BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
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Sonderbeilage 5. April 2018 BILDUNG Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren KARIN HOFER / NZZ CH-8021 Zürich · Telefon +41 44 258 11 11 · www.nzz.ch
Donnerstag, 5. April 2018 BILDUNG 3 Den Königsweg der Bildung gibt es nicht mehr Robin Schwarzenbach · Die Schweiz ist Die Zukunft wird die Berufsbildung auf stolz auf die Berufsbildung. Zu Recht: Eid- eine harte Probe stellen. Nicht nur für genössisch anerkannte Lehrberufe und die Bürobetriebe, auch in der Industrie wird es in den vergangenen Jahren bis fast ins Un- schon jetzt immer schwieriger, geeignete ermessliche gewachsenen Möglichkeiten Kandidaten für eine Lehre zu finden. Da- danach – Diplome der höheren Fachschu- bei haben diese Stellen einiges zu bieten. len, Berufsmatur, ein Studium an der Fach- Angehende Polymechaniker etwa arbeiten hochschule, um nur die wichtigsten zu nen- am Puls der digitalisierten Fertigung. Mo- nen – sorgen dafür, dass den Akademikern derne Maschinen und Prozesse verlangen in unserem Land in der Arbeitswelt prak- Denkvermögen und eine gute Auffas- tisch versierte Kolleginnen und Kollegen sungsgabe. Der Job ist auch für Maturan- gegenüberstehen. Nicht umsonst pflegten den attraktiv, wie das Beispiel von Jenny Eltern ihren Sprösslingen früher mit Nach- Estermann zeigt. Ihr Lehrbetrieb hat aus druck zu sagen: «Mach eine Lehre, dann der Verlegenheit eine Tugend gemacht und hast du etwas Gescheites in der Hand!» Es vor Jahren eigens eine Lehre für Maturan- war der Königsweg. den ins Leben gerufen; im dritten Jahr stu- Die Zeiten haben sich geändert. Wir dieren die Lehrlinge bereits an der Fach- Schweizer sind zwar noch immer stolz auf hochschule. die Berufsbildung, doch wenn es darauf an- Solche Initiativen sind zu loben, denn sie kommt, wären oder sind wir doch froh, auf verstehen es, die vielfältigen Möglichkeiten gymnasiale und akademische Werdegänge des Bildungssystems zu kombinieren, statt verweisen zu können – am Elternabend, seine wichtigsten beiden Pfeiler gegenein- unter Freunden, bei Lohnverhandlungen. ander auszuspielen. Sicher, durchlässig ist Wen wundert’s, wo doch selbst im kauf- das System nicht für alle. Doch zwischen- männischen Bereich, der Branche der soli- durch darf man auch zufrieden sein mit desten aller Grundbildungen, in den kom- den Chancen hierzulande. Der Chocola- menden zehn Jahren bis zu 100 000 Stellen tier, die Kindererzieherin, der frühere verloren gehen könnten, wie hier auf Maschinenzeichner in dieser Sonderbei- Jenny Estermann arbeitet an einem Plan eines Metallelements. In der Werkhalle wird die Seite 7 zu lesen ist? lage – sie alle haben ihren Weg gefunden. werdende Polymechanikerin das Bauteil später selber anfertigen. KARIN HOFER / NZZ Inhalt FIT FÜR DIE ZUKUNFT? Die Berufsbildung darf sich nicht LABYRINTH DER MÖGLICHKEITEN Das Schweizer Bildungssystem KINDERERZIEHERIN MIT DIPLOM Franziska Liscioch bildet sich ausruhen – ein Streitgespräch auf einen Blick weiter – trotz anfänglicher Skepsis Seite 5 Seite 8 Seite 10 DAS GYMNASIUM IM NACKEN DURCHLÄSSIGKEIT MIT TÜCKEN «MAN MUSS DEN WILLEN HABEN» Im Kampf um die Besten setzen Frauen, Ausländer, Bildungsferne Stefanie Kilcher weiss, was sie Lehrbetriebe auf neue Ideen bleiben häufig auf der Strecke von ihren Lehrlingen erwartet Seite 6, 7 Seite 9 Seite 11 KV-LEHRE UNTER DRUCK NACH DER MATUR IN DIE FABRIK VOM LEHRLING ZUM DR. SC. TECHN. Digitalisierung und Akademiker Sasha Kupferschmied lernt Patrik Soltic hat die Chancen machen dem Klassiker zu schaffen Chocolatier – jetzt ist er zufrieden des Bildungssystems genutzt Seite 7 Seite 10 Seite 11 IMPRESSUM: Chefredaktion: Eric Gujer. Verantwortlich für diese Beilage: Walter Hagenbüchle, Robin Schwarzenbach. Bildredaktion: Reto Althaus. Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Zeitung, Postfach, 8021 Zürich. LERNEN AM COLLÈGE & LYCÉE SAINT-CHARLES: EINZIGARTIGE MÖGLICHKEITEN · NEU vom 5. Schuljahr (HarmoS) bis zum Gymnasium · Eidgenössische Maturität · Zweisprachige Maturität Französisch-Englisch · Individuelle Begleitung Potenziale nutzen mit einem Bachelorstudium S T U D I E N JAHR Bau/Planung: Architektur, Bauingenieurwesen, Landschaftsarchitektur, SPRACH LISCH Raumplanung C H / E N G Technik/IT: Elektrotechnik, Erneuerbare Energien und Umwelttechnik, F RANZÖSIS STUNDEN IN TENSIVKU N RS Informatik, Maschinentechnik, Multimedia Production, Photonics, ÜBER 600 UTTERSPRACHLER Systemtechnik, Wirtschaftsingenieurwesen Wirtschaft: Betriebsökonomie, Informationswissenschaft, Tourismus, M IT M Wirtschaftsinformatik ME LDEN! Soziale Arbeit/Gesundheit: Soziale Arbeit, Pflege JETZT AN Collège et Lycée Saint-Charles Rte de Belfort 10 | 2900 Porrentruy Tel. 032 466 11 57 www.fho.ch secretariat@saint-charles.ch FHO Fachhochschule Ostschweiz: www.saint-charles.ch FHS St.Gallen / HSR Rapperswil / HTW Chur / NTB Buchs
Donnerstag, 5. April 2018 BILDUNG 5 Hans-Ulrich Bigler (links) ist mit diversen Punkten in der Berufsbildung nicht einverstanden. Theo Ninck hingegen setzt auf Kooperation aller Beteiligten. NATHALIE TAIANA / NZZ Welche Berufsbildung Ende Januar hat das Staatssekretariat Wer ist hier konkret gefragt: der Staat? für Bildung, Forschung und Innovation Die Betriebe? Der Einzelne? (SBFI) ein Leitbild verabschiedet, das Ninck: Weiterbildung ist primär Sache die Berufsbildung fit für die Zukunft der einzelnen Arbeitnehmer. Aber die für die Zukunft? machen soll. Der hierbei ebenfalls invol- Arbeitgeber müssen sie unterstützen. vierte Gewerbeverband hält das Projekt «Berufsbildung 2030» jedoch für ge- Handeln die Leute entsprechend? scheitert, wie er wenige Tage vorher an Ninck: Es passiert noch zu wenig. Ein einer Medienkonferenz darlegte. Warum CEO eines Unternehmens mit 300 unge- diese Kehrtwende, Herr Bigler? lernten Mitarbeitern hat diesen unlängst Hans-Ulrich Bigler: Der Bundesrat hatte ursprünglich eine Bildungsstrategie lan- Nach einer Lehre stehen viele Wege offen. Doch das hochgelobte System muss eine Nachqualifikation ermöglicht. Ganze fünf nahmen daran teil – für die ciert. Ein Beratungsbüro hat für 220 000 Franken einen teuren Bericht angefertigt. sich weiterentwickeln, wenn es konkurrenzfähig bleiben will. Ein Streitgespräch. anderen könnte es in dieser Firma in zehn Jahren keine Arbeit mehr geben. Doch über diesen gab es bis zum Schluss Bigler: Manuelle Tätigkeiten werden keinen Konsens. Also verabschiedete verschwinden. Daher muss der Bund die man sich von Projektphasen, Zwischen- höhere Berufsbildung unterstützen. Für zielen und Zielen und beschränkte sich diese Forderung wurden wir früher kriti- stattdessen auf Leitsätze, die derart allge- siert, heute werden Vorkurse für Berufs- mein formuliert sind, dass sie bei nieman- und höhere Fachprüfungen finanziert – dem anecken. ein wesentliches Verdienst des SGV. Ninck: Das Problem ist, dass man Berufe Warum also opponieren Sie dagegen? tet bleiben. Hier werden in den nächsten scher und beruflicher Bildung zu respek- Ninck: Das ist eine der grössten Heraus- bis jetzt nur von Grund auf erlernen Bigler: Entscheidend ist, dass die duale Jahren grosse Probleme auf uns zukom- tieren. Tun sie das nicht, Herr Ninck? forderungen, gerade bei Akademiker- kann.Angebote für einzelne Module, die Berufsbildung auch 2030 arbeitsmarktfä- men. Da kann man sich doch nicht ein- Ninck: Wo wird dieser Grundsatz nicht und bei Zuwandererfamilien. Es ist haar- sich noch dazu rasch verändern können, hig ausbildet. Also müssen wir uns fra- fach verabschieden und Mitte Januar respektiert? Das müssen Sie Herrn Big- sträubend, wie sehr manche Eltern ihre gibt es kaum. Betriebsinterne Umschu- gen: Wie sieht der Arbeitsmarkt in zwölf einen eigenen bildungspolitischen Be- ler fragen. Es ist bekannt, dass unter- Kinder unter Druck setzen, damit sie ja lungen führen hier nur teilweise weiter, Jahren aus? Hier stehen wir angesichts richt präsentieren, den der Gewerbever- schiedliche Bildungskulturen existieren die Gymi-Prüfung schaffen! Ich kenne weil dieses Wissen in anderen Firmen oft der Digitalisierung, neuer Technologien band bereits im Oktober 2017 verab- und einzelne Kantone den gymnasialen eine ehemalige Coiffeuse, die später Be- gar nicht gefragt ist. und einer alternden Gesellschaft vor ge- schiedet hat. Das ist kein verbundpart- Werdegang eher fördern als andere. triebswirtschaft studiert hat an der Uni- waltigen Herausforderungen. 