KANNST DU DEN SPIELEN? VON HIER NACH DA - BESUCH BEI DJ MICHEL RICHTER FRAGEN, DIE DIE KULTUR BEWEGEN ATELIERSTIPENDIEN UND KÜNSTLERRESIDENZEN ...
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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender KANNST DU DEN SPIELEN? NO 1 Januar 2018 CHF 8.– www.null41.ch BESUCH BEI DJ MICHEL RICHTER ?!?! FRAGEN, DIE DIE KULTUR BEWEGEN VON HIER NACH DA ATELIERSTIPENDIEN UND KÜNSTLERRESIDENZEN
ANZEIGEN PRIX DU PUBLIC ANNECY 2017 Ein Film von Robert Müller BEST ANIMATED FILM SHANGHAI INT'L FILM FESTIVAL ARTWORK GIJS KUIJPER PHOTOGRAPHY SIMON ME YER Alte Kunst neu entdeckt – eine filmische Reise in die spektakuläre Welt der Köhler im Luzerner Entlebuch Ab 11. Januar im Kino In Zusammenarbeit mit www.koehlernaechte.ch www.filmcoopi.ch za *koehlernaechte_InsD_92x140_041.indd 1 05.12.17 12:01 H a m Am ine & border b eyond s a n d The b 40. DREiKöNiGS jUBiLäUmS Jetzt Vorverkauf nutzen! Tickets: www.tropenhaus-wolhusen.ch KoNZERT SAmSTAG 6.1. 2018, 20.30 UHR KLoSTERKiRCHE ENGELBERG Zum Krippengang in die strahlende Klosterkirche Engelberg erwartet Sie prächtige Musik: Monastisch, sinnlich, bethaft, tänzerisch – sie verspricht ein Highlight in der langen Tradition der Dreikönigskonzerte. Eintritt frei, Kollekte WERKE voN GERSHWiN, BiZET, ABBA, SCHoSTAKoWiTSCH, RUTTER UND GREGoRiANiSCHER CHoRAL nzer t STifTS-ENSEmBLE KLoSTER ENGELBERG • PATER BENEDiKT LoCHER, SoLoSTimmE UND LEiTUNG Live Ko ne r ToUCHANT A CAPPELLA – fRAUENENSEmBLE • jESSiCA mARTy, LEiTUNG • joSEPH SiEBER, KLAviER i t A f r i k a- D i n u se n ALESSANDRo vALoRiANi, oRGEL • PASCAL UEBELHART, SAxoPHoN • mARKUS GÜDEL, LiCHTDESiGN m s Wolh CHRiSTof ESTERmANN, PERKUSSioN • WoLfGANG SiEBER, oRGEL UND GESAmTLEiTUNG e n h a u Trop 8 ua r 2 01 GASTGEBER: UNTERSTÜTZT DURCH: GESTALTUNG UND DRUCK: 27. Jan
E DI TOR I A L Wenn jemand eine Reise tut ... Es klingt zu gut, um wahr zu sein: in ein anderes Land reisen, dort eine Wohnung und ein monatliches Gehalt zur Verfügung gestellt bekommen, sich intensiv seiner kreativen Arbeit widmen können. Dies versprechen Atelierstipendien, und dies halten sie ein, wie Sie in unserem Januar-Schwerpunkt lesen können. Kulturschaffende aus verschiedenen Sparten berichten von ihren Erfahrungen, die sie in der Ferne gemacht haben. Zudem stellen wir hiesige Residenzen vor, in denen Kulturschaffende von auswärts leben und arbeiten. Atelierstipendien polarisieren, mehr noch als andere Kulturförder- gefässe. Vor einem Jahr sprach ein Berner SVP-Stadtrat in diesem Zusammenhang von «Wohlfühl-Ferien». Es gibt aber auch ernsthafte Kritik wie jene von Yeboaa Ofosu, Leiterin Literaturförderung des Migros-Kulturprozents, die im Oktober der «NZZ am Sonntag» erklärte, dass sie die Atelierstipendien eingestellt habe, weil nur wenige talentierte Leute wirklich reisen wollten. «Sie haben Familie, Kinder, einen Beruf. Sie sind nicht mehr ungebunden.» Und das ist das Dilemma: Die Verpflichtungen, die Fixkosten zu Hause bleiben, während man sich in der Ferne seinem Werk wid- met. Anderseits entstanden und entstehen, in Luzern besonders mit Chicago, internationale Verbindungen, Inspiration, Austausch. Letzteres wird auch in unseren Kulturfragen gestreift, in denen wir Themen aufgreifen, die das Kulturjahr 2017 geprägt haben. Neun Kulturmenschen beantworteten uns, ob man Applaus versteuern soll, was gegen das Wort «gratis» in der Kultur einzuwenden ist und vieles mehr. 2018 wird im Kanton Luzern ein weiteres Sparjahr sein. Ein Kollektiv besorgter Bürgerinnen und Bürger sammelt auf funders.ch Geld, um einen Film zu realisieren, der sich mit der finanzpolitischen Situa- tion des Kantons Luzern auseinandersetzt und der Frage nachgeht, warum Mehreinnahmen, die Ziel der vom Kantonsrat verfolgten Bild: Mart Meyer, Luzerner Atelier in Chicago, 2006 Tiefsteuerstrategie sind, ausbleiben, während öffentliche Leistungen konsequent abgebaut werden. Bereits (Stand: 18. Dezember) sind über 39 200 Franken zusammengekommen, die Funding-Schwelle liegt bei 120 000 Franken. Weitere Informationen dazu finden Sie auf Seite 25. Helfen Sie mit, dieses spannende und wichtige Projekt zum Gelingen zu bringen. Ivan Schnyder schnyder@kulturmagazin.ch 3
