanderfalken- dem Frauen- und Mittelteich im Norden bzw. Waldrevieren immer wieder bestätigen, obwohl Westen. Nach Westen hin schlossen sich wei- es im jeweiligen Einzelfall anfangs durchaus tere ausgedehnte Waldgebiete (Friedewald) an. Abweichungen geben konnte. Nachfolgend sol- Überliefert ist das Brüten in Bussard- und Mi- len daher die besonderen Gegebenheiten in vier lanhorsten im Umfeld der auf einer kleinen An- ausgewählten, mir vertrauten Niederungsrevie- höhe stehenden Ruine des Hellhauses im Ostteil ren: Moritzburg bei Dresden, Mönchsheide nahe des Waldes (Kurt Burk pers. Mitt.). Eberswalde, Schorfheide bei Joachimsthal und Entscheidend für die Lokalisierung war Stubnitz auf Rügen betrachtet werden, bezüglich wohl, daß die Lachmöwen der Hunderte von derer ich über umfassendere, teilweise weit zurückreichen- de, vor allem auch durch Otto Schnurre persönlich vermittel- te Informationen verfüge. An einigen Plätzen konnte ich teil- weise noch selbst beobachten. Und manche bisher offene Frage ließe sich im Gefolge der inzwi- schen erfolgten Wiederbesied- lung sogar nachträglich klären. 3.1 Moritzburg Als ich mich 1953 den Dres- dener Ornithologen unter Lei- tung von Rudolf Pätzold (1921– 2006) anschloß und mit meinen Beobachtungen überwintern- der Wanderfalken im Elbtal bei Niederwartha begann (s. Baum- gart 1985/86), erfuhr ich auch, daß der Falke in den Wäldern Das einstige relativ kleine Wanderfalkenrevier von Moritzburg. Es wies von Moritzburg, rund 15 km aber zwischen Seen, Wiesen, Sumpf- und landwirtschaftlichen Nutzflächen von dort seit 1941 brüte (Bern- eingebettet, im Umfeld eine hohe Biodiversität auf. Lachmöwen einer Ko- hardt 1941). Doch leider kam lonie am Ostteil des Frauenteiches überflogen es regelmäßig und wurden ich zu spät. Das Vorkommen so zur wichtigsten Beute. Karte von: hot.map.com 164
Greifvögel und Falknerei 2020 Abwechslungsreiche Landschaft am Westende des Frauenteiches. Die Lachmöwenkolonie befand sich westlich (links) der baumbestandenen Insel. Foto: Verfasser Brutpaaren umfassenden Kolonie am Westende Kolonie bei Neschwitz spielten dagegen für die des Frauenteiches hier den Wald auf einer relativ Ernährung der in der Nähe horstenden Wander- kurzen Strecke von knapp 4 km auf ihrem Weg falken keine wesentliche Rolle (Kramer 1950), zum Elbtal überqueren mußten. Im Gebiet gab wohl weil sie den Horstwald auf dem Weg zu ih- es damals zudem zwei weitere Kolonien. Die ren Nahrungsgründen nicht überquerten. Möwen sicherten, da über die gesamte Brutzeit Dieses Niederungs-Wanderfalkenrevier bei präsent, in erheblichem Maße die Ernährung der Moritzburg ist zwar relativ klein, doch gerade- Falken ab, denn sie waren, wie mir zahlreiche zu modellhaft typisch. Die mehrere Kilometer Beobachtungen an überwinternden Wanderfal- messende geschlossene Waldfläche wird von ken am Staubecken Niederwartha zeigten, für Teichen, und ins angrenzende Kulturland über- diese in größerer Höhe relativ leicht zu schlagen. leitenden Feuchtgebieten eingeschlossen. Die Daneben gehörten noch zwei Krickenten sowie abwechslungsreiche Landschaftsstrukturierung je eine Stockente, Wildtaube und ein junger förderte eine hohe Artenvielfalt und Individu- Turmfalke zu den Beute-Nachweisen. endichte, was wohl auch zu einer hohen Über- Die Kolonie am Frauenteich bestand noch flugfrequenz von Vögeln über das Horstgebiet in beachtlicher Stärke mit allerdings rückläu- führte. figer Tendenz über viele Jahre, ist inzwischen Fotos aus dieser Zeit existieren offenbar aber seit langem erloschen. Die Lachmöwen der nicht. Doch Fritz Bäuerle (1949) bekam aus 165
Greifvögel und Falknerei 2020 diesem Horst 1948 den neben- stehend abgebildeten Jung- falken für die Falknerei. Er charakterisiert diesen schmal- und langflügeligen Terzel als schnellen und ausdauernden Verfolgungsjäger. 3.2. Mönchsheide bei Ebers- walde Hier handelt es sich wohl um eines der am längsten kon- trollierten märkischen Wan- derfalken-Reviere in der wei- teren Umgebung Berlins, das Schnurre (1973b) seit 1930 bekannt war und an dem er langjährige Rupfungskontrol- len durchführte. Damals gab es die Reiher-Kolonie noch nicht und die Falken brüteten mit mäßigem Erfolg in den Hor- sten von Bussarden, Milanen u. a. Das änderte sich erst, als die entstehende Reiherkolonie Aus Moritzburg stammender Beizfalke im Besitz von Fritz Bäuerle. Er sichere Horstplätze bot. Dieses beschreibt diesen Terzel als schmal- und langflügeligen, schnellen und Wanderfalken-Paar liefert zu- ausdauernden Verfolgungsjäger. Aus Bäuerle 1949 dem damit einen Beleg dafür, daß die Revier- vor der Horst- platzqualität rangiert. Zu letz- ten erfolgreichen Bruten kam es 1968. Das eigentliche Mönchs- heide-Revier lag, durchsetzt von Moorgebieten und kleine- ren Wasserflächen sowie im Süden abgegrenzt durch den Finow-Kanal inmitten eines ge- schlossenen Waldgebietes von rund 10 km², dessen Ausläufer jedoch weit ins waldreiche Um- land reichten. Im engeren Hor- strevier mit einem Radius von In den Waldbestand der Mönchsheide waren an einigen Stellen Lichtun- gen und Schonungen eingestreut, in deren Umfeld die Falken vor allem im 1 km dominierten, durch Lich- zeitigen Frühjahr, wenn hochfliegende Zugvögel noch rar waren, im nied- tungen aufgelockerte Kiefern- rigen Pirschflug und vom Ansitz jagten. Zudem bildeten sich hier schnell bestände, die dann stellenweise Thermik-Aufwinde, die die Falken zügig in die Höhe trugen. Foto: Verfasser in Buchenwälder übergingen. 166
