IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION - Praxisbeispiele zu verhältnispräventiven Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention von Übergewicht ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION Praxisbeispiele zu verhältnispräventiven Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen 79
IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION Praxisbeispiele zu verhältnispräventiven Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen Berlin: GVG 2018
VORWORT förderlichen Angeboten besser zu gestalten. Es gingen fast 60 Beiträge aus 13 verschiedenen Bundesländern ein, ein Komitee aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Fachkräften hat aus diesen ausgewählt und die 37 Projekte identifiziert, die hier versammelt sind. Die Projekte wurden als Teil einer Abschlussveranstaltung des Ideenwettbewerbs präsentiert. Wir möchten diese Tagung aber weniger als Zielpunkt denn als Auftakt für das Netzwerk verstehen, zu dem die aus dem Wettbewerb hervorgegangene Praxisdatenbank den Grundstein bildet. Mit der Vernetzung der Projektmitarbeitenden möchten Dr. Sven-Frederik Balders wir einen Beitrag zur strukturierten Überwindung des oft beklagten „Inseldaseins“ der einzelnen Akteure und Gesundheit und körperliches Wohlbefinden sind hohe Aktionen leisten; mit der öffentlichen Darstellung der Güter für alle Menschen, ihre Einschränkung oder Absenz erfolgreichen Projekte in gedruckter und digitaler Form belastet den Einzelnen und schadet der Gesellschaft. werden zudem wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse Wichtige Grundlagen für das Gesundsein und Gesundblei- allen Interessierten nachhaltig zur Verfügung gestellt. Des- ben werden im frühen Lebensverlauf gelegt. Übergewicht halb ist das Anerkennung geleisteter Arbeit, vor allem aber und Mangel an Bewegung führen zu gesundheitlichen – verbunden mit der Aufforderung zum Nachmachen! und sozialen – Einschränkungen bereits im Kindesalter. Die GVG möchte damit Knotenpunkt und Ansprechpart- Die Effekte verstetigen und verfestigen sich oft, und es ner auch in dieser wichtigen Frage sein – ganz im Sinne fällt schwer, das eigene gesundheitsbezogene Verhalten ihrer Tradition. Gegründet im Jahr 1947, versteht sich die aus individuellem Antrieb zu verändern. Das gilt vor allem, GVG bis zum heutigen Tag als Konsensplattform, die alle wenn die Umgebung gesundheitsbewusstes Handeln nicht wesentlichen Institutionen der sozialen Sicherheit und des unterstützt oder sogar erschwert. Gesundheitswesens in Deutschland zusammenführt. Unser Unter dem Stichwort der „Verhältnisprävention“ werden Ziel ist es, gemeinsam mit unseren Mitgliedern die Systeme diese Umwelten als Bedingungszusammenhänge gelin- sozialer Sicherung aktiv zu gestalten. Hierbei spielt das gender Prävention in den Blick genommen: Nur wenn die Thema Prävention schon länger eine zentrale Rolle. Die Verhältnisse stimmen, können wir darauf hoffen, dass sich Geschäftsstelle des Kooperationsverbundes gesundheits- Verhalten in signifikanter Weise ändert. Gerade Kinder und ziele.de beispielsweise ist bei der GVG angesiedelt; in den Jugendliche können hiervon profitieren, ihnen gegenüber vergangenen Jahren war die GVG in vielfältiger Weise haben wir eine besondere gesellschaftliche Verantwor- daran beteiligt, den nationalen Gesundheitszieleprozess tung. voranzubringen. In dieser Publikation werden Ergebnisse vorgestellt, die Mit der vorliegenden Publikation hoffen wir, ein weiteres aus dem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Element zu einer belastbaren und sich ständig ergänzen- im Rahmen des Förderschwerpunkts „Prävention von den Präventionskette beisteuern zu können. Kinderübergewicht“ geförderten und von der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) Dr. Sven-Frederik Balders durchgeführten „Ideenwettbewerb Verhältnisprävention“ hervorgegangen sind. Im Mittelpunkt steht die „gute Geschäftsführer Praxis“ – die zahlreichen Projekte, die sich in so vielfältiger Gesellschaft für Versicherungswissenschaft Weise dafür stark machen, Lebenswelten mit gesundheits- und -gestaltung e.V.
INHALT VORWORT Dr. Sven-Frederik Balders _________________ _____________________________________________ _ _ _ _ 5 EINLEITUNG Maria Zens und Jürgen Dolle ____________________________________________________________ _ _ _ _11 FACHVORTRAG: VERHÄLTNISPRÄVENTION VON ÜBERGEWICHT BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN – EVIDENZBASIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG Teil 1: Zur Evidenzlage verhältnispräventiver Ansätze Prof. Dr. Jens Bucksch ________________________________________________________________ _ _ _ _ 19 Teil 2: Evidenz und Projektpraxis – Das Beispiel der Gemeinde Michelfeld in Baden-Württemberg Prof. Dr. Freia De Bock ___________________ _____________________________________________ _ _ _ _21 ROUNDTABLE-DISKUSSION: ERGEBNISSE UND AUSBLICK _______________________________________ _ _ _ _ _25 DIE PROJEKTE _ ____________________________________________________________________ _ _ _ _29 _ Fit4future _ _ _ _ ____________________________________________________________________ _ _ _ _30 Fitte Teens _ _ _ ____________________________________________________________________ _ _ _ _ 31 Gesundekids – macht die Kids fit ____________ ____________________________________________ _ _ _ _ 32 _ Jolinchen Kids – Fit und gesund in der Kita __________________________________________________ _ _ _ 33 Klasse in Sport – Initiative für täglichen Schulsport ____________________________________________ _ _ _ _34 _ Let’s go – Familien, Kids und Kitas ________________________________________________________ _ _ 35 Kinder unsere Zukunft, Bitz bewegt sich _______ _____________________________________________ _ _ _ _36 Kita-Ernährungsfachbereich mit eigenem Konzept _____________________________________________ _ _ _ _ 37 _ MINIFIT – das Gesunde Netzwerk für Kinder _________________________________________________ _ _ _ 38