INHALT 10 SOLL APPLAUS BESTEUERT 20 FERNES SCHAFFEN WERDEN? Peter Stobbe über seinen Kulturfragen und -antworten Atelieraufenthalt in Chicago 13 ER SIEHT SCHWARZ SERVICE Cambridges königlicher Astronom an der 29 Bau. Wiener Moderne Luzerner Wissenschaftsbiennale 31 Kunst. Einzigartige Galerie 33 Musik. Veritable Sensation 15 MICHEL RICHTER 36 Kino. Bildschöner Dokumentarfilm Der wohl dienstälteste DJ der Schweiz 39 Bühne. Skandalöse Geschichte 42 Wort. Rigoroses Kunstverständnis 24 VIELFÄLTIGE PROJEKTE 68 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Isa Wiss erhält den Jazzpreis Luzern Schweiz Bild: Mart Meyer, Luzerner Atelier in Chicago, 2006 69 Ausschreibungen, Namen, Preise KOLUMNEN 6 Doppelter Fokus: Circus Royal KULTURKALENDER PROGRAMME DER KULTURHÄUSER 8 Meier/Müller bi de Lüt: Mit Parmelin und 47 Kinderkulturkalender 48 Kleintheater Toblerone fürs Väterland 49 Veranstaltungen 50 HSLU Musik 9 Lechts und Rinks: Volk ex machina 63 Ausstellungen 52 LSO / Luzerner Theater / Stattkino 28 Gefundenes Fressen: Popcorn-Tee 54 Kulturlandschaft 45 40 Jahre IG Kultur: Volljährig Titelbild: 56 Neubad / Südpol 46 041 – Das Freundebuch: Radio 3fach Matthias Jurt 62 Museum Bellpark / Kunsthalle 70 Käptn Steffis Rätsel DJ Michel Richter in seinem Habitat 64 Nidwaldner Museum / Kunsthaus Zug 71 Comic: Ein Hund mit Migrationshintergrund 66 Historisches Museum / Natur Museum 4
S C H Ö N G E S AG T «Gemachte Prognosen sind nicht eingetreten und bereits werden neue verkündet.» MARCO LIEMBD ZUR FINANZPOLITIK DES KANTONS LUZERN, SEITE 25 AU F G E L I S T E T G U T E N T AG Jubiläumsjahr 2018 GUTEN TAG, TUNNELDORF (EBIKON) Die Exotischsten: Du bist wahrlich nichts Schönes. Amplikon nennt man dich auch. Du bist ein Schlauch. Eine Durch- fahrtsstrasse, die mit Häusern gesäumt ist. Es ist – 100 Jahre Brotfrieden (Ukraine) ja nichts Neues, dass man dich passiert, weil man woanders hin will. Was dir nun aber angetan – 100 Jahre Kieler Matrosenaufstand werden soll, schon: Die Strasse soll die Häuser verlassen, Richtung Hügel verlegt und überdacht – 100 Jahre Twin Peaks Tunnel, werden. Der Gemeinderat holt bereits Offerten für inzwischen Teil der Muni Metro eine Machbarkeitsstudie ein. Ebikon, du warst (San Francisco) wahrlich nicht Miss Zentralschweiz. Aber du warst da, immerhin. Wenn man im Stau stand – 200 Jahre «Stille Nacht» (Salzburg) und dich verfluchte. Und nun? Untertunnelt und aus der Wahrnehmung verschwunden. Wirst du – 300 Jahre Enthauptung des Piraten das Bielefeld der Schweiz – dessen Existenz von Blackbeard (Portsmouth) Verschwörungstheoretikern infrage gestellt wird? Ebi-was war das noch mal? – 400 Jahre Snelliussches Brechungs- gesetz (Niederlande) Subterrane Grüsse, 041 – Das Kulturmagazin – 2000 Jahre Aufstand der Roten ANZEIGE Augenbrauen (China) 5
D O P P E LT E R F O K U S Circus Royal, Abendvorstellung im Weihnachtscircus, Emmenbrücke, 6. Dezember 2017 Bild oben Mischa Christen, rechte Seite Patrick Blank Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde. 6
