BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren

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BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
Sonderbeilage                                                                             5. April 2018

                        BILDUNG

                             Berufsbildung?
                Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
                                                                                                          KARIN HOFER / NZZ

                                 CH-8021 Zürich · Telefon +41 44 258 11 11 · www.nzz.ch
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
Donnerstag, 5. April 2018                                                                                                                                                                                                       BILDUNG 3

Den Königsweg der Bildung
gibt es nicht mehr
Robin Schwarzenbach · Die Schweiz ist              Die Zukunft wird die Berufsbildung auf
stolz auf die Berufsbildung. Zu Recht: Eid-     eine harte Probe stellen. Nicht nur für
genössisch anerkannte Lehrberufe und die        Bürobetriebe, auch in der Industrie wird es
in den vergangenen Jahren bis fast ins Un-      schon jetzt immer schwieriger, geeignete
ermessliche gewachsenen Möglichkeiten           Kandidaten für eine Lehre zu finden. Da-
danach – Diplome der höheren Fachschu-          bei haben diese Stellen einiges zu bieten.
len, Berufsmatur, ein Studium an der Fach-      Angehende Polymechaniker etwa arbeiten
hochschule, um nur die wichtigsten zu nen-      am Puls der digitalisierten Fertigung. Mo-
nen – sorgen dafür, dass den Akademikern        derne Maschinen und Prozesse verlangen
in unserem Land in der Arbeitswelt prak-        Denkvermögen und eine gute Auffas-
tisch versierte Kolleginnen und Kollegen        sungsgabe. Der Job ist auch für Maturan-
gegenüberstehen. Nicht umsonst pflegten         den attraktiv, wie das Beispiel von Jenny
Eltern ihren Sprösslingen früher mit Nach-      Estermann zeigt. Ihr Lehrbetrieb hat aus
druck zu sagen: «Mach eine Lehre, dann          der Verlegenheit eine Tugend gemacht und
hast du etwas Gescheites in der Hand!» Es       vor Jahren eigens eine Lehre für Maturan-
war der Königsweg.                              den ins Leben gerufen; im dritten Jahr stu-
   Die Zeiten haben sich geändert. Wir          dieren die Lehrlinge bereits an der Fach-
Schweizer sind zwar noch immer stolz auf        hochschule.
die Berufsbildung, doch wenn es darauf an-         Solche Initiativen sind zu loben, denn sie
kommt, wären oder sind wir doch froh, auf       verstehen es, die vielfältigen Möglichkeiten
gymnasiale und akademische Werdegänge           des Bildungssystems zu kombinieren, statt
verweisen zu können – am Elternabend,           seine wichtigsten beiden Pfeiler gegenein-
unter Freunden, bei Lohnverhandlungen.          ander auszuspielen. Sicher, durchlässig ist
Wen wundert’s, wo doch selbst im kauf-          das System nicht für alle. Doch zwischen-
männischen Bereich, der Branche der soli-       durch darf man auch zufrieden sein mit
desten aller Grundbildungen, in den kom-        den Chancen hierzulande. Der Chocola-
menden zehn Jahren bis zu 100 000 Stellen       tier, die Kindererzieherin, der frühere
verloren gehen könnten, wie hier auf            Maschinenzeichner in dieser Sonderbei-                                                   Jenny Estermann arbeitet an einem Plan eines Metallelements. In der Werkhalle wird die
Seite 7 zu lesen ist?                           lage – sie alle haben ihren Weg gefunden.                                                werdende Polymechanikerin das Bauteil später selber anfertigen.           KARIN HOFER / NZZ

Inhalt                                          FIT FÜR DIE ZUKUNFT?
                                                Die Berufsbildung darf sich nicht
                                                                                                                           LABYRINTH DER MÖGLICHKEITEN
                                                                                                                           Das Schweizer Bildungssystem
                                                                                                                                                                                                    KINDERERZIEHERIN MIT DIPLOM
                                                                                                                                                                                                    Franziska Liscioch bildet sich
                                                ausruhen – ein Streitgespräch                                              auf einen Blick                                                          weiter – trotz anfänglicher Skepsis
                                                Seite 5                                                                    Seite 8                                                                  Seite 10

                                                DAS GYMNASIUM IM NACKEN                                                    DURCHLÄSSIGKEIT MIT TÜCKEN                                               «MAN MUSS DEN WILLEN HABEN»
                                                Im Kampf um die Besten setzen                                              Frauen, Ausländer, Bildungsferne                                         Stefanie Kilcher weiss, was sie
                                                Lehrbetriebe auf neue Ideen                                                bleiben häufig auf der Strecke                                           von ihren Lehrlingen erwartet
                                                Seite 6, 7                                                                 Seite 9                                                                  Seite 11

                                                KV-LEHRE UNTER DRUCK                                                       NACH DER MATUR IN DIE FABRIK                                             VOM LEHRLING ZUM DR. SC. TECHN.
                                                Digitalisierung und Akademiker                                             Sasha Kupferschmied lernt                                                Patrik Soltic hat die Chancen
                                                machen dem Klassiker zu schaffen                                           Chocolatier – jetzt ist er zufrieden                                     des Bildungssystems genutzt
                                                Seite 7                                                                    Seite 10                                                                 Seite 11

                                                  IMPRESSUM: Chefredaktion: Eric Gujer. Verantwortlich für diese Beilage: Walter Hagenbüchle, Robin Schwarzenbach. Bildredaktion: Reto Althaus.
                                                                                        Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Zeitung, Postfach, 8021 Zürich.

   LERNEN AM COLLÈGE & LYCÉE SAINT-CHARLES:
   EINZIGARTIGE MÖGLICHKEITEN
       · NEU vom 5. Schuljahr (HarmoS)
         bis zum Gymnasium
       · Eidgenössische Maturität
       · Zweisprachige Maturität
         Französisch-Englisch
       · Individuelle Begleitung                                                                                                                                             Potenziale nutzen mit einem Bachelorstudium
                                                                     S T U D I E N JAHR                                                                                      Bau/Planung: Architektur, Bauingenieurwesen, Landschaftsarchitektur,

                                                              SPRACH                 LISCH
                                                                                                                                                                             Raumplanung

                                                                       C H  /  E N G                                                                                         Technik/IT: Elektrotechnik, Erneuerbare Energien und Umwelttechnik,

                                                          F   RANZÖSIS
                                                                   STUNDEN
                                                                           IN    TENSIVKU
                                                                                  N
                                                                                          RS                                                                                 Informatik, Maschinentechnik, Multimedia Production, Photonics,

                                                          ÜBER 600 UTTERSPRACHLER
                                                                                                                                                                             Systemtechnik, Wirtschaftsingenieurwesen
                                                                                                                                                                             Wirtschaft: Betriebsökonomie, Informationswissenschaft, Tourismus,
                                                              M IT M                                                                                                         Wirtschaftsinformatik

                                                                             ME           LDEN!                                                                              Soziale Arbeit/Gesundheit: Soziale Arbeit, Pflege

                                                                    JETZT AN
                   Collège et Lycée Saint-Charles
                   Rte de Belfort 10 | 2900 Porrentruy
                   Tel. 032 466 11 57                                                                                                                                                                                        www.fho.ch
                   secretariat@saint-charles.ch                                                                                                                              FHO Fachhochschule Ostschweiz:
                   www.saint-charles.ch                                                                                                                                      FHS St.Gallen / HSR Rapperswil / HTW Chur / NTB Buchs
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
Donnerstag, 5. April 2018                                                                                                                                                                                BILDUNG 5

                       Hans-Ulrich Bigler (links) ist mit diversen Punkten in der Berufsbildung nicht einverstanden. Theo Ninck hingegen setzt auf Kooperation aller Beteiligten.             NATHALIE TAIANA / NZZ

                                               Welche Berufsbildung
Ende Januar hat das Staatssekretariat                                                                                                                                                     Wer ist hier konkret gefragt: der Staat?
für Bildung, Forschung und Innovation                                                                                                                                                     Die Betriebe? Der Einzelne?
(SBFI) ein Leitbild verabschiedet, das                                                                                                                                                    Ninck: Weiterbildung ist primär Sache
die Berufsbildung fit für die Zukunft                                                                                                                                                     der einzelnen Arbeitnehmer. Aber die