2030 wird nerschaftliches Vorgehen! Doch insgesamt ist das System stabil.Wir versität. Die Chancen nach einer Lehre Sind ältere Arbeitnehmer flexibel genug, es Berufe geben, die wir heute gar nicht Bigler: Alle in unserem Bericht aufge- brauchen beide Wege. sind viel zu wenig bekannt. um technologische Entwicklungen an- kennen. Bei diesen Unwägbarkeiten ist führten Punkte haben wir vorgebracht, als Bigler: Die höheren Fachschulen werden zunehmen? es pragmatischer, Schritt für Schritt vor- das am Ende nicht verabschiedete SBFI- kantonal finanziert, sie bieten aber keine Bigler: Aussitzen bis zur Pensionierung zugehen und die Lehrberufe den Anfor- Papier diskutiert wurde. Als das Setting eidgenössischen Abschlüsse an. Das ist auf jeden Fall eine gefährliche Strate- derungen des Arbeitsmarkts laufend an- für «Berufsbildung 2030» definiert wurde, muss zwingend angegangen werden. gie. Das habe ich in der Druckindustrie zupassen – etwas, was die Berufsver- konnten wir uns hingegen nicht einbrin- «Es ist haarsträubend, erlebt. Das Tempo der Veränderung war bände übrigens schon längst tun. gen. Unsere vergebliche Forderung war, Abschlüsse von höheren Fachschulen wie sehr Eltern ihre so hoch, dass viele überholt wurden. Berufsbildung und höhere Berufsbildung sind eidgenössisch anerkannt. – Viele Ninck: Wir müssen uns auch fragen, ob in einem grösseren Kontext zu betrach- Firmen können ihre Lehrstellen nicht Kinder unter Druck wir die richtigen Grundkompetenzen ten:Was passiert in der Volksschule? Wor- besetzen, da Kandidaten zu wenig qua- setzen, damit sie ja die vermitteln: ICT-Fertigkeiten, Unterneh- auf werden Fachhochschulen, Universitä- lifiziert sind und die Qualifizierten sich mergeist, Sprachen kommen in der be- «Ist die Berufsbildung ten und ETH fokussieren? nicht bewerben, weil sie lieber ans Gym- Gymiprüfung schaffen!» ruflichen Grundbildung oft zu kurz. etwa nur dann stark, Ninck: Wir müssen die Bildungswelt nasium gehen, gerade in anspruchsvol- Theo Ninck nicht neu erfinden. Die Leitlinien setzen len Berufen. Was wäre hier zu tun? Mehr überbetriebliche Kompetenzen wenn man am System Prioritäten und zeigen, wo wir uns verän- Ninck: Wir sollten niemandem verbieten, Präsident der Schweizerischen Berufsbildungsämterkonferenz gingen zulasten berufsspezifischer In- möglichst keine Kritik dern müssen. Ich habe grösste Zweifel, ans Gymnasium gehen zu wollen. Aber halte. Wären die Verbände bereit dazu? ob das alle begriffen haben – für eine die Berufsbildung muss attraktiv bleiben. Bigler: In vielen Branchen wird immer anbringt?» KV-Revision beispielsweise brauchen Wenn «Berufsbildung 2030» für «geschei- mehr in die Grundbildung gepackt. Hier Hans-Ulrich Bigler wir fast zehn Jahre, bis die ersten, nach tert» erklärt wird und das SBFI in jeder stossen wir an Grenzen. Es stellt sich zu- Direktor des Schweizerischen der neuen Verordnung ausgebildeten zweiten Ausgabe der «Gewerbezeitung» Machen Schulen und Betriebe hier genug? nehmend die Frage, ob Themen nicht Gewerbeverbands (SGV) Kaufleute auf den Arbeitsmarkt kom- angeschossen wird, kann man sich schon Bigler: Die Betriebe machen sehr viel. vermehrt in die höhere Berufsbildung men. Wir sind zu wenig flexibel, und wir fragen, ob wir hier gut unterwegs sind. Doch die Vorbereitung auf die Berufs- verlegt werden sollten. brauchen Weiterbildungs- und Umschu- Bigler: Das ist Populismus der Verwal- wahl muss bereits in der fünften Primar- Ninck: Es kann aber auch nicht sein, dass lungsinitiativen für Erwachsene. tung. Ist die Berufsbildung etwa nur klasse beginnen. Auch die Gymnasien die Grundbildung Fertigkeiten vermit- Bigler: Der Bildungsökonom Stefan dann stark, wenn man am System mög- müssen etwas tun – mit Blick auf jene, die telt, die nach drei Jahren bereits wieder Braucht es das Projekt des SBFI über- Wolter teilt unsere Kritik. Die Arbeits- lichst keine Kritik anbringt? Noch ein- die Matur nicht schaffen. Ebenso müssen veraltet sind. Das Bewusstsein, dieses haupt, Herr Ninck? marktfähigkeit kommt zu kurz in dem mal: Arbeitsmarktfähigkeit wird sicher- die Lehrer auf dem letzten Informations- Wissen eigenständig auch nach der Lehre Theo Ninck: Den Anstoss dazu gaben Zukunftsbericht des SBFI. Weiter gestellt, wenn sich die Betriebe bei der stand sein, müssen sich weiterbilden, weil weiterzuentwickeln, ist ganz wichtig. die Verbundpartner. Berufsverbände, schreibt Wolter in seinem Gutachten: Entwicklung der Berufe einbringen. sich die Berufe weiterentwickeln, die sie Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften «Eine solche Vision würde auch bedin- Ninck: Die Organisationen der Arbeits- ihren Schülern vermitteln sollen. Werden Sie bei «Berufsbildung 2030» und die Kantone forderten eine gemein- gen, dass bei allen bildungspolitischen welt (OdA) prägen die Inhalte der Be- Ninck: Auch Berufsberater müssen nä- weiter mitmachen, Herr Bigler? same Zukunftsstrategie für die Berufs- Entscheiden, die andere Bildungsstufen rufe, das ist unbestritten. Betriebe müssen her an die Arbeitswelt herangeführt wer- Bigler: Natürlich. Es braucht eine kriti- bildung. In einem breiten Prozess wur- und -typen betreffen, die Auswirkungen sich einbringen; sie dürfen sich von OdA- den. So steht es auch in den Leitlinien. sche Stimme in diesem Prozess. den Lehrbetriebe, KMU, Grossunterneh- auf die Berufsbildung mit zu berücksich- Funktionären nicht dominieren lassen. Und wir brauchen Youtube-Videos für Ninck: Die Verbundpartner arbeiten men und Berufsfachschulen einbezogen. tigen sind.» Primarschüler und ihre Eltern. eigentlich gut zusammen – es sei denn, Der Gewerbeverband war von Anfang Die Anziehungskraft des Gymnasiums man will sich profilieren. an dabei. Natürlich muss die Berufs- Der Gewerbeverband fordert die Kantone lässt sich nicht bestreiten, gerade bei Eltern, Ganz oben auf dieser Liste steht «lebens- Interview: Walter Hagenbüchle, bildung auf den Arbeitsmarkt ausgerich- auf, die Gleichwertigkeit von akademi- die unser Bildungssystem nicht kennen. langes Lernen», ein abgenutzter Begriff. Robin Schwarzenbach