Bewegte Kita – Wachsen mit Bewegung ______________________________________________________ _ _ 39 Kooperation KiSS und Kinderbewegungshaus Sportissimo _________________________________________ _ _ _40 Obst, Gemüse und Kräuter selbst anbauen ___________________________________________________ _ _ _ 41 „Netzwerk Gesundheit“ im Bremer Westen _______ _____________________________________________ _ _ 42 _ Gärten für Kinder _______________________ _____________________________________________ _ _ _43 _ KLASSE KLASSE – das Präventionsspiel für die Grundschule ________________________________________ _ _ _44 Schulkids in Bewegung (SKIB) – meine Schule, mein Verein _________________________________________ _ _ _45_ Wir werden FIT und alle machen mit ________________________________________________________ _ _ _46_ Wetteraukreis is(s)t gut ___________________ _____________________________________________ _ _ _47 Gesunder Vormittag ______________________ ____________________________________________ _ _ 48 iss dich fit! _ _ _ _ _ _ ___________________________________________________________________ _ _ 49 fit für pisa + Mehr Bewegung in der Schule ____________________________________________________ _ _ _50 Gesunde Stunde _ _ ___________________________________________________________________ _ _ 51 Initiative Trink!Wasser ____________________ _____________________________________________ _ _ _52_ Mehr Freiraum für Kinder. Ein Gewinn für alle! ____ _____________________________________________ _ _ _53_ Iss ok in Dortmund ______________________ _____________________________________________ _ _ 54 SMS. Sei schlau. Mach mit. Sei fit. _________________________________________________________ _ _ _ _55_ „BaukastEN – Gesunde Kita“ im gesamten Ennepe-Ruhr-Kreis ______________________________________ _ _ 56 Ernährung und Bewegung im Offenen Ganztag im Primarbereich _____________________________________ _ _ _57_ Sport und gesunde Ernährung im Förderkonzept LERNEN INDIVIDUELL (LEIV) ____________________________ _ _ _58_
Fitnetz – das gesunde Netzwerk _________________________________________________________ _ _ _ _59 _ Qualitätssiegel Bewegungskita Rheinland-Pfalz _______________________________________________ _ _ _ _60_ Regional, Saisonal und Gesund _____________ _____________________________________________ _ _ _ _ 61 Bewegung im Alltag, gesunde Ernährung in der Kita ____________________________________________ _ _ _ _62 _ Ernährung, Bewegung, Lebenskompetenz ___________________________________________________ _ _ _ _63 _ Escapädische Zusatzqualifikation für Fachkräfte __ _____________________________________________ _ _ _ 64 __ Grünau bewegt sich __________________________________________________________________ _ _ _ 65 Leibeslust – Lebenslust. Ernährungsbildung und Prävention von Essstörungen in Kita und Schule _____________ _ _ _ _66 PROJEKTINDEX _ _ ___________________________________________________________________ _ _ _ 67 BILDNACHWEIS _ _ ___________________________________________________________________ _ _ _ 69 IMPRESSUM _ _ _ _______________________ _____________________________________________ _ _ _ 70
EINLEITUNG Maria Zens* und Jürgen Dolle** 1. DER ANSATZ: MIT VERHÄLTNISPRÄVENTION GESUND- oder Verein, sozialräumlich auf Wohnquartiere oder HEITSFÖRDERLICHE STRUKTUREN SCHAFFEN Stadtteile, gruppenbezogen auf Familien, Altersgruppen etc. (Loss & Leitzmann, 2011). Das heißt nicht, dass die Es ist – weltweit – Konsens, dass der wünschenswerte Mikro-Ebene – das Individuum – und die Makro-Ebene – Zustand „Gesundheit“ sowohl dem Individuum als auch die Gesamtgesellschaft mit ihren politischen, kulturell- der Gesellschaft nützt und die Lebensverhältnisse der normativen und sozialen Strukturen – unwichtig wären. Menschen zurückwirken auf ihre gesundheitliche Verfas- Im Gegenteil: Gesundheit kann letztlich nur beim Indi- sung. Die Ermöglichung von Gesundheit ist deshalb eine viduum verbessert werden und gesetzliche Vorgaben gesellschaftliche Aufgabe und sollte nicht allein in den und Gesundheitssysteme bestimmen den Rahmen. Die Verantwortungsbereich des Einzelnen gestellt werden. Rahmenbedingungen, die solche Maßnahmen stützen – Gesundheit ist auch nicht nur als Folge von kurativen wie das Präventionsgesetz und öffentliche Mittel, die für Prozessen – als wiederhergestellter Zustand nach Heilung Maßnahmen bereitgestellt werden – oder ihrem Erfolg von Krankheit – zu verstehen, sondern als erwünschtes entgegenstehen – wie beispielsweise die Flut ungesunder Ergebnis von Krankheitsvermeidung und Förderung posi- ,Kinderlebensmittel‘, die aggressiv beworben werden – tiver Umstände und Verhaltensweisen. Manifest wird diese dürfen in der Gesamtperspektive nicht außer Acht ge- präventionsorientierte Position in der Ottawa-Charta lassen werden. Es heißt aber, dass die konkreten Interven- der World Health Organization zur Gesundheitsförderung tionen auf die mittlere Ebene mit Institutionen, sozialen 1986 (WHO, 1986) und auch im „Präventionsgesetz“ Gruppen, Strukturen und Infrastrukturen fokussieren. (PrävG) vom 25. Juli 2015. Damit verbunden ist die Annahme, dass hier Wirkungen erzielt werden können, die über die eher geringen Effekte Primärprävention, Verhältnisprävention, Arbeit im Setting hinausgehen, die Appelle an das individuelle Gesund- heitsverhalten nachweislich haben. Die auf ein gesamtes Der Gedanke der Primärprävention, also die Vermeidung Setting oder die Gruppe gerichteten Angebote können von Krankheiten durch die Schaffung gesundheitsbegüns- spielerischer und interaktiver sein, was insbesondere für tigender Umstände und die Unterstützung gesundheits- die Ansprache von Kindern und Jugendlichen hilfreich ist; bewusster Lebensstile, ist deshalb ein Kernanliegen vieler zudem können motivationshemmende Stigmatisierungen Public Health-Maßnahmen (Wright, 2006; Rosenbrock, so vermieden werden. Darüber hinaus ist Verhältnispräven- 2004; Rosenbrock, 2008; Zeeb, Ahrens, & Pigeot, 2011). tion auch unter den Gesichtspunkten Ökonomie und Ansätze der Verhältnisprävention führen viele dieser Ele- Effizienz sinnvoll, da viele Menschen gleichzeitig erreicht mente zusammen: als Fokus auf Gesundheit (und weniger werden können. auf Krankheit), als Fokus auf Strukturen (und weniger auf das Individuum), als Fokus auf die positive Gestaltung Gesundheitliche Ungleichheit, Schließung von „health gaps“ der direkten Lebensumwelt (und weniger auf Appelle und Erziehung zur „Besserung“). Hier zeigt sich die Nähe zum Verhältnisprävention und Setting-Arbeit basieren auf der seit den 1980er Jahren stark vertretenen Setting-Ansatz Annahme, dass Gesundheit und gesellschaftliche Lage in (Bauch, 2002; Wright, 2006; Engelmann & Halkow, 2008), einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Auch entwi- der, wenn auch nicht deckungsgleich mit dem Konzept ckelte Industrienationen sehen sich Herausforderungen der Verhältnisprävention, doch große Schnittmengen mit gegenüber, die unter dem Stichwort „gesundheitliche diesem aufweist. Ungleichheit“ (auch: health inequalities) Auftrag an die Politik und Gegenstand von Forschung (Wilkinson & Mar- Verhältnisprävention orientiert sich vor allem auf die mot, 2003; Bauer, Bittlingmayer, & Richter, 2008; Marmot, Meso-Ebene der Gesellschaft, auf Institutionen wie Schule 2005) sind. Hierzu gehört zum Beispiel die Einsicht, dass * GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und freie Autorin. ** Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG) e.V., Leiter Sozialpolitik. IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG 11