                                               für die Zukunft?
machen soll. Der hierbei ebenfalls invol-                                                                                                                                                 Arbeitgeber müssen sie unterstützen.
vierte Gewerbeverband hält das Projekt
«Berufsbildung 2030» jedoch für ge-                                                                                                                                                       Handeln die Leute entsprechend?
scheitert, wie er wenige Tage vorher an                                                                                                                                                   Ninck: Es passiert noch zu wenig. Ein
einer Medienkonferenz darlegte. Warum                                                                                                                                                     CEO eines Unternehmens mit 300 unge-
diese Kehrtwende, Herr Bigler?                                                                                                                                                            lernten Mitarbeitern hat diesen unlängst
Hans-Ulrich Bigler: Der Bundesrat hatte
ursprünglich eine Bildungsstrategie lan-       Nach einer Lehre stehen viele Wege offen. Doch das hochgelobte System muss                                                                 eine Nachqualifikation ermöglicht.
                                                                                                                                                                                          Ganze fünf nahmen daran teil – für die
ciert. Ein Beratungsbüro hat für 220 000
Franken einen teuren Bericht angefertigt.
                                               sich weiterentwickeln, wenn es konkurrenzfähig bleiben will. Ein Streitgespräch.                                                           anderen könnte es in dieser Firma in
                                                                                                                                                                                          zehn Jahren keine Arbeit mehr geben.
Doch über diesen gab es bis zum Schluss                                                                                                                                                   Bigler: Manuelle Tätigkeiten werden
keinen Konsens. Also verabschiedete                                                                                                                                                       verschwinden. Daher muss der Bund die
man sich von Projektphasen, Zwischen-                                                                                                                                                     höhere Berufsbildung unterstützen. Für
zielen und Zielen und beschränkte sich                                                                                                                                                    diese Forderung wurden wir früher kriti-
stattdessen auf Leitsätze, die derart allge-                                                                                                                                              siert, heute werden Vorkurse für Berufs-
mein formuliert sind, dass sie bei nieman-                                                                                                                                                und höhere Fachprüfungen finanziert –
dem anecken.                                                                                                                                                                              ein wesentliches Verdienst des SGV.
                                                                                                                                                                                          Ninck: Das Problem ist, dass man Berufe
Warum also opponieren Sie dagegen?             tet bleiben. Hier werden in den nächsten    scher und beruflicher Bildung zu respek-          Ninck: Das ist eine der grössten Heraus-     bis jetzt nur von Grund auf erlernen
Bigler: Entscheidend ist, dass die duale       Jahren grosse Probleme auf uns zukom-       tieren. Tun sie das nicht, Herr Ninck?            forderungen, gerade bei Akademiker-          kann.Angebote für einzelne Module, die
Berufsbildung auch 2030 arbeitsmarktfä-        men. Da kann man sich doch nicht ein-       Ninck: Wo wird dieser Grundsatz nicht             und bei Zuwandererfamilien. Es ist haar-     sich noch dazu rasch verändern können,
hig ausbildet. Also müssen wir uns fra-        fach verabschieden und Mitte Januar         respektiert? Das müssen Sie Herrn Big-            sträubend, wie sehr manche Eltern ihre       gibt es kaum. Betriebsinterne Umschu-
gen: Wie sieht der Arbeitsmarkt in zwölf       einen eigenen bildungspolitischen Be-       ler fragen. Es ist bekannt, dass unter-           Kinder unter Druck setzen, damit sie ja      lungen führen hier nur teilweise weiter,
Jahren aus? Hier stehen wir angesichts         richt präsentieren, den der Gewerbever-     schiedliche Bildungskulturen existieren           die Gymi-Prüfung schaffen! Ich kenne         weil dieses Wissen in anderen Firmen oft
der Digitalisierung, neuer Technologien        band bereits im Oktober 2017 verab-         und einzelne Kantone den gymnasialen              eine ehemalige Coiffeuse, die später Be-     gar nicht gefragt ist.
und einer alternden Gesellschaft vor ge-       schiedet hat. Das ist kein verbundpart-     Werdegang eher fördern als andere.                triebswirtschaft studiert hat an der Uni-
waltigen Herausforderungen. 2030 wird          nerschaftliches Vorgehen!                   Doch insgesamt ist das System stabil.Wir          versität. Die Chancen nach einer Lehre       Sind ältere Arbeitnehmer flexibel genug,
es Berufe geben, die wir heute gar nicht       Bigler: Alle in unserem Bericht aufge-      brauchen beide Wege.                              sind viel zu wenig bekannt.                  um technologische Entwicklungen an-
kennen. Bei diesen Unwägbarkeiten ist          führten Punkte haben wir vorgebracht, als   Bigler: Die höheren Fachschulen werden                                                         zunehmen?
es pragmatischer, Schritt für Schritt vor-     das am Ende nicht verabschiedete SBFI-      kantonal finanziert, sie bieten aber keine                                                     Bigler: Aussitzen bis zur Pensionierung
zugehen und die Lehrberufe den Anfor-          Papier diskutiert wurde. Als das Setting    eidgenössischen Abschlüsse an. Das                                                             ist auf jeden Fall eine gefährliche Strate-
derungen des Arbeitsmarkts laufend an-         für «Berufsbildung 2030» definiert wurde,   muss zwingend angegangen werden.                                                               gie. Das habe ich in der Druckindustrie
zupassen – etwas, was die Berufsver-           konnten wir uns hingegen nicht einbrin-                                                          «Es ist haarsträubend,                    erlebt. Das Tempo der Veränderung war
bände übrigens schon längst tun.               gen. Unsere vergebliche Forderung war,      Abschlüsse von höheren Fachschulen                   wie sehr Eltern ihre                      so hoch, dass viele überholt wurden.
                                               Berufsbildung und höhere Berufsbildung      sind eidgenössisch anerkannt. – Viele                                                          Ninck: Wir müssen uns auch fragen, ob
                                               in einem grösseren Kontext zu betrach-      Firmen können ihre Lehrstellen nicht                 Kinder unter Druck                        wir die richtigen Grundkompetenzen
                                               ten:Was passiert in der Volksschule? Wor-   besetzen, da Kandidaten zu wenig qua-                setzen, damit sie ja die                  vermitteln: ICT-Fertigkeiten, Unterneh-
                                               auf werden Fachhochschulen, Universitä-     lifiziert sind und die Qualifizierten sich                                                     mergeist, Sprachen kommen in der be-
   «Ist die Berufsbildung                      ten und ETH fokussieren?                    nicht bewerben, weil sie lieber ans Gym-
                                                                                                                                                Gymiprüfung schaffen!»                    ruflichen Grundbildung oft zu kurz.
   etwa nur dann stark,                        Ninck: Wir müssen die Bildungswelt          nasium gehen, gerade in anspruchsvol-                Theo Ninck
                                               nicht neu erfinden. Die Leitlinien setzen   len Berufen. Was wäre hier zu tun?                                                             Mehr überbetriebliche Kompetenzen
   wenn man am System                          Prioritäten und zeigen, wo wir uns verän-   Ninck: Wir sollten niemandem verbieten,
                                                                                                                                                Präsident der Schweizerischen
                                                                                                                                                Berufsbildungsämterkonferenz              gingen zulasten berufsspezifischer In-
   möglichst keine Kritik                      dern müssen. Ich habe grösste Zweifel,      ans Gymnasium gehen zu wollen. Aber                                                            halte. Wären die Verbände bereit dazu?
                                               ob das alle begriffen haben – für eine      die Berufsbildung muss attraktiv bleiben.                                                      Bigler: In vielen Branchen wird immer
   anbringt?»                                  KV-Revision beispielsweise brauchen         Wenn «Berufsbildung 2030» für «geschei-                                                        mehr in die Grundbildung gepackt. Hier
   Hans-Ulrich Bigler                          wir fast zehn Jahre, bis die ersten, nach   tert» erklärt wird und das SBFI in jeder                                                       stossen wir an Grenzen. Es stellt sich zu-
   Direktor des Schweizerischen                der neuen Verordnung ausgebildeten          zweiten Ausgabe der «Gewerbezeitung»              Machen Schulen und Betriebe hier genug?      nehmend die Frage, ob Themen nicht
   Gewerbeverbands (SGV)                       Kaufleute auf den Arbeitsmarkt kom-         angeschossen wird, kann man sich schon            Bigler: Die Betriebe machen sehr viel.       vermehrt in die höhere Berufsbildung
                                               men. Wir sind zu wenig flexibel, und wir    fragen, ob wir hier gut unterwegs sind.           Doch die Vorbereitung auf die Berufs-        verlegt werden sollten.
                                               brauchen Weiterbildungs- und Umschu-        Bigler: Das ist Populismus der Verwal-            wahl muss bereits in der fünften Primar-     Ninck: Es kann aber auch nicht sein, dass
                                               lungsinitiativen für Erwachsene.            tung. Ist die Berufsbildung etwa nur              klasse beginnen. Auch die Gymnasien          die Grundbildung Fertigkeiten vermit-
                                               Bigler: Der Bildungsökonom Stefan           dann stark, wenn man am System mög-               müssen etwas tun – mit Blick auf jene, die   telt, die nach drei Jahren bereits wieder
Braucht es das Projekt des SBFI über-          Wolter teilt unsere Kritik. Die Arbeits-    lichst keine Kritik anbringt? Noch ein-           die Matur nicht schaffen. Ebenso müssen      veraltet sind. Das Bewusstsein, dieses
haupt, Herr Ninck?                             marktfähigkeit kommt zu kurz in dem         mal: Arbeitsmarktfähigkeit wird sicher-           die Lehrer auf dem letzten Informations-     Wissen eigenständig auch nach der Lehre
Theo Ninck: Den Anstoss dazu gaben             Zukunftsbericht des SBFI. Weiter            gestellt, wenn sich die Betriebe bei der          stand sein, müssen sich weiterbilden, weil   weiterzuentwickeln, ist ganz wichtig.
die Verbundpartner. Berufsverbände,            schreibt Wolter in seinem Gutachten:        Entwicklung der Berufe einbringen.                sich die Berufe weiterentwickeln, die sie
Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften            «Eine solche Vision würde auch bedin-       Ninck: Die Organisationen der Arbeits-            ihren Schülern vermitteln sollen.            Werden Sie bei «Berufsbildung 2030»
und die Kantone forderten eine gemein-         gen, dass bei allen bildungspolitischen     welt (OdA) prägen die Inhalte der Be-             Ninck: Auch Berufsberater müssen nä-         weiter mitmachen, Herr Bigler?
same Zukunftsstrategie für die Berufs-         Entscheiden, die andere Bildungsstufen      rufe, das ist unbestritten. Betriebe müssen       her an die Arbeitswelt herangeführt wer-     Bigler: Natürlich. Es braucht eine kriti-
bildung. In einem breiten Prozess wur-         und -typen betreffen, die Auswirkungen      sich einbringen; sie dürfen sich von OdA-         den. So steht es auch in den Leitlinien.     sche Stimme in diesem Prozess.
den Lehrbetriebe, KMU, Grossunterneh-          auf die Berufsbildung mit zu berücksich-    Funktionären nicht dominieren lassen.             Und wir brauchen Youtube-Videos für          Ninck: Die Verbundpartner arbeiten
men und Berufsfachschulen einbezogen.          tigen sind.»                                                                                  Primarschüler und ihre Eltern.               eigentlich gut zusammen – es sei denn,
Der Gewerbeverband war von Anfang                                                          Die Anziehungskraft des Gymnasiums                                                             man will sich profilieren.
an dabei. Natürlich muss die Berufs-           Der Gewerbeverband fordert die Kantone      lässt sich nicht bestreiten, gerade bei Eltern,   Ganz oben auf dieser Liste steht «lebens-               Interview: Walter Hagenbüchle,
bildung auf den Arbeitsmarkt ausgerich-        auf, die Gleichwertigkeit von akademi-      die unser Bildungssystem nicht kennen.            langes Lernen», ein abgenutzter Begriff.                         Robin Schwarzenbach
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
6 BILDUNG                                                                                                                                                                               Donnerstag, 5. April 2018

Lieber in die Fabrik
als an die ETH
Ausbildungsplätze bleiben häufig unbesetzt, da gute Schüler eher ins Gymnasium gehen.
Doch manche Lehrbetriebe wissen sich zu helfen – sie setzen auf technikaffine Maturanden.

