Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zum Titelbild Die Roche-Gruppe ist zusammen mit Genentech in den USA und Chugai in Japan einer der Weltmarktführer in der Biotechnologie mit Produktionsan- lagen in der ganzen Welt. Die Abbildung gibt Einblick in eine Fermentations- anlage am Roche-Standort Penzberg, wo technisches Know-how und langjährige Erfahrung unabdingbar sind, solche Anlagen zu betreiben. Herausgeber: F. Hoffmann-La Roche AG Corporate Communications CH-4070 Basel, Schweiz © 2006 Zweite, überarbeitete Auflage Wiedergabe der Texte und Bilder unter Angabe der Quelle gestattet. Alle erwähnten Markennamen sind gesetzlich geschützt. Diese Broschüre ist in Deutsch und Englisch erhältlich. Berichtet von: Mathias Brüggemeier Gestaltung: Atelier Urs & Thomas Dillier, Basel Druck: Gissler Druck, Allschwil 7 000 727-1
Inhalt Vorwort Fortschritt durch Wissen 5 Bier für Babylon 7 Arzneimittel aus dem Fermenter 25 Brennpunkte der Forschung 39 Von der Diagnose lebt die Therapie 51
Fortschritt durch Wissen Die Biotechnologie – manche bezeichnen sie auch als das älteste Gewerbe der Welt – hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer modernen Technologie entwickelt, ohne die medizinischer Fortschritt kaum denkbar ist. Sei es bei der Aufklärung der mo- lekularen Ursachen von Krankheiten, sei es bei der Entwicklung neuer Diagnoseverfahren oder spezifischer Wirkstoffe, immer spielen moderne biotechnologische Verfahren eine Rolle. Daraus ist ein neuer Industriezweig, die Biotech-Branche ent- standen, womit meist kleine junge Start-up-Firmen assoziiert werden. Doch auch die etablierten Healthcare-Unternehmen setzen diese modernen Technologien, welche unter dem Begriff der Biotechnologie zusammengefasst werden, seit vielen Jahren erfolgreich ein. Sie erforschen die molekularen Grundlagen vie- ler Krankheiten – und können sie daher gezielter als jemals zu- vor bekämpfen. Ganz andere Therapiestrategien werden durch das neue Wissen möglich, neue Wirkstoffklassen – die Biophar- mazeutika – erschließen Angriffspunkte, die bislang noch nicht einmal bekannt waren. Und schließlich rücken auch die indivi- duellen Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten immer mehr ins Rampenlicht: Das Ziel, schon vor Therapiebeginn zu wissen, ob und wie die Behandlung bei einem Patienten wirken wird, liegt heute für viele Krankheiten in greifbarer Nähe. Für manche Patienten ist dieser Traum sogar schon Wirklichkeit. Entsprechend eng wachsen Diagnose und Therapie zusammen. Wo Krankheiten nicht mehr aufgrund mehr oder weniger vager Symptome, sondern auf der Basis molekularer Informationen erkannt werden können, ist der Therapieerfolg zwangsläufig eng mit den diagnostischen Möglichkeiten verknüpft. Für die Pati- enten bedeutet der Fortschritt in der medizinischen Biotechno- logie vor allem eines: Eine gezieltere, sicherere und erfolgreiche- re Behandlung ihrer Leiden. Für die Healthcare-Industrie ist das eine große Chance – aber auch eine Herausforderung: Die Bran- che wandelt sich. Unter den zehn bestverkauften Arzneimitteln von Roche sind Biopharmazeutika heute schon für 40 Prozent der Umsätze verantwortlich – Tendenz steigend. Diese Broschüre soll zeigen, was die enge Zusammenarbeit von biologischer Grundlagenforschung, angewandter Wissenschaft sowie pharmazeutischer und diagnostischer Entwicklung auf Basis der Biotechnologie heute schon zu leisten vermag. 5
Bier für Babylon Seit Jahrtausenden nutzen Menschen Mikroorganismen für die Herstellung von Produkten – und betreiben damit Biotechnologie. Genauso wie Bier, Brot oder Käse in der Vergangenheit neue Errungen- schaften waren, steht nun der Medizin eine Revolution bevor: Auf biotechnologischem Weg her- gestellte Einsatzstoffe eröffnen derzeit völlig neue Perspektiven für Diagnostik und Therapie. Und sorgen dabei auch für eine Neuordnung der Märkte.
5000 – 2000 v. Chr. 500 v. Chr. In Ägypten, Babylon und China In China wird die antibiotische Wir- werden Gärprozesse zur Herstellung kung von Tofu-Schimmelkulturen ent- von Brot, Wein und Bier eingesetzt. deckt und therapeutisch genutzt. Wandbild einer ägyptischen Grab- stätte aus der Zeit der fünften Dynastie (etwa 2400 vor Christus). Vom Wissen zur Wissenschaft: Die Geschichte der Biotechnologie Die babylonischen Biotechnologen waren angesehene Leute. Ihre Produkte waren begehrt bei Sklaven wie bei Königen, bis nach Ägypten lief der Export. Sogar im Gilgamesch-Epos, dem ältesten literarischen Werk der Weltgeschichte, sind sie er- wähnt: Die Brauer Babylons mit ihren 20 verschiedenen Bieren. Ihre Kenntnisse fußten auf Begriffe einer schon damals Jahrtau- Biopharmazeutika Auf biotechnologischem Weg herge- sende alten biologischen stellte Arzneimittel Technologie – der Hefegä- DNS Desoxyribonukleinsäure, engl. DNA; die chemische rung. Substanz, aus der unser Erbgut besteht Gene Funktionsabschnitte unseres Erbgutes, die als Bau- Auch wenn es ungewohnt anleitung vor allem für Proteine dienen klingt: Bier brauen ist Bio- Genom Die Gesamtheit aller Gene eines Organismus technologie. Brot backen Gentechnik Die wissenschaftliche Arbeit mit und an der Erbsubstanz DNS ebenso. Wein, Joghurt, Käse, Rekombinante Proteine Durch Neukombination von Sauerkraut, Essig – alles Bio- DNS (z.B. durch Einbringen von menschlichen Genen in Bak- technologie. Überall, wo mit terienzellen) gewonnene Proteine Hilfe biologischer Prozesse auf technischem Wege Pro- dukte hergestellt werden, wird Biotechnologie betrieben. Und das gilt für die babylonischen Biere ebenso wie für monoklonale Antikörper. Vergleichsweise jung an der Biotech-Branche ist zunächst einmal nur ihr Name. Steinzeit, Eisenzeit, Vor 85 Jahren, im Jahr 1919, verwendete der Biochemie-Zeit ungarische Ingenieur und Wirtschaftswissen- schaftler Karl Ereky zum ersten Mal den Begriff «Biotechnologie» in einer Veröffentlichung. Er sagte ein bioche- misches Zeitalter voraus, das in seiner historischen Bedeutung mit der Steinzeit und der Eisenzeit vergleichbar sein sollte. Die Wissenschaft war für ihn Bestandteil einer umfassenden wirt- schaftlichen Theorie: Zusammen mit politischen Maßnahmen 8
100 n. Chr. 800 –1400 1595 Chinesen nutzen gemahlene Künstliche Befruchtungstechniken für Der Brillenschleifer Hans Janssen Chrysanthemensamen als Insektizid. Pflanzen und Tiere verbessern die baut das erste Mikroskop. Zuchtergebnisse im Nahen Osten, in Europa und in China. © Rijksmuseum van Oudheden, Leiden, The Netherlands wie einer Landreform sollten die neuen Verfahren die Ernährung der rasant wachsenden Weltbevölkerung sicherstel- len – ein Ansatz, der heute genauso aktuell ist wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Erekys Vision ist umso erstaunlicher, als zu seinen Lebzeiten die wichtigsten Werkzeuge der heutigen Biotechnologie noch gar Bier für Babylon 9