MEIER/MÜLLER BI DE LÜT Mit Parmelin und Toblerone fürs Väterland Es ist zu befürchten, dass dies der letzte Beitrag von Meier/Müller ist. Ja, es ist zu befürchten, dass Sie die- ses Magazin zum letzten Mal in den Händen halten. Denn vielleicht sind Sie in ein paar Monaten entweder kriegsgefangen oder bereits an der Front gefallen. Es ist haarsträubend. Der Bundesrat hat uns die ganze Zeit in falscher Sicherheit gewiegt. Bis Guy Parmelin nun in einem Interview zum Thema Vaterschaftsurlaub die Wahrheit herausgerutscht ist. Welchen Sinn, meinte er, habe ein Vaterschaftsurlaub, wenn es derzeit primär da- rum gehe, die Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten?! Ohne neue Kampfjets werde es nicht möglich sein, die Zivilbevölkerung zu schützen! Uns droht Krieg! Guy, ich habe Angst. Welches unserer Nachbarländer will uns derart bös? Deutschland, Österreich, Italien oder Frankreich können es nicht sein, denn die können sich einen Vaterschaftsurlaub leisten. Es muss Liechtenstein sein! Der Fürst ist für seine absolutistischen Tendenzen bekannt und der letzte Staat, der der Schweiz offiziell den Krieg erklärt hat, war Libyen unter Gaddafi. Aller- dings hat Liechtenstein keine Armee. Halt! Offiziell hat Liechtenstein in Friedenszeiten keine Armee. Schweiz, wach auf! Helvetia, wirf den kümmerlichen Speer weg und hoch das Maschinengewehr! Die Autorin ist sich des Risikos, das sie mit diesem Text eingeht, bewusst. Es ist anzunehmen, dass sich der Geheimdienst des Fürstentums umgehend an ihre die Waffen des gemeinen Wehrdienstlers zu kommen. Fersen haften wird. Doch Meierin wie Müllerin erheben (Leider gibt es neuerdings nicht mehr ganz so viele zu er- sich und zeigen stolz ihre typisch helvetischen niederen beuten.) Damit werden sie unterwegs Autobahnraststätten Stirnen gen Osten. Spontan flattern hinter ihnen zwei ausrauben. Mit den so erbeuteten Tobleronen werden sie Dennersäcke mit Schweizerfahnen drauf vorbei. Und sich Camouflage-Muster ins Gesicht schmieren. Das wird nein, niemand soll sagen, sie hätten ihr Heimatland niemand komisch finden, da heutzutage jeder dritte Au- (wer dieses Wort während Kriegszeiten als Ausdruck tofahrer bei Ackermann oder Veillon Camouflage bestellt, des Unmutes brauchen wird, wird übrigens wegen Lan- wird man sie lediglich als modebewusst einstufen. Sie desverrates verhaftet werden) nicht verteidigt. Deshalb werden sich die Guyrilla nennen, denn in Parmelins Sinne machen sie sich schon heute zu Fuss auf den Weg an kämpfen sie. Patriotische junge Schweizerinnen bekommen die Grenze. Nachts werden sie laut an Türen klopfen. heutzutage keine Kinder, sie ziehen auf eigene Faust in den Sie werden sagen, sie kämen vom Zeughaus, um so an Krieg und überfallen Migrolino Dépendancen. Warum Kinder bekommen, wenn zuerst unser Land verteidigt werden muss? Schwestern, wir treffen uns in zwei Wochen auf der Rückseite der BP-Raststätte Rheintal Ost bei den Containern. Es werden sich uns viele anschliessen, denn beim Militär bekommen sie nur bleiche Militärguetsli, bei uns hingegen gibt es Toblerone. Und Sie, lieber Guy Parmelin, denken Sie jetzt nicht, «die hätten sich besser schwängern lassen». Das machen wir gern, aber erst in friedlichen Zeiten mit Vaterschaftsurlaub. Text: Anaïs Meier, Illustration: Sarah Elena Müller 8
LEC HTS U N D R I N KS Volk ex machina Luzerner Kantonspolitiker verstecken sich hinter dem vermeintlichen Volkswillen. Anstatt zu tun, wofür sie gewählt worden sind. Der Luzerner Finanzdirektor ist ein Mann, der das Regierungsgebäude durch den Hin- tereingang betritt, wenn beim Haupteingang die Menschen gegen seine Finanzpolitik pro- testieren. Und Marcel Schwerzmann erklärt sich auch nicht gerne in Interviews – und wenn doch, wie kürzlich in der «Luzerner Zeitung», lieber schriftlich. Entsprechend kurz angebunden waren denn auch sei- ne Antworten zum Budget 2018, das der Kantonsrat zuvor gutgeheissen hatte. Das neuerliche Abbaubudget verteidigte er mit dieser lapidaren Kausalkette: «Die Stimm- bürger haben sich im Mai gegen höhere Steuern ausgesprochen. Die darauf folgende Volksbefragung hat gezeigt, dass die Finanzen auf der Ausgabenseite zu sanieren sind. Das heisst: Wir müssen weiter sparen.» Es sind zwei Grundannahmen, die dieser Aussage zugrunde liegen. Volkes Wille ist erstens eindeutig und zweitens eine Art von Naturgewalt, auf die Regierung und Parlament keinen Einfluss haben. Beide Grundannahmen sind falsch. Denn