ROBIN SCHWARZENBACH, EBIKON                  vielleicht sind es gerade diese beiden
                                             Eigenschaften, aufgrund deren hiesige
Paletten,Gestelle,Kisten voller Material,    Industriebetriebe schon länger Mühe
analoge Maschinen und Geräte neben           haben, geeignete Kandidaten für eine
komplexen, modernen Anlagen. Ein             Polymechanikerlehre zu finden. Der Be-
Bohren, Hämmern, Schleifen erfüllt den       ruf ist anspruchsvoll. Innovative Anlagen
Raum.Hier,in der grossenWerkhalle von        haben den Job nicht einfacher, sondern
Schindler in Ebikon im Kanton Luzern,        vielmehr komplexer gemacht. Computer
arbeitet die Zukunft der Schweizer In-       und Roboter sind immer nur so gut wie
dustrie – oder zumindest ein kleiner Teil    die Mitarbeiter, die sie bedienen. Ähnli-
davon. Bei dem Lifthersteller beginnen       ches gilt auch in anderen Lehrberufen,
jedes Jahr rund zwanzig Lehrlinge einen      etwa bei Informatikern oder Elektroni-
Beruf in der Fertigung. An den Werk-         kern – für Tätigkeiten also, bei denen es
bänken schrauben, nieten, schweissen sie     der Schweiz bekanntlich an Fachkräften
Metallteile zusammen. Oder sie studie-       mangelt. Bis zu sieben Prozent der Lehr-
ren Pläne für Bauelemente, die sie als       stellen der Maschinen-, Elektro- und
Nächstes bearbeiten werden.                  Metallindustrie bleiben jedes Jahr unbe-
                                             setzt, wie der Branchenverband Swiss-
Digitalisierte Prozesse verstehen            mem auf Anfrage verlauten lässt.
                                                Und es zeigt sich, dass die Berufs-
Jenny Estermann ist eine von ihnen. Die      bildung den Atem des Gymnasiums im
angehende Polymechanikerin beschäf-          Nacken spürt – und dass die Anforde-
tigt sich an diesem Mittwochvormittag        rungen einer schwierigen technischen
im März mit zwei Projekten. Für den          Lehre bei weitem nicht allen bewusst
praktischen Teil der Abschlussprüfung        sind. «Gymnasien wollen Sek-A-Schüler
rekonstruiert sie ein Metallgehäuse für      – sie gehen davon aus, dass Sek-B-
den Motor eines Modellautos eines            Niveau schon ausreiche für diese Lehr-
externen Kunden – kein untypischer Auf-      stellen», sagt Bruno Wicki, der Berufs-
trag in der Lehrwerkstatt des Unterneh-      bildungsverantwortliche bei Schindler.
mens. Dazu muss sie das vorliegende          Er ist im Kanton Luzern regelmässig in
Bauteil zuerst ausmessen und seine Refe-     Sekundarschulen unterwegs, um über die
renzpunkte bestimmen, bevor sie am           Lehrberufe in der Industrie zu informie-
Computer eine exakte dreidimensionale        ren. Wicki betont: «Angehende Poly-
Zeichnung erstellen kann. Herstellen         mechaniker, Informatiker und Elektro-
wird sie die Motorschale dann an einer       niker müssen in Mathematik und Natur-
computergesteuerten Maschine.                wissenschaften genauso gut sein wie
    Das bedeutet aber nicht, dass die An-    Gymnasiasten.» Das sage er den Lehrern
lage auf Knopfdruck alles von selber aus-    und Schülern immer wieder vor Ort.
führen würde. Jenny muss, wie sich bei
ihrer zweiten Aufgabe zeigt, die moderne     Kandidaten mit Optionen
Fräsmaschine mit den passenden Aufsät-
zen bestücken. Und sie muss wissen, wel-     Dass Gymnasien und Industriebetriebe
che Drehzahl sie bei dem betreffenden        mitunter um die besten Schüler konkur-
Material verwenden kann und wie der          rieren, geht auch aus folgenden Daten zu
automatisierte Arm der Maschine das          den anspruchsvollsten Lehrberufen her-
eingespannte Metallstück anfahren soll,      vor: Laut Pisa-Studie können die besten
damit dieses nicht kaputtgeht. Die Be-       25 Prozent der Lehrlinge dieser Gruppe
fehle liessen sich zu einer langen Kette     besser rechnen als die meisten Gymna-
erweitern, die die Anlage über Stunden       siasten in der Schweiz. Das spricht zwar
autonom abarbeiten könnte. Dann wären        dafür, dass Berufslehren spannende Auf-
auch allfällige Verschleisserscheinungen     gaben für kluge Köpfe zu bieten haben.
beim Werkzeug mit einzubeziehen. Bei         Es setzt die Lehrbetriebe aber auch
Jennys Übungsstück, einem gravierten         unter Zugzwang, denn die Jugendlichen,
Handyhalter aus Aluminium, ist das zwar      um die sie buhlen, haben Optionen. Sie
nicht nötig. Kühlwasser spritzt, Metall-     könnten auch ins Gymnasium gehen – in
späne fliegen, nach etwa zehn Minuten        der hierzulande verbreiteten Annahme,
ist der Handyhalter fertig. Genau arbei-     dass sie mit der Matura zwar etwas weni-
ten, Prozesse,Techniken und Materialien      ger gute Aussichten auf dem Arbeits-
verstehen und vorausdenken muss die          markt, dafür aber einen höheren gesell-
21-Jährige trotzdem. «Das gefällt mir an     schaftlichen Status haben werden als mit      Bei Schindler in Ebikon werden unter anderem Polymechaniker, Elektroniker und Anlage- und Apparatebauer ausgebildet.
der Automation», sagt sie.                   einer Lehre, wie eine repräsentative Um-
    Prozesse der digitalisierten Fertigung   frage der Berner Forschungsstelle für
verstehen und vorausdenken können –          Bildungsökonomie 2012 gezeigt hat.
                                             Und mit der gymnasialen Matur in der                                                   kürzte Lehre machen können, zum Bei-         len und auch die klassische Lehre nicht
                                             Tasche kann man schliesslich an jeder                                                  spiel zum Polymechaniker. Das Angebot        konkurrenzieren. Schindler und Swiss-
                                             Universität und an jeder Fachhochschule                                                namens «Way-up» gibt es auch in ande-        mem,der Initiant von «Way-up» und auch
                                             in der Schweiz studieren gehen . . .                                                   ren Unternehmen der MEM-Industrie.           des sogenannten praxisintegrierten

Praxisintegriert                                Jenny Estermann hatte ebenfalls
                                             Optionen. In der Primarschule wollte sie
                                                                                                                                    Beim Luzerner Lifthersteller studieren
                                                                                                                                    die Maturanden im dritten und letzten
                                                                                                                                                                                 Bachelorstudiums (Pibs), eines weiteren
                                                                                                                                                                                 Brückenangebots für technikaffine

studieren
                                             Ärztin werden. Also wechselte sie nach                                                 Lehrjahr berufsbegleitend bereits an der     Maturanden (siehe Zusatz), verstehen
                                             der sechsten Klasse an die Kantons-             «Ich wollte kein                       Fachhochschule, so auch Jenny. «Ich          die Massnahme eher als Ergänzung.
                                             schule. «Das stand nie infrage», sagt die       Handlanger sein,                       finde das viel besser, als an der ETH ein    «Jedes Jahr verlassen mehrere hundert
R. Sc. · Ein praxisintegriertes Bachelor-    Luzernerin. Sie habe immer gerne ge-                                                   Ingenieurstudium zu beginnen und fast        Studenten die ETH oder die Universität,
studium (Pibs) dauert in der Regel vier      lernt, und es sei ihr immer leichtgefallen.
                                                                                             sondern etwas Neues                    keine praktische Erfahrung in einem Be-      weil ihnen das Studium zu theoretisch
Jahre; Maturanden und Fachmaturanden         Ihre Lieblingsfächer: Mathematik und            anpacken und auch                      trieb zu haben», sagt sie.Allerdings hätte   und zu schwierig ist»,sagt Robert Rudolph
studieren berufsbegleitend an einer          Biologie. Gegen Ende des Gymnasiums                                                    sie sich nicht beworben, wenn die Lehre      von Swissmem. Da sei man mit Blick auf
Fachhochschule. Zwei Tage pro Woche          hatte sie ein neues Ziel. Studieren wollte
                                                                                             umsetzen können.»                      wie sonst üblich vier Jahre dauern würde.    den Fachkräftemangel gut beraten, eine
arbeiten sie in einem Unternehmen, mit       sie zwar weiterhin, aber nicht mehr             Jenny Estermann                        In der Berufsfachschule war die Matu-        Alternative bieten zu können – wenn
dem sie zuvor einen Ausbildungsvertrag       Medizin, sondern Maschinenbau oder              Angehende Polymechanikerin             randin häufig unterfordert.                  auch in kleinem Umfang: Schweizweit
abgeschlossen haben. «Way-up»-Lehr-          Medizinaltechnik. Auf jeden Fall an der         und Maturandin                                                                      werden bisher nur rund fünfzig «Way-
linge erwerben ein eidgenössisches           Fachhochschule. Doch dazu hätte sie zu-                                                «Way-up», way out                            up»-Lehrstellen pro Jahr vergeben.
Fähigkeitszeugnis (EFZ), Pibs-Studen-        erst ein einjähriges Praktikum in einem                                                                                                Bei Schindler drehen sich die meisten
ten erhalten ein Bachelordiplom. Praxis-     Industriebetrieb absolvieren müssen.                                                   Ob man mit diesem Modell jene qualifi-       Anfragen von Eltern darum, herauszu-
integriert studieren kann man unter          Hätte sie dabei etwas gelernt? Jenny                                                   zierten Kandidaten doch noch für sich zu     finden, ob es nicht doch eine Lösung
anderem Maschinentechnik, Informatik         sagt: «Ich wollte kein Handlanger sein,                                                gewinnen versucht, die man Jahre vorher      gebe, wenn der Sohn oder die Tochter
oder Energie- und Umwelttechnik.Viele        sondern etwas Neues anpacken und auch                                                  ans Gymnasium verloren hat? Bruno            das Ingenieurstudium oder gar bereits
Firmen indes sind zurückhaltend. Swiss-      umsetzen können.» Da traf es sich gut,                                                 Wicki winkt ab.Man wolle die beiden Bil-     die Kantonsschule abgebrochen habe.
mem spricht von einem Testbetrieb.           dass Maturanden bei Schindler eine ver-                                                dungswege nicht gegeneinander ausspie-       «Viele interessieren sich dann für ein
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
Donnerstag, 5. April 2018                                                                                                                                                                              BILDUNG 7

                                                                                                                                            Seid besser
                                                                                                                                            als die Maschine!
                                                                                                                                            Die KV-Lehre, einst der Inbegriff einer soliden Grundlage,
                                                                                                                                            ist unter Druck. Junge Kaufleute müssen sich neu erfinden.