1665 Um 1830 Um 1850 Robert Hooke entdeckt mit dem Die chemische Natur der Proteine Die Zelle wird als kleinste eigenstän- Mikroskop in einer Korkscheibe recht- wird entdeckt und die ersten Enzyme dige Einheit des Lebens identifiziert. eckige Strukturen, die er «Zellen» werden isoliert. nennt. Zwei Jahre später sieht Antoni van Leeuwenhoek als erster Mensch Bakterienzellen. nicht entdeckt waren. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahr- hunderts hinein arbeiteten Biowissenschaftler im Grunde nach den gleichen Mustern wie ihre babylonischen Vorgänger: Sie nutzten die natürlichen Abläufe in den Zellen und Extrakten von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen, um durch eine ge- zielte Auswahl von Reaktionsbedingungen möglichst große Mengen eines bestimmten Produktes zu erhalten. Allerdings konnte die Biotechnologie des 20. Jahrhunderts dank neuer Methoden eine viel größere Anzahl, Reinheit und Qualität solcher Naturprodukte zur Verfügung stellen. Grundlage dafür war eine Reihe von Entdeckungen, auf deren Basis immer schneller neue wissenschaftliche Methoden entwickelt wurden: ❚ In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten Forscher die grundlegenden chemischen Eigenschaften der Proteine und isolierten die ersten Enzyme. Deren Funktion als Bioka- talysatoren konnte in den folgenden Jahrzehnten aufgeklärt und für Forschung und Entwicklung nutzbar gemacht wer- den. ❚ Dank immer besserer Mikroskope wurde die Zelle mit ihrer Gestalt und ihren Inhaltsstoffen sichtbar und ihre Bedeutung als kleinste Einheit des Lebens auf der Erde deutlich. Louis Pasteur postulierte die Existenz von Mikroorganismen und machte sie für die meisten der seit Jahrtausenden bekannten Fermentationsprozesse verantwortlich. Das war die Geburts- stunde der Mikrobiologie. ❚ Charles Darwins Evolutionslehre revolutionierte ab 1859 die Biologie und setzte eine gesellschaftliche Bewegung in Gang, an deren Ende ein anderes Menschenbild stand. Erstmals konnten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Orga- nismen auf der Erde biologisch erklärt werden. Die Biologie wurde dadurch von einer beschreibenden zu einer stärker ex- perimentellen wissenschaftlichen Disziplin. ❚ Mit der Wiederentdeckung der Arbeiten von Gregor Mendel begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der klassischen Genetik. Die Grundlagen der Vererbung wurden 10
1859 1866 1869 Charles Darwin veröffentlicht seine Der Augustinermönch Gregor Mendel Friedrich Miescher isoliert in Tübingen bahnbrechende Evolutionstheorie. veröffentlicht die Regeln der Verer- aus den weißen Blutkörperchen in bung von Merkmalen bei Erbsen. Erst eitrigen Bandagen eine Substanz, die 35 Jahre später schaffen diese die er «Nuclein» nennt. Nach seinen Aus- Grundlage der modernen Genetik. führungen werden später die Nuklein- säuren benannt. entschlüsselt und damit gezielte Eingriffe möglich. Jahrtau- sende alte Zuchtmethoden konnten nun wissenschaftlich untermauert und weiterentwickelt werden. Dank dieser Entwicklungen änderte sich das Gesicht der Bio- chemie und mit ihr auch die Biotechnologie. Neben den klassi- schen, landwirtschaftlich geprägten Erzeugnissen kamen immer neue Produkte auf den Markt. Enzyme wurden in reinster Form isoliert und für die verschiedensten Anwendungen vom Wasch- pulver bis zur Blutzuckermessung verfügbar gemacht. Standar- disierte, biochemische Testverfahren hielten Einzug in die me- dizinische Diagnostik und gaben den Ärzten erstmals ein molekulares Messinstrument in die Hand. Strukturen und Wir- kungen zahlreicher Biomoleküle wurden aufgeklärt und die biochemischen Grundlagen des Lebens damit transparenter. Die Biochemie begann nach der reinen Grundlagenforschung auch in der Entwicklung Fuß zu fassen. Innovationsschub Erst die Methoden der Gentechnik sorgten für durch Gentechnik einen wirklich rasanten Fortschritt in der Bio- logie und Biotechnologie. Nachdem James Watson und Francis Crick 1953 ihr – im Wesentlichen bis heute gültiges – DNS-Modell vorgestellt hatten, begann ein wissen- schaftlicher Wettlauf um die Arbeit an und mit der Erbsubstanz. Je besser man die Struktur der DNS kannte und je mehr man über die Mechanismen ihrer Verwendung, Vervielfältigung und Reparatur wusste, um so mehr Möglichkeiten boten sich den Forschern auch, in diese Prozesse einzugreifen. Gezielte Verän- derungen des Erbguts einer Art, für die zuvor jahrzehntelange Zucht und Auslese nötig gewesen waren, ließen sich jetzt in we- nigen Monaten erreichen. So machten es die neuen Methoden möglich, artfremde Gene in einen Organismus einzubringen. Das eröffnete die revolutio- näre Möglichkeit, Biomoleküle von medizinischer Bedeutung und beliebiger Herkunft in großem Maßstab von Bakterienzel- Bier für Babylon 11
1878 1879 1913 Robert Koch entwickelt für die Suche Walther Fleming beschreibt das Thomas Hunt Morgan erkennt bei nach dem Milzbranderreger bis heute «Chromatin» im Zellkern, das später Studien an der Fruchtfliege Drosophila gültige Verfahren zur Kultivierung von als DNS identifiziert wird. melanogaster weitere Regeln der Ver- Bakterien. erbung. Gentechnik: Menschliches Insulin aus Bakterien Humaninsulin war 1982 das erste gentechnisch hergestellte 1978 fand das Biotechnologie-Unternehmen Genentech eine Medikament weltweit. Das Hormon spielt im Zuckerstoff- Methode, um menschliches Insulin in Bakterien herstellen zu wechsel des Körpers eine zentrale Rolle; Diabetiker können lassen. In Escherichia-coli-Stämmen wurden kleine, ringför- es entweder nicht mehr in ausreichender Menge produzie- mige DNS-Moleküle (so genannte Plasmide) mit jeweils ren (Typ-1-Diabetes), oder ihr Körper reagiert nicht mehr in einem Teil des Gens für das menschliche Hormon einge- erforderlichem Umfang darauf (Typ 2). Alle von Typ-1-Diabe- bracht. Die Bakterien produzierten daraufhin eine der beiden tes Betroffenen und die meisten Typ-2-Diabetiker sind auf Insulin-Ketten, welche getrennt isoliert, dann verbunden und regelmäßige Insulingaben von außen angewiesen. schließlich enzymatisch zu aktivem Insulin umgewandelt wur- Bis 1982 wurde Insulin in einem aufwändigen und teuren Ver- den. Das Pharmaunternehmen Eli Lilly kaufte von Genentech fahren aus der Pankreas von Schlachttieren isoliert – pro Dia- eine exklusive Lizenz für die Methode und brachte die Arznei betiker und Jahr waren bis zu 100 Schweinebauchspei- 1982 zunächst in den USA, dann weltweit auf den Markt – cheldrüsen notwendig. Schon dieses klassisch biotechnolo- und gab damit den Startschuss für die medizinische Biotech- gische Verfahren war ein großer medizinischer Fortschritt: Bis nologie. Mediziner im Jahr 1922 die Wirkung der Pankreasextrakte Derzeit profitieren rund 200 Millionen Diabetiker weltweit entdeckten, kam die Diagnose von Typ-1-Diabetes einem von der Versorgung mit Humaninsulin. Ohne Gentechnik und Todesurteil gleich. Das von Rindern und Schweinen produ- Biotechnologie wäre das unmöglich: Um diesen Bedarf aus zierte Hormon unterscheidet sich nur wenig vom menschli- Pankreasextrakt zu decken, müssten jährlich 20 Milliarden chen, allerdings zeigt ein Teil der damit behandelten Patien- Schweine geschlachtet werden. ten gefährliche allergische Reaktionen. 12