6 BILDUNG Donnerstag, 5. April 2018 Lieber in die Fabrik als an die ETH Ausbildungsplätze bleiben häufig unbesetzt, da gute Schüler eher ins Gymnasium gehen. Doch manche Lehrbetriebe wissen sich zu helfen – sie setzen auf technikaffine Maturanden. ROBIN SCHWARZENBACH, EBIKON vielleicht sind es gerade diese beiden Eigenschaften, aufgrund deren hiesige Paletten,Gestelle,Kisten voller Material, Industriebetriebe schon länger Mühe analoge Maschinen und Geräte neben haben, geeignete Kandidaten für eine komplexen, modernen Anlagen. Ein Polymechanikerlehre zu finden. Der Be- Bohren, Hämmern, Schleifen erfüllt den ruf ist anspruchsvoll. Innovative Anlagen Raum.Hier,in der grossenWerkhalle von haben den Job nicht einfacher, sondern Schindler in Ebikon im Kanton Luzern, vielmehr komplexer gemacht. Computer arbeitet die Zukunft der Schweizer In- und Roboter sind immer nur so gut wie dustrie – oder zumindest ein kleiner Teil die Mitarbeiter, die sie bedienen. Ähnli- davon. Bei dem Lifthersteller beginnen ches gilt auch in anderen Lehrberufen, jedes Jahr rund zwanzig Lehrlinge einen etwa bei Informatikern oder Elektroni- Beruf in der Fertigung. An den Werk- kern – für Tätigkeiten also, bei denen es bänken schrauben, nieten, schweissen sie der Schweiz bekanntlich an Fachkräften Metallteile zusammen. Oder sie studie- mangelt. Bis zu sieben Prozent der Lehr- ren Pläne für Bauelemente, die sie als stellen der Maschinen-, Elektro- und Nächstes bearbeiten werden. Metallindustrie bleiben jedes Jahr unbe- setzt, wie der Branchenverband Swiss- Digitalisierte Prozesse verstehen mem auf Anfrage verlauten lässt. Und es zeigt sich, dass die Berufs- Jenny Estermann ist eine von ihnen. Die bildung den Atem des Gymnasiums im angehende Polymechanikerin beschäf- Nacken spürt – und dass die Anforde- tigt sich an diesem Mittwochvormittag rungen einer schwierigen technischen im März mit zwei Projekten. Für den Lehre bei weitem nicht allen bewusst praktischen Teil der Abschlussprüfung sind. «Gymnasien wollen Sek-A-Schüler rekonstruiert sie ein Metallgehäuse für – sie gehen davon aus, dass Sek-B- den Motor eines Modellautos eines Niveau schon ausreiche für diese Lehr- externen Kunden – kein untypischer Auf- stellen», sagt Bruno Wicki, der Berufs- trag in der Lehrwerkstatt des Unterneh- bildungsverantwortliche bei Schindler. mens. Dazu muss sie das vorliegende Er ist im Kanton Luzern regelmässig in Bauteil zuerst ausmessen und seine Refe- Sekundarschulen unterwegs, um über die renzpunkte bestimmen, bevor sie am Lehrberufe in der Industrie zu informie- Computer eine exakte dreidimensionale ren. Wicki betont: «Angehende Poly- Zeichnung erstellen kann. Herstellen mechaniker, Informatiker und Elektro- wird sie die Motorschale dann an einer niker müssen in Mathematik und Natur- computergesteuerten Maschine. wissenschaften genauso gut sein wie Das bedeutet aber nicht, dass die An- Gymnasiasten.» Das sage er den Lehrern lage auf Knopfdruck alles von selber aus- und Schülern immer wieder vor Ort. führen würde. Jenny muss, wie sich bei ihrer zweiten Aufgabe zeigt, die moderne Kandidaten mit Optionen Fräsmaschine mit den passenden Aufsät- zen bestücken. Und sie muss wissen, wel- Dass Gymnasien und Industriebetriebe che Drehzahl sie bei dem betreffenden mitunter um die besten Schüler konkur- Material verwenden kann und wie der rieren, geht auch aus folgenden Daten zu automatisierte Arm der Maschine das den anspruchsvollsten Lehrberufen her- eingespannte Metallstück anfahren soll, vor: Laut Pisa-Studie können die besten damit dieses nicht kaputtgeht. Die Be- 25 Prozent der Lehrlinge dieser Gruppe fehle liessen sich zu einer langen Kette besser rechnen als die meisten Gymna- erweitern, die die Anlage über Stunden siasten in der Schweiz. Das spricht zwar autonom abarbeiten könnte. Dann wären dafür, dass Berufslehren spannende Auf- auch allfällige Verschleisserscheinungen gaben für kluge Köpfe zu bieten haben. beim Werkzeug mit einzubeziehen. Bei Es setzt die Lehrbetriebe aber auch Jennys Übungsstück, einem gravierten unter Zugzwang, denn die Jugendlichen, Handyhalter aus Aluminium, ist das zwar um die sie buhlen, haben Optionen. Sie nicht nötig. Kühlwasser spritzt, Metall- könnten auch ins Gymnasium gehen – in späne fliegen, nach etwa zehn Minuten der hierzulande verbreiteten Annahme, ist der Handyhalter fertig. Genau arbei- dass sie mit der Matura zwar etwas weni- ten, Prozesse,Techniken und Materialien ger gute Aussichten auf dem Arbeits- verstehen und vorausdenken muss die markt, dafür aber einen höheren gesell- 21-Jährige trotzdem. «Das gefällt mir an schaftlichen Status haben werden als mit Bei Schindler in Ebikon werden unter anderem Polymechaniker, Elektroniker und Anlage- und Apparatebauer ausgebildet. der Automation», sagt sie. einer Lehre, wie eine repräsentative Um- Prozesse der digitalisierten Fertigung frage der Berner Forschungsstelle für verstehen und vorausdenken können – Bildungsökonomie 2012 gezeigt hat. Und mit der gymnasialen Matur in der kürzte Lehre machen können, zum Bei- len und auch die klassische Lehre nicht Tasche kann man schliesslich an jeder spiel zum Polymechaniker. Das Angebot konkurrenzieren. Schindler und Swiss- Universität und an jeder Fachhochschule namens «Way-up» gibt es auch in ande- mem,der Initiant von «Way-up» und auch in der Schweiz studieren gehen . . . ren Unternehmen der MEM-Industrie. des sogenannten praxisintegrierten Praxisintegriert Jenny Estermann hatte ebenfalls Optionen. In der Primarschule wollte sie Beim Luzerner Lifthersteller studieren die Maturanden im dritten und letzten Bachelorstudiums (Pibs), eines weiteren Brückenangebots für technikaffine studieren Ärztin werden. Also wechselte sie nach Lehrjahr berufsbegleitend bereits an der Maturanden (siehe Zusatz), verstehen der sechsten Klasse an die Kantons- «Ich wollte kein Fachhochschule, so auch Jenny. «Ich die Massnahme eher als Ergänzung. schule. «Das stand nie infrage», sagt die Handlanger sein, finde das viel besser, als an der ETH ein «Jedes Jahr verlassen mehrere hundert R. Sc. · Ein praxisintegriertes Bachelor- Luzernerin. Sie habe immer gerne ge- Ingenieurstudium zu beginnen und fast Studenten die ETH oder die Universität, studium (Pibs) dauert in der Regel vier lernt, und es sei ihr immer leichtgefallen. sondern etwas Neues keine praktische Erfahrung in einem Be- weil ihnen das Studium zu theoretisch Jahre; Maturanden und Fachmaturanden Ihre Lieblingsfächer: Mathematik und anpacken und auch trieb zu haben», sagt sie.Allerdings hätte und zu schwierig ist»,sagt Robert Rudolph studieren berufsbegleitend an einer Biologie. Gegen Ende des Gymnasiums sie sich nicht beworben, wenn die Lehre von Swissmem. Da sei man mit Blick auf Fachhochschule. Zwei Tage pro Woche hatte sie ein neues Ziel. Studieren wollte umsetzen können.» wie sonst üblich vier Jahre dauern würde. den Fachkräftemangel gut beraten, eine arbeiten sie in einem Unternehmen, mit sie zwar weiterhin, aber nicht mehr Jenny Estermann In der Berufsfachschule war die Matu- Alternative bieten zu können – wenn dem sie zuvor einen Ausbildungsvertrag Medizin, sondern Maschinenbau oder Angehende Polymechanikerin randin häufig unterfordert. auch in kleinem Umfang: Schweizweit abgeschlossen haben. «Way-up»-Lehr- Medizinaltechnik. Auf jeden Fall an der und Maturandin werden bisher nur rund fünfzig «Way- linge erwerben ein eidgenössisches Fachhochschule. Doch dazu hätte sie zu- «Way-up», way out up»-Lehrstellen pro Jahr vergeben. Fähigkeitszeugnis (EFZ), Pibs-Studen- erst ein einjähriges Praktikum in einem Bei Schindler drehen sich die meisten ten erhalten ein Bachelordiplom. Praxis- Industriebetrieb absolvieren müssen. Ob man mit diesem Modell jene qualifi- Anfragen von Eltern darum, herauszu- integriert studieren kann man unter Hätte sie dabei etwas gelernt? Jenny zierten Kandidaten doch noch für sich zu finden, ob es nicht doch eine Lösung anderem Maschinentechnik, Informatik sagt: «Ich wollte kein Handlanger sein, gewinnen versucht, die man Jahre vorher gebe, wenn der Sohn oder die Tochter oder Energie- und Umwelttechnik.Viele sondern etwas Neues anpacken und auch ans Gymnasium verloren hat? Bruno das Ingenieurstudium oder gar bereits Firmen indes sind zurückhaltend. Swiss- umsetzen können.» Da traf es sich gut, Wicki winkt ab.Man wolle die beiden Bil- die Kantonsschule abgebrochen habe. mem spricht von einem Testbetrieb. dass Maturanden bei Schindler eine ver- dungswege nicht gegeneinander ausspie- «Viele interessieren sich dann für ein