die vom Finanzdirektor angesprochene Befragung der Stimmbevölkerung hatte im Frühling ein widersprüchliches Bild ergeben: Ja, die Leute wollten die Steuern nicht erhöhen und stattdessen die Ausgaben senken. In er nicht verlieren kann – Steuersenkungen Haltung (und ob überhaupt eine Haltung) fast allen Bereichen – nur nicht in der Ver- sind gut, der Abbau von öffentlichen Dienst- sie vertrete – am Ende mache das Volk in waltung und im Asylwesen – aber lehnten leistungen ist genauso gut. Verstrickter ist Pfaffnau und in Malters unten ja sowieso, was dieselben Leute eine Ausgabenkürzung ab. die Lage der bürgerlichen Mitte im Kanton- es wolle. Das aber ist Herrliberger Ideologie. Zudem verstanden viele der Befragten ihr sparlament, namentlich der CVP. Je länger Die Kantonsrätinnen und Regierungsräte Nein zur Steuererhöhung auch als Kritik die Steuerstrategie am Werk ist, umso mehr wurden gewählt, damit sie Verantwortung an der Finanzpolitik der letzten Jahre: 67 Mühe hat die am stärksten staatstragende übernehmen für diesen Kanton, damit sie Prozent erklärten die Tiefsteuerstrategie für Luzerner Partei, diese Strategie ihrer soli- sich Strategien für ihn ausdenken und diese gescheitert. «Ihr Credo (der Linken, Red.), den, menschenfreundlichen, pragmatischen Strategien auch wieder überprüfen. Sobald dass die Steuerpolitik scheitern möge, kann Wählerbasis zu verkaufen. Immer wieder sie dies ehrlich und kompetent tun, werden nicht im Sinne der Menschen sein», sagte geriert sie sich darum als Opfer genau jener sie für die Schlüsse, die sie daraus ziehen, Schwerzmann. Er irrt sich. steuerpolitischen Sachzwänge, zu denen auch wieder Mehrheiten finden. Politik ist Aber Marcel Schwerzmann ist nicht der sie wesentlich beigetragen hat: Man müsse ein System, in dem bestimmte Handlungen Einzige, der die Abbaupolitik mit einem halt sparen, nur schon, damit der Kanton bestimmte Wirkungen haben, die wiederum Volkswillen legitimiert, der widersprüchlich überhaupt ein Budget bekomme. die Handlungen verändern. Das, was man ist und darum zur Hälfte ausgeblendet wird. Mit anderen Worten tut die bürgerliche als Volkswillen bezeichnet, existiert nicht Im Gegenteil, der parteilose Finanzdirektor ist Politik so, als besitze sie bei den bürgerlichen ausserhalb dieses Systems. dabei noch am glaubwürdigsten: Er betreibt Wählerinnen und Wählern keinerlei Au- nun mal eine neoliberale Agenda, mit der torität. So, als spiele es keine Rolle, welche Text: Christoph Fellmann, Illustration: Raphael Muntwyler 9
Wo soll das bloss noch alles enden? Das vergangene Jahr war global wie lokal von Irritation und Entrüstung geprägt. Es liess wenig Raum zur Reflexion, zu Behutsamkeit, zu Fragen – die manchmal die besseren Antworten sind. Für den Einstieg ins Jahr 2018 schauen wir mit Kulturmenschen, die uns in den letzten zwölf Monaten aufgefallen sind, zurück auf Themen, die das Kulturjahr 2017 geprägt haben. 10
K U LT U R F R AG E N «Soll Applaus besteuert werden?» «Was für eine Frage! Regierungsrat Reto Wyss hat die Antwort in seiner unlängst gemachten Aussage ‹der Lohn des Künstlers ist der Applaus› bereits selber gegeben. Wenn Applaus Lohn ist, dann wird Applaus auch «Was ist gegen das Wort ‹gratis› in Verbindung besteuert, denn Lohn wird immer besteuert. Ohne Wenn und Aber! Insbesondere Paragraph 30 1a. des Luzerner Steuergesetzes lässt keine mit Kultur einzuwenden?» Fragen und keinen Spielraum zu. Die Frage ist nicht, ob Applaus besteu- ert werden soll. Es bedarf gar keiner Frage, sondern es bedarf nur der «In Zeiten, in denen unter anderem bei der Kultur massiv gespart wird unverzüglichen Umsetzung. Hat da wer geschlampt? Also, lieber Regie- und Regierungsräte der Meinung sind, dass der Applaus der Lohn der rungsrat Reto Wyss, sofort an die Einführung der Applaussteuer unter Künstlerin, des Künstlers sei (siehe Frage rechts), finde ich es zynisch, Zuhilfenahme