                                                                                                                                            CLAUDIA WIRZ                                  sitzt er sozusagen an der Quelle. Gene-
                                                                                                                                                                                          ralisten werde es immer brauchen. Sie
                                                                                                                                            Severin Lüthi, der langjährige Coach von      seien der Kitt zwischen den Spezialfunk-
                                                                                                                                            Roger Federer, hat eine. Der Verwal-          tionen in Unternehmen und als solche
                                                                                                                                            tungsratspräsident von Lindt & Sprüngli,      nicht durch Computerprogramme er-
                                                                                                                                            Ernst Tanner, ebenso. Auch Ueli Maurer        setzbar. Aber ohne Veränderungen – so
                                                                                                                                            kann eine vorweisen – als Einziger im         viel sei klar – wird es auch aus seiner
                                                                                                                                            Bundesrat, einem Gremium, das eine            Sicht auf bestehendem Niveau mit dem
                                                                                                                                            fast schon ungebührliche Übermacht an         KV nicht weitergehen.
                                                                                                                                            Akademikern aufweist. Fast unnötig zu             Im Fokus der Reformen stehen
                                                                                                                                            erwähnen, dass auch UBS-Chef Sergio           «Kompetenzen», wie Fertigkeiten in der
                                                                                                                                            Ermotti eine hat. Die Unternehmerin           heutigen Bildungswelt genannt werden
                                                                                                                                            Nadja Schildknecht hat sie ebenfalls in       und wie man sie mit dem Konzept des
                                                                                                                                            der Tasche, genauso wie die National-         selbstorganisierten Lernens eintrainiert.
                                                                                                                                            rätin und selbständige Kommunikations-        Gesunken sei das Leistungsniveau nicht,
                                                                                                                                            beraterin Natalie Rickli oder der Coop-       sagt Kaeser, aber die anvisierten Kompe-
                                                                                                                                            und Swisscom-Präsident Hansueli Loosli.       tenzen hätten sich geändert. Flexibles
                                                                                                                                                                                          Arbeiten, vernetztes Denken, arbeiten
                                                                                                                                            100 000 Stellen weniger?
                                                                                                                                            Die Rede ist von der kaufmännischen
                                                                                                                                            Lehre. Generationen von jungen Leuten
                                                                                                                                            haben diese Ausbildung absolviert, die
                                                                                                                                            gewissermassen zum Kulturerbe der
                                                                                                                                            Schweiz gehört. Sie gilt als grundsolide,
                                                                                                                                                                                             Melanie war mit
                                                                                                                                            vielseitig, krisenresistent, leidlich ange-      ihrer Lehre in der
                                                                                                                                            nehm und ausbaufähig. Ein idealer Lehr-
                                                                                                                                            beruf für Aufstiegswillige, die nicht gerne
                                                                                                                                                                                             Verwaltung nur bedingt
                                                                                                                                            in Wind und Wetter arbeiten und auf              zufrieden. Geringe
                                                                                                                                            eine gute Stellung aspirieren. Wer in den
                                                                                                                                            siebziger und achtziger Jahren des letz-
                                                                                                                                                                                             Wertschätzung und
                                                                                                                                            ten Jahrhunderts die Schulzeit durchlief,        langweilige Aufgaben
                                                                                                                                            durfte sich glücklich schätzen, wenn er
                                                                                                                                            eine der begehrten KV-Lehrstellen er-
                                                                                                                                                                                             prägten ihre Lehrzeit.
                                                                                                                                            gattern konnte.
                                                                                                                                                Doch die Zeiten haben sich geändert.
                                                                                                                                            Lehrstellenmangel gibt es aus verschie-
                                                                                                                                            denen Gründen schon länger nicht mehr.
                                                                                                                                            Vielmehr hat der «Kampf um Talente»
                                                                                                                                            schon die Schulabgänger erfasst. Auch         im Team, solides Präsentieren – all das
                                                                                                                                            die einst prestigeträchtige KV-Lehre ist      sei heute gefragt. Keine Frage, dass in
                                                                                                                                            davon betroffen. Regelmässig wieder-          diesem Konzept auch die Aussicht auf
                                                                                                                                            holen sich zur Sommerferienzeit die Mel-      das «lebenslange Lernen» nicht fehlt.
                                                                                                                                            dungen, wonach Hunderte von Lehrstel-            Produziert man mit dieser Doktrin
                                                                                                                                            len noch offen sind – wie im vergangenen      nicht einfach künftige Kunden für den
                                                                                                                                            Jahr. Arbeitgeber beklagen, dass Bewer-       riesigen Weiterbildungsmarkt? Schliess-
                                                                                                                                            bungen sowohl quantitativ rückläufig als      lich werden hier Milliarden umgesetzt.
                                                                                                                                            auch qualitativ nachlassend seien. Insbe-     Peter Kaeser weist diesen Gedanken
                                                                                                                                            sondere würden Bewerbungen von sehr           nicht gänzlich von der Hand. Aber er
                                                                                                                                            guten Schülern seltener. Lieber lasse         sieht die nichtformalen Qualifikationen
                                                                                                                                            man im Zweifelsfall eine Lehrstelle un-       im Aufschwung. Neben den klassischen
                                                                                                                                            besetzt, als sie mit einem Kandidaten zu      formellen Weiterbildungsangeboten und
                                                                                                                                            besetzen, von dem man nicht überzeugt         -zertifikaten wird, wie er glaubt, die Be-
                                                                                                                                            sei, liess im vergangenen Sommer etwa         deutung informeller Beurteilungen auf
                                                                                                                                            die Migros-Bank verlauten.                    Plattformen wie Linkedin zulegen. Wer-
                                                                                                                                                Die einstige Beschaulichkeit ist also     den Berufsleute also dereinst, statt an-
                                                                                                                                            vorbei. Die Globalisierung sorgt dafür,       hand von Diplomen eingeschätzt, wie
                                                                                                                                            dass Stellen ins Ausland verlagert wer-       Hotelzimmer im Internet mittels Stern-
                                                                                                                                            den, die Digitalisierung ersetzt mensch-      chen beurteilt werden?
Jenny Estermann bereitet eine Fräsmaschine vor (oben). Kurz danach fliegen Metallspäne an die Schutzscheibe.     BILDER KARIN HOFER / NZZ   liche Arbeitskraft, und mit der Akademi-
                                                                                                                                            sierung der Arbeitswelt machen auch           Zu wenig Fachwissen
                                                                                                                                            Hochschulabgänger den KV-Absolven-
                                                                                                                                            ten Konkurrenz. Vom Kaufmännischen            So oder so – dass der Lehrabschluss erst
                                          ‹Way-up›», sagt Wicki. Auch hier stellt      Studium für jene Maturanden ausgespro-               Verband selbst durchgeführte Studien          der Anfang einer Bildungskarriere ist
                                          sich die Frage, ob diese Gruppe mit einer    chen,die sowohl studieren wollen als auch            rechnen damit, dass in der kommenden          und nicht ihr Ende, ist auch der jungen
                                          anspruchsvollen technischen Lehre von        eine praktische Ausbildung in einem                  Dekade bis zu 100 000 klassische KV-          KV-Absolventin klar, die wir hier Mela-
                                          Anfang an besser bedient gewesen wäre        Unternehmen anstreben. Und warum                     Stellen verschwinden könnten.                 nie Müller nennen, die im realen Leben
                                          als mit dem Gymnasium. Für akademi-          sollte man Polymechaniker nicht auch auf                                                           aber anders heisst. Sie war mit ihrer KV-
                                          sche Weihen zumindest sind nicht alle        Tertiärstufe studieren können, wo doch               Immer noch die Beliebteste                    Lehre in der öffentlichen Verwaltung
                                          gemacht. 2017 lag der Anteil der Matu-       diese Berufe im Zuge der fortschreiten-                                                            nur bedingt zufrieden, vor allem, was
  «Angehende                              randen, die sich für ein technisches Stu-    den Robotisierung noch anspruchsvoller               All diese Meldungen sind nicht gerade         die betriebliche Ausbildung betraf.
  Polymechaniker                          dium an einer Fachhochschule einschrie-      werden dürften? Schellenbauer weiss,                 eine Imagekampagne zugunsten einer            Geringe Wertschätzung, häufige Abtei-
                                          ben, bei 17 Prozent. 2010 waren es 14        dass er damit aneckt.Zu seiner Studie von            KV-Lehre. Dennoch ist diese Lehre nach        lungswechsel, langweilige Aufgaben und
  müssen in Mathematik                    Prozent. Der Druck, unbedingt ins Gym-       2009 gab es viel Kritik. Erfolgsmodelle              wie vor die mit Abstand beliebteste Be-       mangelndes Engagement des Lehrlings-
  genauso gut sein                        nasium gehen zu müssen, kommt viel-          wie die Berufsbildung in der Schweiz las-            rufsausbildung. Im Jahr 2016 begannen         verantwortlichen prägten ihre Lehrzeit.
                                          leicht auch hier zum Ausdruck.               sen sich nur schwer reformieren.                     14 280 Personen eine KV-Lehre, davon          Die schulische Bildung wiederum emp-
  wie Gymnasiasten.»                                                                      Jenny Estermann brauchen diese Fra-               8119 Frauen. Bei beiden Geschlechtern         fand sie als zu generalistisch, um gegen-
  Bruno Wicki                             Polymechaniker studieren?                    gen nicht zu kümmern. Weder gehört sie               ist «das KV» die am häufigsten gewählte       über der akademischen Konkurrenz mit
  Direktor Berufsbildung                                                               zu denjenigen, die unbedingt ins Gymna-              berufliche Grundbildung.                      Fachwissen punkten zu können.
  bei Schindler                           Andererseits ist es richtig, dass sich die   sium mussten, noch musste sie sich recht-                Wenn man Peter Kaeser glaubt, ist das        Trotz Berufsmatura und besten Noten
                                          berufliche Grundbildung, die Basis der       fertigen für ihren Entscheid, dass sie nach          kein Fehlentscheid. Die angehenden            suchte Melanie Müller nach der Lehre
                                          Schweizer Industrie, nicht zurücklehnt       der Matur eine Lehre machen wollte.                  Kaufleute haben seiner Meinung nach           lange nach einer angemessenen Stelle,
                                          und dass sie stattdessen vielmehr mit        «Mein Umfeld reagierte sehr positiv»,                keinen Grund zur Sorge. Für existenziell      und sie war nicht die Einzige, der dies
                                          neuen Modellen experimentiert. Für           sagt sie. Anders als ihre Kollegen aus der           bedroht hält er den kaufmännischen Be-        widerfuhr. Rund der Hälfte ihrer Kolle-
                                          Patrik Schellenbauer weisen «Way-up»         Schulzeit weiss sie nun, wie eine Firma              ruf keineswegs.Als Vizedirektor und Lei-      ginnen und Kollegen erging es nach dem
                                          und Pibs in die Zukunft: Der Chef-           funktioniert. Und sie weiss, was sie als             ter Grundbildung an der WKS KV-Bil-           Lehrabschluss gleich. Nun aber hat sie
                                          ökonom des Think-Tanks Avenir Suisse         Nächstes will: Medtech studieren und                 dung Bern, einer der grossen kaufmänni-       eine gute Stelle gefunden. Und ein pas-
                                          hat sich schon vor Jahren für ein duales     später automatisierte Geräte entwickeln.             schen Berufsfachschulen der Schweiz,          sendes Wirtschaftsstudium dazu.
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
8 BILDUNG                                                                                                                                                                                                                                     Donnerstag, 5. April 2018