es auch in wohlhabenden Gesellschaften mit gut ausge- und auch der politisch-normative Aspekt, unter dem bauten Systemen sozialer Sicherung vulnerable Gruppen gesundheitliche Chancengleichheit eine Gerechtigkeits- mit eingeschränktem Zugang zu gesundheitsbezogenen frage ist und „health gaps“ (Murray, Mathers, Salomon, Angeboten oder zu relevantem Wissen gibt. & Lopez, 2002) möglichst zu schließen sind, hängen letzt- lich davon ab, welche Wirkungswege hier angenommen Dabei scheint zwar unbestritten, dass soziale Lebens werden. bedingungen die Erkrankungswahrscheinlichkeit und Mortalität beeinflussen, die Frage, wie dies genau Evidenz, Evaluation, Austausch von „Theorie und Praxis“ geschieht und über welche Mechanismen zum Beispiel soziale Benachteiligung in gesundheitliche Belastung Für die Auswahl und Ausgestaltung von geeigneten transformiert wird, wird in der Medizinsoziologie in ver- Maßnahmen vor Ort ist einerseits genaueres Wissen nötig, schiedenen Erklärungsansätzen diskutiert ([Einleitung andererseits kann dieses nur mit Blick auf die Praxis gene- der Herausgeber] Bauer, Bittlingmayer, & Richter, 2008). riert werden. Welches die ,richtigen‘ Wege und Maßnah- men zur Gesundheitsförderung sind, auf welcher Ebene Die Ansätze hierzu zeigen ein ganzes Geflecht von Ein angesetzt werden sollte, was wirksam ist, was effizient flussfaktoren zwischen Lebensstil und sozialer Lage. Je und wer die geeigneten Akteure und Zielgruppen sind, nach Erklärungsmodell werden unterschiedliche Schwer- wird deshalb in zahlreichen Programmen und Projekten punkte gesetzt, zum Beispiel auf die ökonomischen erprobt und ist Gegenstand der interdisziplinären Erfor- Ressourcen, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen, auf schung, von Studien und Evaluationen. soziokulturelle Faktoren oder auch das Bewältigungs verhalten angesichts von Belastungen im Alltag oder Zugleich drängen die praktischen Probleme vor Ort auf krisenhaften Ereignissen. So wissen wir, dass die ökono- Lösung – oft ohne dass hinreichende personelle und mische Lage das Gesundheitsverhalten und die Versor- finanzielle Ressourcen oder nutzbare Infrastrukturen gung beeinflusst (Weyers, Dragano, Richter, & Bosma, vorhanden wären und ohne die Zeit, vor dem notwendigen 2010; Elkeles, 2008), insbesondere auch mit Bezug auf die Handeln einen theoretischen Überbau desselben Altersgruppen, um die es hier geht (Richter, Hurrelmann, zu entwickeln. Klocke, Melzer, & Ravens-Sieberer, 2008). Lampert und Kurth (2007) haben das mit Daten des Kinder- und Jugend- Die Beteiligten stehen vor dem Dilemma, den Herausfor- gesundheitssurveys (KiGGS) des Robert Koch-Instituts derungen gesundheitlicher Ungleichheit jetzt und vor Ort nachgewiesen. Mit dem KiGGS steht insgesamt eine valide begegnen zu wollen, zugleich aber wenig echte Evidenz Datenbasis zur Verfügung, die detaillierte Beschreibungen über die Wirksamkeit von verhältnispräventiven Maßnah- der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendli- men zu haben. Eine bessere Verbindung von Theorie und chen in Deutschland ermöglicht und die Basis für Präven- Praxis wäre, das wurde auch bei der dieser Publikation tionsarbeit ist (Lampert, Mensink, Hölling, & Kurth, 2008). zugrundeliegenden Tagung immer wieder vorgebracht, Die Daten liefern zahlreiche Belege für die sozial ungleiche zum beiderseitigen Nutzen. Dieser Theorie-Praxis-Transfer Verteilung der Gesundheitschancen in der heranwachsen- sollte bidirektional verlaufen, was bedeutet, nicht nur den Generation. Die Kriterien für die Messung des sozio Erkenntnisse aus der Wissenschaft werden in praktische ökonomischen Status sind dargelegt (Lampert, Müters, Projekte umgesetzt, auch Erfahrungen aus der Arbeit Stolzenberg, Kroll, & KiGGS Study Group, 2014). in der Gesundheitsförderung vor Ort, im Setting wirken zurück auf die Formulierung von neuen Forschungsfragen, Generell ist auch ein Zusammenhang von Sozialisation und die Konzeption von Studien oder auch die Entwicklung Gesundheit(sverhalten) seit langem bekannt (Erhart, Wille, von Kriterienkatalogen, nach denen evaluiert wird. & Ravens-Sieberer, 2008). Den Komplex gesundheitlicher Ungleichheit bei Jugendlichen machen Hackauf und Jung- Insgesamt ist derzeit – nicht zuletzt aufgrund der Kom- bauer-Gans (2008) zu einer entscheidenden Perspektive plexität der Interventionen – die Wirkungstheorie bei Ver- für die Evaluation von Präventionsprojekten. Hackauf und hältnisprävention oder Präventionsarbeit im Setting eher Ohlbrecht bieten einen generellen Überblick zu Jugend unterentwickelt (Engelmann & Halkow, 2008), die Evidenz- und Gesundheit (2010). lage eher schwach. Wirkung wird eher abstrakt postuliert oder intuitiv vermutet als analysiert und nachgewiesen. Auch wenn es keine einfachen Kausalitäten gibt – genauere Einsichten in die komplexen Zusammenhänge Der DIMDI-Bericht „Prävention von Adipositas bei Kindern sind ein Desiderat. Alle Vorschläge zur Prävention und Jugendlichen“ stellt fest, dass es kaum belastbare und 12 IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG
vor allem keine Maßnahmen vergleichenden Primärstudien 2. DIE HERAUSFORDERUNG: ÜBERGEWICHT UND zur Adipositasprävention bei Kindern und Jugendlichen ADIPOSITAS BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN gibt (Fröschl, Haas, & Wirl, 2009). Evidenz im strengen Sinne eines kontrolliert randomisierten Studien-Designs Übergewicht und auch Kinderübergewicht stellen in ist hier auch schwer zu erreichen (Gerhardus, Rehfuess, fast allen Gesellschaften ein Problem dar – und dies mit & Zeeb, 2015). Das heißt nicht, dass Evaluation und Quali- steigender Tendenz und messbaren Folgen (Ng et al., 2014; tätssicherung hintangestellt werden sollten (Rosenbrock Güngör, 2014). Die Prävalenz von Übergewicht und Adipo- & Kümpers, 2009; Goldapp et al., 2011). In der einschlägigen sitas ist zwischen 1980 und 2013 weltweit um 47 Prozent Forschung werden Verfahren wie kontrollierte Vorher- gestiegen (Ng et al., 2014). Wir wissen auch, dass (vor allem Nachher-Erhebungen oder unterbrochene Zeitreihen als starkes) Übergewicht mit einer Vielzahl von Erkrankungen Alternativen empfohlen (ebd.), und auch Experten-Delphis und gesundheitlichen Einschränkungen einhergeht und oder Fokusgruppen