Greifvögel und Falknerei 2020 Wanderfalke über dem Kiefernforst kreisend. Foto: Verfasser In der Fischreiher-Kolonie der Mönchsheide boten sich für den Wanderfalken günstige Horstgelegenheiten. Der in der Mönchsheide ausgehorstete Wanderfalken- Foto: Verfasser terzel „Mönch“. Foto: J. Ebert 167
Greifvögel und Falknerei 2020 Wanderfalke mit Beute aus großer Höhe herabgleitend. Foto: T. Pröhl, www.fokus-natur.de Von 1971 bis 1980 (danach weilte ich länge- Die verbliebenen Einzelfalken hielten sich re Zeit als Entwicklungshelfer in Syrien) suchte zumeist auf Überhälter-Kiefern im westlichen ich, anfangs unter Führung von Otto Schnurre Umfeld der Reiherkolonie auf. Hier rupften sie das Gebiet im Frühjahr regelmäßig in der Hoff- auch ihre Beute. Die Nähe einer großen Lich- nung auf, daß es doch noch zu einer Brutan- tung war wichtig, weil die sich hier meist nach siedlung kommen würde. Im erstgenannten Jahr 9 Uhr bildenden Aufwinde sie zur Jagd in gro- war, was ein breites Beutespektrum belegte, ßer Höhe trugen. Die Rückkehr nach bis zu ei- noch ein Paar anwesend, danach nur noch Ein- ner Stunde blieb meist unbemerkt, es sei denn zelvögel, mal Terzel mal Weibchen (Einzelhei- beim Herabgleiten mit der Beute fühlten sie sich ten s. Baumgart 1985/86). Meine letzte Beob- etwa durch die Rotmilane belästigt. Dann mach- achtung eines Terzels datiert vom 05.04.1980 ten sie ärgerlich lahnend auf sich aufmerksam. (1979 war kein Falke zu finden gewesen). Pirschflüge über Brachflächen, entlang der Die Falken stellten sich üblicherweise mit Waldränder oder des Finow-Kanals sowie Jag- Beginn des Durchzuges nordischer Rot-, Sing- den aus Ansitzpositionen, wie sie wohl im zei- und Wachholderdrosseln ab Mitte März ein, die tigen Frühjahr zur Zeit des Drosseldurchzuges sich als ideale Beute für den Terzel im Balzver- üblich sind, konnte ich nur selten, so während lauf erwiesen. Um diese Zeit waren oft auch meiner letzten Beobachtung am 05.04.1980 noch zahlreiche Eichelhäher, wohl Durchzügler, beobachten. Später wurden fast alle Jagdflü- unterwegs. Die Anwesenheit der hier nur schwer ge durch Hochschweimen über dem Horstwald auffindbaren Falken verrieten dann zuerst Tau- eingeleitet und erfolgten vertikal ausgerichtet in benfedern am Horst eines Rotmilans, der sich großer Höhe in einem trichterfömig erweiterten als Beuteschmarotzer betätigte. Einzugsbereich. Wenn erfolgreich, glitten die 168
Greifvögel und Falknerei 2020 Mit Dr. Otto Schnurre im Wanderfalken-Revier in der Beuteliste der Wanderfalken aus der Mönchsheide. Er- Mönchsheide. Archiv Verfasser läuterungen s. Text. Aus Schnurre 1973b Falken zügig ohne nennenswerten Transportauf- brütenden Falken würden auf anliegenden Frei- wand zurück zu ihren Einständen an der Trich- flächen jagen. terbasis. Da sie nur für sich selbst sorgen muß- Besonders auffällig war der alljährliche Über- ten, genügte in der Regel ein täglicher Jagdflug. flug großer Kiebitz-Schwärme nach Abschluß ih- Diese Abläufe waren vordem wohl den res Brutgeschäftes ab Anfang Juni, die sie wohl meisten Beobachtern, so auch Otto Schnurre zu ihren Übersommerungsplätzen im Watten- entgangen. Sein Augenmerk galt vor allem in meer führten. Sie überquerten die Mönchshei- Uttendörferscher Tradition der Rupfungssuche. de in wenigen hundert Metern Höhe in Rich- Wo ich einzelne Federn fand, sammelte er oft tung NW und konnten so die Jungenaufzucht der eine volle Tasche. Zum Himmel blickte er kaum, Falken dereinst in der Endphase wohl in hohem und ging daher von einer überwiegend horizon- Maße absichern. Haustauben waren (s. nebenste- talen Jagdorientierung im Umfeld von wenig- hende Liste) jedoch die mit Abstand wichtigsten stens 7 km aus. So kam es (Baumgart 2015) Beutevögel, gefolgt von Star und Kiebitz. Die zu der bereits erwähnten, auf ihn zurückge- Drosseln gehen wie die Feldlerche und Turtel- henden, danach auch in die Standard-Literatur tauben auf Frühjahrsdurchzügler zurück, wur- übernommenen Fehleinschätzung, die im Wald den danach kaum noch nachgewiesen. Bei in 169
