Biotechnologie - neue Wege in der Medizin

 
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Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Innovation für die Gesundheit

Biotechnologie -
neue Wege in der Medizin
Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Biotechnologie – neue Wege in der Medizin
Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Zum Titelbild

Die Roche-Gruppe ist zusammen mit Genentech in den USA und Chugai in
Japan einer der Weltmarktführer in der Biotechnologie mit Produktionsan-
lagen in der ganzen Welt. Die Abbildung gibt Einblick in eine Fermentations-
anlage am Roche-Standort Penzberg, wo technisches Know-how und
langjährige Erfahrung unabdingbar sind, solche Anlagen zu betreiben.

Herausgeber:
F. Hoffmann-La Roche AG
Corporate Communications
CH-4070 Basel, Schweiz

© 2006
Zweite, überarbeitete Auflage
Wiedergabe der Texte und Bilder unter Angabe der Quelle gestattet.
Alle erwähnten Markennamen sind gesetzlich geschützt.
Diese Broschüre ist in Deutsch und Englisch erhältlich.

Berichtet von:    Mathias Brüggemeier
Gestaltung:       Atelier Urs & Thomas Dillier, Basel
Druck:            Gissler Druck, Allschwil
7 000 727-1
Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Inhalt

Vorwort
Fortschritt durch Wissen    5

Bier für Babylon            7

Arzneimittel
aus dem Fermenter          25

Brennpunkte der Forschung 39

Von der Diagnose lebt
die Therapie               51
Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Biotechnologie - neue Wege in der Medizin
Fortschritt durch Wissen

Die Biotechnologie – manche bezeichnen sie auch als das älteste
Gewerbe der Welt – hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer
modernen Technologie entwickelt, ohne die medizinischer
Fortschritt kaum denkbar ist. Sei es bei der Aufklärung der mo-
lekularen Ursachen von Krankheiten, sei es bei der Entwicklung
neuer Diagnoseverfahren oder spezifischer Wirkstoffe, immer
spielen moderne biotechnologische Verfahren eine Rolle.
Daraus ist ein neuer Industriezweig, die Biotech-Branche ent-
standen, womit meist kleine junge Start-up-Firmen assoziiert
werden. Doch auch die etablierten Healthcare-Unternehmen
setzen diese modernen Technologien, welche unter dem Begriff
der Biotechnologie zusammengefasst werden, seit vielen Jahren
erfolgreich ein. Sie erforschen die molekularen Grundlagen vie-
ler Krankheiten – und können sie daher gezielter als jemals zu-
vor bekämpfen. Ganz andere Therapiestrategien werden durch
das neue Wissen möglich, neue Wirkstoffklassen – die Biophar-
mazeutika – erschließen Angriffspunkte, die bislang noch nicht
einmal bekannt waren. Und schließlich rücken auch die indivi-
duellen Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten immer
mehr ins Rampenlicht: Das Ziel, schon vor Therapiebeginn zu
wissen, ob und wie die Behandlung bei einem Patienten wirken
wird, liegt heute für viele Krankheiten in greifbarer Nähe. Für
manche Patienten ist dieser Traum sogar schon Wirklichkeit.
Entsprechend eng wachsen Diagnose und Therapie zusammen.
Wo Krankheiten nicht mehr aufgrund mehr oder weniger vager
Symptome, sondern auf der Basis molekularer Informationen
erkannt werden können, ist der Therapieerfolg zwangsläufig eng
mit den diagnostischen Möglichkeiten verknüpft. Für die Pati-
enten bedeutet der Fortschritt in der medizinischen Biotechno-
logie vor allem eines: Eine gezieltere, sicherere und erfolgreiche-
re Behandlung ihrer Leiden. Für die Healthcare-Industrie ist das
eine große Chance – aber auch eine Herausforderung: Die Bran-
che wandelt sich. Unter den zehn bestverkauften Arzneimitteln
von Roche sind Biopharmazeutika heute schon für 40 Prozent
der Umsätze verantwortlich – Tendenz steigend.
Diese Broschüre soll zeigen, was die enge Zusammenarbeit von
biologischer Grundlagenforschung, angewandter Wissenschaft
sowie pharmazeutischer und diagnostischer Entwicklung auf
Basis der Biotechnologie heute schon zu leisten vermag.

                                                                               5
Bier für Babylon

Seit Jahrtausenden nutzen
Menschen Mikroorganismen für die
Herstellung von Produkten – und
betreiben damit Biotechnologie.
Genauso wie Bier, Brot oder Käse in
der Vergangenheit neue Errungen-
schaften waren, steht nun der
Medizin eine Revolution bevor:
Auf biotechnologischem Weg her-
gestellte Einsatzstoffe eröffnen
derzeit völlig neue Perspektiven für
Diagnostik und Therapie. Und sorgen
dabei auch für eine Neuordnung
der Märkte.
5000 – 2000 v. Chr.                   500 v. Chr.
                                           In Ägypten, Babylon und China         In China wird die antibiotische Wir-
                                           werden Gärprozesse zur Herstellung    kung von Tofu-Schimmelkulturen ent-
                                           von Brot, Wein und Bier eingesetzt.   deckt und therapeutisch genutzt.
                                           Wandbild einer ägyptischen Grab-
                                           stätte aus der Zeit der fünften
                                           Dynastie (etwa 2400 vor Christus).

    Vom Wissen zur Wissenschaft: Die Geschichte der Biotechnologie

                         Die babylonischen Biotechnologen waren angesehene Leute.
                         Ihre Produkte waren begehrt bei Sklaven wie bei Königen, bis
                         nach Ägypten lief der Export. Sogar im Gilgamesch-Epos, dem
                         ältesten literarischen Werk der Weltgeschichte, sind sie er-
                         wähnt: Die Brauer Babylons mit ihren 20 verschiedenen Bieren.
                                                              Ihre Kenntnisse fußten auf
    Begriffe                                                  einer schon damals Jahrtau-
    Biopharmazeutika Auf biotechnologischem Weg herge-
                                                              sende alten biologischen
    stellte Arzneimittel                                      Technologie – der Hefegä-
    DNS Desoxyribonukleinsäure, engl. DNA; die chemische      rung.
    Substanz, aus der unser Erbgut besteht
    Gene Funktionsabschnitte unseres Erbgutes, die als Bau-   Auch wenn es ungewohnt
    anleitung vor allem für Proteine dienen                   klingt: Bier brauen ist Bio-
    Genom Die Gesamtheit aller Gene eines Organismus          technologie. Brot backen
    Gentechnik Die wissenschaftliche Arbeit mit und an der
    Erbsubstanz DNS                                           ebenso. Wein, Joghurt, Käse,
    Rekombinante Proteine Durch Neukombination von            Sauerkraut, Essig – alles Bio-
    DNS (z.B. durch Einbringen von menschlichen Genen in Bak-
                                                              technologie. Überall, wo mit
    terienzellen) gewonnene Proteine
                                                              Hilfe biologischer Prozesse
                                                              auf technischem Wege Pro-
                         dukte hergestellt werden, wird Biotechnologie betrieben. Und
                         das gilt für die babylonischen Biere ebenso wie für monoklonale
                         Antikörper. Vergleichsweise jung an der Biotech-Branche ist
                         zunächst einmal nur ihr Name.

Steinzeit, Eisenzeit,              Vor 85 Jahren, im Jahr 1919, verwendete der
Biochemie-Zeit                     ungarische Ingenieur und Wirtschaftswissen-
                                   schaftler Karl Ereky zum ersten Mal den Begriff
                     «Biotechnologie» in einer Veröffentlichung. Er sagte ein bioche-
                     misches Zeitalter voraus, das in seiner historischen Bedeutung
                     mit der Steinzeit und der Eisenzeit vergleichbar sein sollte. Die
                     Wissenschaft war für ihn Bestandteil einer umfassenden wirt-
                     schaftlichen Theorie: Zusammen mit politischen Maßnahmen

8
100 n. Chr.                          800 –1400                              1595
Chinesen nutzen gemahlene            Künstliche Befruchtungstechniken für   Der Brillenschleifer Hans Janssen
Chrysanthemensamen als Insektizid.   Pflanzen und Tiere verbessern die      baut das erste Mikroskop.
                                     Zuchtergebnisse im Nahen Osten, in
                                     Europa und in China.