werden erprobt (Zwick & Schröter, die Basis hierfür oft schon im frühen Lebensverlauf gelegt 2011; Zwick & Schröter, 2012). Angesichts der schwierigen wird. So werden übergewichtige Kinder und Jugendliche Evidenzlage werden vor allem Mixed-methods-Ansätze, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch im späteren Leben wie sie zum Beispiel Mayring (2017) in seinem Vorschlag zur übergewichtig bleiben und haben ein höheres Risiko für „Evidenztriangulation“ behandelt, Verfahren, die auf den Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen erreichbaren Daten aufbauen, sowie grundsätzlich eng an oder Essstörungen (Güngör, 2014; Wolfenstetter, 2006). den konkreten Gegebenheiten und Möglichkeiten orien- tierte Verfahren als nützlich eingeschätzt. Ein möglicher Erhebungen wie der KiGGS des Robert Koch-Instituts Angelpunkt für Evidenz der Verhältnispräventon liegt zeigen, dass Übergewicht und Adipositas bei Kindern ja gerade in der Verbindung von Konzept und Praxis, der und Jugendlichen auch in Deutschland ein signifikantes wissenschaftlichen Begleitung von Projekten und insbe- Problem ist. Laut KiGGS-Erhebung für den Zeitraum 2003 sondere in einer partizipativen Qualitätsentwicklung, wie bis 2006 sind in Deutschland 15 Prozent der Kinder und sie Michael T. Wright (2010) entwickelt. Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren übergewichtig und 6,3 Prozent leiden unter Adipositas. Absolut ent- Mit dem zentralen Thema Evidenz beschäftigt sich auch spricht das einer Zahl von ungefähr 1,9 Millionen überge- der Fachvortrag von Jens Bucksch und Freia de Bock, der wichtigen Kindern und Jugendlichen (Kurth & Schaffrath auf der Abschlussveranstaltung des Wettbewerbs gehalten Rosario, 2007). wurde und den wir in dieser Publikation dokumentieren. Der vorangegangene Abschnitt hat gezeigt, dass wir Evi Orientierung auf Lebensbereiche und vorhandene Ressourcen denz dafür haben, dass Lebenslage und sozialer Status auf der einen Seite, Gesundheitszustand und gesundheits- Der Gedanke der Partizipation ist in mehrerer Hinsicht relevantes Verhalten auf der anderen in Wechselbeziehung zentral für das Gelingen von Verhältnisprävention. Es geht stehen. Spezifisch mit Blick auf die Inzidenz von Überge- ja nicht nur um ein ,gutes‘ Angebot, das vorgeschlagen wicht haben Lampert und Kurth die Daten des KiGGS auf wird, sondern vielmehr darum, vorhandene Ressourcen zu diesen Zusammenhang hin ausgewertet (2007). erkennen, zu aktivieren und zu nutzen. Das sind Ressourcen, die dem Individuum zur Verfügung stehen, Ressourcen, Die Einsichten wirken auf die Gestaltung von Prävention die der Institution oder der sozialstrukturellen Einheit zur zurück. Aufgrund des Ursachengeflechts von Übergewicht Verfügung stehen, und gemeint sind nicht nur nicht nur müssen Präventionsmaßnahmen sowohl auf das Verhalten material-physische, sondern auch psychosoziale, kulturelle als auch auf die Verhältnisse zielen. Die Prävention von und politische. Kinderübergewicht braucht intersektorale Zusammenar- beit aus allen relevanten Bereichen (WHO, 2016) und ist Die eingeforderte Nachhaltigkeit lässt sich am besten von hoher gesundheitspolitischer und auch gesundheits- durch die dauerhafte Befähigung der Teilnehmenden ökonomischer Bedeutung. erzielen, ihre Gesundheit wahrzunehmen, wertzuschätzen und sich aktiv dafür einzusetzen – das wird oft auch Zugleich ist es unmittelbar überzeugend, präventive „empowerment“, „capability“ oder Stärkung von „life skills“ Angebote so früh wie möglich anzusetzen – das heißt genannt. Dieser personen- wie auch der gruppenbezogene früh im Lebensverlauf bei Kindern und Jugendlichen und Gedanke der Teilhabe dreht sich um die Fähigkeit und den möglichst, bevor Folgeerkrankungen manifest werden. Willen, seine Umwelt zu gestalten. Diese lebenslauforientierte Epidemiologie, die Erkrankun- gen und ihre Ursachen in einer Langzeitperspektive und IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG 13
in ihren komplexen Bedingungen betrachtet (Blane, Netu- Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Dr. Sven-Frederik veli, & Stone, 2007; Erhart et al., 2008; Gillman, 2004), ist Balders, Geschäftsführer der GVG, Maria Becker, Leiterin deshalb konzeptionell eng verknüpft mit den Wirkungs der Unterabteilung Prävention im Bundesministerium für absichten der Primärprävention. Gesundheit, Gernot Kiefer, Vorstandsmitglied des GKV- Spitzenverbands KdöR, sowie Oliver Blatt, Abteilungsleiter 3. DER WETTBEWERB: ANREIZ UND NETZWERK Gesundheit im Verband der Ersatzkassen e.V. In ihren Impulsstatements steckten sie den gesundheitspolitischen, In dieser Publikation werden Ergebnisse vorgestellt, die strategischen und organisatorischen Rahmen ab. aus dem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Rahmen des Förderschwerpunkts „Prävention von In seinem Eingangsreferat hebt Sven-Frederik Balders die Kinderübergewicht“ geförderten und von der Gesellschaft gemeinsame Motivation zu einer verstärkten Anstren- für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) gung im Bereich Verhältnisprävention hervor und umreißt durchgeführten „Ideenwettbewerb Verhältnisprävention“ Ablauf und Ergebnisse des Wettbewerbs. Als wesentliche hervorgegangen sind. Im Mittelpunkt steht die ,gute Punkte nennt er die öffentliche und langfristige Verfüg- Praxis‘– die zahlreichen Projekte, die sich in so vielfältiger barkeit der beispielhaften Projekte und die Vernetzung der Weise dafür stark machen, Lebenswelten mit gesundheits- Teilnehmenden. Beides dient der Nachhaltigkeit und hilft, förderlichen Angeboten besser zu gestalten. der „Verinselung“ der Maßnahmen entgegenzuwirken. Eine Motivation für den Wettbewerb war, wirksame Maria Becker stellt den Willen zur Fokussierung auf Ver- Gesundheitsförderung zu identifizieren und gegen die oft hältnisprävention in den Mittelpunkt. Ausgehend von der beklagte ,Projektitis‘ integrierte Konzepte und Präven Erkenntnis „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ argumen- tionsketten zu setzen. Ein Problem ist, dass verhältnis tiert sie, dass Prävention bei der positiven Gestaltung des präventive Maßnahmen derzeit noch zu selten als solche unmittelbaren Lebensumfelds ansetzen müsse. beschrieben und zu wenig in der Öffentlichkeit bekannt sind. Ein Grund dafür liegt in ihrer im Vergleich zu ver- Gernot Kiefer nennt als Desiderat eine klarere Formulie- haltenspräventiven Maßnahmen hohen Komplexität mit rung von Gesundheitszielen (auch gegen Industrieeinfluss) Einbeziehung unterschiedlicher Akteure, sektorenüber- und betont, für die Umsetzung der Ansprüche des PrävG greifenden