allen fachmännischen Wissens Ihrer Sparmitstreiter im wenn man Kultur ‹GRATIS› verhökert. ‹GRATIS› wirkt wertmindernd Gremium. Selbstverständlich ist bei der Einführung der Applaussteuer und suggeriert, dass Kulturschaffende für ihre Arbeit (ja, Arbeit!) kei- darauf zu achten, dass keine Applaussteuerhinterziehung oder kein nen Lohn brauchen, die können ja froh sein, auftreten (oder ausstellen Applaussteuerbetrug möglich ist (Schlupflöcher, Applaushinterziehung, oder wie auch immer ...) zu dürfen, um bekannter zu werden.» Schwarzapplaus, Manipulation zur Minderung des Applauses, vor lee- ren Rängen spielen ...). Eine Applauspauschalbesteuerung für grössere Domi Meyer, Kulturwirt und Musiker Darbietende von Kultur soll aber im Sinne der möglichst schlanken Ad- ministration geprüft werden. Das Einsetzen von Mitteln zur Steigerung des Applauses wie Verteilen von Freikarten, Manipulation am Applaus- messer, Applausstimulation gelten nicht als Applaussteuerbetrug oder Applaussteuerhinterziehung. Das Selbstwertgefühl der Kulturschaf- fenden und der Applaussteuerertrag sollen auf keinen Fall geschmälert werden.» Peter Bühler, Treuhänder Diese Antwort wurde gekürzt. Die ausführliche Version finden Sie auf null41.ch. «Warum gibt es keine Luzerner Slamszene?» «Als ich 2011 in Luzern zu studieren begann, stand ich seit vier Jahren von der Nordsee bis nach Wien mehrmals wöchentlich auf Poetry-Slam-Bühnen. Dennoch konnte ich meine bisherigen Zen- tralschweizer Auftritte an einer halben Hand abzählen. Obwohl in der Loge und im La Fourmi viele Spoken-Word-Veranstaltungen stattfanden und obwohl der Verlag Der gesunde Menschenver- sand von Luzern aus die Schweiz mit Spoken Word versorgte, gab es keine Luzerner Szene. Um dies zu ändern, initiierten wir den Neubadslam. Die eskalative Stimmung und die Publikumszahlen zeigen, dass Poetry Slam in Luzern definitiv keine dumme Idee ist. «Weshalb fühlt sich jeder und jede Zentralschweizer Die Hemmschwelle, den ersten Auftritt vor 300 Leuten und neben Profis aus der Szene abzuhalten, war aber doch zu gross. Deshalb Kulturschaffende immer sofort betüpft?» begründeten wir in der Bar 59 einen Open-List-Slam. Alle, die wol- «Betüpft? Die Kulturschaffenden? Also bitte! Was das wieder für eine Frage ist. len, können sich melden und mitmachen. Mittlerweile haben sich Ts, typisch Feuilleton! Im Gegenteil: Kulturschaffende sind hart im Nehmen. am Slam 59 mehrere frische Luzerner Poetinnen und Poeten auf Immerhin halten sie dem Kanton Luzern die Stange und brechen ihre Zelte die Bühne getraut – einige davon treten bereits öfters auf. Dass Lu- nicht ab, auch wenn dieser seinerseits die Zelte der Kulturförderung abbricht zern keine Poetry-Slam-Szene hat, stimmt so also nicht mehr, auch und sich durch einen betüpften Umgang mit Steuern und öffentlichen Finanzen wenn wir am Slam 59 – jeweils am letzten Donnerstag des Monats hervortut.» – nach wie vor genügend Platz für weitere mutige Schreiberinnen und Schreiber haben. Für 2019 holten wir uns übrigens die Poetry- Adrian Albisser, Ex-Präsident IML Slam-Schweizermeisterschaft nach Luzern. Darauf kann man sich definitiv freuen.» Valerio Moser, Slam-Poet, Kabarettist, Workshop-Geber, Organisator Tobi Gmür, Peter Bühler, Domi Meyer, Valerio Moser, Sandro Hofstetter, Marc Unternährer, Heinz Stahlhut, Adrian Albisser, Kilian Mutter (v. l. n. r.) Zeichnungen: Mart Meyer 11