                   © Rijksmuseum van Oudheden, Leiden, The Netherlands

                   wie einer Landreform sollten die neuen Verfahren die
                   Ernährung der rasant wachsenden Weltbevölkerung sicherstel-
                   len – ein Ansatz, der heute genauso aktuell ist wie in der Zeit
                   nach dem Ersten Weltkrieg.
                   Erekys Vision ist umso erstaunlicher, als zu seinen Lebzeiten die
                   wichtigsten Werkzeuge der heutigen Biotechnologie noch gar

                                                                                              Bier für Babylon   9
1665                                    Um 1830                               Um 1850
 Robert Hooke entdeckt mit dem           Die chemische Natur der Proteine      Die Zelle wird als kleinste eigenstän-
 Mikroskop in einer Korkscheibe recht-   wird entdeckt und die ersten Enzyme   dige Einheit des Lebens identifiziert.
 eckige Strukturen, die er «Zellen»      werden isoliert.
 nennt. Zwei Jahre später sieht Antoni
 van Leeuwenhoek als erster Mensch
 Bakterienzellen.

                     nicht entdeckt waren. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahr-
                     hunderts hinein arbeiteten Biowissenschaftler im Grunde nach
                     den gleichen Mustern wie ihre babylonischen Vorgänger: Sie
                     nutzten die natürlichen Abläufe in den Zellen und Extrakten
                     von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen, um durch eine ge-
                     zielte Auswahl von Reaktionsbedingungen möglichst große
                     Mengen eines bestimmten Produktes zu erhalten.
                     Allerdings konnte die Biotechnologie des 20. Jahrhunderts dank
                     neuer Methoden eine viel größere Anzahl, Reinheit und Qualität
                     solcher Naturprodukte zur Verfügung stellen. Grundlage dafür
                     war eine Reihe von Entdeckungen, auf deren Basis immer
                     schneller neue wissenschaftliche Methoden entwickelt wurden:
                     ❚ In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten Forscher
                         die grundlegenden chemischen Eigenschaften der Proteine
                         und isolierten die ersten Enzyme. Deren Funktion als Bioka-
                         talysatoren konnte in den folgenden Jahrzehnten aufgeklärt
                         und für Forschung und Entwicklung nutzbar gemacht wer-
                         den.
                     ❚ Dank immer besserer Mikroskope wurde die Zelle mit ihrer
                         Gestalt und ihren Inhaltsstoffen sichtbar und ihre Bedeutung
                         als kleinste Einheit des Lebens auf der Erde deutlich. Louis
                         Pasteur postulierte die Existenz von Mikroorganismen und
                         machte sie für die meisten der seit Jahrtausenden bekannten
                         Fermentationsprozesse verantwortlich. Das war die Geburts-
                         stunde der Mikrobiologie.
                     ❚ Charles Darwins Evolutionslehre revolutionierte ab 1859 die
                         Biologie und setzte eine gesellschaftliche Bewegung in Gang,
                         an deren Ende ein anderes Menschenbild stand. Erstmals
                         konnten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Orga-
                         nismen auf der Erde biologisch erklärt werden. Die Biologie
                         wurde dadurch von einer beschreibenden zu einer stärker ex-
                         perimentellen wissenschaftlichen Disziplin.
                     ❚ Mit der Wiederentdeckung der Arbeiten von Gregor Mendel
                         begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der
                         klassischen Genetik. Die Grundlagen der Vererbung wurden

10
1859                                  1866                                   1869
 Charles Darwin veröffentlicht seine   Der Augustinermönch Gregor Mendel      Friedrich Miescher isoliert in Tübingen
 bahnbrechende Evolutionstheorie.      veröffentlicht die Regeln der Verer-   aus den weißen Blutkörperchen in
                                       bung von Merkmalen bei Erbsen. Erst    eitrigen Bandagen eine Substanz, die
                                       35 Jahre später schaffen diese die     er «Nuclein» nennt. Nach seinen Aus-
                                       Grundlage der modernen Genetik.        führungen werden später die Nuklein-
                                                                              säuren benannt.

                         entschlüsselt und damit gezielte Eingriffe möglich. Jahrtau-
                         sende alte Zuchtmethoden konnten nun wissenschaftlich
                         untermauert und weiterentwickelt werden.
                      Dank dieser Entwicklungen änderte sich das Gesicht der Bio-
                      chemie und mit ihr auch die Biotechnologie. Neben den klassi-
                      schen, landwirtschaftlich geprägten Erzeugnissen kamen immer
                      neue Produkte auf den Markt. Enzyme wurden in reinster Form
                      isoliert und für die verschiedensten Anwendungen vom Wasch-
                      pulver bis zur Blutzuckermessung verfügbar gemacht. Standar-
                      disierte, biochemische Testverfahren hielten Einzug in die me-
                      dizinische Diagnostik und gaben den Ärzten erstmals ein
                      molekulares Messinstrument in die Hand. Strukturen und Wir-
                      kungen zahlreicher Biomoleküle wurden aufgeklärt und die
                      biochemischen Grundlagen des Lebens damit transparenter.
                      Die Biochemie begann nach der reinen Grundlagenforschung
                      auch in der Entwicklung Fuß zu fassen.

Innovationsschub                    Erst die Methoden der Gentechnik sorgten für
durch Gentechnik                    einen wirklich rasanten Fortschritt in der Bio-
                                    logie und Biotechnologie. Nachdem James
                      Watson und Francis Crick 1953 ihr – im Wesentlichen bis heute
                      gültiges – DNS-Modell vorgestellt hatten, begann ein wissen-
                      schaftlicher Wettlauf um die Arbeit an und mit der Erbsubstanz.
                      Je besser man die Struktur der DNS kannte und je mehr man
                      über die Mechanismen ihrer Verwendung, Vervielfältigung und
                      Reparatur wusste, um so mehr Möglichkeiten boten sich den
                      Forschern auch, in diese Prozesse einzugreifen. Gezielte Verän-
                      derungen des Erbguts einer Art, für die zuvor jahrzehntelange
                      Zucht und Auslese nötig gewesen waren, ließen sich jetzt in we-
                      nigen Monaten erreichen.
                      So machten es die neuen Methoden möglich, artfremde Gene in
                      einen Organismus einzubringen. Das eröffnete die revolutio-
                      näre Möglichkeit, Biomoleküle von medizinischer Bedeutung
                      und beliebiger Herkunft in großem Maßstab von Bakterienzel-

                                                                                               Bier für Babylon     11
1878                                              1879                                         1913
 Robert Koch entwickelt für die Suche              Walther Fleming beschreibt das               Thomas Hunt Morgan erkennt bei
 nach dem Milzbranderreger bis heute               «Chromatin» im Zellkern, das später          Studien an der Fruchtfliege Drosophila
 gültige Verfahren zur Kultivierung von            als DNS identifiziert wird.                  melanogaster weitere Regeln der Ver-
 Bakterien.                                                                                     erbung.

     Gentechnik: Menschliches Insulin aus Bakterien

     Humaninsulin war 1982 das erste gentechnisch hergestellte        1978 fand das Biotechnologie-Unternehmen Genentech eine
     Medikament weltweit. Das Hormon spielt im Zuckerstoff-           Methode, um menschliches Insulin in Bakterien herstellen zu
     wechsel des Körpers eine zentrale Rolle; Diabetiker können       lassen. In Escherichia-coli-Stämmen wurden kleine, ringför-
     es entweder nicht mehr in ausreichender Menge produzie-          mige DNS-Moleküle (so genannte Plasmide) mit jeweils
     ren (Typ-1-Diabetes), oder ihr Körper reagiert nicht mehr in     einem Teil des Gens für das menschliche Hormon einge-
     erforderlichem Umfang darauf (Typ 2). Alle von Typ-1-Diabe-      bracht. Die Bakterien produzierten daraufhin eine der beiden
     tes Betroffenen und die meisten Typ-2-Diabetiker sind auf        Insulin-Ketten, welche getrennt isoliert, dann verbunden und
     regelmäßige Insulingaben von außen angewiesen.                   schließlich enzymatisch zu aktivem Insulin umgewandelt wur-
     Bis 1982 wurde Insulin in einem aufwändigen und teuren Ver-      den. Das Pharmaunternehmen Eli Lilly kaufte von Genentech
     fahren aus der Pankreas von Schlachttieren isoliert – pro Dia-   eine exklusive Lizenz für die Methode und brachte die Arznei
     betiker und Jahr waren bis zu 100 Schweinebauchspei-             1982 zunächst in den USA, dann weltweit auf den Markt –
     cheldrüsen notwendig. Schon dieses klassisch biotechnolo-        und gab damit den Startschuss für die medizinische Biotech-
     gische Verfahren war ein großer medizinischer Fortschritt: Bis   nologie.
     Mediziner im Jahr 1922 die Wirkung der Pankreasextrakte          Derzeit profitieren rund 200 Millionen Diabetiker weltweit
     entdeckten, kam die Diagnose von Typ-1-Diabetes einem            von der Versorgung mit Humaninsulin. Ohne Gentechnik und
     Todesurteil gleich. Das von Rindern und Schweinen produ-         Biotechnologie wäre das unmöglich: Um diesen Bedarf aus
     zierte Hormon unterscheidet sich nur wenig vom menschli-         Pankreasextrakt zu decken, müssten jährlich 20 Milliarden
     chen, allerdings zeigt ein Teil der damit behandelten Patien-    Schweine geschlachtet werden.
     ten gefährliche allergische Reaktionen.