Zuständigkeiten, langfristigen Planungen. in die Wirklichkeit sei ein langer Atem nötig. Der Durch- bruch für die Wirksamkeit von Prävention müsse in der Von April bis Juni 2017 haben sich 58 Vorhaben aus 13 breiten Praxis geschafft werden, vor Ort und mit Fokus auf verschiedenen Bundesländern für den Ideenwettbewerb besonders problembehaftete Kommunen. In Anlehnung an Verhältnisprävention beworben. Ein Komitee aus Vertre- die bekannte Fußball-Weisheit heiße das, dahin zu gehen, terinnen und Vertretern der Politik, Wissenschaft, Zivilge- „wo es weh tut“. sellschaft sowie Fachkräften aus der Praxis hat insgesamt 37 Vorhaben ausgewählt, die verhältnispräventive Maß- Auch Oliver Blatt schlägt den Bogen in die Praxis und legt nahmen zur Unterstützung einer gesunden Gewichtsent- dar, dass, ökonomisch betrachtet, zwar erfreulich viele wicklung bei Kindern und Jugendlichen zwischen null und Mittel zur Prävention bereitstünden, dass es aber auch 17 Jahren umsetzen. Alle ausgewählten Vorhaben sind in darum gehe, diese Mittel sinnvoll, zielgerichtet und am dieser Broschüre dargestellt (ab S. 28) und zudem jederzeit richtitigen Ort einzusetzen. Er führt aus, warum partizipa- in einer Praxisdatenbank Verhältnisprävention recher- tive Ansätze wichtig sind, um die Zielgruppen als Akteure chierbar. einzubinden. In den Mittelpunkt stellt er vulnerable Grup- pen, bei denen Prävention noch nicht in hinreichender Abschlussveranstaltung als Auftakt zum Weitermachen! Weise angekommen sei: „Wir müssen die erreichen, die es am nötigsten haben.“ Im Mittelpunkt der Abschlussveranstaltung am 13. Septem ber 2017 in Berlin standen die ausgewählten Projektträger Nachhaltiges Netzwerken, Nachnutzung von Erfahrungen des Ideenwettbewerbs. Insbesondere aufgrund ihres und Konzepten Engagements und durch ihre eindrucksvollen Präsentatio- nen war die Veranstaltung ein Erfolg. Es nahmen mehr als Die Veranstaltung sollte in erster Linie der Präsentation 70 Vertreterinnen und Vertreter der Politik, Wissenschaft, und Diskussion der vorliegenden Ergebnisse dienen, aber Zivilgesellschaft sowie Fachkräfte aus der Praxis teil. auch den Austausch über die Ziele und Herausforderungen 14 IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG
für die Verhältnisprävention von Übergewicht und Adipo „Schatz praktischer Arbeit“, Praxisdatenbank Verhältnis sitas bei Kindern und Jugendlichen fördern. Das Treffen prävention selbst war zudem als eine Kontaktmöglichkeit für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Ideenwettbewerbs Die Projektbeschreibungen und auch die Erschließung gedacht. Diese Form der Interaktion und Vernetzung über einen Stichwort-Index in dieser Broschüre zeigen ist insbesondere im Bereich der soziallagenbezogenen die Reichweite von bundesweit bis Gemeindeebene, die Gesundheitsförderung unverzichtbar (Geene, 2009). Mit feingranulare Zielgruppenorientierung und vor allem die der Veröffentlichung und dauerhaften Verfügbarkeit der vielen Ideen, die in der Praxis funktionieren, weil sie an den Ergebnisse sollen zudem weitere Akteurinnen und Akteure konkreten Bedürfnissen und Voraussetzungen der jeweili- motiviert werden, eigene verhältnispräventive Maßnah- gen Umwelt orientiert sind. men zu entwickeln und umzusetzen, mit den Projektmit arbeitenden in Kontakt zu treten, Erfahrungen zu teilen Die Projektbeschreibungen sind darüber hinaus in einer und erfolgreiche Konzepte nachzunutzen. Praxisdatenbank Verhältnisprävention dauerhaft gesi- chert und für alle zugänglich. Die Datenbank basiert auf Der Wettbewerb ist zwar abgeschlossen, er soll aber den Eigendarstellungen der Projekte, wurde von der GVG nicht als Selbstzweck verstanden werden. Die Präsentation erstellt und wird auf der GVG-Website gehostet1. Die der Ergebnisse ist deshalb auch kein Schlusspunkt, sondern einzelnen Projekte sind mit Stichwörtern erschlossen und als Anregung zur Weiterführung und Nachahmung zu bieten jeweils strukturierte Informationen zu Reichweite verstehen. der Maßnahme, Projektzeitraum, adressierten Settings und Zielgruppen sowie zu Schwerpunkten und Zielen. Die 4. DIE PROJEKTE: VIELFALT DER PRAXIS Datenbankeinträge können durch thematische Filterset- zungen sortiert angezeigt werden, so dass ein schneller Die Projekte orientieren sich vor allem an drei aus dem und zielgerichteter Browsing-Zugriff ermöglicht wird. KiGGS abzuleitenden Gesundheitszielen (RKI & BZgA, 2008): (1) Förderung eines gesunden Ernährungsverhaltens Genau das soll als Anregung für viele dienen, sich aus bei Kindern und Jugendlichen, Reduzierung von Fehler- diesem ,Instrumentenkasten‘ zu bedienen, mit den Verant- nährung, (2) Steigerung von Bewegung und körperlicher wortlichen in Kontakt zu treten, oder Unterstützung zu Aktivität von Kindern und Jugendlichen, Reduzierung von suchen, um bei sich vor Ort eigene Maßnahmen auf den Bewegungsmangel, (3) Stärkung der Fähigkeit zur Stress- Weg zu bringen. bewältigung bei Kindern und Jugendlichen, Reduzierung von Stressoren. Für die Printpublikation wurden Kurzdarstellungen der Maßnahmen erstellt (siehe Teil II, ab S. 28). Die Projekte Ernährung und Bewegung sind erwartungsgemäß die sind für einen geographischen Zugriff nach Bundesländern zwei gemeinsamen Angelpunkte fast aller Projekte, dabei sortiert (bundesweite sind vorangestellt), ein genaueres überzeugen die Tiefe und Vielfalt, mit denen die Anliegen thematisches Register mit mehr als 100 relevanten Stich- gesunde Ernährung und körperliche Aktivität umgesetzt wörtern findet sich ab S. 67. Damit soll neben dem sehr werden. Auf den ersten Blick erscheinen 37 Projekte als willkommenen ,Stöbern‘ auch hier ein gezielter Zugriff gar nicht so viele angesichts der Herausforderungen, vor ermöglicht werden. denen gesundheitsorientierte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen überall in Deutschland steht, und verglichen 5. FAZIT UND AUSBLICK mit der Anzahl der Einrichtungen, die es insgesamt gibt. Rasch wird jedoch klar: Die 37 zeigen eine beeindruckende Die Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Fülle von Konzepten, Ideen, Praxisformen und vor allem Kindern und Jugendlichen ist nicht nur eine fortdauernde auch das Engagement und die Aktivität, all dies zu rea- Aufgabe, sondern eine, die dringlicher wird. Die gemein- lisieren und ,am Laufen zu halten‘. Die Projekte sind ein same Anstrengung, Wirkungen durch Verhältnisprävention „Schatz praktischer Arbeit“, wie Maria Becker als Vertre- in einem ganzheitlich-salutogenen Ansatz zu erreichen terin des BMG es während der Veranstaltung ausgedrückt und den Zielpunkt von Intervention im Setting und im hat. Dieser Schatz soll für alle Interessierten verfügbar konkreten Lebensumfeld zu finden, zeugt von einem sein. gesteigerten gesellschaftlichen Bewusstsein. 1 http://ideenwettbewerb.gvg.org/praxisdatenbank-verhaeltnispraevention/ [Zugriff am 24.12.2017] IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG 15
Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, das die Verhältnisse Das heißt nicht, die ,Theorie‘ mit ihrem Anspruch an die Kontextbedingungen jeden Verhaltens sind und sich Evaluation und Evidenzbasierung außen vor zu lassen, letztlich beides ändern muss, um die übergeordneten es bedeutet vielmehr, sie stärker einzubinden: Praxis und Präventionsziele – Senkung von Belastung, Erhöhung von Wissenschaft müssen stärker verzahnt werden, weil die Teilhabe, Stärkung der Ressourcen – wirklich zu erreichen. einen ohne Rückhalt in größeren strategischen und for- Hierzu gilt es, ein Umfeld zu schaffen, das die Gesund- schungsbezogenen Zusammenhängen insulär bleiben und heitskompetenz des Einzelnen stärkt und in dem Gesund- die anderen ohne Umsetzung wirkungslos sind. Die – im heitsbildung als Element und Aufgabe der Bildungspolitik Idealfall partizipative – Evaluation von Maßnahmen mit wahrgenommen wird. Wichtig ist auch das Mitdenken Erhebung und Auswertung von empirischen Daten über von Präventionsaspekten in anderen Kontexten wie zum Gesundheitsentwicklungen im Setting heißt auch, Respekt Beispiel der Verkehrs- und Stadtplanung – was nützt der vor der praktischen Arbeit und der damit verbundenen Wille zur Bewegung, wenn die räumlichen Gegebenheiten Verantwortung zu zeigen. Wir alle wollen sinnvoll und sie erschweren? Vor allem aber ist Nachhaltigkeit in der ,richtig‘ handeln, und was motiviert mehr als das Wissen Finanzierung und im Commitment aller Akteure nötig. um die Wirksamkeit des eigenen Projekts? Einiges ist in diese Richtung schon geschehen: Das PrävG Strategisch-gesundheitspolitisch bedeutet das die Abkehr schafft einen gesetzlichen Rahmen, mehrere Programme von einer gewissen Beliebigkeit der Maßnahmenlandschaft der Bundesregierung gehen in diese Richtung, wie zum (,Wildwuchs‘); angestrebt ist, die erfolgreichen Beispiele als Beispiel der Nationale Aktionsplan IN FORM – darunter ein modulares Baukastensystem mit vielen guten Elemen- die Aktionsbündnisse Gesunde Lebensstile und Lebens- ten zu sehen, die am Bedarf orientiert eingesetzt werden. welten –, die Strategie zur Kindergesundheit sowie die Die 37-fache „good practice“ des Wettbewerbs soll es Handlungsempfehlungen, die aus den KiGGS-Daten ab- durch gezielte Vervielfältigung in die Breite schaffen – so, geleitet wurden. so ähnlich oder auch anders, aber immer mit dem gleichen Willen zur nachhaltigen Verbesserung der Gesundheitsver- So ist der Ideenwettbewerb zwar einerseits aus einem hältnisse. Mangel – an Wissen über und Sichtbarkeit von verhält- nispräventiven Maßnahmen – entstanden, andererseits Ein Nachhaltigkeitskonzept soll mit der GVG entwickelt aber als ein positives gemeinsames Bekenntnis zu mehr werden, die auch weiterhin als Knotenpunkt für Präven- Aktivität, stärkerer Vernetzung, zu Nachhaltigkeit und tionspolitik und als Anlaufstelle für den Austausch von konsequenter Praxisorientierung zu sehen. Informationen und Erfahrung dienen möchte. 16 IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG
LITERATUR Bauch, J. (2002). Der Setting-Ansatz in der Gesundheitsförde- Hackauf, H., & Jungbauer-Gans, M. (Hg.). (2008). Gesund- rung. Prävention, Jg. 25 (2002), H. 3, 67-70. heitsprävention bei Kindern und Jugendlichen. Gesundheitliche Ungleichheit, Gesundheitsverhalten und Evaluation von Präven Bauer, U., Bittlingmayer, U. H., & Richter, M. (Hg.). (2008). Health tionsmaßnahmen. Wiesbaden: VS Verlag. Inequalities. Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag. Hackauf, H., & Ohlbrecht, H. (Hg.). (2010). Jugend und Gesund- heit: ein Forschungsüberblick. Basel: Beltz Juventa. Blane, D., Netuveli, G., & Stone, J. (2007). The development of life course epidemiology. Revue d'épidémiologie et de santé Kurth, B.-M., & Schaffrath Rosario, A. (2007). Die Verbreitung publique, 55(1), 31-38. doi:10.1016/j.respe.2006.12.004 von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Elkeles, T. (2008). Zum Zusammenhang zwischen Lebenssitua- Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt – tion, gesundheitlicher Ungleichheit und Versorgung bei Kindern. Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 50(5), 736-743. doi: In K, Tiesmeyer, M. Brause, M. Lierse, M. Lukas-Nülle & T. Hehl- 10.1007/s00103-007-0235-5 mann (Hg.), Der blinde Fleck. Ungleichheiten in der Gesundheits- versorgung (S. 93-108). Bern: Hans Huber. Lampert, T., & Kurth, B. M. (2007). Sozialer Status und Gesund- heit von Kindern und Jugendlichen. Deutsches Ärzteblatt, Engelmann, F., & Halkow, A. (2008). Der Setting-Ansatz in der 104(43), 2944-9. Gesundheitsförderung. Genealogie, Konzeption, Praxis, Evidenz- basierung. Discussion Papers / Wissenschaftszentrum Berlin für Lampert, T., Müters, S., Stolzenberg, H., Kroll, L. E., & KiGGS Sozialforschung, Forschungsschwerpunkt Bildung, Arbeit und Study Group. (2014). Messung des sozioökonomischen Status Lebenschancen, Forschungsgruppe Public Health, 2008-302. in der KiGGS-Studie. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsfor- Berlin: WZB. urn: http://hdl.handle.net/10419/47403 schung – Gesundheitsschutz, 7(57), 762-770. doi: 10.1007/s00103- 014-1974-8 Erhart, M., Hurrelmann, K., & Ravens-Sieberer, U. (2008). Sozia lisation und Gesundheit. In K. Hurrelmann, U. Grundmann & M. Lampert, T., Mensink, G., Hölling, H., Kurth, B.-M. (2008): Der Walper (Hg.) Handbuch Sozialisationsforschung (S. 424-442). Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Insti- Basel: Beltz. tuts als Grundlage für Prävention und Gesundheitsförderung. In H. Hackauf & M. Jungbauer-Gans (Hg.). Gesundheitspräven- Erhart, M., Wille, N., & Ravens-Sieberer, U. (2008). In die Wiege tion bei Kindern und Jugendlichen. Gesundheitliche Ungleichheit, gelegt? Gesundheit im Kindes-und Jugendalter als Beginn einer Gesundheitsverhalten und Evaluation von Präventionsmaßnah- lebenslangen Problematik. In U. Bauer, U. H. Bittlingmayer & M. men (S. 15-39). Wiesbaden: VS Verlag. doi: 10.1007/978-3-531- Richter (Hg.) Health inequalities: Determinanten und Mechanis- 90499-3_2 men gesundheitlicher Ungleichheit (S. 331-358). Wiesbaden: VS Verlag. Loss, J., & Leitzmann, M. (2011). Ansätze zur verhältnisorientier- ten Adipositasprävention bei Kindern und Jugendlichen. Bundes- Fröschl, B., Haas, S., & Wirl, C. (2009). Prävention von Adipositas gesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, bei Kindern und Jugendlichen (Verhalten- und Verhältnispräven- 54, 281-289. doi: 10.1007/s00103-010-1232-7 tion). Köln: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Marmot, M. (2005). Social determinants of health inequali- ties. The Lancet, 365(9464), 1099-1104. doi: 10.1016/S0140- Gerhardus, A., Rehfuess, E., & Zeeb, H. (2015). Evidenzbasierte 6736(05)71146-6 Verhältnisprävention und Gesundheitsförderung: Welche Studiendesigns brauchen wir? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung Mayring, P. (2017). Evidenztriangulation in der Gesundheits und Qualität im Gesundheitswesen, 109(1), 40-45. doi: 10.1016/j. forschung. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial zefq.2014.12.002 psychologie, 69(2), 415-434. doi: 10.1007/s11577-017-0464-z Gillman, M. W. (2004). A life course approach to obesity. In D. Murray, C. J. L., Mathers, C. D., Salomon, J. A., & Lopez, A. D. Kuh & Y. B. Shlomo (Eds.). A life course approach to chronic (2002). Health gaps: an overview and critical appraisal. In C. J. disease epidemiology (No. 2) (pp. 189-217). Oxford University Murray (ed.) Summary measures of population health: concepts, Press. ethics, measurement and applications (233-244). Geneva: World Health Organization. Goldapp, C., Cremer, M., Graf, C., Grünewald-Funk, D., Mann, R., Ungerer-Röhrich, U., & Willhöft, C. (2011). Qualitätskriterien für Ng, M., Fleming, T., Robinson, M., Thomson, B., Graetz, N., Mar- Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Primärprävention gono, C., ... & Abraham, J. P. (2014). Global, regional, and national von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen. Bundesgesund- prevalence of overweight and obesity in children and adults heitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 54(3), during 1980–2013: a systematic analysis for the Global Burden of 295-303. doi: 10.1007/s00103-010-1222-9 Disease Study 2013. The Lancet, 384(9945), 766-781. doi: 10.1016/ S0140-6736(14)60460-8 Güngör, N. K. (2014). Overweight and obesity in children and adolescents. Journal of clinical research in pediatric endocrino- PrävG (2015) Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und logy, 6(3), 129. doi: 10.4274/Jcrpe.1471 der Prävention (PrävG), in seinen wesentlichen Teilen in Kraft getreten am 25. Juli 2015. Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 31 vom 24.07.2015. IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG 17
Richter, M., Hurrelmann, K., Klocke, A., Melzer, W., & Ravens- World Health Organization (WHO). (1986). Ottawa-Charta zur Sieberer, U. (Hg.) (2008). Gesundheit, Ungleichheit und jugend Gesundheitsförderung. Erste Internationale Konferenz über liche Lebenswelten. Ergebnisse der zweiten internationalen Gesundheitsförderung, Ottawa, Kanada, 17.–21. November 1986. Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation World Health Organization (WHO). (2016). Report of the commis- WHO. Wiesbaden und München: Juventa Verlag. sion on ending childhood obesity. Geneva: WHO. RKI & BZgA. (2008). Erkennen – Bewerten – Handeln. Zur Gesund- Wolfenstetter, S. B. (2006). Adipositas und die Komorbidität Dia- heit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Berlin, Köln: betes mellitus Typ 2 bei Kindern und Jugendlichen in Deutsch- Robert Koch-Institut & Bundeszentrale für gesundheitliche land: Entwicklung und Krankheitskostenanalyse. Das Gesund- Aufklärung. heitswesen, 68(10), 600-612. doi: 10.1055/s-2006-927181 Rosenbrock, R. (2004). Evidenzbasierung und Qualitätssiche- Wright, M. T. (2006). Auf dem Weg zu einer theoriegeleiteten, evi- rung in der gesundheitsbezogenen Primärprävention. Zeitschrift denzbasierten, qualitätsgesicherten Primärprävention in Settings. für Evaluation, 1, 71-80. Berlin: Argument-Verlag. Rosenbrock, R., & Kümpers, S. (2009). Primärprävention als Wright, M. T. (Hg.). (2010). Partizipative Qualitätsentwicklung Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von in der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Verlag Hans Gesundheitschancen. In M. Richter & K. Hurrelmann (Hg.), Huber. Gesundheitliche Ungleichheit (S. 385-403). Wiesbaden: VS Verlag. doi: 10.1007/978-3-531-90357-6_22 Zeeb, H., Ahrens, W., & Pigeot, I. (2011). Primärprävention. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheits- Rosenbrock, Rolf (2008). Primärprävention – was ist das und schutz, 54(3), 265-271. doi: 10.1007/s00103-010-1226-5 was soll das? No. SP I 2008-303. WZB Discussion Paper. doi: 10.4126/38m-004399838 Zwick M . M., & Schröter R. (2011). Wirksame Prävention? Ergeb- nisse eines Expertendelphi. In: M. Zwick, J. Deuschle & O. Renn Schnabel, P.-E., Bittlingmayer, U. H., & Sahrai, D. (2009). Norma (Hg.), Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. tivität und Public Health: einleitende Bemerkungen in problem- Wiesbaden: VS Verlag. präzisierender und sensibilisierender Absicht. In U. H. Bittling- mayer, D. Sahrai & P.-E. Schnabel (Hg.), Normativität und Public Zwick, M. M., & Schröter, R. (2012). Konzeption und Durchfüh- Health (S. 11-43). Wiesbaden: VS Verlag. doi: 10.1007/978-3-531- rung von Fokusgruppen am Beispiel des BMBF-Projekts: „Über- 91762-7_1 gewicht und Adipositas bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen als systemisches Risiko“. In M. Schulz, B. Mack & O. Weyers, S., Dragano, N., Richter, M., & Bosma, H. (2010). How Renn (Hg.), Fokusgruppen in der empirischen Sozialwissenschaft does socio economic position link to health behaviour? Socio- (S. 24-48). Wiesbaden: VS Verlag. logical pathways and perspectives for health promotion. Global health promotion, 17(2), 25-33. doi: 10.1177/1757975910365232 Wilkinson, R. G., & Marmot, M. (Hg.). (2003). Social determinants of health: the solid facts. Geneva: World Health Organization. 18 IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | EINLEITUNG