Donnerstag, 5. April 2018 BILDUNG 7 Seid besser als die Maschine! Die KV-Lehre, einst der Inbegriff einer soliden Grundlage, ist unter Druck. Junge Kaufleute müssen sich neu erfinden. CLAUDIA WIRZ sitzt er sozusagen an der Quelle. Gene- ralisten werde es immer brauchen. Sie Severin Lüthi, der langjährige Coach von seien der Kitt zwischen den Spezialfunk- Roger Federer, hat eine. Der Verwal- tionen in Unternehmen und als solche tungsratspräsident von Lindt & Sprüngli, nicht durch Computerprogramme er- Ernst Tanner, ebenso. Auch Ueli Maurer setzbar. Aber ohne Veränderungen – so kann eine vorweisen – als Einziger im viel sei klar – wird es auch aus seiner Bundesrat, einem Gremium, das eine Sicht auf bestehendem Niveau mit dem fast schon ungebührliche Übermacht an KV nicht weitergehen. Akademikern aufweist. Fast unnötig zu Im Fokus der Reformen stehen erwähnen, dass auch UBS-Chef Sergio «Kompetenzen», wie Fertigkeiten in der Ermotti eine hat. Die Unternehmerin heutigen Bildungswelt genannt werden Nadja Schildknecht hat sie ebenfalls in und wie man sie mit dem Konzept des der Tasche, genauso wie die National- selbstorganisierten Lernens eintrainiert. rätin und selbständige Kommunikations- Gesunken sei das Leistungsniveau nicht, beraterin Natalie Rickli oder der Coop- sagt Kaeser, aber die anvisierten Kompe- und Swisscom-Präsident Hansueli Loosli. tenzen hätten sich geändert. Flexibles Arbeiten, vernetztes Denken, arbeiten 100 000 Stellen weniger? Die Rede ist von der kaufmännischen Lehre. Generationen von jungen Leuten haben diese Ausbildung absolviert, die gewissermassen zum Kulturerbe der Schweiz gehört. Sie gilt als grundsolide, Melanie war mit vielseitig, krisenresistent, leidlich ange- ihrer Lehre in der nehm und ausbaufähig. Ein idealer Lehr- beruf für Aufstiegswillige, die nicht gerne Verwaltung nur bedingt in Wind und Wetter arbeiten und auf zufrieden. Geringe eine gute Stellung aspirieren. Wer in den siebziger und achtziger Jahren des letz- Wertschätzung und ten Jahrhunderts die Schulzeit durchlief, langweilige Aufgaben durfte sich glücklich schätzen, wenn er eine der begehrten KV-Lehrstellen er- prägten ihre Lehrzeit. gattern konnte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Lehrstellenmangel gibt es aus verschie- denen Gründen schon länger nicht mehr. Vielmehr hat der «Kampf um Talente» schon die Schulabgänger erfasst. Auch im Team, solides Präsentieren – all das die einst prestigeträchtige KV-Lehre ist sei heute gefragt. Keine Frage, dass in davon betroffen. Regelmässig wieder- diesem Konzept auch die Aussicht auf holen sich zur Sommerferienzeit die Mel- das «lebenslange Lernen» nicht fehlt. dungen, wonach Hunderte von Lehrstel- Produziert man mit dieser Doktrin len noch offen sind – wie im vergangenen nicht einfach künftige Kunden für den Jahr. Arbeitgeber beklagen, dass Bewer- riesigen Weiterbildungsmarkt? Schliess- bungen sowohl quantitativ rückläufig als lich werden hier Milliarden umgesetzt. auch qualitativ nachlassend seien. Insbe- Peter Kaeser weist diesen Gedanken sondere würden Bewerbungen von sehr nicht gänzlich von der Hand. Aber er guten Schülern seltener. Lieber lasse sieht die nichtformalen Qualifikationen man im Zweifelsfall eine Lehrstelle un- im Aufschwung. Neben den klassischen besetzt, als sie mit einem Kandidaten zu formellen Weiterbildungsangeboten und besetzen, von dem man nicht überzeugt -zertifikaten wird, wie er glaubt, die Be- sei, liess im vergangenen Sommer etwa deutung informeller Beurteilungen auf die Migros-Bank verlauten. Plattformen wie Linkedin zulegen. Wer- Die einstige Beschaulichkeit ist also den Berufsleute also dereinst, statt an- vorbei. Die Globalisierung sorgt dafür, hand von Diplomen eingeschätzt, wie dass Stellen ins Ausland verlagert wer- Hotelzimmer im Internet mittels Stern- den, die Digitalisierung ersetzt mensch- chen beurteilt werden? Jenny Estermann bereitet eine Fräsmaschine vor (oben). Kurz danach fliegen Metallspäne an die Schutzscheibe. BILDER KARIN HOFER / NZZ liche Arbeitskraft, und mit der Akademi- sierung der Arbeitswelt machen auch Zu wenig Fachwissen Hochschulabgänger den KV-Absolven- ten Konkurrenz. Vom Kaufmännischen So oder so – dass der Lehrabschluss erst ‹Way-up›», sagt Wicki. Auch hier stellt Studium für jene Maturanden ausgespro- Verband selbst durchgeführte Studien der Anfang einer Bildungskarriere ist sich die Frage, ob diese Gruppe mit einer chen,die sowohl studieren wollen als auch rechnen damit, dass in der kommenden und nicht ihr Ende, ist auch der jungen anspruchsvollen technischen Lehre von eine praktische Ausbildung in einem Dekade bis zu 100 000 klassische KV- KV-Absolventin klar, die wir hier Mela- Anfang an besser bedient gewesen wäre Unternehmen anstreben. Und warum Stellen verschwinden könnten. nie Müller nennen, die im realen Leben als mit dem Gymnasium. Für akademi- sollte man Polymechaniker nicht auch auf aber anders heisst. Sie war mit ihrer KV- sche Weihen zumindest sind nicht alle Tertiärstufe studieren können, wo doch Immer noch die Beliebteste Lehre in der öffentlichen Verwaltung gemacht. 2017 lag der Anteil der Matu- diese Berufe im Zuge der fortschreiten- nur bedingt zufrieden, vor allem, was «Angehende randen, die sich für ein technisches Stu- den Robotisierung noch anspruchsvoller All diese Meldungen sind nicht gerade die betriebliche Ausbildung betraf. Polymechaniker dium an einer Fachhochschule einschrie- werden dürften? Schellenbauer weiss, eine Imagekampagne zugunsten einer Geringe Wertschätzung, häufige Abtei- ben, bei 17 Prozent. 2010 waren es 14 dass er damit aneckt.Zu seiner Studie von KV-Lehre. Dennoch ist diese Lehre nach lungswechsel, langweilige Aufgaben und müssen in Mathematik Prozent. Der Druck, unbedingt ins Gym- 2009 gab es viel Kritik. Erfolgsmodelle wie vor die mit Abstand beliebteste Be- mangelndes Engagement des Lehrlings- genauso gut sein nasium gehen zu müssen, kommt viel- wie die Berufsbildung in der Schweiz las- rufsausbildung. Im Jahr 2016 begannen verantwortlichen prägten ihre Lehrzeit. leicht auch hier zum Ausdruck. sen sich nur schwer reformieren. 14 280 Personen eine KV-Lehre, davon Die schulische Bildung wiederum emp- wie Gymnasiasten.» Jenny Estermann brauchen diese Fra- 8119 Frauen. Bei beiden Geschlechtern fand sie als zu generalistisch, um gegen- Bruno Wicki Polymechaniker studieren? gen nicht zu kümmern. Weder gehört sie ist «das KV» die am häufigsten gewählte über der akademischen Konkurrenz mit Direktor Berufsbildung zu denjenigen, die unbedingt ins Gymna- berufliche Grundbildung. Fachwissen punkten zu können. bei Schindler Andererseits ist es richtig, dass sich die sium mussten, noch musste sie sich recht- Wenn man Peter Kaeser glaubt, ist das Trotz Berufsmatura und besten Noten berufliche Grundbildung, die Basis der fertigen für ihren Entscheid, dass sie nach kein Fehlentscheid. Die angehenden suchte Melanie Müller nach der Lehre Schweizer Industrie, nicht zurücklehnt der Matur eine Lehre machen wollte. Kaufleute haben seiner Meinung nach lange nach einer angemessenen Stelle, und dass sie stattdessen vielmehr mit «Mein Umfeld reagierte sehr positiv», keinen Grund zur Sorge. Für existenziell und sie war nicht die Einzige, der dies neuen Modellen experimentiert. Für sagt sie. Anders als ihre Kollegen aus der bedroht hält er den kaufmännischen Be- widerfuhr. Rund der Hälfte ihrer Kolle- Patrik Schellenbauer weisen «Way-up» Schulzeit weiss sie nun, wie eine Firma ruf keineswegs.Als Vizedirektor und Lei- ginnen und Kollegen erging es nach dem und Pibs in die Zukunft: Der Chef- funktioniert. Und sie weiss, was sie als ter Grundbildung an der WKS KV-Bil- Lehrabschluss gleich. Nun aber hat sie ökonom des Think-Tanks Avenir Suisse Nächstes will: Medtech studieren und dung Bern, einer der grossen kaufmänni- eine gute Stelle gefunden. Und ein pas- hat sich schon vor Jahren für ein duales später automatisierte Geräte entwickeln. schen Berufsfachschulen der Schweiz, sendes Wirtschaftsstudium dazu.