K U LT U R F R AG E N «Was sagt das über die hiesige Musikszene aus, wenn der gebürtige Aargauer Mario Hänni alias Rio, der in Zürich lebt, zum Luzerner Musiker erklärt wird?» «Wie steht es um die Luzerner Altstadt?» «Was ihr hören wollt: Die Anzahl Luzerner Projekte, in denen ein ausser- «Damals, als in der Eisengasse das rote Licht der Schmiedeöfen kantonaler Musiker wie Mario Hänni mitwirkt, sprechen für die Qualität noch die einzigen Steinhäuser der Stadt erhellte, als im Löwen- des lokalen Musikschaffens. graben die Löwen fauchten, in der Rössligasse die Rössli gum- Was ich tatsächlich denke: Luzern hat offensichtlich ein zu grosses Herz peten und die Hirsche, Schwäne und Falken in ihren Gassen für dahergelaufene kleine Wesen mit überschüssiger Energie.» und auf ihren Plätzen noch zu Hause waren, gab es auch eine wilde Horde Affen, die keinen eigenen Ort hatte und deshalb Kilian Mutter, Connaisseur laut hepend und pralaggend um die Häuser zog. Man hört sie heute noch ab und zu. Ansonsten ist es in der Nacht ausser dem Plätschern der Brunnen ruhig geworden. Allerdings: Ein paar Jahre lang begann ein einziger Singvogel jeweils morgens um vier mit seinem irren Gezeter. Ein Vogelkenner meinte, um diese Zeit sängen nur Nachtigallen, aber diese seien unwahr- «Wäre es rein zahlenmässig noch möglich, 245 Alter- scheinlich in der Luzerner Altstadt. Nachforschungen ergaben, native in den Sonnenberg zu sperren?» dass es sich um einen gewöhnlichen, aber verrückt gewordenen Buchfinken handelte, der sich am Widerhall seiner Stimme in «Es gibt bestimmt immer noch mehr als 245 Alternative und Radikale in Luzern. den engen Gassen erfreute – oder daran verzweifelte, dass sein Sie schlummern vor sich hin und warten aufs nächste Ereignis, an dem sich ein einsamer Ruf nicht erwidert wurde. ‹Gegen die Liebe ist kein Auftritt lohnt. Dabei bräuchten die Kulturschaffenden, die sich gegen die kanto- Kraut gewachsen›, steht auf Lateinisch am ehemaligen Apothe- nale Sparerei wehren, dringend Unterstützung. Alles eine Frage der Organisati- kerhaus und man erinnert sich daran, dass die Altstadt auch ein on! Ich bespreche dies gleich mit meineR NachfolgerIn SimonE Steiner. Denn ... Lebensraum ist, für Menschen, die länger bleiben als ein paar nun ja, zehn Jahre danach können wir mit der Wahrheit rausrücken: Es war alles Stunden. Über den Weinmarkt ist früher der Teufel geflogen, inszeniert damals, am 1. Dezember! Ich erkannte, dass die Szene schwächelt, wohl eher ein armer Teufel, der an den Passionsspielen an einem und dachte mir ein Ereignis aus, das Energie freisetzt. Und es klappte: Die Aktion Strick hoch über dem Platz hing. Wenn alle Stricke reissen, gibt Freiraum und die Kulturoffensive prägten den Stadtluzerner Kulturdiskurs für es immer noch die Magdi-Bar.» fast fünf Jahre. Die Gelegenheit war günstig: Die Boa war frisch geschlossen, und dann diese EM-Auslosung im KKL! Die Juso bemühte sich noch, eine Bewilli- Marc Unternährer, Tubist gung zu bekommen. Hätten die nur gewusst, dass ich der Polizei eine anonyme Bombendrohung zukommen liess, mit dem Hinweis, die Demo diene nur zur Tarnung, um die Auslosung zu attackieren. Dabei war uns diese völlig egal. Es war ein grosses Opfer, doch es zeigte Wirkung. Ich hoffe, man verzeiht mir diese dreiste Tat ... Ich tat es nur für die Gemeinschaft.» Sandro Hofstetter, ehemaliger Pressesprecher Aktion Freiraum / Kulturoffensive «Trägt Heinz Stahlhut auch Wollmützen?» «Für mich gibt es eigentlich nur Gründe gegen Wollmützen: 1. Ob mit oder ohne Bommel – sie sehen scheusslich aus. 2. Meine Haare reagieren auf Mützen einfach allergisch: Sie sind dann «Spielt der FCL weiterhin so schlecht, rückt einerseits wie angeklatscht und andererseits stehen sie elektrisch aufgela- er dann wieder näher an die Freie Fussball- den hoch, wenn ich die Mütze abziehe. szene Innerschweiz?» 3. Für die Haarwurzeln ist ein wenig Kälte ganz gut, und schliesslich 4. Für’s Hipsteraussehen bin ich einfach zu alt. «Welch schönes Szenario: Der FCL steigt Liga um Liga abwärts. Darum: Kühlen Kopf bewahren und schönen Winter oben ohne wünscht Die Investoren verlassen das Schiff. Die Swissporarena wird zer- Euch allen Heinz» legt, nach Zürich verfrachtet und den Grasshoppers geschenkt. Heinz Stahlhut, Sammlungskonservator Kunstmuseum Luzern Auf der Allmendbrache fusioniert der FCL mit Inter Amore. Prä- sident wird Marco Liembd. Höher als 2. Liga Inter spielt der neue Verein nicht mehr, dafür freut sich ganz Luzern auf die Derbys gegen den FC Kickers und den SCOG. (Was ist eigentlich die Freie Fussballszene Innerschweiz?)» Tobi Gmür, Musiker und unverbesserlicher FCL-Fan 12