  Labyrinth der Möglichkeiten –
  das Schweizer Bildungssystem auf einen Blick
          Die zehn am seltensten                      Die zehn beliebtesten
          gewählten Lehrberufe                        Lehrberufe

                                                                                                                                               Fachmann/-frau
                                                                                                                                                 Betreuung
                                                         Holzhandwerker
                                                                                                         Vergolder/
                                                                                                         Einrahmer

                                                                                                                                                                                       Informatiker

                                                                                                                                                                                                                                                               Koch/Köchin

                                                                                                                                                         Messerschmied
                                                                                                                          Schuhmacher

                                                                                                                                                                                                                            Detailhandels-
                                                                                                                                                                                                                           fachmann/-frau

    Korb- und Flecht-
     werkgestalter
                                                                    Höhere Berufsbildung                                                                                         Hochschulen

                                               Eidg. Diplom                        Diplom HF                                  Master                                    Master                                     PhD/Doktorat
                   Tertiätrstufe

                                               Eidg. Fachausweis                                                              Bachelor                                  Bachelor                                   Master
                                                                                                                                                                                                                   Bachelor                                   Fachmann/-frau
                                                                                                                                                                                                                                                                Gesundheit
                                               Berufs- und höhere                  Höhere Fachschulen                         Fachhochschulen                           Pädagogische                               Universitäten
                                               Fachprüfungen                                                                                                            Hochschulen                                ETH

    Büchsenmacher
                                                                                                                                                                                    Passerelle

                                                                                                            Berufsmaturität                               Fachmaturität                                  Gymnasiale Maturität

                                           Eidg. Berufsattest                                    Eidg. Fähigkeitszeugnis                       FMS-Ausweis
                   Sekundarstufe II

                                           Betriebe, Berufsfachschulen,                           Betriebe, Berufsfachschulen,                 Fachmittelschulen                                         Gymnasien
                                           überbetriebliche Kurse                                 überbetriebliche Kurse

                                                                          Berufliche Grundbildung                                                                                 Allgemeinbildende Schulen                                                         Kaufmann/-frau

                                                                                                Steinwerker                                                                                      Zeichner

                                                                                                                                                     Logistiker

                                                                                                                 Küfer                                                                                             Elektroinstallateur

       Industriekeramiker

                                                                                                                                        Marmorist                                   Polymechaniker

Zufriedenheit der Lehrlinge mit ihrer Berufswahl              Übertritte in die höhere Berufsbildung            Berufsmaturandenquote, Abschlüsse in und          Passerellen-Ausweise, die nach der Berufs-           Bruttoeinkommen nach Abschluss, ohne Kaderfunktion
                                                                                                                nach der Lehre (BM 1 und BM 2)                    matur zum Studium an einer Uni berechtigen
In Prozent, 2016                                              In Prozent, 2015                                  In Prozent, 2015                                  Total                                                                          In Franken, Median
                                                                                                                                                                                                                                                                      Frauen Männer
                                                               50                                                 50                                              500                                                  Universitäre Hochschule
                                 Weiss nicht    9
      Berufslehre ist zweite Wahl 11                                                                                                                                                                                   Fachhochschule,
                                                               40                                                40                                               400                                                  Pädagogische Hochschule
                Hätte lieber eine 4
           andere Lehre gemacht                                                                                                                                                                       Männer
                                                                                                                                                                                                                       Höhere Berufsbildung
                                                               30                                                30                                               300
                                                                                                                                                                                                      Frauen
                                                                                                                                                                                                                       Lehrerpatent
                                               76              20                                                20                                               200
                                                                                                                                                                                                                       Matura

                                                               10                                                10                                               100
                                                                                                                                                                                                                       Berufslehre

                           Wunschberuf                                                                            0                                                 0                                                  Ohne abgeschlossene
                                                                0
                                                                                                                              BM 1            BM 2                        2007                              2015       Berufsausbildung
                                                                       Frauen      Männer        Total
                                                                                                                                                                                                                                                   5000     6000      7000     8000
QUELLEN: BUNDESAMT FÜR STATISTIK; STAATSSEKRETARIAT FÜR BILDUNG, FORSCHUNG UND INNOVATION                                                                                                                                                                                NZZ-Infografik/jok.
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
Donnerstag, 5. April 2018                                                                                                                                                                     BILDUNG 9

NATALIE AVANZINO                                                                                                                                                                     «Strukturell gesehen ist unser Bil-
                                                                                                                                                                                  dungssystem sehr durchlässig. Doch lei-
Moritz ist ein sehr guter Sekundarschü-                                                                                                                                           der werden die Voraussetzungen der ein-
ler. Seine Klassenkameradin Carla eben-                                                                                                                                           zelnen Berufseinsteiger dabei vollstän-
falls. Und Tom träumt zwar im Unter-                                                                                                                                              dig ausgeklammert», konstatiert Kost,
richt häufig vor sich hin, an Prüfungen                                                                                                                                           der seit mehreren Jahren zum Thema
kann er das geforderte Wissen aber meist                                                                                                                                          Durchlässigkeit in der Bildung forscht.
abrufen. Die 14-Jährigen schreiben ähn-                                                                                                                                           Junge Menschen müssten nur ausrei-
lich gute Noten, doch ihre berufliche                                                                                                                                             chend wollen und sich anstrengen, dann
Entwicklung dürfte in ganz unterschied-                                                                                                                                           sei alles denkbar – für den Erziehungs-
lichen Bahnen verlaufen. Die Eltern von                                                                                                                                           wissenschafter greift diese Darstellungs-
Moritz hätten ihn gerne am Gymnasium                                                                                                                                              weise zu kurz. Für ihn wird das Verspre-
gesehen, leider hat es an der Aufnahme-                                                                                                                                           chen der offenen Möglichkeiten nach
prüfung nicht geklappt. Nun unterstüt-                                                                                                                                            der Lehre nicht eingelöst.Auch wenn die
zen ihn die Eltern bei der Suche nach                                                                                                                                             Einführung der Berufsmatur die Durch-
einem kaufmännischen Ausbildungs-                                                                                                                                                 lässigkeit erhöht habe, bleibe die Wahr-
platz, am liebsten bei einer Bank oder                                                                                                                                            scheinlichkeit, ob jemand die Berufs-
einer Versicherung. Der Vater, selbst in                                                                                                                                          matur mache oder nicht, deutlich vom
der Finanzbranche tätig, erfährt über                                                                                                                                             sozioökonomischen Status der Eltern
sein Netzwerk von einem Arbeitgeber,                                                                                                                                              und vom Geschlecht abhängig, sagt Kost.
der Moritz eine KV-Stelle mit Berufs-                                                                                                                                                Die Statistik mag dieser Sicht der
matur anbietet. Etwas mehr als jeder                                                                                                                                              Dinge Recht geben, und es klingt nach-
siebte Lehrling erwirbt laut Bundesamt                                                                                                                                            vollziehbar, dass Jugendliche eher in ihre
für Statistik einen solchen Abschluss.                                                                                                                                            Ausbildung investieren, wenn sie dabei
2015 lag die Quote der Berufsmaturan-
den bei 15,1 Prozent, die gymnasiale
Matur in der gleichaltrigen Referenz-
gruppe machten 20,8 Prozent.