8 BILDUNG Donnerstag, 5. April 2018 Labyrinth der Möglichkeiten – das Schweizer Bildungssystem auf einen Blick Die zehn am seltensten Die zehn beliebtesten gewählten Lehrberufe Lehrberufe Fachmann/-frau Betreuung Holzhandwerker Vergolder/ Einrahmer Informatiker Koch/Köchin Messerschmied Schuhmacher Detailhandels- fachmann/-frau Korb- und Flecht- werkgestalter Höhere Berufsbildung Hochschulen Eidg. Diplom Diplom HF Master Master PhD/Doktorat Tertiätrstufe Eidg. Fachausweis Bachelor Bachelor Master Bachelor Fachmann/-frau Gesundheit Berufs- und höhere Höhere Fachschulen Fachhochschulen Pädagogische Universitäten Fachprüfungen Hochschulen ETH Büchsenmacher Passerelle Berufsmaturität Fachmaturität Gymnasiale Maturität Eidg. Berufsattest Eidg. Fähigkeitszeugnis FMS-Ausweis Sekundarstufe II Betriebe, Berufsfachschulen, Betriebe, Berufsfachschulen, Fachmittelschulen Gymnasien überbetriebliche Kurse überbetriebliche Kurse Berufliche Grundbildung Allgemeinbildende Schulen Kaufmann/-frau Steinwerker Zeichner Logistiker Küfer Elektroinstallateur Industriekeramiker Marmorist Polymechaniker Zufriedenheit der Lehrlinge mit ihrer Berufswahl Übertritte in die höhere Berufsbildung Berufsmaturandenquote, Abschlüsse in und Passerellen-Ausweise, die nach der Berufs- Bruttoeinkommen nach Abschluss, ohne Kaderfunktion nach der Lehre (BM 1 und BM 2) matur zum Studium an einer Uni berechtigen In Prozent, 2016 In Prozent, 2015 In Prozent, 2015 Total In Franken, Median Frauen Männer 50 50 500 Universitäre Hochschule Weiss nicht 9 Berufslehre ist zweite Wahl 11 Fachhochschule, 40 40 400 Pädagogische Hochschule Hätte lieber eine 4 andere Lehre gemacht Männer Höhere Berufsbildung 30 30 300 Frauen Lehrerpatent 76 20 20 200 Matura 10 10 100 Berufslehre Wunschberuf 0 0 Ohne abgeschlossene 0 BM 1 BM 2 2007 2015 Berufsausbildung Frauen Männer Total 5000 6000 7000 8000 QUELLEN: BUNDESAMT FÜR STATISTIK; STAATSSEKRETARIAT FÜR BILDUNG, FORSCHUNG UND INNOVATION NZZ-Infografik/jok.
Donnerstag, 5. April 2018 BILDUNG 9 NATALIE AVANZINO «Strukturell gesehen ist unser Bil- dungssystem sehr durchlässig. Doch lei- Moritz ist ein sehr guter Sekundarschü- der werden die Voraussetzungen der ein- ler. Seine Klassenkameradin Carla eben- zelnen Berufseinsteiger dabei vollstän- falls. Und Tom träumt zwar im Unter- dig ausgeklammert», konstatiert Kost, richt häufig vor sich hin, an Prüfungen der seit mehreren Jahren zum Thema kann er das geforderte Wissen aber meist Durchlässigkeit in der Bildung forscht. abrufen. Die 14-Jährigen schreiben ähn- Junge Menschen müssten nur ausrei- lich gute Noten, doch ihre berufliche chend wollen und sich anstrengen, dann Entwicklung dürfte in ganz unterschied- sei alles denkbar – für den Erziehungs- lichen Bahnen verlaufen. Die Eltern von wissenschafter greift diese Darstellungs- Moritz hätten ihn gerne am Gymnasium weise zu kurz. Für ihn wird das Verspre- gesehen, leider hat es an der Aufnahme- chen der offenen Möglichkeiten nach prüfung nicht geklappt. Nun unterstüt- der Lehre nicht eingelöst.Auch wenn die zen ihn die Eltern bei der Suche nach Einführung der Berufsmatur die Durch- einem kaufmännischen Ausbildungs- lässigkeit erhöht habe, bleibe die Wahr- platz, am liebsten bei einer Bank oder scheinlichkeit, ob jemand die Berufs- einer Versicherung. Der Vater, selbst in matur mache oder nicht, deutlich vom der Finanzbranche tätig, erfährt über sozioökonomischen Status der Eltern sein Netzwerk von einem Arbeitgeber, und vom Geschlecht abhängig, sagt Kost. der Moritz eine KV-Stelle mit Berufs- Die Statistik mag dieser Sicht der matur anbietet. Etwas mehr als jeder Dinge Recht geben, und es klingt nach- siebte Lehrling erwirbt laut Bundesamt vollziehbar, dass Jugendliche eher in ihre für Statistik einen solchen Abschluss. Ausbildung investieren, wenn sie dabei 2015 lag die Quote der Berufsmaturan- den bei 15,1 Prozent, die gymnasiale Matur in der gleichaltrigen Referenz- gruppe machten 20,8 Prozent. HF, FH und andere Optionen Bei Carla verläuft die Mit der Einführung der Berufsmatur Berufswahl harzig. Ihre vor rund 25 Jahren waren viele Absich- ten verbunden. Vorrangig sollte sie eine bildungsfernen Eltern zuverlässige Qualifizierung künftiger aus Spanien können sie Studentinnen und Studenten für die Fachhochschulen ermöglichen. Die nur wenig unterstützen. Hoffnung war aber auch, die Durch- lässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen und soziale Ungleichheiten zu reduzie- ren. Wege sollten sich öffnen – auch nach einer Berufslehre. Haben sich diese Erwartungen erfüllt? von ihrem Umfeld unterstützt werden. Bei Carla zumindest verläuft die Be- Hürden im System gibt es aber auch auf- rufswahl harzig. Ihre aus Spanien einge- seiten der Lehrbetriebe. Nicht jeder hat wanderten Eltern können sie nur wenig wie Moritz die Chance, die Berufsmatur unterstützen. In der Schweiz stehen über bereits während der Lehre in Angriff zu 230 Lehrberufe zur Wahl. Die Sekundar- nehmen – weil bei weitem nicht alle Be- schülerin überlegt sich, einen Pflege- triebe flexibel genug oder willens sind, beruf zu erlernen. Ihr Berufsberater ambitionierten Kandidaten diese Mög- zeigt ihr die verschiedenen Wege auf: lichkeit anzubieten. Da muss man sich Einerseits kann sie eine dreijährige nicht wundern, wenn Sekundarschüler Lehre zur Fachfrau Gesundheit absolvie- mit guten Noten dann doch keine Lehre ren. Wenn sich Carla danach zur diplo- machen und stattdessen lieber ins Kurz- mierten Pflegefachfrau HF weiterbilden zeitgymnasium übertreten, um danach möchte, steht ihr berufsbegleitend die direkt studieren gehen zu können – egal, höhere Fachschule (HF) offen. Mit Be- ob an einer Fachhochschule, einer Uni- rufsmatur oder andererseits über eine versität oder an der ETH. Fachmittelschule könnte sie aber auch ein Bachelorstudium an einer Fachhoch- Lücken in der Altersvorsorge schule (FH) beginnen. Nach dem Ab- schluss wäre sie dann ebenfalls diplo- Theoretisch kann man auch nach der be- mierte Pflegefachfrau, allerdings mit ruflichen Grundbildung an einer univer- dem Zusatz FH statt HF. Mit dem Fach- sitären Hochschule studieren. Diese hochschuldiplom könnte sie auch noch Option gibt es seit rund 15 Jahren. Sie einen Master erwerben. Als diplomierte führt von der Berufsmatur über die soge- Pflegefachfrau HF wiederum hätte sie nannte Passerelle, ein Übertrittspro- Zugang zu einem berufsbegleitenden gramm, das zirka ein Jahr in Anspruch FH-Bachelor für Pflegende. nimmt. Praktisch jedoch machen von die- Die vielen Optionen machen es der sem Angebot nur wenige Gebrauch. 