a BI EN NA L E Hier Martin J. Rees, in Ihrem Buch «Unsere letzte Stunde» geben Sie der Menschheit eine Chance von 50 Prozent, dass sie dieses Jahrhundert überleben wird. Was sind die auf der Erde hauptsächlichen Bedrohungen? Rees: Die Menschen werden immer zahlreicher, verbrauchen mehr Energie und Ressourcen und beeinträchtigen das und Klima und die Biodiversität der Erde. Wir riskieren, bestimmte Wendepunkte auszu- lösen, die irreversibel sind. Zum andern wachsen Bedrohungen aus den neuen far beyond Technologien. Die Bereiche Bio, Cyber und Künstliche Intelligenz sind trotz ihrer Verdienste extrem bedrohlich. Eine kleine Gruppe oder ein einzelnes Individuum könnten aufgrund einer Fehlleistung oder auch mit Absicht eine Katastrophe auslösen, die schnell zu einer globalen Kettenreaktion führen würde. Wir stehen Der Engländer Martin J. Rees ist königlicher Astronom an vor einer ungemütlichen Fahrt durch den der Universität Cambridge. Er nimmt an der Biennale zum Rest des Jahrhunderts. Uns selber auszu- Rätsel des menschlichen Bewusstseins teil, die René Stettler löschen wäre das grösste Desaster, weil in Luzern veranstaltet. Wie denkt Rees über die Zukunft des damit ein ungeheures Potenzial vernichtet Menschen? Der prominente Astrophysiker und Buchautor würde: hier auf der Erde und far beyond. gibt Auskunft im E-Mail-Interview. Sie gingen im Buch sogar davon aus, dass Von Pirmin Bossart bis ins Jahr 2020 eine Million Menschen zugrunde gehen werden aufgrund von Bioterror oder einem zufällig ausgelösten Ereignis mit Bio-Erregern. Halten Sie noch immer daran fest? Ja. Ich habe darüber mit Stephen Pinker eine Wette abgeschlossen. Pinker ist Autor von «The Better Angels of our Nature» und ein wenig optimistischer als ich, was die menschliche Natur betrifft. Ich mache mir Sorgen sowohl was «bio-terror» wie «bio-error» betrifft. Natürlich hoffe ich vehement, dass ich die Wette verlieren werde! Glauben Sie, dass die Menschen in maschi- nenähnliche Wesen mutieren könnten, zu Cyborgs, Robotern? Ist dieser Prozess schon im Gang? Die Möglichkeit ist real, dass wir genug über Genetik verstehen, um Menschen zu modifizieren und Cyborgs zu kreieren. Ich denke und hoffe, dass hier auf der Erde solche Entwicklungen aus vernünftigen oder ethischen Gründen reglementiert werden. Aber wenn dereinst Pioniere oder kleine Gruppen von Menschen auf dem Bild: zvg Mars oder auf Asteroiden leben, werden 13
BI EN NA L E diese Regelungen nicht mehr greifen. Im die interplanetarischen und interstellaren Wie beurteilen Sie die Forschungsme- Gegenteil dürften dann solche Techniken Räume für die zukünftigen Wesen: Dort thoden von Buddhisten, die mit Kontem- zwingender werden, um sich überhaupt werden sich die Roboterfabrikationen plation, Meditation und andern Techniken an die lebensfeindliche Umgebung anzu- vorzugsweise entfalten und nicht-biologi- ebenfalls zu einem tieferen Verständnis des passen. So werden sie in eine neue Spezies sche «Hirne» eine Power entwickeln, die menschlichen Geistes beitragen? Kann ein evolutionieren. Die posthumane Ära wird wir Menschen uns gar nicht vorstellen Naturwissenschaftler dieses subjektive Vor- nicht auf der Erde, sondern anderswo in können. gehen ernst nehmen? unserem Sonnensystem beginnen. Und Viele Menschen – darunter vor allem die Erdlinge, die sich auf unserem Plane- Was denken Sie über Science-Fiction? buddhistische Mönche – sind fähig, ten wohlfühlen, werden sie anfeuern und Interessieren Sie diese Storys, sind sie mentale Zustände zu erfahren, wie das Hurra rufen! gar relevant für Ihre Überlegungen oder nur wenige können, die einen grossen betrachten