12
1919                                  1922                                   1928
 Der ungarische Ingenieur Karl Ereky   Frederick Banting, Charles Best und    Alexander Fleming entdeckt die anti-
 prägt den Begriff «Biotechnologie».   James Collip beobachten die heilsame   biotische Wirkung des Penicillins.
                                       Wirkung eines Pankreasextraktes auf
                                       Diabetes; das Hormon Insulin wird
                                       entdeckt.

                     len produzieren zu lassen. Das erste auf diese Weise hergestellte
                     Medikament war das Hormon Insulin: Das amerikanische Un-
                     ternehmen Genentech entwickelte Ende der 1970er Jahre das
                     Verfahren, nach dem menschliches Insulin in Bakterien herge-
                     stellt werden konnte, und lizenzierte die Technologie an das
                     Pharmaunternehmen Eli Lilly aus. Hunderte Millionen von
                     Diabetikern weltweit profitieren seit der Markteinführung 1982
                     von diesem ersten biotechnologisch hergestellten Medikament
                     (siehe Kasten gegenüberliegende Seite).

Ein neuer Wirtschafts-             Mit dieser Technologie war der Grundstein gelegt
zweig entsteht                     für eine neue Industrie: Die ersten nur auf Bio-
                                   technologie ausgerichteten Start-up-Unterneh-
                     men gesellten sich zu den großen, etablierten Pharmafirmen,
                     welche ihrerseits die Biotechnologie zur Entwicklung von hoch-
                     molekularen Wirkstoffen einsetzten.

Gründerzeit und                     Nur wenige Firmen erkannten in der frühen Ent-
Börsenboom                          wicklungsphase der beginnenden 1980er Jahre
                                    das medizinische Potenzial der Biotechnologie.
                     Eine dieser visionären Firmen ist Genentech. Das Unternehmen
                     nimmt für sich in Anspruch, Begründer der modernen Biotech-
                     Industrie zu sein: gegründet 1976 von dem Wissenschaftler Her-
                     bert Boyer und dem Unternehmer Robert Swanson zu einer
                     Zeit, als die Biochemie noch fest in der Grundlagenforschung
                     verankert war. Lange blieb Genentech allerdings nicht allein.
                     Schon gegen Ende der 1970er Jahre und verstärkt seit der Markt-
                     einführung des rekombinanten Humaninsulins wurden vor al-
                     lem in den USA immer mehr Firmen gegründet, die den wis-
                     senschaftlichen Erfolg der Gentechnik auf die medizinische
                     Forschung und Entwicklung übertragen wollten. Noch heute
                     haben neun der zehn größten reinen Biotech-Unternehmen
                     ihren Firmensitz in den USA (siehe Kasten Seite 16).

                                                                                             Bier für Babylon        13
1944                                   1953                                  Ab 1961
 Oswald Avery, Colin MacLeod und        James Watson und Francis Crick        Verschiedene Forscher entschlüsseln
 Maclyn McCarthy identifizieren die     veröffentlichen auf der Basis von     den genetischen Code.
 DNS als Trägerin der Erbinformation.   Rosalind Franklins Röntgenstruktur-
                                        analysen ein Modell der Erbsubstanz
                                        DNS.

                   Zunächst arbeiteten diese jungen Unternehmen im Schatten der
                   großen Pharmafirmen. Das galt hinsichtlich des Umsatzes und
                   der Anzahl der Unternehmen ebenso wie in Bezug auf die öf-
                   fentliche Wahrnehmung. Aber mit den ersten wirtschaftlichen
                   Erfolgen ihrer Produkte änderte sich das schnell. In den 1990er
                   Jahren kumulierte der Fortschritt der gen- und biotechnologi-
                   schen Forschung und Entwicklung in einer wahren Gründerzeit.
                                                       Binnen weniger Jahre ent-
                                                       standen weltweit Tausende
                                                       neuer Biotech-Unterneh-
                                                       men. Viele von ihnen waren
                                                       Ausgründungen       öffentli-
                                                       cher oder privater For-
                                                       schungsinstitute, in denen
                                                       Wissenschaftler ihre Ergeb-
                                                       nisse wirtschaftlich zu nut-
                                                       zen suchten. Angetrieben
                                                       von enormen Gewinner-
                                                       wartungen in der Zukunft,
Die lebensgroße Bronzeplastik der Gründer von Genen-   wurde diese junge Biotech-
tech steht im Forschungszentrum des Unternehmens in    nologie neben der Informa-
South San Francisco.
                                                       tionstechnologie zu einer
                   treibenden Kraft des Börsenbooms gegen Ende des 20. Jahrhun-
                   derts.
                   Schon mit ihrem Börsengang waren viele junge Biotech-Unter-
                   nehmen mit ein paar Dutzend Mitarbeitern in dieser Zeit höher
                   bewertet als manches etablierte Pharmaunternehmen, das Hun-
                   derte Millionen Dollar Jahresumsatz machte. Eine Übertrei-
                   bung – aber eine, die für die meisten Neugründungen unver-
                   zichtbar war. Denn die Entwicklung eines neuen Medikaments
                   bis zur Zulassung ist nicht nur äußerst langwierig, sondern auch
                   noch riskant und ausgesprochen teuer. Der Hauptgrund dafür
                   ist die hohe Anzahl an Fehlschlägen: Nur eines von etwa
                   100 000–200 000 chemisch hergestellten Molekülen schafft den
                   Weg vom Reagenzglas bis in die Apotheke.

14
1973                                       1975                                          1976
Stanley Cohen und Herbert Boyer nut-       Georges Köhler und César Milstein             Herbert Boyer und Robert Swanson
zen Restriktionsenzyme und Ligasen         veröffentlichen ihre Methode zur Her-         gründen mit Genentech das erste
zur Neukombination von DNS.                stellung monoklonaler Antikörper.             moderne Biotechnologie-Unterneh-
                                                                                         men.

  Das erste moderne Biotechnologie-Unternehmen: Genentech

  Es gehörte schon Mut dazu, im Jahr 1976 ein Biotechnolo-      sehene Biologe Herbert Boyer dem jungen Venture-Kapi-
  gie-Unternehmen zu gründen: Die Wirtschaft hielt die          talisten Robert Swanson nur zehn Minuten seiner kostba-
  Technologie für unausgereift und die Wissenschaft sah in      ren Zeit gewähren wollte. Doch das Gespräch dauerte drei
  der Suche nach wirtschaftlichem Nutzen eine Gefahr für die    Stunden – und an seinem Ende war die Idee Genentech
  Grundlagenforschung. Kein Wunder also, dass der ange-         geboren. Die Entwicklung:
                                                                1976 Am 7. April gründen Robert Swanson und Dr. Her-
                                                                bert Boyer Genentech
                                                                1978 Genentech-Forscher klonieren erstmals Humaninsu-
                                                                lin in Bakterien
                                                                1980 Genentech geht zu einem Preis von 35 USD je Aktie
                                                                an die Börse; eine Stunde später liegt der Kurs bei 88 USD
                                                                1982 Humaninsulin wird als erstes gentechnologisch her-
                                                                gestelltes Medikament in den USA zugelassen; die Arznei
                                                                vermarktet der Pharmakonzern Eli Lilly in Lizenz von Genen-
                                                                tech
                                                                1985 Zulassung des ersten rekombinanten Medikaments
                                                                einer Biotech-Firma: Protropin von Genentech (Wirkstoff
                                                                Somatrem: ein Wachstumshormon für Kinder)
                                                                1986 Genentech lizenziert Roferon-A an Roche aus
                                                                1990 Roche übernimmt die Mehrheit an Genentech und
                                                                kauft bis 1999 alle Aktien auf
                                                                1987–97 Wichtige Zulassungen: Activase (1987, Wirkstoff
                                                                Alteplase gegen Blutgerinnsel bei Herzinfarkt); Actimmune
                                                                (1990, Interferon gamma-1b gegen eine chronische
                                                                Immunschwäche); Pulmozyme (1992, Dornase alfa bei
                                                                Asthma, Kooperation mit Roche); Nutropin (1993, Soma-
                                                                tropin, ein Wachstumshormon); Rituxan (1997, Rituximab
                                                                gegen Non-Hodgkin-Lymphom, Kooperation mit Idec)
                                                                1998 Zulassung des humanisierten monoklonalen Anti-
                                                                körpers Herceptin (Trastuzumab) gegen eine spezielle
                                                                Form von Brustkrebs
                                                                1999 Genentech gehört für die Zeitschrift Fortune zu den
                                                                «100 best Companies to Work for in America»; Roche bringt
                                                                Genentech zurück an die New York Stock Exchange
                                                                (NYSE)
                                                                2002 Das Wissenschaftsmagazin Science erklärt Genen-
                                                                tech zum beliebtesten Arbeitgeber im Bereich Biotech und
                                                                Pharma
                                                                2003–2004 Zulassung von Xolair (Omalizumab, bei
                                                                Asthma); Raptiva (Efalizumab, gegen Schuppenflechte);
                                                                Avastin (Bevacizumab, Krebstherapie)

                                                                                                       Bier für Babylon       15
1977                                           1982                                          1983
 Walter Gilbert, Allan Maxam und                Humaninsulin ist das erste gentech-           Kary Mullis und Mitarbeiter ent-
 Frederic Sanger stellen ihre Methode           nologisch hergestellte Arzneimittel;          wickeln die Polymerase-Kettenreak-
 zur Sequenzierung von DNS vor.                 das Zeitalter der modernen Biotech-           tion (PCR).
                                                nologie beginnt.