2015 Jugendlichen nicht einfacher. Nach eini- haben lediglich 773 Personen einen sol- gen Diskussionen mit ihren Eltern ent- chen Ausweis erworben. Gemessen an scheidet sie sich für eine Lehre zur Fach- allen Berufsmaturitätsabschlüssen sind frau Gesundheit. Die eher bildungs- das weniger als fünf Prozent. Unser Schü- fernen Eltern sind froh, dass ihre Toch- ler Tom könnte sich diesen Weg vorstel- ter baldmöglichst etwas in der Hand hat. Wohin nach der Lehre? Darüber können Berufseinsteiger nur bedingt selber bestimmen – zumindest laut Statistik. KARIN HOFER / NZZ len. Nach einer Lehre als Landschafts- Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es gärtner wird er ein Jahr anhängen, um die Carla bei diesem Abschluss belassen. Berufsmatur nachzuholen. Danach kann Durchlässigkeit Sowohl ein Besuch der höheren Fach- er einen privaten Kurs belegen, die Pas- schule als auch ein Studium an der Fach- serelle absolvieren und ein Studium auf- hochschule würden weitere Kosten nach nehmen, vielleicht Umweltnaturwissen- sich ziehen – sie fiele ihren Eltern noch schaften an der ETH Zürich. Allerdings länger zur Last. muss er dafür hohe Kosten auf sich neh- hat einen Preis men. Neben Lohneinbussen und Semes- Offenes Versprechen tergebühren wird er Lücken in der Altersvorsorge zu gewärtigen haben, vor Carlas Beispiel zeigt exemplarisch, wel- allem in der Pensionskasse. Im schlimms- che Fallstricke im Bildungssystem lau- ten Fall wird er diesen Rückstand sein ern. Obwohl die junge Frau eine sehr ganzes Berufsleben lang kaum mehr gute Sek-Schülerin ist, entscheidet sie sich für eine Berufsausbildung mit mitt- Lehrlinge können später studieren, auch an der Universität. Diese kompensieren können, selbst wenn er als Akademiker dereinst ein überdurch- lerem Anspruch, ohne die Optionen, die Möglichkeiten nutzen aber längst nicht alle, die es eigentlich könnten. schnittliches Einkommen erzielen sollte. sich ihr nach der Lehre böten, ernsthaft Noch nie gab es so viele Ausbildungs- in Betracht zu ziehen. Für Jakob Kost, möglichkeiten wie heute. Studien bele- Erziehungswissenschafter an der Päd- gen aber, dass sich bei nahezu jedem agogischen Hochschule Bern, steht Car- Übertritt in der Schule, beim Berufsein- las Entscheidung sinnbildlich für einen stieg und im Studium die Effekte der typischen Fall: Jugendliche aus einfachen sozialen Herkunft reproduzieren. Tom Verhältnissen orientieren sich vorwie- und Moritz, die beiden Schweizer Schü- gend an der unmittelbaren Verwertbar- ler aus einem bildungsinteressierten keit von Berufsabschlüssen. Frauen ver- Umfeld, werden voraussichtlich von der zichten zudem häufiger auf eine Weiter- Durchlässigkeit des Systems profitieren. bildung als ihre Kollegen. So gehen von Carla hingegen, die Arbeitertochter mit den männlichen Lehrabgängern mit Be- den guten Schulnoten, wird es hierbei rufsmatur rund 70 Prozent an eine Fach- ungleich schwerer haben. Vielleicht ste- hochschule, auch unser Beispiel Moritz hen sie und ihre Eltern für jene Gruppe, wird sehr wahrscheinlich diesen Weg die es gezielt zu ermutigen gilt: von Leh- wählen. Von den gleich qualifizierten rern, Berufsberatern, Lehrbetrieben und jungen Frauen mit Berufsmatur studie- Ausbildnern. Damit eine Lehre nicht ren hingegen nur 45 Prozent an einer Endstation, sondern erst ein erster Fachhochschule. Schritt ist in der Arbeitswelt.
10 BILDUNG Donnerstag, 5. April 2018 Vier Menschen – vier Wege in und nach der Lehre Der Chocolatier Sasha Kupferschmied hat die Matur gemacht, an der Uni studiert und ein Geschäft aufgebaut. Jetzt absolviert er eine Lehre zum Lebensmitteltechnologen. Er könnte nicht glücklicher sein. ANTONIO FUMAGALLI, FREIBURG und schrieb sich an der Universität Frei- Metier: «Ich interpretiere die Schoko- burg in Biochemie ein. Nach zwei Semes- ladeherstellung als progressive Zerklei- Der Lärm ist ohrenbetäubend, die tern brach er ab, ihm fehlte der Bezug nerung der Kakaobohne.» Oder: «Beim Wärme schweisstreibend. Sasha Kupfer- zur Praxis. Also baute er in der Freibur- Conchieren bilden sich in hochkonzen- schmied steht neben einer mehrere ger Innenstadt eine Starbucks-Filiale auf trierter Form die Aromen, nach denen Meter hohen Maschine, die Kakaomasse und arbeitete in verschiedenen anderen wir suchen.» Es kommt nicht von unge- mit den zusätzlichen Schokoladezutaten Funktionen für den Kaffeemulti. fähr, dass Kupferschmied sagt, ihm helfe vermischt – Zucker, Milch, Kakaobutter, Und doch fehlte etwas. «Die Fabrika- das analytische Denken im Arbeitsalltag. Vanille. «Je nach Rezept ist es eine unter- tion von Lebensmitteln hat mich schon Vermissen tue er die Schulbank aber nie. schiedliche Menge. Wie viel hinein- immer fasziniert», sagt Kupferschmied Sozusagen als Anerkennung seiner für kommt, ist Betriebsgeheimnis», sagt er in fast akzentfreiem Französisch. Aber einen Auszubildenden überdurchschnitt- und kontrolliert, ob Druck und Tempera- warum gerade Schokolade? «Schwierig lichen Kenntnisse darf Kupferschmied tur stimmen. Es passt. Ein Metallrohr lei- zu sagen», antwortet der 27-Jährige. Es bereits im ersten Lehrjahr eine Weiterbil- tet die Masse ins untere Stockwerk, Wal- möge damit zusammenhängen, dass die dung besuchen. Und er erhält, auch auf- zen pressen sie in hauchdünne Schichten. Familie seiner Mutter, einer Kolumbia- grund seines Alters, einen deutlich höhe- Zahlreiche Arbeitsschritte später wird nerin, im hauseigenen Garten Kakao- ren Lohn als seine bis zu zehn Jahre jün- daraus jene Milchschokolade mit Man- stauden anpflanze. Das habe ihn geprägt. geren Kollegen in der Berufsschule. delstücken entstehen, die man beim Im Frühling 2017 klopfte er an die Tür Ob er sein Leben lang als Lebensmit- Detailhändler kaufen kann. des traditionsreichen Schokoladeherstel- teltechnologe arbeiten will, weiss er noch Dass Kupferschmied hier in einem lers Villars und bewarb sich für eine