HF, FH und andere Optionen                                                                                                                                                           Bei Carla verläuft die
Mit der Einführung der Berufsmatur                                                                                                                                                   Berufswahl harzig. Ihre
vor rund 25 Jahren waren viele Absich-
ten verbunden. Vorrangig sollte sie eine
                                                                                                                                                                                     bildungsfernen Eltern
zuverlässige Qualifizierung künftiger                                                                                                                                                aus Spanien können sie
Studentinnen und Studenten für die
Fachhochschulen ermöglichen. Die
                                                                                                                                                                                     nur wenig unterstützen.
Hoffnung war aber auch, die Durch-
lässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen
und soziale Ungleichheiten zu reduzie-
ren. Wege sollten sich öffnen – auch
nach einer Berufslehre. Haben sich diese
Erwartungen erfüllt?                                                                                                                                                              von ihrem Umfeld unterstützt werden.
   Bei Carla zumindest verläuft die Be-                                                                                                                                           Hürden im System gibt es aber auch auf-
rufswahl harzig. Ihre aus Spanien einge-                                                                                                                                          seiten der Lehrbetriebe. Nicht jeder hat
wanderten Eltern können sie nur wenig                                                                                                                                             wie Moritz die Chance, die Berufsmatur
unterstützen. In der Schweiz stehen über                                                                                                                                          bereits während der Lehre in Angriff zu
230 Lehrberufe zur Wahl. Die Sekundar-                                                                                                                                            nehmen – weil bei weitem nicht alle Be-
schülerin überlegt sich, einen Pflege-                                                                                                                                            triebe flexibel genug oder willens sind,
beruf zu erlernen. Ihr Berufsberater                                                                                                                                              ambitionierten Kandidaten diese Mög-
zeigt ihr die verschiedenen Wege auf:                                                                                                                                             lichkeit anzubieten. Da muss man sich
Einerseits kann sie eine dreijährige                                                                                                                                              nicht wundern, wenn Sekundarschüler
Lehre zur Fachfrau Gesundheit absolvie-                                                                                                                                           mit guten Noten dann doch keine Lehre
ren. Wenn sich Carla danach zur diplo-                                                                                                                                            machen und stattdessen lieber ins Kurz-
mierten Pflegefachfrau HF weiterbilden                                                                                                                                            zeitgymnasium übertreten, um danach
möchte, steht ihr berufsbegleitend die                                                                                                                                            direkt studieren gehen zu können – egal,
höhere Fachschule (HF) offen. Mit Be-                                                                                                                                             ob an einer Fachhochschule, einer Uni-
rufsmatur oder andererseits über eine                                                                                                                                             versität oder an der ETH.
Fachmittelschule könnte sie aber auch
ein Bachelorstudium an einer Fachhoch-                                                                                                                                            Lücken in der Altersvorsorge
schule (FH) beginnen. Nach dem Ab-
schluss wäre sie dann ebenfalls diplo-                                                                                                                                            Theoretisch kann man auch nach der be-
mierte Pflegefachfrau, allerdings mit                                                                                                                                             ruflichen Grundbildung an einer univer-
dem Zusatz FH statt HF. Mit dem Fach-                                                                                                                                             sitären Hochschule studieren. Diese
hochschuldiplom könnte sie auch noch                                                                                                                                              Option gibt es seit rund 15 Jahren. Sie
einen Master erwerben. Als diplomierte                                                                                                                                            führt von der Berufsmatur über die soge-
Pflegefachfrau HF wiederum hätte sie                                                                                                                                              nannte Passerelle, ein Übertrittspro-
Zugang zu einem berufsbegleitenden                                                                                                                                                gramm, das zirka ein Jahr in Anspruch
FH-Bachelor für Pflegende.                                                                                                                                                        nimmt. Praktisch jedoch machen von die-
   Die vielen Optionen machen es der                                                                                                                                              sem Angebot nur wenige Gebrauch. 2015
Jugendlichen nicht einfacher. Nach eini-                                                                                                                                          haben lediglich 773 Personen einen sol-
gen Diskussionen mit ihren Eltern ent-                                                                                                                                            chen Ausweis erworben. Gemessen an
scheidet sie sich für eine Lehre zur Fach-                                                                                                                                        allen Berufsmaturitätsabschlüssen sind
frau Gesundheit. Die eher bildungs-                                                                                                                                               das weniger als fünf Prozent. Unser Schü-
fernen Eltern sind froh, dass ihre Toch-                                                                                                                                          ler Tom könnte sich diesen Weg vorstel-
ter baldmöglichst etwas in der Hand hat.     Wohin nach der Lehre? Darüber können Berufseinsteiger nur bedingt selber bestimmen – zumindest laut Statistik.   KARIN HOFER / NZZ   len. Nach einer Lehre als Landschafts-
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es                                                                                                                                              gärtner wird er ein Jahr anhängen, um die
Carla bei diesem Abschluss belassen.                                                                                                                                              Berufsmatur nachzuholen. Danach kann

                                             Durchlässigkeit
Sowohl ein Besuch der höheren Fach-                                                                                                                                               er einen privaten Kurs belegen, die Pas-
schule als auch ein Studium an der Fach-                                                                                                                                          serelle absolvieren und ein Studium auf-
hochschule würden weitere Kosten nach                                                                                                                                             nehmen, vielleicht Umweltnaturwissen-
sich ziehen – sie fiele ihren Eltern noch                                                                                                                                         schaften an der ETH Zürich. Allerdings
länger zur Last.                                                                                                                                                                  muss er dafür hohe Kosten auf sich neh-

                                             hat einen Preis
                                                                                                                                                                                  men. Neben Lohneinbussen und Semes-
Offenes Versprechen                                                                                                                                                               tergebühren wird er Lücken in der
                                                                                                                                                                                  Altersvorsorge zu gewärtigen haben, vor
Carlas Beispiel zeigt exemplarisch, wel-                                                                                                                                          allem in der Pensionskasse. Im schlimms-
che Fallstricke im Bildungssystem lau-                                                                                                                                            ten Fall wird er diesen Rückstand sein
ern. Obwohl die junge Frau eine sehr                                                                                                                                              ganzes Berufsleben lang kaum mehr
gute Sek-Schülerin ist, entscheidet sie
sich für eine Berufsausbildung mit mitt-
                                             Lehrlinge können später studieren, auch an der Universität. Diese                                                                    kompensieren können, selbst wenn er als
                                                                                                                                                                                  Akademiker dereinst ein überdurch-
lerem Anspruch, ohne die Optionen, die       Möglichkeiten nutzen aber längst nicht alle, die es eigentlich könnten.                                                              schnittliches Einkommen erzielen sollte.
sich ihr nach der Lehre böten, ernsthaft                                                                                                                                              Noch nie gab es so viele Ausbildungs-
in Betracht zu ziehen. Für Jakob Kost,                                                                                                                                            möglichkeiten wie heute. Studien bele-
Erziehungswissenschafter an der Päd-                                                                                                                                              gen aber, dass sich bei nahezu jedem
agogischen Hochschule Bern, steht Car-                                                                                                                                            Übertritt in der Schule, beim Berufsein-
las Entscheidung sinnbildlich für einen                                                                                                                                           stieg und im Studium die Effekte der
typischen Fall: Jugendliche aus einfachen                                                                                                                                         sozialen Herkunft reproduzieren. Tom
Verhältnissen orientieren sich vorwie-                                                                                                                                            und Moritz, die beiden Schweizer Schü-
gend an der unmittelbaren Verwertbar-                                                                                                                                             ler aus einem bildungsinteressierten
keit von Berufsabschlüssen. Frauen ver-                                                                                                                                           Umfeld, werden voraussichtlich von der
zichten zudem häufiger auf eine Weiter-                                                                                                                                           Durchlässigkeit des Systems profitieren.
bildung als ihre Kollegen. So gehen von                                                                                                                                           Carla hingegen, die Arbeitertochter mit
den männlichen Lehrabgängern mit Be-                                                                                                                                              den guten Schulnoten, wird es hierbei
rufsmatur rund 70 Prozent an eine Fach-                                                                                                                                           ungleich schwerer haben. Vielleicht ste-
hochschule, auch unser Beispiel Moritz                                                                                                                                            hen sie und ihre Eltern für jene Gruppe,
wird sehr wahrscheinlich diesen Weg                                                                                                                                               die es gezielt zu ermutigen gilt: von Leh-
wählen. Von den gleich qualifizierten                                                                                                                                             rern, Berufsberatern, Lehrbetrieben und
jungen Frauen mit Berufsmatur studie-                                                                                                                                             Ausbildnern. Damit eine Lehre nicht
ren hingegen nur 45 Prozent an einer                                                                                                                                              Endstation, sondern erst ein erster
Fachhochschule.                                                                                                                                                                   Schritt ist in der Arbeitswelt.
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
10 BILDUNG                                                                                                                                                                                          Donnerstag, 5. April 2018

Vier Menschen – vier Wege in und nach der Lehre

                                                                                                Der Chocolatier
                                                                                                Sasha Kupferschmied hat die Matur gemacht, an der Uni studiert und ein Geschäft aufgebaut.
                                                                                                Jetzt absolviert er eine Lehre zum Lebensmitteltechnologen. Er könnte nicht glücklicher sein.