 Ranking von Biotech-Unternehmen                                   Ranking von Healthcare-Unternehmen
 Umsatz 2003, in Mio. USD                                          Umsatz von Biotech-Produkten 2003, in Mio. USD

  1       Amgen (USA)                                  8 360         1       Amgen                                       7 866
  2       Genentech (USA)                              3 300         2       Roche-Gruppe mit Genentech und Chugai       6 191
  3       Serono (Schweiz)                             2 000         3       Johnson & Johnson                           6 100
  4.      Biogen Idec (USA)                            1 8501        4       Novo Nordisk                                3 561
  5       Chiron (USA)                                 1750          5       Eli Lilly                                   3 043
  6       Genzyme (USA)                                1 570         6       Aventis                                     2 075
  7       MedImmune (USA)                              1 050         7       Wyeth                                       1 870
  8       Invitrogen (USA)                               780         8       Schering-Plough                             1751
  9       Cephalon (USA)                                 710         9       Serono                                      1 623
 10       Millenium (USA)                                430        10       Baxter International                        1 125
                                                                    11       Biogen                                      1 057
 Quelle: Geschäftsberichte der Unternehmen                          12       Schering AG                                 1 035
 1 Vergleichswert nach der Fusion von Biogen und Idec im Nov.       13       Genzyme                                       879
   2003                                                             14       MedImmune                                     780
                                                                    15       GlaxoSmithKline                               729
                                                                    16       Bayer AG                                      563
 Biotechnologisch tätig sind auch viele der großen Healthcare-      17       Pfizer                                        481
 Unternehmen. Bezieht man diese ins Ranking ein, ergibt sich        18       Abbott Laboratories                           397
 folgendes Bild:                                                    19       Akzo Nobel                                    375
                                                                    20       Kirin                                         355

                                                                   Quelle: Evaluate Service

                     Die biotechnologische Produktion erlaubt die Herstellung kom-
                     plexer Moleküle, welche eine höhere Chance haben, auf den
                     Markt zu gelangen. Allerdings ist die biotechnologische Pro-
                     duktion von Medikamenten technisch anspruchsvoller und da-
                     mit teurer als eine einfache chemische Synthese. Ohne das Geld
                     aus den erfolgreichen Börsengängen hätte kaum ein Jungunter-
                     nehmen diese finanziellen Risiken schultern können.
                     Aus diesem Grund sind kleinere Biotech-Unternehmen – heute
                     genauso wie Genentech im Jahr 1982 – oft auf Allianzen mit
                     großen Pharmakonzernen oder mit Dienstleistern für die Pro-
                     duktion angewiesen. Im Zuge der verschlechterten Börsen-
                     bedingungen nach dem Jahr 2000 sind einige dieser Kooperatio-

16
Ab 1984                               1990                                  1994
 Der genetische Fingerabdruck verän-   Das Human-Genom-Projekt beginnt;      Die ersten gentechnisch veränderten
 dert die Kriminalistik.               das deutsche Gentechnik-Gesetz wird   Tomaten kommen in den USA auf den
                                       verabschiedet.                        Markt.

                    nen in Übernahmen gemündet: Der Wert der meisten Biotech-
                    Firmen stürzte ebenso schnell ab wie er zuvor gestiegen war, und
                    der Zugang zu neuem Kapital über die Börse war
                    weitgehend versperrt. Entsprechend steckt die junge, moderne
                    Biotechnologie im Jahr 2004 mitten in ihrer ersten Konsolidie-
                    rungswelle.

Europa: Pharma                      Bei dieser Entwicklung sind allerdings Unter-
macht Biotechnologie                schiede zwischen den Weltregionen deutlich. An-
                                    ders als in den USA wurde die Biotechnologie in
                    Europa schon früh von etablierten Unternehmen aus der klassi-
                    schen Biochemie, Chemie und Pharmakologie dominiert. Zwar
                    gibt es vor allem in Großbritannien, Deutschland, Frankreich
                    und Skandinavien durchaus eine agile Biotech-Branche – der
                    europäische Marktführer Serono stammt aus der Schweiz –, aber
                    die Taktgeber der Entwicklung der zweitwichtigsten Biotech-Re-
                    gion der Welt kommen fast durchweg aus klassischen Branchen.
                    Ein Beispiel dafür war Boehringer Mannheim (BM). Als Labor-
                    ausstatter für die biochemische Forschung und die medizinische
                    Diagnostik war diese deutsche Firma von Beginn weg bestens mit
                    den Entwicklungs- und Herstellungsprozessen der Biotechnolo-
                    gie vertraut. Schon seit den 1940er Jahren hatte BM in Tutzing
                    und später in Penzberg bei München klassische Biotechnologie
                    betrieben (siehe Kasten S. 19). Den Schritt in die moderne, auf
                    Gentechnik basierende Biotechnologie vollzog das Unterneh-
                    men im Laufe der 1980er Jahre mit der Markteinführung ver-
                    schiedener rekombinanter (also gentechnologisch hergestellter)
                    Enzyme.
                    Im Jahr 1990 folgte mit NeoRecormon (Wirkstoff Erythropoie-
                    tin) das erste gentechnologisch hergestellte Medikament von
                    BM. Die Arznei ist in ihrer weiterentwickelten Form noch heu-
                    te ein wesentlicher Bestandteil von Therapien gegen Blutarmut
                    (Anämie) und in der Onkologie. Das macht sie zu einem der
                    umsatzstärksten gentechnologisch hergestellten Medikamente

                                                                                         Bier für Babylon    17
1997                                   1998                                  2001
 Das erste eukaryotische Genom, jenes   Die ersten menschlichen embryonalen   Eine erste Sequenz des menschlichen
 der Bäckerhefe, ist entschlüsselt.     Zelllinien sind etabliert.            Genoms wird in einer Publikation
                                                                              beschrieben.

                                                           der Welt – eine wichtige Ein-
                                                           nahmequelle für das Unter-
                                                           nehmen, das im Jahr 1998 in
                                                           die Roche-Gruppe inte-
                                                           griert wurde.
                                                           Roche selbst gehört eben-
                                                           falls zu den europäischen
                                                           Biotech-Pionieren.Das Phar-
                                                           maunternehmen war wie
                                                           BM seit Jahrzehnten nicht
                                                           nur in der therapeutischen,
                                                           sondern auch in der diagno-
                                                           stischen Forschung und
                                                           Entwicklung tätig und hatte
                                                           schon in den frühen 1980er
                                                           Jahren mit der großtechni-
                                                           schen Produktion rekom-
                                                           binanter Enzyme begonnen.
                                                           Ihr erstes gentechnologisch
                                                           hergestelltes Arzneimittel
                                                           brachte Roche 1986 auf den
                                                           Markt: Es handelte sich um
                                                           Roferon-A mit dem Wirk-
                                                           stoff Interferon alfa-2a ge-
                                                           gen Haarzellen-Leukämie
                                                           und war ein Lizenzprodukt
                                                           von Genentech. Nach der
                                                           Akquisition von Boehringer
                                                           Mannheim (BM) baute Ro-
                                                           che das Werk in Penzberg,
                                                           einen der größten Biotech-
                     Standorte Europas, weiter aus.
                     Der Kauf von BM war das zweite große Engagement des Kon-
                     zerns im Biotech-Bereich: Schon im Jahr 1990 hatte Roche die
                     Mehrheit an Genentech übernommen. Im Jahr 2002 folgte mit

18
2003
Die komplette Sequenz des menschli-
chen Genoms liegt vor.