1919 1922 1928 Der ungarische Ingenieur Karl Ereky Frederick Banting, Charles Best und Alexander Fleming entdeckt die anti- prägt den Begriff «Biotechnologie». James Collip beobachten die heilsame biotische Wirkung des Penicillins. Wirkung eines Pankreasextraktes auf Diabetes; das Hormon Insulin wird entdeckt. len produzieren zu lassen. Das erste auf diese Weise hergestellte Medikament war das Hormon Insulin: Das amerikanische Un- ternehmen Genentech entwickelte Ende der 1970er Jahre das Verfahren, nach dem menschliches Insulin in Bakterien herge- stellt werden konnte, und lizenzierte die Technologie an das Pharmaunternehmen Eli Lilly aus. Hunderte Millionen von Diabetikern weltweit profitieren seit der Markteinführung 1982 von diesem ersten biotechnologisch hergestellten Medikament (siehe Kasten gegenüberliegende Seite). Ein neuer Wirtschafts- Mit dieser Technologie war der Grundstein gelegt zweig entsteht für eine neue Industrie: Die ersten nur auf Bio- technologie ausgerichteten Start-up-Unterneh- men gesellten sich zu den großen, etablierten Pharmafirmen, welche ihrerseits die Biotechnologie zur Entwicklung von hoch- molekularen Wirkstoffen einsetzten. Gründerzeit und Nur wenige Firmen erkannten in der frühen Ent- Börsenboom wicklungsphase der beginnenden 1980er Jahre das medizinische Potenzial der Biotechnologie. Eine dieser visionären Firmen ist Genentech. Das Unternehmen nimmt für sich in Anspruch, Begründer der modernen Biotech- Industrie zu sein: gegründet 1976 von dem Wissenschaftler Her- bert Boyer und dem Unternehmer Robert Swanson zu einer Zeit, als die Biochemie noch fest in der Grundlagenforschung verankert war. Lange blieb Genentech allerdings nicht allein. Schon gegen Ende der 1970er Jahre und verstärkt seit der Markt- einführung des rekombinanten Humaninsulins wurden vor al- lem in den USA immer mehr Firmen gegründet, die den wis- senschaftlichen Erfolg der Gentechnik auf die medizinische Forschung und Entwicklung übertragen wollten. Noch heute haben neun der zehn größten reinen Biotech-Unternehmen ihren Firmensitz in den USA (siehe Kasten Seite 16). Bier für Babylon 13
1944 1953 Ab 1961 Oswald Avery, Colin MacLeod und James Watson und Francis Crick Verschiedene Forscher entschlüsseln Maclyn McCarthy identifizieren die veröffentlichen auf der Basis von den genetischen Code. DNS als Trägerin der Erbinformation. Rosalind Franklins Röntgenstruktur- analysen ein Modell der Erbsubstanz DNS. Zunächst arbeiteten diese jungen Unternehmen im Schatten der großen Pharmafirmen. Das galt hinsichtlich des Umsatzes und der Anzahl der Unternehmen ebenso wie in Bezug auf die öf- fentliche Wahrnehmung. Aber mit den ersten wirtschaftlichen Erfolgen ihrer Produkte änderte sich das schnell. In den 1990er Jahren kumulierte der Fortschritt der gen- und biotechnologi- schen Forschung und Entwicklung in einer wahren Gründerzeit. Binnen weniger Jahre ent- standen weltweit Tausende neuer Biotech-Unterneh- men. Viele von ihnen waren Ausgründungen öffentli- cher oder privater For- schungsinstitute, in denen Wissenschaftler ihre Ergeb- nisse wirtschaftlich zu nut- zen suchten. Angetrieben von enormen Gewinner- wartungen in der Zukunft, Die lebensgroße Bronzeplastik der Gründer von Genen- wurde diese junge Biotech- tech steht im Forschungszentrum des Unternehmens in nologie neben der Informa- South San Francisco. tionstechnologie zu einer treibenden Kraft des Börsenbooms gegen Ende des 20. Jahrhun- derts. Schon mit ihrem Börsengang waren viele junge Biotech-Unter- nehmen mit ein paar Dutzend Mitarbeitern in dieser Zeit höher bewertet als manches etablierte Pharmaunternehmen, das Hun- derte Millionen Dollar Jahresumsatz machte. Eine Übertrei- bung – aber eine, die für die meisten Neugründungen unver- zichtbar war. Denn die Entwicklung eines neuen Medikaments bis zur Zulassung ist nicht nur äußerst langwierig, sondern auch noch riskant und ausgesprochen teuer. Der Hauptgrund dafür ist die hohe Anzahl an Fehlschlägen: Nur eines von etwa 100 000–200 000 chemisch hergestellten Molekülen schafft den Weg vom Reagenzglas bis in die Apotheke. 14
1973 1975 1976 Stanley Cohen und Herbert Boyer nut- Georges Köhler und César Milstein Herbert Boyer und Robert Swanson zen Restriktionsenzyme und Ligasen veröffentlichen ihre Methode zur Her- gründen mit Genentech das erste zur Neukombination von DNS. stellung monoklonaler Antikörper. moderne Biotechnologie-Unterneh- men. Das erste moderne Biotechnologie-Unternehmen: Genentech Es gehörte schon Mut dazu, im Jahr 1976 ein Biotechnolo- sehene Biologe Herbert Boyer dem jungen Venture-Kapi- gie-Unternehmen zu gründen: Die Wirtschaft hielt die talisten Robert Swanson nur zehn Minuten seiner kostba- Technologie für unausgereift und die Wissenschaft sah in ren Zeit gewähren wollte. Doch das Gespräch dauerte drei der Suche nach wirtschaftlichem Nutzen eine Gefahr für die Stunden – und an seinem Ende war die Idee Genentech Grundlagenforschung. Kein Wunder also, dass der ange- geboren. Die Entwicklung: 1976 Am 7. April gründen Robert Swanson und Dr. Her- bert Boyer Genentech 1978 Genentech-Forscher klonieren erstmals Humaninsu- lin in Bakterien 1980 Genentech geht zu einem Preis von 35 USD je Aktie an die Börse; eine Stunde später liegt der Kurs bei 88 USD 1982 Humaninsulin wird als erstes gentechnologisch her- gestelltes Medikament in den USA zugelassen; die Arznei vermarktet der Pharmakonzern Eli Lilly in Lizenz von Genen- tech 1985 Zulassung des ersten rekombinanten Medikaments einer Biotech-Firma: Protropin von Genentech (Wirkstoff Somatrem: ein Wachstumshormon für Kinder) 1986 Genentech lizenziert Roferon-A an Roche aus 1990 Roche übernimmt die Mehrheit an Genentech und kauft bis 1999 alle Aktien auf 1987–97 Wichtige Zulassungen: Activase (1987, Wirkstoff Alteplase gegen Blutgerinnsel bei Herzinfarkt); Actimmune (1990, Interferon gamma-1b gegen eine chronische Immunschwäche); Pulmozyme (1992, Dornase alfa bei Asthma, Kooperation mit Roche); Nutropin (1993, Soma- tropin, ein Wachstumshormon); Rituxan (1997, Rituximab gegen Non-Hodgkin-Lymphom, Kooperation mit Idec) 1998 Zulassung des humanisierten monoklonalen Anti- körpers Herceptin (Trastuzumab) gegen eine spezielle Form von Brustkrebs 1999 Genentech gehört für die Zeitschrift Fortune zu den «100 best Companies to Work for in America»; Roche bringt Genentech zurück an die New York Stock Exchange (NYSE) 2002 Das Wissenschaftsmagazin Science erklärt Genen- tech zum beliebtesten Arbeitgeber im Bereich Biotech und Pharma 2003–2004 Zulassung von Xolair (Omalizumab, bei Asthma); Raptiva (Efalizumab, gegen Schuppenflechte); Avastin (Bevacizumab, Krebstherapie) Bier für Babylon 15