Greifvögel und Falknerei 2020 Blick von einem Feuerwachtturm auf das Wanderfalken-Revier in der Schorfheide bei Joachimsthal. Im Hinter- grund erkennt man den Werbellinsee. Foto: Verfasser einstelliger Zahl dazukommenden Gefiederten, die Terzel, diesen anzuschließen, wurden aber darunter Eichelhäher, Lachmöwe, Ringeltaube ignoriert. Als sich im Frühjahr 1980 Habichte sowie einige Spechte und die Waldschnepfen ansiedelten und rufend ihr Revier markierten, dürfte es sich um im Falkenrevier ansässige, zu- verschwand zumindest eines der beiden Paare. fällig erbeutete Arten gehandelt haben. Während der teilweise ganztägigen Revier- 3.3. Schorfheide bei Joachimsthal Aufenthalte glückten viele bemerkenswerte Dieses wegen seiner Abgelegenheit für mich Zusatzbeobachtungen. Während die Rotmila- ohne PKW nur schwer erreichbare Revier ne die Falken immer im Auge hatten, fiel der konnte ich erst nach dessen völliger Aufga- in der Reiher-Kolonie brütende Schwarzmi- be durch die Falken ab Ende der 1970er Jahre lan kaum auf. Er profitierte von dem, was die mehrfach unter Führung von Otto Manowsky Reiher an Fischen zu Boden fallen ließen. Ein besuchen. Es lag im östlichen Teil der Schorf- das Revier mit den Wanderfalken in manchen heide, deren Fläche zumeist mit etwa 400 km² Jahren teilender Wespenbussard zeigte sich ge- angegeben wird. Prinzipiell wies es, obwohl genüber den Falken äußerst aggressiv. Hatte er wesentlich ausgedehnter, die gleiche Stuktu- einen ausgemacht, attackierte er ihn so lange, rierung wie das in der Möchsheide auf. 1956 bis dieser seinen Einstand wechselte. waren noch zwei Wanderfalken-Paare ansässig Im Umfeld der Reiher-Kolonie waren auch (Rieck 1959). Die letzte erfolgreiche Brut fand zwei Baumfalken-Paare ansässig. Wenn diese auch hier 1968 statt und den einzigen Jung- nach ihrer Rückkehr aus dem Winterquartier vogel übernahm man in das Zuchtprojekt zur über der Mönchsheide mit ihren Balzflügen späteren Wiedereinbürgerung. Das letzte Paar begannen, versuchten sich vor allem allein- wurde 1970 verzeichnet. Wanderfalken habe stehende Wanderfalken-Weibchen, nicht aber ich hier zu dieser Zeit daher nie gesehen. Die 170
Greifvögel und Falknerei 2020 Wanderfalken als Baumbrüter in einem Seeadlerhorst in der Schorfheide. Fotos: T. Pröhl, www.fokus-natur.de 171
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Greifvögel und Falknerei 2020 Wanderfalken als Baumbrüter in einem Seeadlerhorst in der Schorfheide. Fotos: T. Pröhl, www.fokus-natur.de Fischadler, mit denen sie dereinst im Wechsel die insgesamt zwölf Jungfalken zum Ausflie- deren Horste bezogen, waren jedoch immer gen brachten und ein nicht zur Brut schreiten- präsent. Da auch Otto Schnurre dieses Gebiet des Paar (Manowsky et al. 2008). 2014 wurden nie besucht hat (er war durchweg auf öffentliche sieben Paare gezählt (Kirmse, pers. Mitt. 2015). Verkehrsmittel angewiesen), ist über die dama- Damit dürfte die Schorfheide wieder nahezu flä- lige Ernährung dieser Schorfheide-Falken wohl chendeckend in einer bisher nicht dokumentier- kaum etwas bekannt. ten Dichte besiedelt sein. Mit der projektbedingten Rückkehr der Nach der Wiederbesiedlung habe ich das Wanderfalken in die Wälder der Mark Bran- nahe Joachimsthal gelegene Revier einige we- denburg wurde genau dieses Revier bereits nige Male, so auch am 21.06.2006 besucht. Be- 2002 selektiv zuerst wieder besiedelt, obwohl obachtet wurde von einem wenige hundert Me- in unmittelbarer Umgebung keine Freilassun- ter vom Horst entfernten Feuerwachtturm. Die gen erfolgten. Das ist als eine Bestätigung der seit mehreren Tagen flüggen Jungfalken flogen Regressions-Expansionsregel zu werten (vgl. nach unserer Ankunft verspielt etwas im Horst- Schwertfeger 1968), wonach die geeignet- bereich umher und nutzten dann die schnell auf- sten Plätze (-Reviere) im Falle rückläufiger Be- kommende Thermik um in weniger als einer Mi- standsentwicklungen am längsten besetzt blei- nute aufschweimend in die Höhe zu streben und ben und bei Bestandserholungen zuerst wieder aus unserem Blickfeld zu entschwinden. Danach besetzt werden. war von ihnen über zwei Stunden bis zu unse- Im Jahre 2008 umfaßte hier die Baumbrü- rem Weggang nichts mehr zu bemerken – ein in terpopulation bereits wieder vier Brutpaare, den Waldrevieren nicht unübliches Geschehen. 173