                                                                                                ANTONIO FUMAGALLI, FREIBURG                   und schrieb sich an der Universität Frei-     Metier: «Ich interpretiere die Schoko-
                                                                                                                                              burg in Biochemie ein. Nach zwei Semes-       ladeherstellung als progressive Zerklei-
                                                                                                Der Lärm ist ohrenbetäubend, die              tern brach er ab, ihm fehlte der Bezug        nerung der Kakaobohne.» Oder: «Beim
                                                                                                Wärme schweisstreibend. Sasha Kupfer-         zur Praxis. Also baute er in der Freibur-     Conchieren bilden sich in hochkonzen-
                                                                                                schmied steht neben einer mehrere             ger Innenstadt eine Starbucks-Filiale auf     trierter Form die Aromen, nach denen
                                                                                                Meter hohen Maschine, die Kakaomasse          und arbeitete in verschiedenen anderen        wir suchen.» Es kommt nicht von unge-
                                                                                                mit den zusätzlichen Schokoladezutaten        Funktionen für den Kaffeemulti.               fähr, dass Kupferschmied sagt, ihm helfe
                                                                                                vermischt – Zucker, Milch, Kakaobutter,          Und doch fehlte etwas. «Die Fabrika-       das analytische Denken im Arbeitsalltag.
                                                                                                Vanille. «Je nach Rezept ist es eine unter-   tion von Lebensmitteln hat mich schon         Vermissen tue er die Schulbank aber nie.
                                                                                                schiedliche Menge. Wie viel hinein-           immer fasziniert», sagt Kupferschmied         Sozusagen als Anerkennung seiner für
                                                                                                kommt, ist Betriebsgeheimnis», sagt er        in fast akzentfreiem Französisch. Aber        einen Auszubildenden überdurchschnitt-
                                                                                                und kontrolliert, ob Druck und Tempera-       warum gerade Schokolade? «Schwierig           lichen Kenntnisse darf Kupferschmied
                                                                                                tur stimmen. Es passt. Ein Metallrohr lei-    zu sagen», antwortet der 27-Jährige. Es       bereits im ersten Lehrjahr eine Weiterbil-
                                                                                                tet die Masse ins untere Stockwerk, Wal-      möge damit zusammenhängen, dass die           dung besuchen. Und er erhält, auch auf-
                                                                                                zen pressen sie in hauchdünne Schichten.      Familie seiner Mutter, einer Kolumbia-        grund seines Alters, einen deutlich höhe-
                                                                                                Zahlreiche Arbeitsschritte später wird        nerin, im hauseigenen Garten Kakao-           ren Lohn als seine bis zu zehn Jahre jün-
                                                                                                daraus jene Milchschokolade mit Man-          stauden anpflanze. Das habe ihn geprägt.      geren Kollegen in der Berufsschule.
                                                                                                delstücken entstehen, die man beim            Im Frühling 2017 klopfte er an die Tür            Ob er sein Leben lang als Lebensmit-
                                                                                                Detailhändler kaufen kann.                    des traditionsreichen Schokoladeherstel-      teltechnologe arbeiten will, weiss er noch
                                                                                                    Dass Kupferschmied hier in einem          lers Villars und bewarb sich für eine         nicht. Er könne im Beruf nicht glück-
                                                                                                Aussenquartier von Freiburg eines der         Lehre zum Lebensmitteltechnologen             licher sein als jetzt und wünsche sich, bei
                                                                                                schweizerischsten Produkte herstellt,         mit Fachgebiet Schokolade. Die Verant-        der Entwicklung von neuen Produkten
                                                                                                darauf hat vor zwei Jahren noch nichts        wortlichen nahmen ihn mit Handkuss.           von Villars mithelfen zu können. Der
                                                                                                hingedeutet. Und vor zwanzig noch             Nicht nur, weil Kupferschmied bereits         Lehrling – die Ausbildung dauert insge-
                                                                                                weniger. Er wuchs in Flensburg in Nord-       über Arbeitserfahrung und akademische         samt drei Jahre – kann sich aber auch
                                                                                                deutschland auf und kam erst im Alter         Kenntnisse verfügte. Sondern auch, weil       vorstellen, sich eines Tages wieder wis-
                                                                                                von zwölf Jahren in die Schweiz. Franzö-      Chocolatier-Nachwuchs rar ist. Obwohl         senschaftlicher mit der Materie ausein-
                                                                                                sisch sprach er kein Wort. Im zweispra-       Villars jährlich bis zu zwei Lehrlinge aus-   anderzusetzen. Vielleicht sogar an der
                                                                                                chigen Kanton Freiburg hätte er die           bilden könnte, gibt es Jahre, in denen        ETH Zürich, wo es am Institut für
                                                                                                Schule auch auf Deutsch absolvieren           niemand die Ausbildung in Angriff             Lebensmittelwissenschaften, Ernährung
                                                                                                können, aber Kupferschmied besuchte           nimmt. Über die Gründe rätselt das            und Gesundheit einen Arbeitskreis für
                                                                                                bewusst den französischsprachigen             Unternehmen.                                  Schokoladentechnik gibt. Für den intel-
                                                                                                Unterricht. «Es war eine Challenge für           Seit einem Dreivierteljahr arbeitet        lektuellen Chocolatier wäre es eine wei-
                                                                                                mich, aber ich wollte wie meine Kollegen      Kupferschmied nun im Betrieb und              tere Challenge – und die Verbindung von
Dem Studienabbrecher Sasha Kupferschmied gefällt es in der Fabrik.      NATHALIE TAIANA / NZZ   sprechen», sagt er. Er bestand die Matur      spricht schon wie ein alter Hase über sein    zweien seiner vielen Welten.

Die Kindererzieherin
Franziska Liscioch war skeptisch, ob sie nach der Lehre an
die höhere Fachschule soll. Heute ist sie froh um diesen Schritt.

REBEKKA HAEFELI, ZÜRICH                      die Eingewöhnungszeit am Anfang. Da
                                             sind viele Emotionen im Spiel, und häu-
Diese junge Frau ist im Schuss. Mit ihren    fig gibt es Tränen. Das lässt auch die
Birkenstock-Schuhen eilt sie an die Tür      Krippenmitarbeiterinnen nicht kalt. «In
der Krippe und öffnet sie schwungvoll,       diesem Wechselbad der Gefühle müssen
ein breites Lachen im Gesicht. Hier fühlt    wir viel Sicherheit ausstrahlen», sagt
man sich sofort willkommen. Franziska        Franziska Liscioch.
Liscioch kommt gerade vom Mittag-               Die 27-jährige Zürcher Oberländerin
essen, das sie im «Chinderhuus Kaya» in      hat nach dem zehnten Schuljahr eine
Zürich Affoltern im Kreise der Kinder        Lehre als Fachfrau Betreuung mit der
eingenommen hat. Es gab Bärlauch-            Fachrichtung Kinderbetreuung absol-
risotto mit Tofu, etwas Gesundes. Nor-       viert. Zehn Jahre ist das nun her. Drei
malerweise wäre sie jetzt mit dem «Mit-      Jahre dauerte ihre Lehrzeit in einer
tagsputz» beschäftigt, wie sie schmun-       Hort- und Krippeneinrichtung in Uster.
zelnd erklärt. «Es sieht jeweils recht       Schon am ersten Lehrtag fühlte sie sich
nach Party aus, wenn die Kinder fertig       unter den vielen Kindern so wohl wie ein
sind mit dem Essen.»                         Fisch im Wasser. Von Anfang an fiel es
   44 Mädchen und Buben im Alter zwi-        ihr leicht, den Zugang zu den Kleinen zu
schen drei Monaten und vier Jahren sind      finden. Dabei stand Kleinkinderzieherin
ihre Schützlinge. Manche von ihnen ver-      nicht zuoberst auf ihrem Wunschzettel
bringen fünf Tage pro Woche in der           der Berufe. Franziska Liscioch peilte ur-
Krippe, weil beide Eltern Vollzeit arbei-    sprünglich eine Ausbildung im Bereich              Franziska Liscioch bildet sich weiter – Management und Führung gehören in Krippenbetrieben ebenfalls dazu.              NATHALIE TAIANA / NZZ
ten. «Wir begleiten die Kleinen über meh-    Gestaltung an, zum Beispiel Grafikerin
rere Jahre: Das ist megaschön!», sagt Li-    oder Polygrafin. Doch als sie die Prüfung
scioch. Wenn ein Kind die ersten Schritte    für den Vorkurs an der Schule für Gestal-
gemacht oder ein neues Wort gelernt          tung nicht bestand, platzte der Traum.             Sinne von «Drill» habe das nichts zu tun,     Lehre müsse doch reichen.» In der Wei-        Kolleginnen zusammen, die wie sie an
habe, freue sie sich fast genauso darüber       Mit ihrem Beruf ist sie vollkommen              sagt Liscioch. Vielmehr versuche man,         terbildung werde nun aber vieles ver-         der HF gewesen seien, wie mit Lehr-
wie die Mutter oder der Vater. Manch-        glücklich. Vor allem das Konzept der               optimal auf die individuellen Interessen      tieft. Neben Pädagogik wird auch Wissen       abgängerinnen und Praktikantinnen: «Es
mal, gibt sie zu, sei dieser Flohhaufen      Krippe in Zürich Affoltern findet sie              der Kleinen einzugehen.                       in Teamführung und Management ver-            braucht beides – Theorie und Praxis.»
aber auch recht anstrengend. Etwa, wenn      überzeugend. In der sogenannten Bil-                  Nach ihrer Lehre arbeitete die junge       mittelt. Damit bekommt Liscioch das           Persönlich fühle sie sich durch die Weiter-
eines der Kinder gerade in der «Trötzli-     dungskrippe haben die Kinder ein ge-               Frau einige Jahre in einer anderen            Rüstzeug, um später mehr Verantwor-           bildung an der höheren Fachschule siche-
Phase» sei. An solchen Tagen sinke sie       wisses Mitspracherecht. Jeden Morgen               Krippe, bevor sie ihre jetzige Stelle über-   tung im Krippenbetrieb zu übernehmen          rer, denn immer mehr Kinder hätten
abends nur noch ins Bett. «Zum Glück         dürfen sie wählen, mit welchem Thema               nahm. Hier schlug ihr die Krippenleitung      – was auch eine Chance ist, ihren Lohn        einen schwierigen Hintergrund. «Wir
weiss ich mittlerweile aus Erfahrung, dass   sie sich beschäftigen wollen: mit Musik,           vor, eine höhere Fachschule zu besuchen       aufzubessern.                                 haben Flüchtlingskinder, die Traumata
das Trotzen auch wieder vorbeigeht.»         Geschichten, Rollenspiel und Sichver-              und sich zur diplomierten Kindererzie-            Franziska Liscioch weiss eine gute        erlebt haben. Das sind Herausforderun-
   Eine schwierige Phase ist für Kinder,     kleiden oder auch einfach mit Bewe-                herin HF weiterzubilden. «Zuerst war          Durchmischung der Mitarbeitenden zu           gen, die nicht einfach zu meistern sind.
Eltern und Betreuungspersonen auch           gung im Garten. Mit Frühförderung im               ich skeptisch», sagt sie. «Ich dachte, eine   schätzen. Sie arbeite genauso gerne mit       Da hilft es mir, eine gute Basis zu haben.»
BILDUNG - Berufsbildung? Das Erfolgsmodell bekommt den Druck der Zukunft zu spüren
Donnerstag, 5. April 2018                                                                                                                                                                          BILDUNG 11

Die Ausbildnerin
Stefanie Kilcher weiss, was sie von einem Landschaftsgärtner
erwartet – und wo sie ihre Lehrlinge unterstützen muss.