1977 1982 1983 Walter Gilbert, Allan Maxam und Humaninsulin ist das erste gentech- Kary Mullis und Mitarbeiter ent- Frederic Sanger stellen ihre Methode nologisch hergestellte Arzneimittel; wickeln die Polymerase-Kettenreak- zur Sequenzierung von DNS vor. das Zeitalter der modernen Biotech- tion (PCR). nologie beginnt. Ranking von Biotech-Unternehmen Ranking von Healthcare-Unternehmen Umsatz 2003, in Mio. USD Umsatz von Biotech-Produkten 2003, in Mio. USD 1 Amgen (USA) 8 360 1 Amgen 7 866 2 Genentech (USA) 3 300 2 Roche-Gruppe mit Genentech und Chugai 6 191 3 Serono (Schweiz) 2 000 3 Johnson & Johnson 6 100 4. Biogen Idec (USA) 1 8501 4 Novo Nordisk 3 561 5 Chiron (USA) 1750 5 Eli Lilly 3 043 6 Genzyme (USA) 1 570 6 Aventis 2 075 7 MedImmune (USA) 1 050 7 Wyeth 1 870 8 Invitrogen (USA) 780 8 Schering-Plough 1751 9 Cephalon (USA) 710 9 Serono 1 623 10 Millenium (USA) 430 10 Baxter International 1 125 11 Biogen 1 057 Quelle: Geschäftsberichte der Unternehmen 12 Schering AG 1 035 1 Vergleichswert nach der Fusion von Biogen und Idec im Nov. 13 Genzyme 879 2003 14 MedImmune 780 15 GlaxoSmithKline 729 16 Bayer AG 563 Biotechnologisch tätig sind auch viele der großen Healthcare- 17 Pfizer 481 Unternehmen. Bezieht man diese ins Ranking ein, ergibt sich 18 Abbott Laboratories 397 folgendes Bild: 19 Akzo Nobel 375 20 Kirin 355 Quelle: Evaluate Service Die biotechnologische Produktion erlaubt die Herstellung kom- plexer Moleküle, welche eine höhere Chance haben, auf den Markt zu gelangen. Allerdings ist die biotechnologische Pro- duktion von Medikamenten technisch anspruchsvoller und da- mit teurer als eine einfache chemische Synthese. Ohne das Geld aus den erfolgreichen Börsengängen hätte kaum ein Jungunter- nehmen diese finanziellen Risiken schultern können. Aus diesem Grund sind kleinere Biotech-Unternehmen – heute genauso wie Genentech im Jahr 1982 – oft auf Allianzen mit großen Pharmakonzernen oder mit Dienstleistern für die Pro- duktion angewiesen. Im Zuge der verschlechterten Börsen- bedingungen nach dem Jahr 2000 sind einige dieser Kooperatio- 16
Ab 1984 1990 1994 Der genetische Fingerabdruck verän- Das Human-Genom-Projekt beginnt; Die ersten gentechnisch veränderten dert die Kriminalistik. das deutsche Gentechnik-Gesetz wird Tomaten kommen in den USA auf den verabschiedet. Markt. nen in Übernahmen gemündet: Der Wert der meisten Biotech- Firmen stürzte ebenso schnell ab wie er zuvor gestiegen war, und der Zugang zu neuem Kapital über die Börse war weitgehend versperrt. Entsprechend steckt die junge, moderne Biotechnologie im Jahr 2004 mitten in ihrer ersten Konsolidie- rungswelle. Europa: Pharma Bei dieser Entwicklung sind allerdings Unter- macht Biotechnologie schiede zwischen den Weltregionen deutlich. An- ders als in den USA wurde die Biotechnologie in Europa schon früh von etablierten Unternehmen aus der klassi- schen Biochemie, Chemie und Pharmakologie dominiert. Zwar gibt es vor allem in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Skandinavien durchaus eine agile Biotech-Branche – der europäische Marktführer Serono stammt aus der Schweiz –, aber die Taktgeber der Entwicklung der zweitwichtigsten Biotech-Re- gion der Welt kommen fast durchweg aus klassischen Branchen. Ein Beispiel dafür war Boehringer Mannheim (BM). Als Labor- ausstatter für die biochemische Forschung und die medizinische Diagnostik war diese deutsche Firma von Beginn weg bestens mit den Entwicklungs- und Herstellungsprozessen der Biotechnolo- gie vertraut. Schon seit den 1940er Jahren hatte BM in Tutzing und später in Penzberg bei München klassische Biotechnologie betrieben (siehe Kasten S. 19). Den Schritt in die moderne, auf Gentechnik basierende Biotechnologie vollzog das Unterneh- men im Laufe der 1980er Jahre mit der Markteinführung ver- schiedener rekombinanter (also gentechnologisch hergestellter) Enzyme. Im Jahr 1990 folgte mit NeoRecormon (Wirkstoff Erythropoie- tin) das erste gentechnologisch hergestellte Medikament von BM. Die Arznei ist in ihrer weiterentwickelten Form noch heu- te ein wesentlicher Bestandteil von Therapien gegen Blutarmut (Anämie) und in der Onkologie. Das macht sie zu einem der umsatzstärksten gentechnologisch hergestellten Medikamente Bier für Babylon 17
1997 1998 2001 Das erste eukaryotische Genom, jenes Die ersten menschlichen embryonalen Eine erste Sequenz des menschlichen der Bäckerhefe, ist entschlüsselt. Zelllinien sind etabliert. Genoms wird in einer Publikation beschrieben. der Welt – eine wichtige Ein- nahmequelle für das Unter- nehmen, das im Jahr 1998 in die Roche-Gruppe inte- griert wurde. Roche selbst gehört eben- falls zu den europäischen Biotech-Pionieren.Das Phar- maunternehmen war wie BM seit Jahrzehnten nicht nur in der therapeutischen, sondern auch in der diagno- stischen Forschung und Entwicklung tätig und hatte schon in den frühen 1980er Jahren mit der großtechni- schen Produktion rekom- binanter Enzyme begonnen. Ihr erstes gentechnologisch hergestelltes Arzneimittel brachte Roche 1986 auf den Markt: Es handelte sich um Roferon-A mit dem Wirk- stoff Interferon alfa-2a ge- gen Haarzellen-Leukämie und war ein Lizenzprodukt von Genentech. Nach der Akquisition von Boehringer Mannheim (BM) baute Ro- che das Werk in Penzberg, einen der größten Biotech- Standorte Europas, weiter aus. Der Kauf von BM war das zweite große Engagement des Kon- zerns im Biotech-Bereich: Schon im Jahr 1990 hatte Roche die Mehrheit an Genentech übernommen. Im Jahr 2002 folgte mit 18