Greifvögel und Falknerei 2020 Die besondere Qualität dieses im Osten der Felsbrüter-Population handelte. Doch das wich- Schorf heide gelegenen Reviers beruht wohl tigste Element dieses Wanderfalkenplatzes ist nicht nur darauf, daß hier durch Fischadler re- der rund 24 km² einnehmende Buchenwald der gelmäßig Hostplätze bereitgestellt werden. Hin- Stubnitz mit einer Fläche von etwa 5 x 5 km. zu kommt auch, daß es – weiträumig von Seen Die Beuteliste von Schnurre (1973a) zeigt (Werbellinsee, Grimnitzsee und den Döllnseen) weitgehende Übereinstimmung mit den wesent- eingeschlossen – auch an Sumpfgebiete und die lichen Positionen anderer „Waldwanderfalken“ Feldfluren grenzt, was eine hohe Überflugfre- der Niederungen. An der Spitze rangiert klar quenz potentieller Beutevögel wahrscheinlich die Haustaube gefolgt von Star, Lachmöwe und macht, die dabei zudem auf einer Strecke von Kiebitz. Bemerkenswert der relativ hohe Rin- etwa sechs km den Wald überqueren müssen. geltauben-Anteil. Eigentliche Seevögel, d. h. Die anderen Schorfheide-Reviere sind diesbe- Meerenten und Möwen zeigen keine klare Do- züglich offenbar, vor allem was die Überflugge- minanz, tendieren eher zu Gelegenheits-Beute. schehen anbelangt, weniger optimal. In diese Position rücken über 30 andere Vogel- arten, darunter auch eine Türkentaube, die mei- 3.4 Stubnitz auf Rügen sten von ihnen ohne Bezug zur Küstenzone. Das Wesen dieses Reviers wurde bisher meist Im Vergleich zu den Wanderfalken des Darß verkannt. Da die Falken in den zum Meer ab- (Schnurre 1956, 1958) fehlen Seeschwalben, stürzenden Kreidefelsen der Stubnitz brüteten, die dort offenbar beim Pendeln zwischen Küste drängte sich bei manchen die Frage auf, ob es und Boddengewässern über dem Darß-Wald ge- sich hier vielleicht um Vögel der skandinavischen schlagen wurden. Haustauben sind, gegenüber Der geschlossene Buchenwald der Stubnitz an der Ostküste der Halbinsel Jasmund auf Rügen aus der Sicht eines hoch anwartenden Wanderfalken. Er reicht rund 5 km ins Landesinnere. Hier wird der Falke trotz Felshorst-Bezug zum „Waldwanderfalken“. Foto: Klugschnacker, CC BY-SA 3.0. 174
Greifvögel und Falknerei 2020 Die glatten Kreidefelsen der Stubnitz (Rügen) weisen kaum Nischen und Erker auf. Hier bieten sich für den Wan- derfalken nur wenige Horstgelegenheiten, so daß teilweise in Höhlungen im Wurzelgeflecht hangnaher Buchen gebrütet wurde. Foto: Verfasser Rügen, wo sie mit 34,2 % an der Spitze standen, nur mit 16,5 % vertreten und rangieren noch hinter dem Star. Hier sind un- terschiedliche Zug- und Über- fluggewohnheiten potentieller Beutevögel wohl von Bedeu- tung, was aber hier nicht nä- her erörtert werden kann. Für eine Jagd der Falken entlang des Küstensaumes, die Schnur- re (1973a) vermutete, bietet die Beuteliste kaum Hinwei- se. Vielmehr spricht alles da- für, daß die meisten Beutetiere beim Überfliegen des Stubnitz- Waldes geschlagen wurden und über diesen eine Zugstraße von und nach Skandinavien führt. Auf der Beuteliste der Stubnitz-Wanderfalken rangieren Seevögel nur mehr Dafür spricht auch, daß die Fal- oder weniger als Zufallsbeute. Sie weist ihn eher als Waldwanderfalken ken nach dem Flüggewerden der aus. Erläuterungen s. Text. Aus Schnurre 1973a 175
Greifvögel und Falknerei 2020 Jungvögel landeinwärts in den Wäldern der beziehen. Das weltweit einmalige an dieser Le- Stubnitz verschwanden. Sie hier aufzufinden bensform ist, daß sie in einem Lebensraum ohne war Sache des Zufalls. vertikale Gliederung eine multifaktorielle Ein- Die schroffen, glatten Kreidefelsen boten heit bildet. Der Waldfaktor bietet zwar auch in nur in geringem Umfang Horstplätze, für die gebirgigen Landschaften jagdtaktische Vortei- Jagdausübung hatten sie wohl kaum Bedeutung. le. Doch, wie bereits aufgezeigt, stellt er in den Und so versetzte es Schnurre (pers. Mitt.) bei hier betrachteten bewaldeten Niederungen die einer gemeinsamen Begehung des Gebietes mit einzige jagdbegünstigende Umweltstruktur dar. Helmut Dost (1914–1971), dem damaligen Na- Nachfolgend soll das zusammenfassend turschutzbeauftragten des Rügen-Kreises, in nochmals betrachtet werden: Erstaunen, als dieser sich an der Hangoberkan- te auf den Bauch legte, unter diese griff und – Horstgebiet und sein Umfeld das Wanderfalken-Gelege in der Hand hielt. Wanderfalken der Niederungen beziehen in der In Ermangelung besserer Möglichkeiten brü- Regel größere Waldgebiete mit einem Radi- teten die Falken in einem Hohlraum zwischen us von 2–4 km inmitten möglichst vielfältig den Wurzeln der Buchen unmittelbar unter der gestalteter Landschaften (Wasserflächen und Hangoberkante. Feuchtgebiete sowie landwirtschaftlich genutz- te Flächen und Brachländereien), was eine hohe 4. Weitere Folgerungen Artenvielfalt und Bestandsdichte absichert. In Die Einführung des Begriffsbildes „Waldwan- ausgedehnteren Wäldern, wie der Schorfheide derfalken“ setzt gegenüber der bisherigen Ka- mit rund 400 km² werden Reviere dieser Grö- tegorisierung nach bezogenen Horstplätzen ver- ße unter mehreren Paaren aufgeteilt. Geringere änderte Prioritäten und trägt damit zugleich Reviergrößen, wie etwa bei Moritzburg bilden auch zu einem neuen Verständnis des Verhält- die Ausnahme. Dieses war aber deshalb für die nisses zwischen Lebensraum und Horstweise Falken attraktiv, weil es in hoher Frequenz von bei. Denn wie an vorstehenden Beispielen auf- Lachmöwen, seiner hier mit Abstand wichtig- gezeigt, sind die von der norddeutschen Tief- sten Beuteart, überflogen wurde. ebene über die Baltische Platte möglicherwei- Die Horste standen, weil das für den