nicht. Er könne im Beruf nicht glück- Aussenquartier von Freiburg eines der Lehre zum Lebensmitteltechnologen licher sein als jetzt und wünsche sich, bei schweizerischsten Produkte herstellt, mit Fachgebiet Schokolade. Die Verant- der Entwicklung von neuen Produkten darauf hat vor zwei Jahren noch nichts wortlichen nahmen ihn mit Handkuss. von Villars mithelfen zu können. Der hingedeutet. Und vor zwanzig noch Nicht nur, weil Kupferschmied bereits Lehrling – die Ausbildung dauert insge- weniger. Er wuchs in Flensburg in Nord- über Arbeitserfahrung und akademische samt drei Jahre – kann sich aber auch deutschland auf und kam erst im Alter Kenntnisse verfügte. Sondern auch, weil vorstellen, sich eines Tages wieder wis- von zwölf Jahren in die Schweiz. Franzö- Chocolatier-Nachwuchs rar ist. Obwohl senschaftlicher mit der Materie ausein- sisch sprach er kein Wort. Im zweispra- Villars jährlich bis zu zwei Lehrlinge aus- anderzusetzen. Vielleicht sogar an der chigen Kanton Freiburg hätte er die bilden könnte, gibt es Jahre, in denen ETH Zürich, wo es am Institut für Schule auch auf Deutsch absolvieren niemand die Ausbildung in Angriff Lebensmittelwissenschaften, Ernährung können, aber Kupferschmied besuchte nimmt. Über die Gründe rätselt das und Gesundheit einen Arbeitskreis für bewusst den französischsprachigen Unternehmen. Schokoladentechnik gibt. Für den intel- Unterricht. «Es war eine Challenge für Seit einem Dreivierteljahr arbeitet lektuellen Chocolatier wäre es eine wei- mich, aber ich wollte wie meine Kollegen Kupferschmied nun im Betrieb und tere Challenge – und die Verbindung von Dem Studienabbrecher Sasha Kupferschmied gefällt es in der Fabrik. NATHALIE TAIANA / NZZ sprechen», sagt er. Er bestand die Matur spricht schon wie ein alter Hase über sein zweien seiner vielen Welten. Die Kindererzieherin Franziska Liscioch war skeptisch, ob sie nach der Lehre an die höhere Fachschule soll. Heute ist sie froh um diesen Schritt. REBEKKA HAEFELI, ZÜRICH die Eingewöhnungszeit am Anfang. Da sind viele Emotionen im Spiel, und häu- Diese junge Frau ist im Schuss. Mit ihren fig gibt es Tränen. Das lässt auch die Birkenstock-Schuhen eilt sie an die Tür Krippenmitarbeiterinnen nicht kalt. «In der Krippe und öffnet sie schwungvoll, diesem Wechselbad der Gefühle müssen ein breites Lachen im Gesicht. Hier fühlt wir viel Sicherheit ausstrahlen», sagt man sich sofort willkommen. Franziska Franziska Liscioch. Liscioch kommt gerade vom Mittag- Die 27-jährige Zürcher Oberländerin essen, das sie im «Chinderhuus Kaya» in hat nach dem zehnten Schuljahr eine Zürich Affoltern im Kreise der Kinder Lehre als Fachfrau Betreuung mit der eingenommen hat. Es gab Bärlauch- Fachrichtung Kinderbetreuung absol- risotto mit Tofu, etwas Gesundes. Nor- viert. Zehn Jahre ist das nun her. Drei malerweise wäre sie jetzt mit dem «Mit- Jahre dauerte ihre Lehrzeit in einer tagsputz» beschäftigt, wie sie schmun- Hort- und Krippeneinrichtung in Uster. zelnd erklärt. «Es sieht jeweils recht Schon am ersten Lehrtag fühlte sie sich nach Party aus, wenn die Kinder fertig unter den vielen Kindern so wohl wie ein sind mit dem Essen.» Fisch im Wasser. Von Anfang an fiel es 44 Mädchen und Buben im Alter zwi- ihr leicht, den Zugang zu den Kleinen zu schen drei Monaten und vier Jahren sind finden. Dabei stand Kleinkinderzieherin ihre Schützlinge. Manche von ihnen ver- nicht zuoberst auf ihrem Wunschzettel bringen fünf Tage pro Woche in der der Berufe. Franziska Liscioch peilte ur- Krippe, weil beide Eltern Vollzeit arbei- sprünglich eine Ausbildung im Bereich Franziska Liscioch bildet sich weiter – Management und Führung gehören in Krippenbetrieben ebenfalls dazu. NATHALIE TAIANA / NZZ ten. «Wir begleiten die Kleinen über meh- Gestaltung an, zum Beispiel Grafikerin rere Jahre: Das ist megaschön!», sagt Li- oder Polygrafin. Doch als sie die Prüfung scioch. Wenn ein Kind die ersten Schritte für den Vorkurs an der Schule für Gestal- gemacht oder ein neues Wort gelernt tung nicht bestand, platzte der Traum. Sinne von «Drill» habe das nichts zu tun, Lehre müsse doch reichen.» In der Wei- Kolleginnen zusammen, die wie sie an habe, freue sie sich fast genauso darüber Mit ihrem Beruf ist sie vollkommen sagt Liscioch. Vielmehr versuche man, terbildung werde nun aber vieles ver- der HF gewesen seien, wie mit Lehr- wie die Mutter oder der Vater. Manch- glücklich. Vor allem das Konzept der optimal auf die individuellen Interessen tieft. Neben Pädagogik wird auch Wissen abgängerinnen und Praktikantinnen: «Es mal, gibt sie zu, sei dieser Flohhaufen Krippe in Zürich Affoltern findet sie der Kleinen einzugehen. in Teamführung und Management ver- braucht beides – Theorie und Praxis.» aber auch recht anstrengend. Etwa, wenn überzeugend. In der sogenannten Bil- Nach ihrer Lehre arbeitete die junge mittelt. Damit bekommt Liscioch das Persönlich fühle sie sich durch die Weiter- eines der Kinder gerade in der «Trötzli- dungskrippe haben die Kinder ein ge- Frau einige Jahre in einer anderen Rüstzeug, um später mehr Verantwor- bildung an der höheren Fachschule siche- Phase» sei. An solchen Tagen sinke sie wisses Mitspracherecht. Jeden Morgen Krippe, bevor sie ihre jetzige Stelle über- tung im Krippenbetrieb zu übernehmen rer, denn immer mehr Kinder hätten abends nur noch ins Bett. «Zum Glück dürfen sie wählen, mit welchem Thema nahm. Hier schlug ihr die Krippenleitung – was auch eine Chance ist, ihren Lohn einen schwierigen Hintergrund. «Wir weiss ich mittlerweile aus Erfahrung, dass sie sich beschäftigen wollen: mit Musik, vor, eine höhere Fachschule zu besuchen aufzubessern. haben Flüchtlingskinder, die Traumata das Trotzen auch wieder vorbeigeht.» Geschichten, Rollenspiel und Sichver- und sich zur diplomierten Kindererzie- Franziska Liscioch weiss eine gute erlebt haben. Das sind Herausforderun- Eine schwierige Phase ist für Kinder, kleiden oder auch einfach mit Bewe- herin HF weiterzubilden. «Zuerst war Durchmischung der Mitarbeitenden zu gen, die nicht einfach zu meistern sind. Eltern und Betreuungspersonen auch gung im Garten. Mit Frühförderung im ich skeptisch», sagt sie. «Ich dachte, eine schätzen. Sie arbeite genauso gerne mit Da hilft es mir, eine gute Basis zu haben.»