  «Big Biotech» im Voralpenland: Penzberg

  Malerischer kann Forschung kaum sein: Einer der größten     1981 In Penzberg beginnt die großtechnische Produktion
  Biotech-Standorte Europas liegt 40 Kilometer südlich von    rekombinanter Enzyme
  München am Fuße der bayerischen Voralpen. Mehr als          1985 Reflotron, ein Analysegerät zur Bestimmung von
  50 Jahre lang entwickelten Forscher für Boehringer Mann-    Blutwerten, erhält den Innovationspreis der deutschen
  heim (BM) zunächst in Tutzing und später auch in Penzberg   Wirtschaft
  biochemische Reagenzien für die biologische Forschung       1986 Die Prozessentwicklungsarbeit für das erste gen-
  und für die medizinische Diagnostik und Therapie. Seit im   technologisch hergestellte Arzneimittel von BM, NeoRe-
  Jahre 1998 die Roche-Gruppe BM übernahm, ist Penzberg       cormon (Wirkstoff Erythropoietin), beginnt
  die größte biotechnologische Forschungs- und Produkti-      1990 NeoRecormon wird zur Behandlung von Blutarmut
  onsstätte des Konzerns.                                     zugelassen
  1946 Dr. Fritz Engelhorn, Abteilungsleiter bei C.F. Boeh-   1996 Rapilysin (Wirkstoff Gewebe-Plasmino-Aktivator)
  ringer & Söhne, beginnt mit einer kleinen Forschungs-       zur Behandlung von Herzinfarkt ist das erste in Deutsch-
  gruppe mit biochemischen Arbeiten im ehemaligen Hotel       land erforschte, entwickelte und gentechnologisch herge-
  Simson in Tutzing                                           stellte Medikament
  1948 Die Aminosäuregemische «Dymal», «Aminovit» und         1998 Die Roche-Gruppe übernimmt BM; in den folgenden
  «Laevohepan» sind die ersten biotechnologisch hergestell-   Jahren setzt Roche den Ausbau des Standorts Penzberg zu
  ten Pharmapräparate von BM                                  einem der größten und modernsten Biotech-Standorte
  1955 Unter dem Markennamen «Biochemica Boehringer»          Europas fort
  liefert BM Reagenzien
  für die Forschung und
  die enzymatische Dia-
  gnostik weltweit
  1968 Mit der Isolierung
  von Polynukleotiden be-
  ginnt die molekularbiolo-
  gische Forschung
  1972 BM erwirbt ein
  stillgelegtes Bergwerks-
  gelände in Penzberg und
  baut dort für die schnell
  wachsenden Produkte-
  linien Biochemica und
  Diagnostica ein neues
  Produktionswerk
  1977 Erste gentechni-
  sche Arbeiten in Tutzing
  1980 Einrichtung eines
  Labors zur Herstellung
  monoklonaler Antikörper
  in Tutzing

                                                                                                   Bier für Babylon      19
Biotechnologie mit Tradition: Die Roche-Gruppe

     Bis in die 1940er Jahre reicht die Linie biotechnologischer    ration; schon zwei Jahre später ist die Technologie Grund-
     Produkte von Roche zurück. Dieses Fachwissen zahlt sich        lage für den HIV-Test Amplicor, den ersten diagnostischen
     aus: Heute ist die Roche-Gruppe das zweitgrößte Biotech-       PCR-Test
     Unternehmen der Welt. Dabei ist der Konzern so breit ab-       1992 Mit Hivid kommt das erste Aids-Medikament von
     gestützt wie kein zweiter. Seine drei bestverkauften Arznei-   Roche auf den Markt
     mittel sind Biopharmazeutika, fast die Hälfte des Phar-        1994 Roche übernimmt das US-Pharmaunternehmen
     maumsatzes bei seinen Top-Ten-Produkten macht Roche            Syntex und wandelt es 1995 in Roche Biosciences um
     mit Biotechnologie. Die Division Diagnostics bietet als        1998 Roche übernimmt die Corange-Gruppe, zu der
     führendes Unternehmen über 1700 Produkte an, die auf           Boehringer Mannheim gehört. Die Kooperation mit
     Biotechnologie basieren. Allein die PCR-Technologie sorgt      deCODE genetics beginnt
     dort für 1,1 Mrd. CHF Umsatz jährlich. Wichtige Stationen      1999 Nach der vollständigen Übernahme von Genentech
     auf dem Weg zu diesem Erfolg:                                  bringt Roche 42% der Anteile an dem Unternehmen zurück
     1896 Fritz Hoffmann-La Roche gründet in Basel die Arz-         an die Börse; der monoklonale Antikörper Herceptin wird
     neimittelfabrik F. Hoffmann-La Roche & Co.                     gegen Brustkrebs zugelassen
     1933 Die industrielle Vitamin-C-Produktion wird aufge-         2000 Das Institut für Immuno-
     nommen; binnen weniger Jahre steigt Roche zum welt-            logie in Basel wird in das
     größten Vitaminproduzenten auf                                 Roche-Zentrum für medizini-
     1968 Roche begründet mit der Division Diagnostics ein          sche Genomik überführt
     zukunftsweisendes Geschäftsfeld; in Nutley eröffnet Roche      2001 Aus der Fusion von Nip-
     das molekularbiologische Institut                              pon Roche und Chugai ent-
     1971 Das Institut für Immunologie in Basel wird eröffnet       steht der fünftgrößte Pharma-
     und von Roche finanziert                                       hersteller und das führende
     1976 Georges Köhler (Mitglied des Instituts von 1976–          Biotech-Unternehmen Japans
     1985) beginnt mit seinen Arbeiten an monoklonalen Anti-        2002 Pegasys (Wirkstoff
     körpern                                                        Peginterferon alfa-2a gegen
     1980 Die Zusammenarbeit mit Genentech beginnt;                 Hepatitis C) wird in Europa und
     Kooperationen mit Biotechnologie-Firmen werden in den          den USA zugelassen; Roche
     folgenden Jahrzehnten zu einem zentralen Element der           verkauft die Division Vitamine
     Unternehmensphilosophie                                        und Feinchemikalien an DSM
     1984 Niels Kaj Jerne und Georges Köhler vom Institut für       2003 Beginn der Kooperation
     Immunologie in Basel erhalten zusammen mit César Mil-          mit Affymetrix zur Herstellung
     stein den Nobelpreis für Medizin; einer der nächsten           von DNS-Chips; Marktein-
     Preisträger ist 1987 ihr Kollege Susumu Tonegawa (Mitglied     führung des AmpliChip CYP
     des Instituts von 1971–1981)                                   450, des weltweit ersten phar-
     1986 Aus der Kooperation mit Genentech geht Roferon-A          makogenomischen Diagno-
     (Wirkstoff Interferon alfa-2a) hervor, das erste gentechno-    stik-Produktes in der Medizin
     logisch hergestellte Medikament von Roche; Roche führt         2004 Neue biotechnologi-
     einen HIV-Test ein                                             sche Produktionsanlagen in
     1991 Roche erwirbt die weltweiten Vermarktungsrechte           Basel und Penzberg werden
     an der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) von Cetus Corpo-        gebaut

                       dem japanischen Pharma- und Biotech-Unternehmen Chugai
                       schließlich eine weitere große Fusion, welche die Roche-Grup-
                       pe auch bei den Biotech-Umsätzen nahe an den Weltmarktfüh-
                       rer Amgen heranbrachte.
                       Roche steht damit beispielhaft für die Entwicklung der euro-
                       päischen Biotechnologie: Konkurrenten haben zum Teil zeitlich

20
verzögert oder mit anderen Schwerpunkten ähnliche Wege ein-
                geschlagen.