Beu- se bis zum Ural dereinst nahezu ausschließlich tetransport bedeutsam war, meist im Zentrum in Horsten anderer Großvogelarten brütenden dieser Waldbereiche. Zudem war hier auch das Wanderfalken nicht nur diesbezüglich, sondern Horstplatzangebot hoch, weil Fisch- und See- auch in anderen Grundzügen ihrer Existenz an adler sowie Reiher gleichfalls zentrale Lokali- das Leben in den Wäldern angepaßt. Sie formen sierungen bevorzugten, von denen aus sie eine so systemisch in sich geschlossen einen eigenen Vielzahl im Umfeld placierter Gewässer errei- Funktional-, Leistungs- bzw. Ökotyp. chen konnten. Heute, da Kolkraben wichtige Für ein Brüten an Felsen, ihre wohl ur- Horstlieferanten sind, mag das bisweilen anders sprüngliche Nistweise (Cade 2013), fehlen hier sein. Der Horst in der Stubnitz war randständig, entsprechende Voraussetzungen zumeist völ- da Felsstrukturen für die Falken immer attrak- lig. Sie stellen damit zugleich aber auch an die tiv sind und es hier auch zentral an geeigneten Strukturierung des unmittelbaren und erwei- Baumhorsten möglicherweise fehlte. Die das terten Horstumfeldes, das Beuteangebot, die Horsten auf Bäumen begründenden und festi- Jagdbedingungen u. a. spezifische Anforderun- genden Traditionen und Prägungsprozesse sind gen. Es sind keineswegs nur Wanderfalken, die vor allem im Rahmen des Wiederansiedlungs- irgendwo in einem Wald in Ermangelung al- Projektes weitgehen abgeklärt worden (Kirmse ternativer Möglichkeiten einen von anderen & Sömmer 2015), worauf noch zurückzukom- Großvögeln auf einem Baum errichteten Horst men ist. 176
Greifvögel und Falknerei 2020 Bedeutsam sind auch Frei- flächen im engeren Horstum- feld (Schonungen, Lichtungen u.a.) für die Jagd im Pirschflug und vom Ansitz während des zeitigen Frühjahrs vor Einset- zen des Zuges. Über ihnen ent- wickelt sich zudem bei Sonnen- einstrahlung schnell Thermik, die die Falken nahezu ohne Aufwand zur Jagd in die Höhe trägt. Sie ist eine oft überse- Schema des jagdlichen Aktionsraumes der Waldwanderfalken (übernom- hene Komponente der kom- men aus Kirmse 1987). Dieser erstreckt sich trichterförmig über den zentral plexen, insgesamt meist nur in einem ausgedehnten Waldgebiet gelegenen Horst bis auf wenigstens schwer erfaßbaren Revierqua- 3-4000 m Höhe. Hier können die anwartenden Falken ein Gebiet von bis lität, die primär von der Ernäh- zu 100km² kontrollieren und hochfliegende potentielle Beutevögel im rungssituation in Abhängigkeit Distanz-Verfolgungsflug (s. Baumgart 2011) in Sekundenschnelle stellen vom Beuteangebot in der Über- und schlagen. Auch schwere Beutevögel sind ohne größeren Aufwand flugsequenz und jagdbegünsti- herabgleitend in den Horstbereich zu transportieren. genden Umweltstrukturen so- wie vom Horstplatzangebot bestimmt wird Falken von ausgedehnten Waldgebieten. Der (Baumgart 1987). geringste Abstand zwischen Horst und Wald- rand belief sich auf 1,6 km. Dabei bediente er – Revierstrukturierung und Jagdweise sich Unterlagen des AKSAT (Arbeitskreis zum Der mit der Öffnung der vordem geschlossenen Schutz vom Aussterben bedrohter Tierarten). Wälder einhergehende Anstieg der Artenvielfalt Doch die in 3–4000 m Höhe, teilweise in und Bestandsdichte machte die nunmehr noch den Wolken anwartenden Falken dürften ein waldreiche Kulturlandschaft erst zum attrakti- Umfeld von 100 km² (10 x 10 km) kontrollieren. ven Lebens-und Jagdraum nicht nur für Wander- Hier ist es ihnen möglich, im Distanz-Verfol- falken (Schnurre 1921, Fischer 1977). Da die gungsflug mit bis zu 500 km/h jeden beliebi- Falken in einem sich trichterförmig nach oben gen Punkt in Sekundenschnelle zu erreichen, öffnenden Aktionsraum oft außerhalb unseres potentielle Beutevögel, von denen sie vordem Sichtbereiches jagen, wird die Erfassung ihrer oft kaum bemerkt wurden, zu stellen und nach diesbezüglichen Reviere in ihrer Flächenaus- zermürbenden Attacken bei dann allerdings re- dehnung deutlich erschwert. duzierter Geschwindigkeit (bis um 300 km/h) Erschlossen hatte sich mir das während einer zu schlagen (Baumgart 2011). Diese Szenari- Reihe von Beobachtungsgängen, zu denen mich en sind für Beobachter, die oft lediglich das en- Otto Schnurre in den 1970er Jahren zum letzten gere Horstumfeld im Auge haben, nur in Aus- seiner Wanderfalken-Plätze in die Mönchshei- nahmefällen zu erfassen, weshalb man diese de mitnahm. Kirmse (1987), der schon vorher Falken zumeist für Ansitz- und Pirschflugjäger von Jagdflügen über dem Horstbereich berichtet hält. Daß sich diese Jagden über weite Entfer- hatte (Kirmse 1970), griff diese Idee auf und be- nungen hinziehen können, ist auch daran zu er- legte anhand von 44 kartierten Wanderfalken- kennen, daß die Falken mit Beute oft aus völlig brutplätzen im Baumbrüterareal die gegenüber anderer Richtung zurückkommen, als sie ab- anderen Greifvögeln (Habicht, Wespen- und geflogen sind. Selbst schwere Beute, in größe- Mäusebussard) hochgradige Abhängigkeit des rer Höhe geschlagen, kann zügig herabgleitend 177