FACHVORTRAG VERHÄLTNISPRÄVENTION VON ÜBERGEWICHT BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN – EVIDENZBASIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG TEIL 1: ZUR EVIDENZLAGE VERHÄLTNISPRÄVENTIVER ANSÄTZE Prof. Dr. Jens Bucksch* Der Begriff der Evidenz ist eng mit den Maßnahmen der Verhaltensweisen steht zwar im Zentrum, es ist aber ein- Prävention und Gesundheitsförderung verknüpft. Nicht gebettet in Handlungs- und Lebensräume mit kulturellen, zuletzt ist dieser Anspruch als Teil des Projektprozesses soziopolitischen oder auch baulich-technischen Struktu- und der Maßnahmenentwicklung zu verstehen. Die Hin- ren; diese Strukturen sind vom Einzelnen nicht unmittelbar tergründe hierfür sind vielfältig. Zentral ist die Prämisse, zu ändern und bestimmen Verhalten und Lebensweisen. nur diejenigen Maßnahmen zu fördern und in eine flächen Dazu gehören zum Beispiel baulich-technische Bedingun- deckende Verbreitung zu bringen, die „wirksam“ und in gen, Angebotsstrukturen und die Gestaltung von urbanen der Lage sind, relevante gesundheitliche Probleme zu Räumen. Konkret können hier die Verfügbarkeit gesunder erkennen, in effektive Maßnahmen zu überführen und die Lebensmittel, aber auch rechtlich-politische Elemente wie Gesundheit in Bevölkerungen zu verbessern. eine Zuckersteuer oder Investitionen in Gesundheitsför- derung sowie eine bewegungsförderliche Gestaltung von Übergewicht im Kindesalter ist mit Verhältnisprävention Stadträumen gemeint sein. Fachterminologisch wird von zu begegnen einem sozial-ökologischen Bedingungsgefüge gesprochen. Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendli- chen in Deutschland stellt ein signifikantes Problem von gesellschaftlicher Tragweite dar. Dieses ist aus Studien wie dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts zu belegen: 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig, etwa 6 Prozent adipös (Kurth & Schaffrath Rosario, 2007). Die Ursachen hierfür sind multifaktoriell. Als primäre Ursachen für das kindliche Übergewichtwerden falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, sedentäres Verhalten – übermäßiges Sitzen – und gestörter Schlaf angenommen. Neben diesen Faktoren werden weitere mögliche Ursachen in der Forschungsdiskussion genannt, darunter epigeneti- sche Faktoren, pränatale Einflüsse und Stillverhalten oder Abb. 1: Dimensionen der adipogenen Umwelt: Ein sozial-ökologisches auch durch Viren ausgelöste Entstehungszusammenhänge. Ursachengefüge (eigene Darstellung) Deshalb ist es nötig, diese möglichen Ursachen genauer zu analysieren. Diese Zusammenhänge leuchten intuitiv ein und sie kön- nen eine erste Begründung für einen stärkeren Fokus auf Es wäre angesichts dieser vielfältigen Ursachen wenig verhältnispräventive Ansätze liefern. Wir wissen zudem, erfolgversprechend, die Präventionsarbeit auf appellative dass edukative, individuumszentrierte und pharmazeu- Maßnahmen zu beschränken, die sich an den oder die tische Maßnahmen nur mäßig erfolgreich sind. Das ist Einzelne richten. Vielmehr muss die „adipogene Umwelt“ zumindest mittelbar ein Argument, es mit dem Einwirken in den Blick genommen werden. Das Individuum mit auf die Rahmenbedingung gesundheitsbezogenen Han- seinem Übergewicht und seinen gesundheitsrelevanten delns zu versuchen. Mit verhältnispräventiven Ansätzen * Pädagogische Hochschule Heidelberg, Fakultät für Natur- und Gesellschaftswissenschaften, Arbeitsbereich Prävention und Gesundheitsförderung IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | FACHVORTRAG TEIL 1 19
werden zudem die Grundvoraussetzungen für „richtiges“ selten die vorgelagerten „kausalen“ Bedingungsfaktoren Verhalten geschaffen. Weitere Vorzüge des Ansatzes sind der energiebilanzierenden Verhaltensweisen an. Dieses ist seine Reichweite, da prinzipiell alle Bevölkerungsgruppen jedoch eine Voraussetzung, um die Wirkmechanismen der erreicht werden können, die gesundheitsökonomische Interventionen verstehen und verbessern zu können (Amini Effizienz und die Fokussierung auf alltägliche Lebenszu- et al., 2015; Cauchi et al., 2016; Gortmaker et al., 2011; Swin- sammenhänge. burn, Eggers, & Raza, 1999; Summerbell et al., 2005; Pigeot, Baranowski, Lytle, & Ahrens,2016). Eine aus methodischer Der Wettbewerb Sicht akzeptable Evidenz erhalten wir beispielsweise nur, wenn das Studien-Design eine Kontrollgruppe vorsieht Für den Wettbewerb wurden diese Erkenntnisse in Krite- oder wir Zeitreihen-Daten generieren können (siehe hierzu rien umgesetzt, um zu einer gezielten Auswahl verhält- auch den zweiten Teil dieses Beitrags von Freia De Bock). nispräventiver Ansätze zu gelangen. Daraus ergaben sich übergewichtsrelevante Maßnahmen für den Wettbewerb Empfehlungen bei derzeitiger Evidenzlage in den folgenden Themenbereichen: (1) bauliche Verände- rung, (2) erleichterter Zugang zu bewegungsförderlichen Wenn wir derzeit auch wegen einer zu geringen Anzahl Materialien, gesunden Lebensmitteln und Getränken, (3) methodisch hochwertiger Studien eine eingeschränkte Verankerung von Bewegungszeiten, (4) organisationelle Evidenzlage haben, lassen sich anhand einer systemati Gestaltung von gesundheitsfördernden Settings, (5) schen Übersichtsarbeit (Cauchi et al. 2016) in den drei Schaffung verbindlicher Netzwerke und Allianzen. Eine Bereichen Bewegung, Ernährung, sedentäres Verhalten grundsätzliche Forderung war, dass alle Maßnahmen ein folgende wirksame verhältnispräventive Maßnahmen als stimmiges und nachhaltiges Gesamtkonzeptder Lebens- vielversprechend empfehlen: (1) Bewegung (zum Beispiel weltgestaltung vorlegen. Materialien für Unterricht und freies Spiel, ganztägige Öffnung von Schulhöfen, Bewegung als tägliches Nach- Die aktuell schwache Evidenz von Verhältnisprävention mittagsangebot), (2) Ernährung (bessere Schulmahlzeiten, freie Verfügbarkeit von Obst, schulseitige Bereitstellung Die Evidenzlage zur Verhältnisprävention ist nicht einfach von kostenfreiem/ günstigem Wasser, Ersetzung gezucker- zu beurteilen, da verhältnispräventive Interventionen ter Getränke, gesundes Frühstück), (3) sedentäres Ver seltener umgesetzt und evaluiert werden als zum Beispiel halten (Einsatz elektronischer „Zeitmanager“ zur Budge verhaltenspräventive. Des Weiteren bleiben die Schluss tierung des Fernsehkonsums). folgerungen aus evaluierten verhältnispräventiven Maß- nahmen begrenzt, da Effekte nur kurzfristig, aber nicht Auf längere Sicht verbessert werden kann die Evidenz- langfristig beobachtet werden, die Maßnahmen sich meist lage durch belastbare Studien-Designs sowie durch die auf das Setting Schule konzentrieren, so dass auf andere Messung langfristiger Effekte von Maßnahmen. Mit dem Lebenswelten übertragbare Aussagen kaum möglich sind. Beispiel der Interventionen auf kommunaler Ebene in Zudem werden die Adressatengruppen der Interventio- Michelfeld soll im Weiteren aufgezeigt werden, wie sich nen selten differenziert, so dass auch in dieser Hinsicht diese modellhaften Anforderungen auf die Praxis über belastbare Erkenntnisse noch ausstehen. Außerdem bleibt tragen lassen. es eine Herausforderung, die Komplexität von verhältnis präventiven Maßnahmen mit Bezug zu ihrer Wirksamkeit zu evaluieren. Abschließend sprechen Interventionen zu 20 IDEENWETTBEWERB VERHÄLTNISPRÄVENTION | FACHVORTRAG TEIL 1
Sie können auch lesen