Japan: Potenzial in der        Im Gegensatz zu den europäischen Pharmakon-
Biotechnologie                 zernen bemerkten die technologiebegeisterten
                               Staaten Asiens erst spät, welches Potenzial in der
                neuen Branche steckte. Dabei ist der japanische Arzneimittel-
                markt nach den USA der zweitgrößte der Welt. In kaum einem
                Land der Welt werden so viele Medikamente verschrieben, ein
                Achtel des weltweiten Pharmaumsatzes entfällt allein auf Japan.
                Auch finden sich unter den 20 größten Pharmakonzernen der
                Welt mit Takeda und Sankyo zwei japanische Unternehmen.
                In den 1990er Jahren startete Japan mit groß angelegten Förder-
                programmen und gezielten Kooperationen die Aufholjagd. In-
                zwischen können die japanischen Pharmaunternehmen im Um-
                satz biopharmazeutischer Produkte zumindest mit jenen in den
                meisten europäischen Staaten mithalten. Das gilt allerdings
                nicht, was die Anzahl an Biotech-Firmen betrifft. Der Gründer-
                boom der 1990er Jahre ist an dem Land weitgehend vorüber ge-
                gangen. Reine, moderne Biotech-Unternehmen aus Japan spie-
                len bislang auf dem Weltmarkt eine noch geringere Rolle als ihre
                europäischen Konkurrenten.
                Getragen wird die japanische Biotechnologie zum großen Teil
                von Vertretern klassischer Industriezweige wie der Brauerei
                Kirin, dem Nahrungsmittelkonzern Takara, dem Chemieunter-
                nehmen Kyowa Hakko und verschiedenen Pharmakonzernen.
                Marktführer der japanischen modernen Biotechnologie ist die
                Chugai Pharmaceutical Co., Ltd., ein Pharmaunternehmen mit
                achtzigjähriger Tradition, das als eines der ersten in Japan in die
                Gentechnik investiert hat.
                Meilensteine der Unternehmensentwicklung in diesem Bereich
                waren die Akquisition der US-Biotech-Firma Gen-Probe im
                Jahr 1989 sowie ein Jahr später die Zulassung des ersten gen-
                technologisch hergestellten Arzneimittels des Konzerns, Epogin
                (Wirkstoff Erythropoietin gegen Blutarmut). Den weltweiten
                Absatzmarkt für diese Produkte sichert die Roche-Gruppe, die
                im Jahr 2002 die Aktienmehrheit an Chugai übernahm.
                Aus der Fusion der Japan-Tochter von Roche, Nippon Roche,
                und Chugai ging 2002 das fünftgrößte Pharmaunternehmen
                und der größte Biotech-Anbieter Japans hervor. Chugai ist da-
                bei als eigenständiges, börsennotiertes Mitglied der Roche-
                Gruppe der alleinige Vertriebspartner aller Roche-Produkte in

                                                                                  Bier für Babylon   21
Nummer Eins der japanischen Biotechnologie: Chugai Pharma

                                                                          1925 Juzo Uyeno gründet in Tokio ein kleines
                                                                          pharmazeutisches Unternehmen, das im Lauf der
                                                                          Jahrzehnte national an Bedeutung gewinnt
                                                                          1986 In London entsteht der Sitz der heutigen
                                                                          Chugai Pharma Europe
                                                                          1989 Chugai erwirbt das amerikanische Biotech-
                                                                          und Diagnostika-Unternehmen Gen-Probe
                                                                          1990 Mit Epogin (Wirkstoff ist der Wachstumsfak-
                                                                          tor Erythropoietin) wird das erste gentechnologisch
                                                                          hergestellte Medikament von Chugai in Japan zu-
                                                                          gelassen
                                                                          1991 Granocyte (Wirkstoff rHuG-CSF zur Wachs-
     Wenn sich Japaner ein Ziel setzen, dann wird es eng für die   tumsförderung weißer Blutkörperchen) wird zunächst in
     Konkurrenz. Vor einigen Jahren hat sich der japanische        Japan, später auch in Europa, Australien und China zuge-
     Pharmakonzern Chugai vorgenommen, in die erste Liga der       lassen
     weltweiten Biotechnologie aufzusteigen – und befindet         1993–96 Chugai geht verschiedene Allianzen für For-
     sich seitdem auf rasanter Aufholjagd. Auf dem japanischen     schung, Entwicklung und Vermarktung von Wirkstoffen ein
     Markt ist Chugai jedenfalls schon an der Spitze angekom-      1995 Gründung des Chugai Research Institute for Mole-
     men: Seit der Fusion mit Nippon Roche ist Chugai nicht nur    cular Medicine
     der fünftgrößte Pharmakonzern, sondern auch das größte        1997 Die Chugai Diagnostics Science entsteht
     moderne Biotech-Unternehmen auf dem japanischen               2002 Chugai und Nippon Roche fusionieren zu Japans
     Markt. Eine kurze Chronologie:                                fünftgrößtem Pharmaunternehmen

                       Japan und profitiert gleichzeitig von dem weltweiten Vertriebs-
                       netz der Gruppe; Roche wiederum hat ein Lizenzrecht auf alle
                       Produkte, für die Chugai außerhalb Japans und Südkoreas einen
                       Partner sucht.

Ausblick:                             Wie das Beispiel der Roche-Gruppe zeigt, koope-
Biotechnologie im Wandel              rieren kleine, innovative Biotech-Firmen zu-
                                      nehmend mit großen Pharmaunternehmen.
                       Gleichzeitig haben die Konzerne ihr Portfolio durch Mehrheits-
                       beteiligungen an börsennotierten Biotech-Firmen und durch
                       Allianzen in diesem Bereich erweitert. Und auch von den Bio-
                       technologie-Unternehmen selbst geht ein Veränderungsdruck
                       aus: Mit Übernahmen und der Erschließung neuer Geschäfts-
                       felder investieren auch sie jenseits ihres angestammten Wirt-
                       schaftsbereiches.
                       Als Folge dieser Entwicklung werden die meisten Umsätze mit
                       gentechnologisch hergestellten Medikamenten von Pharma-
                       konzernen gemacht. Und dieser Trend wird sich in Zukunft ver-
                       mutlich noch verstärken: Als zweitgrößter Biotech-Anbieter der

22
Welt hat Roche mit über 50 Wirkstoffprojekten die weltweit
stärkste Entwicklungspipeline in diesem Bereich. Aventis und
GlaxoSmithKline teilen sich mit 45 hoffnungsvollen Wirkstof-
fen Platz zwei auf dieser Liste. Das bislang noch größte Bio-
technologie-Unternehmen der Welt, Amgen, beziffert seine Pro-
duktepipeline im Jahr 2004 auf etwa 40 Kandidaten.
Gleichzeitig ist das Wachstum des Biotechnologie-Marktes welt-
weit ungebrochen. Innerhalb der Roche-Gruppe machen Bio-
pharmazeutika bereits heute 40% der Pharmaumsätze unter den
zehn bestverkauften Arzneimitteln aus – Tendenz steigend. Auf
dieses Wachstum setzen auch die zahlreichen jungen Biotech-
Unternehmen mit Wirkstoffkandidaten kurz vor der Markt-
reife. Sowohl in Europa als auch in den USA stehen viele junge
Unternehmen aus der Zeit des Biotech-Börsenbooms vor der
Zulassung ihres ersten selbst zu vermarktenden Medikaments.
Die Umsätze mit diesen Arzneimitteln werden der Fortentwick-
lung der Pipeline in diesen Unternehmen zugute kommen – und
damit auch den Wettbewerb beleben.
Derzeit repräsentieren die zehn größten Biotech-Unternehmen
rund 85% des Umsatzes der Biotech-Industrie weltweit, der sich
auf etwa 37 Milliarden Dollar beläuft. Vergleicht man die Ent-
wicklungspipelines der großen Konzerne mit jenen der meist
kleineren, reinen Biotech-Unternehmen, so dürfte sich diese
Konzentration in den kommenden Jahren zunächst einmal noch
verstärken; angesichts des rasanten Wachstums sind Überra-
schungen allerdings nicht ausgeschlossen. Fest steht jedenfalls,
dass die Biotechnologie den Pharmamarkt entscheidend beein-
flusst hat – und diese Entwicklung noch nicht zu Ende ist.

                                                               Bier für Babylon   23
Quellen

     Campbell NA, Reece JB: Biologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 6. Auflage
         2003
     Stryer L: Biochemie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 4. Auflage 2003
     Die Arzneimittelindustrie in Deutschland – Statistics 2004. VFA Verband Forschender Arz-
         neimittelhersteller e.V., Hrsg, Berlin, August 2004
     Präsentationen des Mediengesprächs: The Roche Group – one of the world’s leaders in bio-
         tech, Basel, November 2004
     http://www.roche.com/de/home/media/med_events
     Prowald K: 50 Jahre Biochemie und Biotechnologie bei Boehringer Mannheim. 50 Jahr Feier,
         Evangelische Akademie Tutzing, 1996
     Balaji K: Japanese Biotech: A Plan for the Future. Japan Inc., August 2003.
         Siehe: www.japaninc.net
     bio.com – life on the net: www.bio.com
     Genentech, Inc.: www.gene.com
     Roche Group: www.roche.com
     BioJapan: www.biojapan.de
     Chugai Pharmaceutical Co., Ltd.: www.chugai-pharma.de; www.chugai-pharm.co.jp
     Schmid RD: Pocket Guide to Biotechnology and Genetic Engineering. Wiley-VCH, Weinheim,
         2002

24
Arzneimittel aus dem Fermenter

Die biotechnologische Herstellung
von Wirkstoffen stellt die pharmazeu-
tische Forschung und Entwicklung
vor neue Aufgaben. So können
Proteine, komplexe Moleküle, nur
von lebenden Zellen in komplexen
Fermentationsanlagen produziert
werden. Doch bieten sie ein großes
Potenzial und neue Ansätze für die
Medizin.
Biopharmazeutika                 Die moderne Biotechnologie und die klassische
verändern die Medizin            Arzneimittelentwicklung weisen viele Gemein-
                                 samkeiten auf. Beide haben zum Beispiel das Ziel,
                   Wirkstoffe zu entwickeln, welche Krankheiten bekämpfen oder
                   vermeiden. Dazu nutzen sie die aktuellsten Erkenntnisse aus
                   der Biologie. Auch wird es den meisten Patienten gleichgültig
                   sein, ob ein Medikament ein Biotech-Produkt oder ein klassisch
                   chemisch hergestelltes Arzneimittel ist: Hauptsache, es wirkt.
                   Doch im Detail sind die Unterschiede groß.