2003 Die komplette Sequenz des menschli- chen Genoms liegt vor. «Big Biotech» im Voralpenland: Penzberg Malerischer kann Forschung kaum sein: Einer der größten 1981 In Penzberg beginnt die großtechnische Produktion Biotech-Standorte Europas liegt 40 Kilometer südlich von rekombinanter Enzyme München am Fuße der bayerischen Voralpen. Mehr als 1985 Reflotron, ein Analysegerät zur Bestimmung von 50 Jahre lang entwickelten Forscher für Boehringer Mann- Blutwerten, erhält den Innovationspreis der deutschen heim (BM) zunächst in Tutzing und später auch in Penzberg Wirtschaft biochemische Reagenzien für die biologische Forschung 1986 Die Prozessentwicklungsarbeit für das erste gen- und für die medizinische Diagnostik und Therapie. Seit im technologisch hergestellte Arzneimittel von BM, NeoRe- Jahre 1998 die Roche-Gruppe BM übernahm, ist Penzberg cormon (Wirkstoff Erythropoietin), beginnt die größte biotechnologische Forschungs- und Produkti- 1990 NeoRecormon wird zur Behandlung von Blutarmut onsstätte des Konzerns. zugelassen 1946 Dr. Fritz Engelhorn, Abteilungsleiter bei C.F. Boeh- 1996 Rapilysin (Wirkstoff Gewebe-Plasmino-Aktivator) ringer & Söhne, beginnt mit einer kleinen Forschungs- zur Behandlung von Herzinfarkt ist das erste in Deutsch- gruppe mit biochemischen Arbeiten im ehemaligen Hotel land erforschte, entwickelte und gentechnologisch herge- Simson in Tutzing stellte Medikament 1948 Die Aminosäuregemische «Dymal», «Aminovit» und 1998 Die Roche-Gruppe übernimmt BM; in den folgenden «Laevohepan» sind die ersten biotechnologisch hergestell- Jahren setzt Roche den Ausbau des Standorts Penzberg zu ten Pharmapräparate von BM einem der größten und modernsten Biotech-Standorte 1955 Unter dem Markennamen «Biochemica Boehringer» Europas fort liefert BM Reagenzien für die Forschung und die enzymatische Dia- gnostik weltweit 1968 Mit der Isolierung von Polynukleotiden be- ginnt die molekularbiolo- gische Forschung 1972 BM erwirbt ein stillgelegtes Bergwerks- gelände in Penzberg und baut dort für die schnell wachsenden Produkte- linien Biochemica und Diagnostica ein neues Produktionswerk 1977 Erste gentechni- sche Arbeiten in Tutzing 1980 Einrichtung eines Labors zur Herstellung monoklonaler Antikörper in Tutzing Bier für Babylon 19
Biotechnologie mit Tradition: Die Roche-Gruppe Bis in die 1940er Jahre reicht die Linie biotechnologischer ration; schon zwei Jahre später ist die Technologie Grund- Produkte von Roche zurück. Dieses Fachwissen zahlt sich lage für den HIV-Test Amplicor, den ersten diagnostischen aus: Heute ist die Roche-Gruppe das zweitgrößte Biotech- PCR-Test Unternehmen der Welt. Dabei ist der Konzern so breit ab- 1992 Mit Hivid kommt das erste Aids-Medikament von gestützt wie kein zweiter. Seine drei bestverkauften Arznei- Roche auf den Markt mittel sind Biopharmazeutika, fast die Hälfte des Phar- 1994 Roche übernimmt das US-Pharmaunternehmen maumsatzes bei seinen Top-Ten-Produkten macht Roche Syntex und wandelt es 1995 in Roche Biosciences um mit Biotechnologie. Die Division Diagnostics bietet als 1998 Roche übernimmt die Corange-Gruppe, zu der führendes Unternehmen über 1700 Produkte an, die auf Boehringer Mannheim gehört. Die Kooperation mit Biotechnologie basieren. Allein die PCR-Technologie sorgt deCODE genetics beginnt dort für 1,1 Mrd. CHF Umsatz jährlich. Wichtige Stationen 1999 Nach der vollständigen Übernahme von Genentech auf dem Weg zu diesem Erfolg: bringt Roche 42% der Anteile an dem Unternehmen zurück 1896 Fritz Hoffmann-La Roche gründet in Basel die Arz- an die Börse; der monoklonale Antikörper Herceptin wird neimittelfabrik F. Hoffmann-La Roche & Co. gegen Brustkrebs zugelassen 1933 Die industrielle Vitamin-C-Produktion wird aufge- 2000 Das Institut für Immuno- nommen; binnen weniger Jahre steigt Roche zum welt- logie in Basel wird in das größten Vitaminproduzenten auf Roche-Zentrum für medizini- 1968 Roche begründet mit der Division Diagnostics ein sche Genomik überführt zukunftsweisendes Geschäftsfeld; in Nutley eröffnet Roche 2001 Aus der Fusion von Nip- das molekularbiologische Institut pon Roche und Chugai ent- 1971 Das Institut für Immunologie in Basel wird eröffnet steht der fünftgrößte Pharma- und von Roche finanziert hersteller und das führende 1976 Georges Köhler (Mitglied des Instituts von 1976– Biotech-Unternehmen Japans 1985) beginnt mit seinen Arbeiten an monoklonalen Anti- 2002 Pegasys (Wirkstoff körpern Peginterferon alfa-2a gegen 1980 Die Zusammenarbeit mit Genentech beginnt; Hepatitis C) wird in Europa und Kooperationen mit Biotechnologie-Firmen werden in den den USA zugelassen; Roche folgenden Jahrzehnten zu einem zentralen Element der verkauft die Division Vitamine Unternehmensphilosophie und Feinchemikalien an DSM 1984 Niels Kaj Jerne und Georges Köhler vom Institut für 2003 Beginn der Kooperation Immunologie in Basel erhalten zusammen mit César Mil- mit Affymetrix zur Herstellung stein den Nobelpreis für Medizin; einer der nächsten von DNS-Chips; Marktein- Preisträger ist 1987 ihr Kollege Susumu Tonegawa (Mitglied führung des AmpliChip CYP des Instituts von 1971–1981) 450, des weltweit ersten phar- 1986 Aus der Kooperation mit Genentech geht Roferon-A makogenomischen Diagno- (Wirkstoff Interferon alfa-2a) hervor, das erste gentechno- stik-Produktes in der Medizin logisch hergestellte Medikament von Roche; Roche führt 2004 Neue biotechnologi- einen HIV-Test ein sche Produktionsanlagen in 1991 Roche erwirbt die weltweiten Vermarktungsrechte Basel und Penzberg werden an der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) von Cetus Corpo- gebaut dem japanischen Pharma- und Biotech-Unternehmen Chugai schließlich eine weitere große Fusion, welche die Roche-Grup- pe auch bei den Biotech-Umsätzen nahe an den Weltmarktfüh- rer Amgen heranbrachte. Roche steht damit beispielhaft für die Entwicklung der euro- päischen Biotechnologie: Konkurrenten haben zum Teil zeitlich 20
verzögert oder mit anderen Schwerpunkten ähnliche Wege ein- geschlagen. Japan: Potenzial in der Im Gegensatz zu den europäischen Pharmakon- Biotechnologie zernen bemerkten die technologiebegeisterten Staaten Asiens erst spät, welches Potenzial in der neuen Branche steckte. Dabei ist der japanische Arzneimittel- markt nach den USA der zweitgrößte der Welt. In kaum einem Land der Welt werden so viele Medikamente verschrieben, ein Achtel des weltweiten Pharmaumsatzes entfällt allein auf Japan. Auch finden sich unter den 20 größten Pharmakonzernen der Welt mit Takeda und Sankyo zwei japanische Unternehmen. In den 1990er Jahren startete Japan mit groß angelegten Förder- programmen und gezielten Kooperationen die Aufholjagd. In- zwischen können die japanischen Pharmaunternehmen im Um- satz biopharmazeutischer Produkte zumindest mit jenen in den meisten europäischen Staaten mithalten. Das gilt allerdings nicht, was die Anzahl an Biotech-Firmen betrifft. Der Gründer- boom der 1990er Jahre ist an dem Land weitgehend vorüber ge- gangen. Reine, moderne Biotech-Unternehmen aus Japan spie- len bislang auf dem Weltmarkt eine noch geringere Rolle als ihre europäischen Konkurrenten. Getragen wird die japanische Biotechnologie