Greifvögel und Falknerei 2020 ohne Probleme in den unmittelbaren Horstbe- Feldlerchen und teilweise auch einigen Enten- reich transportiert werden. Das verringert auch arten. Die meisten anderen lassen sich als Zu- die Zugriffsmöglichkeiten für Beuteschmarotzer fallsbeute einstufen, sind aber für Terzel zu Be- (Milane, Bussarde u.a.). ginn des Brutgeschäftes als „Brautgeschenke“ Diese Verhältnisse auf den Bodenbereich zur Paarungseinleitung trotzdem sehr wichtig, zu übertragen ist schwierig und nur orientie- besonders wenn das Angebot an durchziehen- rend möglich. Siedlungsdichte-Untersuchungen den Drosseln gering ausfällt. ergaben teilweise Entfernungen zwischen be- Als lokal kontinuierlich präsente Arten bil- nachbarten Horsten von nur etwa 1 km (Glutz den Haustauben, Stare und teilweise auch Lach- et al. 1971). Für das zur Jagd benutzte Umfeld möwen meist den Grundstock. Wichtig ist aber, sind Entfernungen von 5–6 km (Bernhard daß Migranten, die zudem oft sehr hoch (und 1941), 7 km (Schnurre 1973), 10–12 km (Fi- damit gut erjagbar) fliegen, zusätzlich erwach- scher 1977) sowie 15 km und mehr (Glutz et sende Engpässe überbrücken. Den Abschluß al. 1971) angegeben. Dabei werden im niederen bildet im Juni der Zwischenzug der Kiebitze. Pirschflug oder von Ansitzwarten meist nur Damit dürfte das Beuteangebot der Waldfal- Kleinvögel oder größere Arten zum Kröpfen am ken-Population dereinst sowohl quantitativ und Ort des Erbeutens geschlagen, vor allem dann, größenmäßig ausgeglichen sowie auch kontinu- wenn im Revier hoch überfliegende Vögel vor- ierlich abgesichert gewesen sein. Reduziert sich übergehend rar sind. die Überflugfrequenz im Horstgebiet, kann die Bei in größerer Entfernung vom Horst ge- Jagd im bodennahen Raum auf Dauer wohl nur schlagenen Beutevögeln ergeben sich in Ab- unter besonderen Bedingungen das Auskommen hängigkeit von deren Gewicht oft Probleme. absichern. So verwunderte es Langgemach et Nicht alle Terzel können erbeutete Tauben (300– al. (1997), daß die Falken in den vogelarm er- 400 g) im Horizontalflug über größere Strecken scheinenden Kiefernwaldungen trotzdem ein transportieren. Der Terzel am Berliner Alexan- reichhaltiges Nahrungsangebot fanden, was Be- derplatz vermochte nicht einmal einen im Park- obachtungsdefizite nahelegt. bereich frisch geschlagenen Eichelhäher (160 g) Die Ursache für die Aufgabe einer Reihe von im Aufwärtsflug zum Horst auf dem Turm der Wanderfalken-Brutplätzen im Berliner Raum Marienkirche zu tragen, mußte ihn vom Weib- nach dem 1. Weltkrieg sah Schnurre (1950) in chen abholen lassen. Weibchen transportieren der rückläufigen Haltung von Haustauben, was Haustauben wie auch Rebhühner (360 g) über er an deren abnehmender Präsenz bei Rupfungs- größere Entfernungen mühelos. Hilfreich ist es kontrollen belegen konnte. Davon war anfangs für beutetragende Wanderfalken, wenn sie in auch der Habicht betroffen, der aber eher Kom- Aufwinde geraten, sich aufschweimend in die pensationsmöglichkeiten fand. Die unveränderte Höhe tragen lassen und dann über oft größere Bedeutung der Haustauben für die Ernährung Entfernungen mit der Beute zum Horst hinab- märkischer Wanderfalken ist auch daran zu erse- gleiten können. hen, daß ihr Anteil auf der Beuteliste des ersten 1996 erfolgreich brütenden Wanderfalkenpaares – Beutevögel und Leistungsprofil der nach Langgemach (1998) bei 49 % (Biomasse- Waldfalken Anteil 84 %) und damit sogar deutlich über dem Obwohl das Beutespektrum der Waldfalken sehr früherer Untersuchungen lag. weit gefächert ist, erlangt nur eine kleine Zahl Rebhühner, nach dem 2. Weltkrieg in den von Vogelarten für ihre Existenz essentielle Be- Feldfluren der Niederungen noch nahezu all- deutung. Dabei rangiert die Haustaube zumeist gegenwärtig, bildeten im Winter für die Fal- mit Abstand an der Spitze, gefolgt von Star, ken eine wichtige Nahrungskomponente (vgl. Möwen und Seeschwalben sowie Kiebitzen, Baumgart 1985/86). Die Kollektivierung der 178
Greifvögel und Falknerei 2020 Aufgescheuchte, geradlinig flüchtende Rebhühner ver- Prahlerisch auftretenden Falknern sagte man nach, sie mag der Wanderfalke in der offenen Feldflur von ex- beizten Kiebitze, weil diese auf Grund ihrer Wendigkeit ponierten Ansitzwarten startend im drei- bis viermal in Bodennähe vom Wanderfalken kaum geschlagen schnelleren Verfolgungsflug mit ca. 150-240 km/h werden können. Während des Zuges sind sie ihm aber leicht zu erbeuten. Dereinst im Winterhalbjahr eine über Waldgebieten geradezu hilflos ausgeliefert und wichtige Beute, sind die Vorkommen unseres Rebhuh- wurden so dereinst zu einem wichtigen Posten auf sei- nes heute nahezu erloschen und diesbezüglich bedeu- ner Beuteliste. Zeichnung aus Bäuerle 1950 