Hundertmal                               Klassische Arzneistoffe sind fast durchweg kleine
größere Moleküle                         Moleküle. Meist handelt es sich um verhältnis-
                                         mäßig übersichtliche, organische Verbindungen
                      mit ein paar wichtigen Molekülgruppen. Ganz anders sieht es
                      mit den so genannten therapeutischen Proteinen aus, welche die
                                                                 größte Gruppe der Biophar-
 Begriffe                                                        mazeutika stellen: Sie beste-
 Biopharmazeutika Auf biotechnologischem Weg herge-
                                                                 hen aus Dutzenden, manch-
 stellte Arzneimittel                                            mal sogar Hunderten von
 Dalton (Da) Maßeinheit für das Gewicht von Atomen und           Aminosäuren, von denen
 Molekülen; ein Dalton sind 1,7 · 10-27kg, also 1,7 Quadrilliar-
 denstel Kilogramm                                               jede einzelne so groß ist wie
 Enzyme, Biokatalysatoren Proteine, die chemische Re-            die Acetylsalicylsäure im
 aktionen koordinieren und damit beschleunigen                   Aspirin.
 Eukaryoten Lebewesen, deren Erbgut von einem Zellkern
 umschlossen ist; dazu gehören alle Pilze, Pflanzen und Tiere    So ist zum Beispiel der
 einschließlich des Menschen                                     Wirkstoff in CellCept, dem
 Fermentation Umsetzung biologischer Substanzen durch
                                                                 derzeit     umsatzstärksten
 Enzyme
 Fermenter Bioreaktor; Zucht- und Reaktionsgefäß für le-         klassischen     Medikament
 bende Zellen                                                    von Roche, eine organische
 Gentechnik Die wissenschaftliche Arbeit mit und an der
 Erbsubstanz DNS
                                                                 Verbindung aus 62 Atomen
 Rekombinante Proteine Durch Neukombination von                  mit einem Molekularge-
 DNS (z.B. durch Einbringen von menschlichen Genen in Bak-       wicht von 433,5 Da (ein Dal-
 terienzellen) gewonnene Proteine
 Therapeutische Proteine Als Wirkstoff in Arzneimitteln          ton [Da] entspricht 1,7·10-27
 verwendete Proteine (Eiweiße)                                   kg). Das wichtigste Biophar-
                                                                 mazeutikum von Roche, der
                                                                 monoklonale       Antikörper
                      MabThera (Rituxan), wiegt knapp 350mal mehr: Etwa 150 000
                      Dalton bringt dieses Protein auf die Waage. Dass diese großen
                      Moleküle ganz andere Ansprüche an Forschung, Entwicklung
                      und Produktion stellen, ist klar. Und auch der menschliche Kör-
                      per geht mit ihnen anders um als mit den klassischen Arzneien.

26
Größenvergleich: Erythropoietin mit Aspirin

             1                                                                    10
            Ala   Pro       Pro    Arg Leu            Ile   Cys Asp Ser Arg Val               Leu Glu Arg Tyr           Leu Leu Glu       Ala 20

      40                                                                          30                                                            Lys
      Thr   Ile   Asn Glu Asn Leu Ser                       Cys His     Glu Ala Cys Gly           Tyr   Tyr   Ile       Asn Glu     Ala   Glu
Val                                                               50                                                                60
      Pro Asp Thr           Lys    Val        Asn Phe Tyr         Ala   Trp       Lys Arg Met Glu       Val   Gly       Gin Gin Ala       Val

                  80                                                                              70                                            Glu
      Val   Leu Leu Ala            Gin Gly            Arg Leu Val       Ala       Glu Ser     Leu Leu Ala     Leu Gly         Gln Trp     Val
Asn                                                   90                                                                100
      Ser   Ser   Gln Pro          Trp        Glu Pro Leu Gin Leu His                   Val   Asp Lys   Ala   Val       Ser   Gly   Leu Arg

                                   120                                                                  110                                     Ser
      Ala Asp Pro           Pro    Ser        Ile     Ala   Glu Lys     Gin Ala         Gly   Leu Ala   Arg Leu Leu Thr             Thr   Leu
Ala                                130                                                                  140
      Ser   Ala   Ala       Pro    Leu Arg Thr              Ile   Thr   Ala Asp Thr Phe Arg Lys               Leu Phe Arg Val             Tyr

  166                                                160                                                                150                     Ser
      Arg Asp Gly           Thr Arg Cys Ala                 Glu Gly     Thr       Tyr   Leu Lys Leu Lys       Gly Arg Leu Phe Asn

                                  Phe                                         O    H
                                                                                                                  Ala

                        N                     O

                                                                           CH2                     N
                        N                      C
                                                                              C                    N
                                  C
                                              H
                                                                  N                      C                    C
                                  CH2                                                                                   H
                                                                  N                                 CH3
                                                                                         O

                                                                           Tyr

 Aspirin

                  O           O       H
                        C                 O

                                  O       C         CH3                 Biopharmazeutika sind in der Regel deutlich größere Verbindun-
                                                                        gen als klassische Arzneistoffe. Jede der einzelnen Aminosäuren
                                                                        im Protein Erythropoietin ist etwa so groß wie das klassische Phar-
                                                                        mazeutikum Aspirin.

                                                                                                        Arzneimittel aus dem Fermenter                27
Erprobte Verfahren für die     Die wichtigste Folge des Größenunterschiedes
«small molecules»              zwischen klassischen und biotechnologischen
                               Arzneimitteln betrifft deren Struktur. Die dreidi-
                mensionale Form einfacher organischer Moleküle («small
                molecules») ist im Wesentlichen durch die festen Bindungen
                zwischen den einzelnen Atomen festgelegt. Klassische Wirkstof-
                fe sind daher in der Regel relativ stabile Verbindungen, die in ei-
                nem recht breiten Bereich von Umgebungsbedingungen immer
                die gleiche dreidimensionale Struktur haben. Erst drastische
                Änderungen der Umgebung – dazu gehören etwa starke Säuren
                oder Laugen und sehr hohe Temperaturen – führen dazu, dass
                sich diese Moleküle dauerhaft verändern. Derartige Wirkstoffe
                sind meist relativ einfach zu handhaben und können für die Pa-
                tienten bequem in unterschiedlichen Formen wie Tablette, Saft
                oder Zäpfchen verabreicht werden.
                Zwar sind klassische Arzneimittel oft ursprünglich Naturstoffe
                – beispielsweise setzte die Naturheilkunde schon jahrhunderte-
                lang ein Extrakt aus den Blättern oder der Rinde bestimmter
                Weidenarten gegen Rheuma, Fieber und Schmerzen ein, bevor
                1897 der Bayer-Chemiker Felix Hoffmann das in den Extrakten
                enthaltene Salicylat mit Essigsäure zu dem magenfreundliche-
                ren Wirkstoff Acetylsalicylsäure reagieren ließ. Dennoch werden
                solche Wirkstoffe heute üblicherweise auf chemischem Weg aus
                einfachen Vorstufen hergestellt. Die zugrunde liegenden Verfah-
                ren sind oft seit Jahrzehnten erprobt und können an jedem Ort
                reproduzierbar und in beinahe beliebiger Größenordung herge-
                stellt werden. Sterile Bedingungen, die hohe technische Anfor-
                derungen stellen, sind selten notwendig; relativ aufwändig ist
                dagegen der Schutz der Umwelt vor den organischen Lösungs-
                mitteln, in denen die Reaktionen bei den klassischen Produk-
                tionsprozessen meist stattfinden.