zum großen Teil von Vertretern klassischer Industriezweige wie der Brauerei Kirin, dem Nahrungsmittelkonzern Takara, dem Chemieunter- nehmen Kyowa Hakko und verschiedenen Pharmakonzernen. Marktführer der japanischen modernen Biotechnologie ist die Chugai Pharmaceutical Co., Ltd., ein Pharmaunternehmen mit achtzigjähriger Tradition, das als eines der ersten in Japan in die Gentechnik investiert hat. Meilensteine der Unternehmensentwicklung in diesem Bereich waren die Akquisition der US-Biotech-Firma Gen-Probe im Jahr 1989 sowie ein Jahr später die Zulassung des ersten gen- technologisch hergestellten Arzneimittels des Konzerns, Epogin (Wirkstoff Erythropoietin gegen Blutarmut). Den weltweiten Absatzmarkt für diese Produkte sichert die Roche-Gruppe, die im Jahr 2002 die Aktienmehrheit an Chugai übernahm. Aus der Fusion der Japan-Tochter von Roche, Nippon Roche, und Chugai ging 2002 das fünftgrößte Pharmaunternehmen und der größte Biotech-Anbieter Japans hervor. Chugai ist da- bei als eigenständiges, börsennotiertes Mitglied der Roche- Gruppe der alleinige Vertriebspartner aller Roche-Produkte in Bier für Babylon 21
Nummer Eins der japanischen Biotechnologie: Chugai Pharma 1925 Juzo Uyeno gründet in Tokio ein kleines pharmazeutisches Unternehmen, das im Lauf der Jahrzehnte national an Bedeutung gewinnt 1986 In London entsteht der Sitz der heutigen Chugai Pharma Europe 1989 Chugai erwirbt das amerikanische Biotech- und Diagnostika-Unternehmen Gen-Probe 1990 Mit Epogin (Wirkstoff ist der Wachstumsfak- tor Erythropoietin) wird das erste gentechnologisch hergestellte Medikament von Chugai in Japan zu- gelassen 1991 Granocyte (Wirkstoff rHuG-CSF zur Wachs- Wenn sich Japaner ein Ziel setzen, dann wird es eng für die tumsförderung weißer Blutkörperchen) wird zunächst in Konkurrenz. Vor einigen Jahren hat sich der japanische Japan, später auch in Europa, Australien und China zuge- Pharmakonzern Chugai vorgenommen, in die erste Liga der lassen weltweiten Biotechnologie aufzusteigen – und befindet 1993–96 Chugai geht verschiedene Allianzen für For- sich seitdem auf rasanter Aufholjagd. Auf dem japanischen schung, Entwicklung und Vermarktung von Wirkstoffen ein Markt ist Chugai jedenfalls schon an der Spitze angekom- 1995 Gründung des Chugai Research Institute for Mole- men: Seit der Fusion mit Nippon Roche ist Chugai nicht nur cular Medicine der fünftgrößte Pharmakonzern, sondern auch das größte 1997 Die Chugai Diagnostics Science entsteht moderne Biotech-Unternehmen auf dem japanischen 2002 Chugai und Nippon Roche fusionieren zu Japans Markt. Eine kurze Chronologie: fünftgrößtem Pharmaunternehmen Japan und profitiert gleichzeitig von dem weltweiten Vertriebs- netz der Gruppe; Roche wiederum hat ein Lizenzrecht auf alle Produkte, für die Chugai außerhalb Japans und Südkoreas einen Partner sucht. Ausblick: Wie das Beispiel der Roche-Gruppe zeigt, koope- Biotechnologie im Wandel rieren kleine, innovative Biotech-Firmen zu- nehmend mit großen Pharmaunternehmen. Gleichzeitig haben die Konzerne ihr Portfolio durch Mehrheits- beteiligungen an börsennotierten Biotech-Firmen und durch Allianzen in diesem Bereich erweitert. Und auch von den Bio- technologie-Unternehmen selbst geht ein Veränderungsdruck aus: Mit Übernahmen und der Erschließung neuer Geschäfts- felder investieren auch sie jenseits ihres angestammten Wirt- schaftsbereiches. Als Folge dieser Entwicklung werden die meisten Umsätze mit gentechnologisch hergestellten Medikamenten von Pharma- konzernen gemacht. Und dieser Trend wird sich in Zukunft ver- mutlich noch verstärken: Als zweitgrößter Biotech-Anbieter der 22
Welt hat Roche mit über 50 Wirkstoffprojekten die weltweit stärkste Entwicklungspipeline in diesem Bereich. Aventis und GlaxoSmithKline teilen sich mit 45 hoffnungsvollen Wirkstof- fen Platz zwei auf dieser Liste. Das bislang noch größte Bio- technologie-Unternehmen der Welt, Amgen, beziffert seine Pro- duktepipeline im Jahr 2004 auf etwa 40 Kandidaten. Gleichzeitig ist das Wachstum des Biotechnologie-Marktes welt- weit ungebrochen. Innerhalb der Roche-Gruppe machen Bio- pharmazeutika bereits heute 40% der Pharmaumsätze unter den zehn bestverkauften Arzneimitteln aus – Tendenz steigend. Auf dieses Wachstum setzen auch die zahlreichen jungen Biotech- Unternehmen mit Wirkstoffkandidaten kurz vor der Markt- reife. Sowohl in Europa als auch in den USA stehen viele junge Unternehmen aus der Zeit des Biotech-Börsenbooms vor der Zulassung ihres ersten selbst zu vermarktenden Medikaments. Die Umsätze mit diesen Arzneimitteln werden der Fortentwick- lung der Pipeline in diesen Unternehmen zugute kommen – und damit auch den Wettbewerb beleben. Derzeit repräsentieren die zehn größten Biotech-Unternehmen rund 85% des Umsatzes der Biotech-Industrie weltweit, der sich auf etwa 37 Milliarden Dollar beläuft. Vergleicht man die Ent- wicklungspipelines der großen Konzerne mit jenen der meist kleineren, reinen Biotech-Unternehmen, so dürfte sich diese Konzentration in den kommenden Jahren zunächst einmal noch verstärken; angesichts des rasanten Wachstums sind Überra- schungen allerdings nicht ausgeschlossen. Fest steht jedenfalls, dass die Biotechnologie den Pharmamarkt entscheidend beein- flusst hat – und diese Entwicklung noch nicht zu Ende ist. Bier für Babylon 23
Quellen Campbell NA, Reece JB: Biologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 6. Auflage 2003 Stryer L: Biochemie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 4. Auflage 2003 Die Arzneimittelindustrie in Deutschland – Statistics 2004. VFA Verband Forschender Arz- neimittelhersteller e.V., Hrsg, Berlin, August 2004 Präsentationen des Mediengesprächs: The Roche Group – one of the world’s leaders in bio- tech, Basel, November 2004 http://www.roche.com/de/home/media/med_events Prowald K: 50 Jahre Biochemie und Biotechnologie bei Boehringer Mannheim. 50 Jahr Feier, Evangelische Akademie Tutzing, 1996 Balaji K: Japanese Biotech: A Plan for the Future. Japan Inc., August 2003. Siehe: www.japaninc.net bio.com – life on the net: www.bio.com Genentech, Inc.: www.gene.com Roche Group: www.roche.com BioJapan: www.biojapan.de Chugai Pharmaceutical Co., Ltd.: www.chugai-pharma.de; www.chugai-pharm.co.jp Schmid RD: Pocket Guide to Biotechnology and Genetic Engineering. Wiley-VCH, Weinheim, 2002 24
Arzneimittel aus dem Fermenter Die biotechnologische Herstellung von Wirkstoffen stellt die pharmazeu- tische Forschung und Entwicklung vor neue Aufgaben. So können Proteine, komplexe Moleküle, nur von lebenden Zellen in komplexen Fermentationsanlagen produziert werden. Doch bieten sie ein großes Potenzial und neue Ansätze für die Medizin.