Donnerstag, 5. April 2018 BILDUNG 11 Die Ausbildnerin Stefanie Kilcher weiss, was sie von einem Landschaftsgärtner erwartet – und wo sie ihre Lehrlinge unterstützen muss. ROBIN SCHWARZENBACH, GERLAFINGEN wackelt.» Die beiden werdenden Land- schaftsgärtner müssen noch einmal ran. Ein kalter Samstagmorgen im März. In Kilcher ist streng, aber sie kümmert einer Lagerhalle in Gerlafingen im Kan- sich um ihre Schützlinge. Vor der prakti- ton Solothurn machen sich vier junge schen Aufgabe hat sie mit ihnen theore- Männer ans Werk. Sie müssen eine Trep- tisches Wissen zum Treppenbau durch- pen bauen: drei Stufen, drei Beton- genommen, das man in diesem Beruf am elemente, die sich auf einem Kieshaufen Ende der dreijährigen Lehre verinner- zu einem exakten, stabilen Ganzen zu- licht haben muss. Die Blätter mit mög- sammenfügen sollen. Die Werkzeuge: lichen Prüfungsfragen zum Thema hat sie Schaufel, Stampfer, Pflasterkelle,Wasser- selber zusammengestellt. In ihrer eige- waage, Metermass und Hammer – keine nen Lehrzeit in einem anderen Unter- einfache Aufgabe, denn das Konstrukt nehmen gab es das nicht – keine Übungs- verzeiht keine Fehler. Wacklige Stellen vormittage mit Ausbildnern im Betrieb, oder Unebenheiten bei der ersten Stufe keine Unterstützung in der Theorie. Da- setzen sich bei der zweiten und dritten für «durfte» sie den Rasen im Garten gnadenlos fort. Zu eben dürfen die Tritte ihres damaligen Lehrmeisters mähen. aber auch nicht liegen. Das Regenwasser Sonst hatte sie mit ihm wenig zu tun. soll schliesslich ablaufen können, sie Das will die 29-Jährige heute anders müssen sich etwas nach vorne neigen. machen. Ein guter Berufsbildner spüre Gartenbau ist harte Arbeit. Stefanie Kilcher sagt: «Man muss den Willen haben, das durchzuziehen.» KARIN HOFER / NZZ Wie nennt man das Mass, das die seine Lehrlinge, sagt sie. «Man muss Pro- Tiefe eines Treppentritts bestimmt? Die bleme ansprechen können – man sollte Lehrlinge und der Praktikant der Garten es aber auch lustig haben untereinan- und Rasen Jost AG stutzen, halten inne, der», betont Kilcher, die zwar weiss, was eine Funktion mit unerwarteten Er- sich der Unterstifte annahm, die eben- strengung – aber man muss den Willen raten: «Auftritt»? Stefanie Kilcher hilft sie von ihren Lehrlingen erwartet, im kenntnissen: «Bei diesen Prüfungen falls Landschaftsgärtner werden wollten haben, das durchzuziehen.» ihnen weiter. «Fast», antwortet die Be- Umgang mit ihnen aber nicht darauf aus habe ich eigene Schwächen bei anderen – beziehungsweise Gärtner mit Fachrich- Kilcher hatte ihn. Zierpflanzen oder rufsbildnerin, «Auftrittstiefe, da, wo man ist, bei jeder Gelegenheit mit ihrem Wis- entdeckt, zum Beispiel die vielen ‹Ähms› tung Garten- und Landschaftsbau, wie es Stauden, zwei weitere Richtungen des den Fuss drauf setzen können muss.» sen zu glänzen. Die diplomierte Garten- beim Erklären oder dass man Handgriffe ganz korrekt heisst. Nicht alle haben es Gärtnerberufs, wären ihr zu wenig krea- Minuten später – nach mehreren Anläu- bautechnikerin HF kennt sich zweifellos immer neben dem Lehrling zeigen sollte geschafft, denn die Arbeit ist hart. Neun- tiv gewesen. «Ich wollte Gärten planen fen steht die Treppe des einen Zweier- aus in ihrem Beruf. Tageskurse von Lie- und nicht von gegenüber.» Stunden-Tage bei Wind und Wetter und und diese Pläne auch umsetzen können», teams – wird Kilcher sagen: «Sie wackelt feranten besucht sie jedes Jahr. An der Doch die Bernerin macht nicht den hohen körperlichen Anforderungen sagt sie. Ihre Lehrlinge wirken ebenfalls noch ein bisschen.» Der Lehrling, der höheren Fachschule hat sie sich vor Jah- Eindruck, als sei sie erst an der höheren haben es in sich. Ganz zu Beginn ist Kil- entschlossen. Der Praktikant, ein eher sich zum Testen auf die oberste Stufe ge- ren natürlich auch zur Berufsbildnerin Fachschule zur Ausbildnerin geworden. cher selbst regelmässig eingeschlafen schmächtiger Typ, macht Krafttraining. stellt hat, will zwar nichts bemerken. Kil- weiterbilden lassen, mittlerweile ist sie Sie war es vorher schon, vielleicht schon beim Abendessen zu Hause. Heute weiss Er will bereit sein: Im Sommer fängt er cher indes bleibt dabei: «Doch, doch, sie Prüfungsexpertin in diesem Bereich – gegen Ende ihrer eigenen Lehre, als sie sie: «Der Körper gewöhnt sich an die An- bei Stefanie Kilcher seine Lehre an. Der Tüftler Kein ehrgeiziger Schüler, dann ein neugieriger Maschinenzeichner, der heute als Dr. sc. techn. effiziente Motoren entwickelt – Patrik Soltic hat die Chancen des Bildungssystems genutzt. NATALIE AVANZINO, DÜBENDORF Industrie-Gesellschaft in Neuhausen am Fahrzeugbranche doch unter Druck, die Rheinfall. Doch nach diesen vier Jahren Entwicklung effizienter Antriebssysteme Patrik Soltic ist ein gefragter Maschinen- war der Wissensdurst des jungen Mannes zu forcieren. Erneuerbare Energien müs- bauingenieur. Er betreut Doktoranden, trotz Berufsmittelschule nicht gestillt: Er sen verfügbar gemacht werden, um den publiziert in Fachzeitschriften und hält meldete sich fürs damalige Technikum in CO2-Ausstoss zu reduzieren. regelmässig Vorträge an Konferenzen im Winterthur an. Die dreijährige Vollzeit- Sein zehnköpfiges Team aus Inge- In- und Ausland. Der 48-Jährige hat an ausbildung eröffnete ihm eine neue Welt nieuren, Doktoranden und Mechanikern der ETH Zürich zur Effizienzsteigerung – und dennoch kam er nicht voll auf optimiert Verbrennungsmotoren und von Fahrzeugantriebssystemen dokto- seine Kosten. «Das Studium war sehr an- baut Prototypen, etwa von Hybridantrie- riert und ist heute ein gefragter Experte wendungsorientiert. Immer, wenn es bei ben. In einem Projekt des europäischen auf diesem Gebiet. An der Empa, dem theoretischen Fragen spannend zu wer- Forschungsprogramms «Horizon 2020» interdisziplinären Forschungsinstitut des den begann, klingelte die Schulglocke», arbeiten die Dübendorfer an Gasmoto- ETH-Bereichs in Dübendorf, leitet er erzählt Soltic rückblickend. Er wollte ren. Ein anderes Vorhaben wird in direk- ein Team, das an den Motoren der Zu- mehr wissen und verstehen – was ihn ter Zusammenarbeit mit der Autoindus- kunft arbeitet. Ein Akademiker also, ein dazu bewog, den grossen Schritt an die trie realisiert. Das Ziel: die Energieeffi- typischer Theoretiker, ist man versucht ETH zu wagen. zienz von Dieselmotoren von Nutzfahr- zu denken. Doch angefangen hat alles Er absolvierte ein intensives Über- zeugen auf über 50 Prozent zu bringen. ganz anders. trittsprogramm, in dem die allgemein- Spannend seien natürlich auch die eige- Im beschaulichen Löhningen bei bildenden Fächer auf Maturniveau ge- nen Projekte, sagt Soltic. «Wir entwickeln Schaffhausen aufgewachsen, interes- trimmt und der Niveau-Unterschied zu gerade einen neuartigen Ventilantrieb sierte sich Soltic früh für Handwerk- den Maschinenbaustudenten an der und möchten diesen, sofern sich die viel- liches. Sein Vater, ein Ingenieur aus ETH ausgeglichen wurde. Nach bestan- versprechenden Simulationen bestäti- Zagreb, hatte zu Hause einen Hobby- dener Prüfung konnte Soltic ins fünfte gen, in die Industrie transferieren.» Pri- raum, der seinem Sohn allerlei Betäti- Semester einsteigen. «Da habe ich rich- vat fährt Soltic ein Auto mit einem Erd- gungen bot. Hier verbrachte der Jugend- tig Feuer gefangen – also hängte ich nach gas-Biogas-Motor, an dessen Entwick- liche viel Zeit, um an seinen Modellflug- dem Abschluss gleich noch eine Doktor- lung er selber beteiligt war. zeugen zu basteln. In der Schule sei er arbeit an», berichtet er. Sein Disserta- Und wenn Soltic nicht an den Techno- leider nie besonders ehrgeizig gewesen; tionsthema wies ihm den weiteren Weg. logien der Zukunft arbeitet? Dann tüftelt viele Fächer hätten ihm einfach nicht zu- Denn: «Eine rein akademische Karriere er mit seiner Frau in der Werkstatt, die sie gesagt, sagt Soltic im Gespräch. Er weiss wäre für mich nicht infrage gekommen», sich in ihrem Haus im Zürcher Weinland zuerst gar nicht so recht, ob er dies in der sagt Soltic. Der Arbeit an der Empa ist eingerichtet haben. Soltic bezeichnet sie Zeitung lesen will. Naturwissenschaften der Motorexperte auch nach 17 Jahren bescheiden als Hobbyraum. Aber auch hätten ihn fasziniert, die restlichen Fä- nicht überdrüssig geworden. hier ist er mit hohen Ansprüchen dabei, cher eher nicht, so sein Fazit. «Wir arbeiten an Technologien, die in und die Resultate können sich sehen las- Gegen Ende der Sekundarschule ent- Zukunft gefragt sein werden auf dem sen, etwa eine komplette Sauna. schied er sich für eine Lehre als Maschi- Markt», sagt Soltic. Momentan sei eine Nein, ein typischer Theoretiker, das nenzeichner bei der Schweizerischen äusserst herausfordernde Phase, stehe die ist Soltic ganz gewiss nicht. Patrik Soltic, Teamleiter an der Empa, hat einen weiten Weg hinter sich. KARIN HOFER / NZZ
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