tungslos. Zeichnung aus Bäuerle 1949 Landwirtschaft der DDR mit ihren fortschrei- Waldbereich ins Freiland oder auf Wasserflä- tenden industriellen Anbaumethoden nahm chen zu entkommen. Hier stellt sich die Frage, ihnen ab Beginn der 1960er Jahre im Osten ob sich das gegenüber den im Mittelgebirgsraum Deutschlands zunehmend die Existenzgrundla- eher vertikal jagenden Falken auch morpholo- ge. Das hatte gravierende Folgen für die „Win- gisch niederschlägt. terfalken“, ohne daß das bisher thematisiert wor- Gesicherte Angaben hierfür gibt es aber den wäre. Vor allem stellt sich die Frage, ob und nicht und an den letzten von mir beobachteten wie die Falken den Wegfall dieser wichtigen Falken stellte ich diesbezüglich nichts Auffäl- Winterbeute zu kompensieren vermochten. liges fest, was mit den Ausführungen Bedna- Die Jagdweise der Waldwanderfalken weist reks (2019) konform geht. Daß Künstler hier gewisse Besonderheiten auf: hohes Anwarten, mit ihrem Sinn für Formen und Proportionen Steilstoß, dann in die Horizontale übergehende oft mehr sehen, zeigt Kleinschmidt (1933/37) Verfolgung der nicht vertikal entweichenden an- auf, der das osteologisch schlankere Format sei- gejagten Beutevögel, die bestrebt sind, aus dem ner Unterart F. p. rhenanus durch Renz Waller 179
Greifvögel und Falknerei 2020 Äußerlich variieren unsere Wanderfalken zwischen im Phänotyp kurzen und langen, mehr gestreckten Exemplaren, was auch Unterschiede in den Flugeigenschaften nahelegt (s. Text). Ob diesbezüglich aber eine Differenzierung zwischen den Falken der Mittel- und Hochgebirge einerseits und den Waldwanderfalken andererseits bestand, ist heute aber nicht mehr ermittelbar. Zeichnung aus Bäuerle 1949 bestätigt bekam. Und Bäuerle (1949) bildet ei- – Der historische Rahmen der nen aus Moritzburg stammenden schmal- und Waldfalken-Entwicklung langflügeligen, als Verfolgungsjäger schnellen Allgemein akzeptiert scheint, daß das Vordrin- und ausdauernden Falkenterzel ab. Das verdient gen des Wanderfalken in die Wälder jüngeren Interesse, ohne denkbare, zu weitgehende Ver- Datums ist. Doch nacheiszeitlich erscheint zu allgemeinerungen zu stützen. Er bildet zudem weit gespannt. Vielmehr muß an einen Zeitraum auch einen aus Münster stammenden Falken im Anschluß an den Spätfeudalismus gedacht vom Langen Typ ab. Doch Belege dafür, daß werden, in dem die menschliche Siedlungsdich- die „Langen“, in Analogie zu altweltlichen Tun- te, vor allem nach dem katastrophalen Bevölke- drafalken (calidus) gegenüber den „Kurzen“ in rungsschwund im 30jährigen Krieg (1618–1648) Waldrevieren stärker vertreten gewesen wären, in Mitteleuropa wieder anstieg. Die Wälder wur- lassen sich nicht erbringen, obwohl das für sie, den zunehmend zur land- und forstwirtschaft- beim anschließenden flachen Nachsetzen über lichen Nutzung erschlossen, was auch zu einer dem Baumkronendach von Vorteil sein könnte. Bereicherung der Avifauna (s. o.) und zugleich, 180
Greifvögel und Falknerei 2020 insbesondere durch Haustauben, des Beute Brutareals ab und nutzt Felsen, wohl ihre angebotes führte. Daß diese Entwicklung, wie urspüngliche Horstweise (Cade 2013), und teilweise betont, von Bodenbrütern ausging, ist Gebäude als Brutplätze. Der umgekehrte Fall denkbar, die ja bisweilen nach langen Wintern ist äußerst selten. spontan auf Baumhorste von Großvögeln aus- – Der zur Erstbrut gewählte Horst-Typ wird weichen (Cade 2013), deren Angebot gleich- dann zumeist lebenslang beibehalten. falls stieg. Mit dieser Horstweise konnten sie sich, einmal dazu übergegangen in dem riesi- Letzteres führte bei dem neu angesiedelten gen Waldareal gut abgeschottet, mit tausenden Wanderfalkenpaar am Berliner Alexanderplatz Paaren als eigenständige Population und Le- zu Komplikationen. Anfangs wurde ein Krä- bensform etablieren. hennest auf der Marienkirche bezogen, wo ein Obwohl außerhalb der Grenzen dieses Are- Bruterfolg ausblieb. Doch auch im Folgejahr als zu den Ausnahmen gehörend, kommen wurde wieder ein Krähennest auf dem Dom Baumbruten wohl, induziert durch ein reichli- bezogen, obwohl an der Marienkirche komfor- ches lokales Nahrungsangebot hin und wieder table Brutkästen hingen (Müller 1989). Einer spontan vor, ohne daß das, wie auch im Welt- davon wurde erst bezogen, nachdem es offenbar maßstab (vgl. Cade 2013), grundlegende Fol- zu einem Wechsel des Weibchen gekommen war gen hätte. In den ausgedehnten Forsten waren (Baumgart 1990). sie dagegen weitgehend von Falken mit anderen Bruttraditionen isoliert unter sich. Durch die Erfahrungen des Wiederansied- lungs-Projektes zwischen 1990 und 2010 ge- wann man nun auch plausible Vorstellungen für die Entwicklung der sich von der norddeutschen Tiefebene weit nach Osten ausdehnenden Baum- brüterpopulation. Dabei wurden 355 Falken in- dividuell beringt und konnten so über Jahre in ihrer Entwicklung verfolgt werden (Kleinstäu- ber et al. 2009, Kleinstäuber 2013). Zu den da- bei gewonnenen grundlegenden Erkenntnissen zählten (vgl. Kirmse 2008, Sömmer, P. & W. Kirmse 2013, Kirmse & Sömmer 2015): – Die Entscheidung über die spätere Horst- platz-Präferenz fällt in einer Prägungsphase, die mit der aktiven Orientierung nach dem 14. Lebenstag einsetzt und sich bis nach dem Ausfliegen festigt. – Rund 60 % der aus Baumhorsten ausgefloge- nen Falken brüten wieder auf Baumhorsten. – Dadurch, daß Terzel sich in geringerem Ab- stand (im Mittel 26,5 km) vom Ort ihres Aus- fliegens ansiedeln als Weibchen (114 km), ist der Zusammenhalt der Population gewähr- An der Marienkirche im Berliner Stadtzentrum (Müller leistet. 