Biopharmazeutika Die moderne Biotechnologie und die klassische verändern die Medizin Arzneimittelentwicklung weisen viele Gemein- samkeiten auf. Beide haben zum Beispiel das Ziel, Wirkstoffe zu entwickeln, welche Krankheiten bekämpfen oder vermeiden. Dazu nutzen sie die aktuellsten Erkenntnisse aus der Biologie. Auch wird es den meisten Patienten gleichgültig sein, ob ein Medikament ein Biotech-Produkt oder ein klassisch chemisch hergestelltes Arzneimittel ist: Hauptsache, es wirkt. Doch im Detail sind die Unterschiede groß. Hundertmal Klassische Arzneistoffe sind fast durchweg kleine größere Moleküle Moleküle. Meist handelt es sich um verhältnis- mäßig übersichtliche, organische Verbindungen mit ein paar wichtigen Molekülgruppen. Ganz anders sieht es mit den so genannten therapeutischen Proteinen aus, welche die größte Gruppe der Biophar- Begriffe mazeutika stellen: Sie beste- Biopharmazeutika Auf biotechnologischem Weg herge- hen aus Dutzenden, manch- stellte Arzneimittel mal sogar Hunderten von Dalton (Da) Maßeinheit für das Gewicht von Atomen und Aminosäuren, von denen Molekülen; ein Dalton sind 1,7 · 10-27kg, also 1,7 Quadrilliar- denstel Kilogramm jede einzelne so groß ist wie Enzyme, Biokatalysatoren Proteine, die chemische Re- die Acetylsalicylsäure im aktionen koordinieren und damit beschleunigen Aspirin. Eukaryoten Lebewesen, deren Erbgut von einem Zellkern umschlossen ist; dazu gehören alle Pilze, Pflanzen und Tiere So ist zum Beispiel der einschließlich des Menschen Wirkstoff in CellCept, dem Fermentation Umsetzung biologischer Substanzen durch derzeit umsatzstärksten Enzyme Fermenter Bioreaktor; Zucht- und Reaktionsgefäß für le- klassischen Medikament bende Zellen von Roche, eine organische Gentechnik Die wissenschaftliche Arbeit mit und an der Erbsubstanz DNS Verbindung aus 62 Atomen Rekombinante Proteine Durch Neukombination von mit einem Molekularge- DNS (z.B. durch Einbringen von menschlichen Genen in Bak- wicht von 433,5 Da (ein Dal- terienzellen) gewonnene Proteine Therapeutische Proteine Als Wirkstoff in Arzneimitteln ton [Da] entspricht 1,7·10-27 verwendete Proteine (Eiweiße) kg). Das wichtigste Biophar- mazeutikum von Roche, der monoklonale Antikörper MabThera (Rituxan), wiegt knapp 350mal mehr: Etwa 150 000 Dalton bringt dieses Protein auf die Waage. Dass diese großen Moleküle ganz andere Ansprüche an Forschung, Entwicklung und Produktion stellen, ist klar. Und auch der menschliche Kör- per geht mit ihnen anders um als mit den klassischen Arzneien. 26
Größenvergleich: Erythropoietin mit Aspirin 1 10 Ala Pro Pro Arg Leu Ile Cys Asp Ser Arg Val Leu Glu Arg Tyr Leu Leu Glu Ala 20 40 30 Lys Thr Ile Asn Glu Asn Leu Ser Cys His Glu Ala Cys Gly Tyr Tyr Ile Asn Glu Ala Glu Val 50 60 Pro Asp Thr Lys Val Asn Phe Tyr Ala Trp Lys Arg Met Glu Val Gly Gin Gin Ala Val 80 70 Glu Val Leu Leu Ala Gin Gly Arg Leu Val Ala Glu Ser Leu Leu Ala Leu Gly Gln Trp Val Asn 90 100 Ser Ser Gln Pro Trp Glu Pro Leu Gin Leu His Val Asp Lys Ala Val Ser Gly Leu Arg 120 110 Ser Ala Asp Pro Pro Ser Ile Ala Glu Lys Gin Ala Gly Leu Ala Arg Leu Leu Thr Thr Leu Ala 130 140 Ser Ala Ala Pro Leu Arg Thr Ile Thr Ala Asp Thr Phe Arg Lys Leu Phe Arg Val Tyr 166 160 150 Ser Arg Asp Gly Thr Arg Cys Ala Glu Gly Thr Tyr Leu Lys Leu Lys Gly Arg Leu Phe Asn Phe O H Ala N O CH2 N N C C N C H N C C CH2 H N CH3 O Tyr Aspirin O O H C O O C CH3 Biopharmazeutika sind in der Regel deutlich größere Verbindun- gen als klassische Arzneistoffe. Jede der einzelnen Aminosäuren im Protein Erythropoietin ist etwa so groß wie das klassische Phar- mazeutikum Aspirin. Arzneimittel aus dem Fermenter 27
Erprobte Verfahren für die Die wichtigste Folge des Größenunterschiedes «small molecules» zwischen klassischen und biotechnologischen Arzneimitteln betrifft deren Struktur. Die dreidi- mensionale Form einfacher organischer Moleküle («small molecules») ist im Wesentlichen durch die festen Bindungen zwischen den einzelnen Atomen festgelegt. Klassische Wirkstof- fe sind daher in der Regel relativ stabile Verbindungen, die in ei- nem recht breiten Bereich von Umgebungsbedingungen immer die gleiche dreidimensionale Struktur haben. Erst drastische Änderungen der Umgebung – dazu gehören etwa starke Säuren oder Laugen und sehr hohe Temperaturen – führen dazu, dass sich diese Moleküle dauerhaft verändern. Derartige Wirkstoffe sind meist relativ einfach zu handhaben und können für die Pa- tienten bequem in unterschiedlichen Formen wie Tablette, Saft oder Zäpfchen verabreicht werden. Zwar sind klassische Arzneimittel oft ursprünglich Naturstoffe – beispielsweise setzte die Naturheilkunde schon jahrhunderte- lang ein Extrakt aus den Blättern oder der Rinde bestimmter Weidenarten gegen Rheuma, Fieber und Schmerzen ein, bevor 1897 der Bayer-Chemiker Felix Hoffmann das in den Extrakten enthaltene Salicylat mit Essigsäure zu dem magenfreundliche- ren Wirkstoff Acetylsalicylsäure reagieren ließ. Dennoch werden solche Wirkstoffe heute üblicherweise auf chemischem Weg aus einfachen Vorstufen hergestellt. Die zugrunde liegenden Verfah- ren sind oft seit Jahrzehnten erprobt und können an jedem Ort reproduzierbar und in beinahe beliebiger Größenordung herge- stellt werden. Sterile Bedingungen, die hohe technische Anfor- derungen stellen, sind selten notwendig; relativ aufwändig ist dagegen der Schutz der Umwelt vor den organischen Lösungs- mitteln, in denen die Reaktionen bei den klassischen Produk- tionsprozessen meist stattfinden. Labile Struktur von Biopharmazeutika erfordern dagegen in der Re- Proteinen gel ein ungleich aufwändigeres Herstellungsver- fahren. Die meisten biotechnologisch hergestell- ten Wirkstoffe sind Proteine – und diese reagieren höchst empfindlich auf Veränderungen in ihrer Umgebung. Ihre Struk- tur basiert auf vielfältigen, teils nur schwachen Wechselwirkun- gen zwischen den einzelnen Bausteinen, den Aminosäuren. Nur in einem schmalen Bereich von Umgebungsbedingungen, die exakt jenen in dem betreffenden Herkunftsorganismus entspre- chen, sind diese Wechselwirkungen optimal aufeinander abge- 28