Labile Struktur von            Biopharmazeutika erfordern dagegen in der Re-
Proteinen                      gel ein ungleich aufwändigeres Herstellungsver-
                               fahren. Die meisten biotechnologisch hergestell-
                ten Wirkstoffe sind Proteine – und diese reagieren höchst
                empfindlich auf Veränderungen in ihrer Umgebung. Ihre Struk-
                tur basiert auf vielfältigen, teils nur schwachen Wechselwirkun-
                gen zwischen den einzelnen Bausteinen, den Aminosäuren. Nur
                in einem schmalen Bereich von Umgebungsbedingungen, die
                exakt jenen in dem betreffenden Herkunftsorganismus entspre-
                chen, sind diese Wechselwirkungen optimal aufeinander abge-

28
stimmt. Deshalb können            Signale erkennen:
              schon relativ kleine Ände-        Interferon gamma und sein Rezeptor
              rungen der Temperatur, des
              Salzgehaltes oder des pH-
              Wertes der umgebenden Lö-
              sung diese Struktur zer-
              stören – und damit auch die
              Funktion des Wirkstoffs, die
              von der exakten natürlichen
              Form des Proteins notwen-
              dig abhängt.                      Das Signalprotein Interferon gamma (blau) wird auf der Ober-
                                                fläche der Zielzellen von einem speziellen Rezeptor (links und
              Das gilt entsprechend auch        rechts) erkannt. Interferon gamma wird als Biopharmazeuti-
              für die zur Krankheitsbe-         kum gegen bestimmte Formen von Immunschwäche einge-
                                                setzt.
              kämpfung         verwendeten
                                                (Bildquelle: http://arginine.chem.cornell.edu/structures/ifncomplex.html)
              therapeutischen Proteine.
              Meist handelt es sich bei die-
              sen Molekülen um wichtige Signalstoffe des Körpers. Die Ziel-
              zellen, die diese Signale empfangen und umsetzen sollen, tragen
              auf ihrer Oberfläche spezielle Rezeptoren, die jeweils exakt auf
              einen Signalstoff zugeschnitten sind. Ist dessen dreidimensiona-
              le Struktur nur leicht verändert, kann er von seinem Rezeptor
              nicht mehr erkannt werden und verliert damit seine Wirkung.
              Ganz ähnlich verhält es sich mit einer weiteren großen Gruppe
              therapeutischer Proteine, den Antikörpern. Diese Moleküle sind
              ursprünglich Bestandteile des Immunsystems und erkennen
              körperfremde Strukturen. Zu diesem Zweck verfügen sie über
              eine spezielle Erkennungsregion, deren Form genau zu dem be-
              treffenden Zielmolekül passt. Schon der Austausch einer einzi-
              gen der mehreren hundert Aminosäuren eines Antikörpers
              macht dessen Funktion zunichte, wenn die Veränderung in die
              Erkennungsregion fällt. Auf biotechnologischem Weg lassen
              sich Antikörper gegen beliebige, auch körpereigene Substanzen
              produzieren; die moderne Biotechnologie macht sich die ent-
              sprechende Technik zunutze, um gezielt krankheitsrelevante
              Stoffwechselwege im Körper zu blockieren. Auch hier ist daher
              die richtige Struktur des Wirkstoffs entscheidend.

Biopharmazeutika:           Problematisch ist diese Strukturempfindlichkeit
Biologische statt           auch deshalb, weil Proteine bei ihrer Herstellung
chemische Produktion        die für ihre Funktion notwendige Struktur nicht
                            immer ohne weiteres einnehmen. Zwar bilden
              längere Ketten aus Aminosäuren spontan in Lösung so genann-

                                                                                  Arzneimittel aus dem Fermenter       29
Vielfältig und wechselhaft: Der Aufbau der Proteine

                          }   Primärstruktur
                                                 Eine Kette aus bis zu zwanzig verschiedenen Aminosäuren
                                                 (Primärstruktur – die variablen Bereiche sind angedeutet
                                                 durch die verschiedenfarbigen Quadrate) ordnet sich zu drei-
                      }       Sekundärstruktur   dimensionalen Strukturen an. Schraubige und flächige Berei-
                                                 che sind dabei besonders häufig. Die Lage dieser so genann-
                                                 ten Sekundärstrukturen zueinander bestimmt die Form eines
                              Tertiärstruktur    Proteins, die so genannte Tertiärstruktur. Häufig arbeiten
                                                 mehrere Proteine in Proteinkomplexen zusammen und bilden
                                                 Quartärstrukturen; nur in dieser Anordnung erfüllen sie dann
                                                 ihre vorgesehenen Aufgaben. Solche Proteinkomplexe bei
                                                 der Reinigung in ihrer ursprünglichen Form zu erhalten, ist
                                                 besonders schwierig.
                              Quartärstruktur

               te Sekundärstrukturen aus und ordnen sich zum Beispiel
               schrauben- oder blattförmig an. Doch dieser Vorgang führt vor
               allem bei großen Proteinen in den seltensten Fällen zur richti-
               gen Gesamtstruktur (Tertiärstruktur) – zumal dafür häufig
               mehrere, manchmal auch unterschiedliche Aminosäureketten
               zusammenwirken müssen.
               Bei der natürlichen Proteinbiosynthese in den Körperzellen sor-
               gen verschiedene Enzyme dafür, dass diese «Proteinfaltung»
               korrekt abläuft. Sie verhindern unter anderem, dass sich früh-
               zeitig falsche Strukturen bilden, trennen Signalabschnitte von
               dem Protein ab, fügen Nicht-Protein-Bestandteile hinzu, setzen
               mehrere Proteine zu Komplexen zusammen und verbinden die-
               se gegebenenfalls untereinander. Diese streng kontrollierten
               Vorgänge machen die Proteinherstellung zu einem so komple-
               xen Prozess, dass er bislang nicht chemisch nachempfunden
               werden kann. Daher werden therapeutische Proteine auf biolo-
               gischem Weg produziert: Man nutzt Tiere, Mikroorganismen
               oder spezielle Kulturen von tierischen oder pflanzlichen Zellen,
               um sie herzustellen und zu isolieren.

Nur begrenzt                 Diese Produktionswege haben jedoch Nachteile.
natürlich verfügbar          Der einfache Weg – die Isolierung von natürli-
                             chen Proteinen aus Tieren – wurde beispielsweise
               jahrzehntelang im Fall von Insulin beschritten (siehe Kapitel
               «Bier für Babylon»). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

30
Winzige Helfer: Biologische Wirkstoffproduktion

Das Bakterium Escherichia coli ist relativ leicht zu kultivie-   Aus Eizellen des chinesischen Hamsters (Chinese hamster
ren. Allerdings lassen sich in ihm nur einfache Proteine her-    ovary cells, CHO-Zellen) ist eine Zelllinie entwickelt wor-
stellen, die nach der Biosynthese keine Modifikationen           den, die heute weltweit in den Produktionsstätten für Bio-
mehr erfahren.                                                   pharmazeutika zu finden ist.

                   stieß diese Möglichkeit bald an ihre Grenzen: Nicht nur gäbe es
                   heute bei weitem nicht genügend Schlachttiere, um den welt-
                   weiten Bedarf an Insulin zu decken, sondern das tierische Pro-
                   tein unterscheidet sich vom menschlichen und erreicht daher
                   erstens nicht seine Wirksamkeit und löst zweitens möglicher-
                   weise auch noch Allergien aus. Ähnlich ist die Situation für fast
                   alle anderen Biopharmazeutika – zumal diese Moleküle oft nur
                   in verschwindend geringen Mengen oder, wie die therapeuti-
                   schen Antikörper, praktisch überhaupt nicht natürlich in Tieren
                   vorkommen.
                   Die meisten biotechnologisch produzierten Wirkstoffe werden
                   daher in Kulturen von Mikroorganismen oder Säugetierzellen
                   hergestellt. Einfache Proteine kann man dabei aus Bakterien er-
                   halten; für komplexere Wirkstoffe, die aus mehreren Proteinen
                   bestehen oder die noch durch Nicht-Protein-Bestandteile wie
                   Zuckerketten modifiziert werden müssen, greift man auf Säuge-
                   tierzellen zurück. Will man dabei Produkte erhalten, die den
                   menschlichen Äquivalenten exakt gleichen, müssen die entspre-
                   chenden menschlichen Gene in die produzierenden Zellen ein-
                   geführt werden. Diese gentechnisch veränderten Zellen enthal-
                   ten dann einerseits die allgemein für die korrekte Faltung und
                   Verarbeitung von Proteinen notwendigen Enzyme (besonders
                   im Falle von Säugetierzellen) und andererseits die Erbinforma-
                   tion für die Herstellung des gewünschten Wirkstoffs. Das dafür
                   verantwortliche Gen wird dann noch unter die Kontrolle eines
                   besonders aktiven DNS-Signalelements gebracht. Auf diese Wei-

                                                                                       Arzneimittel aus dem Fermenter          31
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