ROBIN SCHWARZENBACH, GERLAFINGEN               wackelt.» Die beiden werdenden Land-
                                               schaftsgärtner müssen noch einmal ran.
Ein kalter Samstagmorgen im März. In               Kilcher ist streng, aber sie kümmert
einer Lagerhalle in Gerlafingen im Kan-        sich um ihre Schützlinge. Vor der prakti-
ton Solothurn machen sich vier junge           schen Aufgabe hat sie mit ihnen theore-
Männer ans Werk. Sie müssen eine Trep-         tisches Wissen zum Treppenbau durch-
pen bauen: drei Stufen, drei Beton-            genommen, das man in diesem Beruf am
elemente, die sich auf einem Kieshaufen        Ende der dreijährigen Lehre verinner-
zu einem exakten, stabilen Ganzen zu-          licht haben muss. Die Blätter mit mög-
sammenfügen sollen. Die Werkzeuge:             lichen Prüfungsfragen zum Thema hat sie
Schaufel, Stampfer, Pflasterkelle,Wasser-      selber zusammengestellt. In ihrer eige-
waage, Metermass und Hammer – keine            nen Lehrzeit in einem anderen Unter-
einfache Aufgabe, denn das Konstrukt           nehmen gab es das nicht – keine Übungs-
verzeiht keine Fehler. Wacklige Stellen        vormittage mit Ausbildnern im Betrieb,
oder Unebenheiten bei der ersten Stufe         keine Unterstützung in der Theorie. Da-
setzen sich bei der zweiten und dritten        für «durfte» sie den Rasen im Garten
gnadenlos fort. Zu eben dürfen die Tritte      ihres damaligen Lehrmeisters mähen.
aber auch nicht liegen. Das Regenwasser        Sonst hatte sie mit ihm wenig zu tun.
soll schliesslich ablaufen können, sie             Das will die 29-Jährige heute anders
müssen sich etwas nach vorne neigen.           machen. Ein guter Berufsbildner spüre         Gartenbau ist harte Arbeit. Stefanie Kilcher sagt: «Man muss den Willen haben, das durchzuziehen.»                        KARIN HOFER / NZZ
   Wie nennt man das Mass, das die             seine Lehrlinge, sagt sie. «Man muss Pro-
Tiefe eines Treppentritts bestimmt? Die        bleme ansprechen können – man sollte
Lehrlinge und der Praktikant der Garten        es aber auch lustig haben untereinan-
und Rasen Jost AG stutzen, halten inne,        der», betont Kilcher, die zwar weiss, was     eine Funktion mit unerwarteten Er-             sich der Unterstifte annahm, die eben-       strengung – aber man muss den Willen
raten: «Auftritt»? Stefanie Kilcher hilft      sie von ihren Lehrlingen erwartet, im         kenntnissen: «Bei diesen Prüfungen             falls Landschaftsgärtner werden wollten      haben, das durchzuziehen.»
ihnen weiter. «Fast», antwortet die Be-        Umgang mit ihnen aber nicht darauf aus        habe ich eigene Schwächen bei anderen          – beziehungsweise Gärtner mit Fachrich-         Kilcher hatte ihn. Zierpflanzen oder
rufsbildnerin, «Auftrittstiefe, da, wo man     ist, bei jeder Gelegenheit mit ihrem Wis-     entdeckt, zum Beispiel die vielen ‹Ähms›       tung Garten- und Landschaftsbau, wie es      Stauden, zwei weitere Richtungen des
den Fuss drauf setzen können muss.»            sen zu glänzen. Die diplomierte Garten-       beim Erklären oder dass man Handgriffe         ganz korrekt heisst. Nicht alle haben es     Gärtnerberufs, wären ihr zu wenig krea-
Minuten später – nach mehreren Anläu-          bautechnikerin HF kennt sich zweifellos       immer neben dem Lehrling zeigen sollte         geschafft, denn die Arbeit ist hart. Neun-   tiv gewesen. «Ich wollte Gärten planen
fen steht die Treppe des einen Zweier-         aus in ihrem Beruf. Tageskurse von Lie-       und nicht von gegenüber.»                      Stunden-Tage bei Wind und Wetter und         und diese Pläne auch umsetzen können»,
teams – wird Kilcher sagen: «Sie wackelt       feranten besucht sie jedes Jahr. An der          Doch die Bernerin macht nicht den           hohen körperlichen Anforderungen             sagt sie. Ihre Lehrlinge wirken ebenfalls
noch ein bisschen.» Der Lehrling, der          höheren Fachschule hat sie sich vor Jah-      Eindruck, als sei sie erst an der höheren      haben es in sich. Ganz zu Beginn ist Kil-    entschlossen. Der Praktikant, ein eher
sich zum Testen auf die oberste Stufe ge-      ren natürlich auch zur Berufsbildnerin        Fachschule zur Ausbildnerin geworden.          cher selbst regelmässig eingeschlafen        schmächtiger Typ, macht Krafttraining.
stellt hat, will zwar nichts bemerken. Kil-    weiterbilden lassen, mittlerweile ist sie     Sie war es vorher schon, vielleicht schon      beim Abendessen zu Hause. Heute weiss        Er will bereit sein: Im Sommer fängt er
cher indes bleibt dabei: «Doch, doch, sie      Prüfungsexpertin in diesem Bereich –          gegen Ende ihrer eigenen Lehre, als sie        sie: «Der Körper gewöhnt sich an die An-     bei Stefanie Kilcher seine Lehre an.

Der Tüftler
Kein ehrgeiziger Schüler, dann ein neugieriger Maschinenzeichner, der heute als Dr. sc. techn.
effiziente Motoren entwickelt – Patrik Soltic hat die Chancen des Bildungssystems genutzt.

NATALIE AVANZINO, DÜBENDORF                    Industrie-Gesellschaft in Neuhausen am        Fahrzeugbranche doch unter Druck, die
                                               Rheinfall. Doch nach diesen vier Jahren       Entwicklung effizienter Antriebssysteme
Patrik Soltic ist ein gefragter Maschinen-     war der Wissensdurst des jungen Mannes        zu forcieren. Erneuerbare Energien müs-
bauingenieur. Er betreut Doktoranden,          trotz Berufsmittelschule nicht gestillt: Er   sen verfügbar gemacht werden, um den
publiziert in Fachzeitschriften und hält       meldete sich fürs damalige Technikum in       CO2-Ausstoss zu reduzieren.
regelmässig Vorträge an Konferenzen im         Winterthur an. Die dreijährige Vollzeit-          Sein zehnköpfiges Team aus Inge-
In- und Ausland. Der 48-Jährige hat an         ausbildung eröffnete ihm eine neue Welt       nieuren, Doktoranden und Mechanikern
der ETH Zürich zur Effizienzsteigerung         – und dennoch kam er nicht voll auf           optimiert Verbrennungsmotoren und
von Fahrzeugantriebssystemen dokto-            seine Kosten. «Das Studium war sehr an-       baut Prototypen, etwa von Hybridantrie-
riert und ist heute ein gefragter Experte      wendungsorientiert. Immer, wenn es bei        ben. In einem Projekt des europäischen
auf diesem Gebiet. An der Empa, dem            theoretischen Fragen spannend zu wer-         Forschungsprogramms «Horizon 2020»
interdisziplinären Forschungsinstitut des      den begann, klingelte die Schulglocke»,       arbeiten die Dübendorfer an Gasmoto-
ETH-Bereichs in Dübendorf, leitet er           erzählt Soltic rückblickend. Er wollte        ren. Ein anderes Vorhaben wird in direk-
ein Team, das an den Motoren der Zu-           mehr wissen und verstehen – was ihn           ter Zusammenarbeit mit der Autoindus-
kunft arbeitet. Ein Akademiker also, ein       dazu bewog, den grossen Schritt an die        trie realisiert. Das Ziel: die Energieeffi-
typischer Theoretiker, ist man versucht        ETH zu wagen.                                 zienz von Dieselmotoren von Nutzfahr-
zu denken. Doch angefangen hat alles               Er absolvierte ein intensives Über-       zeugen auf über 50 Prozent zu bringen.
ganz anders.                                   trittsprogramm, in dem die allgemein-         Spannend seien natürlich auch die eige-
    Im beschaulichen Löhningen bei             bildenden Fächer auf Maturniveau ge-          nen Projekte, sagt Soltic. «Wir entwickeln
Schaffhausen aufgewachsen, interes-            trimmt und der Niveau-Unterschied zu          gerade einen neuartigen Ventilantrieb
sierte sich Soltic früh für Handwerk-          den Maschinenbaustudenten an der              und möchten diesen, sofern sich die viel-
liches. Sein Vater, ein Ingenieur aus          ETH ausgeglichen wurde. Nach bestan-          versprechenden Simulationen bestäti-
Zagreb, hatte zu Hause einen Hobby-            dener Prüfung konnte Soltic ins fünfte        gen, in die Industrie transferieren.» Pri-
raum, der seinem Sohn allerlei Betäti-         Semester einsteigen. «Da habe ich rich-       vat fährt Soltic ein Auto mit einem Erd-
gungen bot. Hier verbrachte der Jugend-        tig Feuer gefangen – also hängte ich nach     gas-Biogas-Motor, an dessen Entwick-
liche viel Zeit, um an seinen Modellflug-      dem Abschluss gleich noch eine Doktor-        lung er selber beteiligt war.
zeugen zu basteln. In der Schule sei er        arbeit an», berichtet er. Sein Disserta-          Und wenn Soltic nicht an den Techno-
leider nie besonders ehrgeizig gewesen;        tionsthema wies ihm den weiteren Weg.         logien der Zukunft arbeitet? Dann tüftelt
viele Fächer hätten ihm einfach nicht zu-      Denn: «Eine rein akademische Karriere         er mit seiner Frau in der Werkstatt, die sie
gesagt, sagt Soltic im Gespräch. Er weiss      wäre für mich nicht infrage gekommen»,        sich in ihrem Haus im Zürcher Weinland
zuerst gar nicht so recht, ob er dies in der   sagt Soltic. Der Arbeit an der Empa ist       eingerichtet haben. Soltic bezeichnet sie
Zeitung lesen will. Naturwissenschaften        der Motorexperte auch nach 17 Jahren          bescheiden als Hobbyraum. Aber auch
hätten ihn fasziniert, die restlichen Fä-      nicht überdrüssig geworden.                   hier ist er mit hohen Ansprüchen dabei,
cher eher nicht, so sein Fazit.                    «Wir arbeiten an Technologien, die in     und die Resultate können sich sehen las-
    Gegen Ende der Sekundarschule ent-         Zukunft gefragt sein werden auf dem           sen, etwa eine komplette Sauna.
schied er sich für eine Lehre als Maschi-      Markt», sagt Soltic. Momentan sei eine            Nein, ein typischer Theoretiker, das
nenzeichner bei der Schweizerischen            äusserst herausfordernde Phase, stehe die     ist Soltic ganz gewiss nicht.                  Patrik Soltic, Teamleiter an der Empa, hat einen weiten Weg hinter sich.   KARIN HOFER / NZZ
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