stimmt. Deshalb können Signale erkennen: schon relativ kleine Ände- Interferon gamma und sein Rezeptor rungen der Temperatur, des Salzgehaltes oder des pH- Wertes der umgebenden Lö- sung diese Struktur zer- stören – und damit auch die Funktion des Wirkstoffs, die von der exakten natürlichen Form des Proteins notwen- dig abhängt. Das Signalprotein Interferon gamma (blau) wird auf der Ober- fläche der Zielzellen von einem speziellen Rezeptor (links und Das gilt entsprechend auch rechts) erkannt. Interferon gamma wird als Biopharmazeuti- für die zur Krankheitsbe- kum gegen bestimmte Formen von Immunschwäche einge- setzt. kämpfung verwendeten (Bildquelle: http://arginine.chem.cornell.edu/structures/ifncomplex.html) therapeutischen Proteine. Meist handelt es sich bei die- sen Molekülen um wichtige Signalstoffe des Körpers. Die Ziel- zellen, die diese Signale empfangen und umsetzen sollen, tragen auf ihrer Oberfläche spezielle Rezeptoren, die jeweils exakt auf einen Signalstoff zugeschnitten sind. Ist dessen dreidimensiona- le Struktur nur leicht verändert, kann er von seinem Rezeptor nicht mehr erkannt werden und verliert damit seine Wirkung. Ganz ähnlich verhält es sich mit einer weiteren großen Gruppe therapeutischer Proteine, den Antikörpern. Diese Moleküle sind ursprünglich Bestandteile des Immunsystems und erkennen körperfremde Strukturen. Zu diesem Zweck verfügen sie über eine spezielle Erkennungsregion, deren Form genau zu dem be- treffenden Zielmolekül passt. Schon der Austausch einer einzi- gen der mehreren hundert Aminosäuren eines Antikörpers macht dessen Funktion zunichte, wenn die Veränderung in die Erkennungsregion fällt. Auf biotechnologischem Weg lassen sich Antikörper gegen beliebige, auch körpereigene Substanzen produzieren; die moderne Biotechnologie macht sich die ent- sprechende Technik zunutze, um gezielt krankheitsrelevante Stoffwechselwege im Körper zu blockieren. Auch hier ist daher die richtige Struktur des Wirkstoffs entscheidend. Biopharmazeutika: Problematisch ist diese Strukturempfindlichkeit Biologische statt auch deshalb, weil Proteine bei ihrer Herstellung chemische Produktion die für ihre Funktion notwendige Struktur nicht immer ohne weiteres einnehmen. Zwar bilden längere Ketten aus Aminosäuren spontan in Lösung so genann- Arzneimittel aus dem Fermenter 29
Vielfältig und wechselhaft: Der Aufbau der Proteine } Primärstruktur Eine Kette aus bis zu zwanzig verschiedenen Aminosäuren (Primärstruktur – die variablen Bereiche sind angedeutet durch die verschiedenfarbigen Quadrate) ordnet sich zu drei- } Sekundärstruktur dimensionalen Strukturen an. Schraubige und flächige Berei- che sind dabei besonders häufig. Die Lage dieser so genann- ten Sekundärstrukturen zueinander bestimmt die Form eines Tertiärstruktur Proteins, die so genannte Tertiärstruktur. Häufig arbeiten mehrere Proteine in Proteinkomplexen zusammen und bilden Quartärstrukturen; nur in dieser Anordnung erfüllen sie dann ihre vorgesehenen Aufgaben. Solche Proteinkomplexe bei der Reinigung in ihrer ursprünglichen Form zu erhalten, ist besonders schwierig. Quartärstruktur te Sekundärstrukturen aus und ordnen sich zum Beispiel schrauben- oder blattförmig an. Doch dieser Vorgang führt vor allem bei großen Proteinen in den seltensten Fällen zur richti- gen Gesamtstruktur (Tertiärstruktur) – zumal dafür häufig mehrere, manchmal auch unterschiedliche Aminosäureketten zusammenwirken müssen. Bei der natürlichen Proteinbiosynthese in den Körperzellen sor- gen verschiedene Enzyme dafür, dass diese «Proteinfaltung» korrekt abläuft. Sie verhindern unter anderem, dass sich früh- zeitig falsche Strukturen bilden, trennen Signalabschnitte von dem Protein ab, fügen Nicht-Protein-Bestandteile hinzu, setzen mehrere Proteine zu Komplexen zusammen und verbinden die- se gegebenenfalls untereinander. Diese streng kontrollierten Vorgänge machen die Proteinherstellung zu einem so komple- xen Prozess, dass er bislang nicht chemisch nachempfunden werden kann. Daher werden therapeutische Proteine auf biolo- gischem Weg produziert: Man nutzt Tiere, Mikroorganismen oder spezielle Kulturen von tierischen oder pflanzlichen Zellen, um sie herzustellen und zu isolieren. Nur begrenzt Diese Produktionswege haben jedoch Nachteile. natürlich verfügbar Der einfache Weg – die Isolierung von natürli- chen Proteinen aus Tieren – wurde beispielsweise jahrzehntelang im Fall von Insulin beschritten (siehe Kapitel «Bier für Babylon»). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 30
Winzige Helfer: Biologische Wirkstoffproduktion Das Bakterium Escherichia coli ist relativ leicht zu kultivie- Aus Eizellen des chinesischen Hamsters (Chinese hamster ren. Allerdings lassen sich in ihm nur einfache Proteine her- ovary cells, CHO-Zellen) ist eine Zelllinie entwickelt wor- stellen, die nach der Biosynthese keine Modifikationen den, die heute weltweit in den Produktionsstätten für Bio- mehr erfahren. pharmazeutika zu finden ist. stieß diese Möglichkeit bald an ihre Grenzen: Nicht nur gäbe es heute bei weitem nicht genügend Schlachttiere, um den welt- weiten Bedarf an Insulin zu decken, sondern das tierische Pro- tein unterscheidet sich vom menschlichen und erreicht daher erstens nicht seine Wirksamkeit und löst zweitens möglicher- weise auch noch Allergien aus. Ähnlich ist die Situation für fast alle anderen Biopharmazeutika – zumal diese Moleküle oft nur in verschwindend geringen Mengen oder, wie die therapeuti- schen Antikörper, praktisch überhaupt nicht natürlich in Tieren vorkommen. Die meisten biotechnologisch produzierten Wirkstoffe werden daher in Kulturen von Mikroorganismen oder Säugetierzellen hergestellt. Einfache Proteine kann man dabei aus Bakterien er- halten; für komplexere Wirkstoffe, die aus mehreren Proteinen bestehen oder die noch durch Nicht-Protein-Bestandteile wie Zuckerketten modifiziert werden müssen, greift man auf Säuge- tierzellen zurück. Will man dabei Produkte erhalten, die den menschlichen Äquivalenten exakt gleichen, müssen die entspre- chenden menschlichen Gene in die produzierenden Zellen ein- geführt werden. Diese gentechnisch veränderten Zellen enthal- ten dann einerseits die allgemein für die korrekte Faltung und Verarbeitung von Proteinen notwendigen Enzyme (besonders im Falle von Säugetierzellen) und andererseits die Erbinforma- tion für die Herstellung des gewünschten Wirkstoffs. Das dafür verantwortliche Gen wird dann noch unter die Kontrolle eines besonders aktiven DNS-Signalelements gebracht. Auf diese Wei- Arzneimittel aus dem Fermenter 31
Sie können auch lesen