1989) kam es Ende der 1980er Jahre im Prozeß der zu- – Trotzdem wandert ein nicht unerhebli- nehmenden Verstädterung des Wanderfalken zu ersten cher Teil an Falken trotz der Isolation ihres erfolgreichen Bruten. Foto: Verfasser 181
Greifvögel und Falknerei 2020 Australische Ornithologen sehen es teil- – Die Falken brüten nicht nur an Gebäuden, weise als normal an, wenn im gleichen Revier sondern wählen exponierte unter ihnen zwischen Baum- und Felshorsten gewechselt auch als Ansitzwarten zur Jagd für ihre eher wird, sind aber nicht sicher, ob das nicht doch flach-horizontal als vertikal ausgerichteten mit einem Wechsel eines Brutpartners in Ver- Jagdflüge über oft mehr als einen Kilome- bindung steht. Baumhorste bzw. Kunsthorste ter. Sie nutzen dabei geschickt Deckun- auf Bäumen werden in vielen Teilen Australi- gen und das Überraschungsmoment. Die ens vom Falken angenommen (Birks 1996). In- Grundzüge dieser Jagdweise stellt Sömmer dem heute auch bei uns in ausgehnten Wäldern (1989) am Beispiel Berliner Wanderfalken oft hohe Bauwerke (Feuerwachttürme, Maste, überzeugend dar. Mir sind sie aus San Fran- Schornsteine etc.) errichtet werden, die Alter- cisco (Golden Gate), New York und Boston nativen zu Baumhorsten bieten können, er- sowie von Florida (San Antonio und Saraso- scheinen die Möglichkeiten für den Erhalt der ta) und den Niagara-Wasserfällen bekannt. in „Reinkultur“ auf Bäumen horstenden Fal- – Als jagdbegünstigende Umweltstruktur ken lokal ohnehin eingeschränkt. Zudem wird fungieren nicht mehr Wälder, sondern aus- dadurch die Isolation zwischen beiden Horst- gedehnte Stadtzonen und Urbanbereiche. weisen verwischt, indem es in der vordem von – Von diesen, aber auch Hochbauten aus- Wanderfalken-Bruten freien streifenförmigen gehende Beleuchtungseffekte ermöglichen Zone zu Bauwerksansiedlungen kommt. den Falken sogar die Jagd auf Nachtzieher, Wenn die Herausbildung der in Wäldern der was bei den Falken am Berliner Fernseh- Niederungen auf Bäumen brütenden Wander- turm überzeugend belegt wurde. Auch die falken, deren Vorkommen zeitweise erloschen, Jungen können nachts gefüttert werden. durch ein aufwändig spektakuläres Projekt um – Da im Urbanbereich zumeist zu allen Jah- die Jahrtausendwende wiederbelebt, auf wohl reszeiten ein ausgewogenes Beuteangebot nicht länger als gut 300 Jahre zurückdatiert vorliegt, sind die City-Wanderfalken in der wird, mag das manchem zu kurz erscheinen. Regel Standvögel. Doch hier hilft ein Hinweis auf die Entwick- lung des Wanderfalken als zumeist urbaner Wald- und City-Wanderfalken durchlaufen da- Gebäudebrüter weiter. Mebs (1969) stellte erst- bei, bei ihrer Ableitung von Felsbrütern, keine mals die bis dahin bekannten Gebäudebruten grundlegende evolutive Sonderanpassung. Al- des Wanderfalken zusammen. Er kam auf rund les, was sie zeigen, ist in ihrem Leistungspo- ein Dutzend. Um die Jahrtausendwende mel- tential bereits angelegt, erfährt lediglich eine dete man dann schon vielerorts, daß die Zahl andere Akzentuierung. Weitere relativ klar der Gebäudebrüter die der Felsbrüter überstie- umrissene Lebensformen zeigen die Falken gen habe und die „City-Wanderfalken“ inzwi- im Hochgebirge, an Küsten und auf Inseln, in schen zu den fest integrierten Teilen urbaner der Tundra sowie in Halbwüsten oder gar Wü- Avifaunen gehören. Und Mebs (2015) bringt sten, sofern sich hier nicht andere Arten wie wiederum eine Übersicht darüber, welch viel- Wüsten-und Silberfalke ( pelegrinoides oder fältige Horststandorte hier inzwischen gewählt hypoleucos) etabliert haben. Insgesamt zeigt wurden. sich, daß Wanderfalken dort, wo für sie neue Damit entwickelten die Falken in gerade Nahrungsangebote erwachsen, zur dauerhaf- einmal einem halben Jahrhundert eine eigene ten Etablierung zumindest ansatzweise neue Lebensform, deren Charakteristik über den Horstweisen entwickeln können. Bezug von Nistplätzen an Gebäuden und an- Abschließend nochmals auf die Namens- deren Technik-Konstrukten wie folgt weit hin- gebung zurückkommend, läßt sich feststel- ausgeht: len, daß nicht die Horstweise, sondern die 182
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