Sie das alles nur als Fantasy? subjektiven Wert haben. Sie sind zwei- Ich rate meinen Studenten immer, dass sie fellos real, wenn auch «privat». Neurolo- «Ich rate meinen Studen- besser erstklassige Science-Fiction lesen gen versuchen herauszufinden, was für ten immer, dass sie besser als zweitklassige Wissenschaftsbücher. Muster im Gehirn mit solchen Erfahrun- Ernsthaft: Ich denke, dass die Lektüre der gen korrelieren. Das ist natürlich nicht das erstklassige Science-Fiction grossen Science-Fiction-Autoren unsere Gleiche, wie die Erfahrungen selber zu lesen als zweitklassige wissenschaftliche und soziale Imagination machen. Die Wissenschaft fokussiert sich nährt und unsere Perspektive erweitert. auf Phänomene und Konzepte, die geteilt Wissenschaftsbücher.» werden können. Von daher ist Wissen- Martin J. Rees Die Biennale in Luzern widmet sich erneut schaft die universalste Kultur, die alle dem Thema «Das Rätsel des Bewusstseins». Nationalitäten und Glaubensrichtungen Glauben Sie, dass Bewusstsein lediglich ein umfasst. Produkt des Gehirns ist? Oder könnte es Werden diese Maschinen-Menschen eine eine Art «kosmisches Bewusstsein» geben, Was haben Sie für eine Beziehung zur Intelligenz entwickeln, lernfähig werden das unabhängig davon existiert? Religion? Ist die Vorstellung eines Gottes und vielleicht viel mehr verstehen als wir Es ist klar, dass unsere Gedankenprozesse für Sie relevant? mit unseren Hirnen? mit den elektrochemischen Verhältnissen Ich wurde konventionell in England erzo- Es wird nur noch Dekaden dauern, in bestimmten Gehirnregionen verlinkt gen und schätze weiterhin die musikali- vielleicht Jahrhunderte, um eine dem sind. Die aktuellen Untersuchungen schen, ästhetischen und sozialen Werte Menschen ebenbürtige künstliche Intelli- auf diesem Gebiet sind höchst faszinie- der anglikanischen Kirche. Ich habe genz zu entwickeln. So oder anders: Das rend. Aber die Details sind vorläufig keinen religiösen Glauben, obwohl ich ist ein Klacks im Vergleich zur kosmi- ein Geheimnis, etwa die Frage, wie das mir vorstellen kann, dass ich mich besser schen Zukunft, die vor uns liegt und Gehirn daraus ein subjektives Bewusst- benehmen würde, wenn ich einen hätte. die von einer elektronischen Intelligenz sein kreiert. Vielleicht wird das immer Ich habe in der Wissenschaft gelernt, dominiert werden könnte. Während ein Mysterium bleiben, weil das Gehirn dass es für die meisten von uns schon organische Gehirne ihre chemischen und schlicht nicht leistungsfähig genug ist, um sehr schwierig ist, zu verstehen, was ein metabolischen Grenzen haben, unterlie- sich selber völlig verstehen zu können. einzelnes Atom ist. Das macht mich skep- gen elektronische Computer und auch Eine andere Frage, die sich dabei stellt, tisch und auch unempfänglich für jegli- Quantencomputer viel weniger solchen ist, wie weit Roboter sich etwas bewusst che religiösen Dogmas, die eine spezielle Einschränkungen. sein können, falls sie einmal eine dem «Wahrheit» für sich beanspruchen. Wäre Menschen vergleichbare Intelligenz ich im Iran erzogen worden, würde ich Sie gehen von einem Quantensprung in der erreicht haben. Wie sie auf diesen Level mit dem gleichen Spirit in die Moschee kognitiven Entwicklung aus? kommen, darüber gibt es verschiedene gehen wie in England in eine Kirche. Und Das Potenzial dieser Entwicklung könnte Ansichten. Einige glauben auch, dass wäre ich als Buddhist sozialisiert worden, so dramatisch sein wie die Evolution Bewusstsein strikt an das organische hätte ich wahrscheinlich Zugang zu der präkambrischen Organismen zum Gehirn gebunden ist und demnach Robo- mentalen Zuständen, die mir jetzt – Menschen. Egal, wie man Denken defi- ter, selbst bei Super-Intelligenz, keine leider – verschlossen sind. niert: Menge und Intensität von kogniti- Selbst-Bewusstheit oder ein inneres Leben ven Prozessen, wie sie organisch-mensch- haben werden. In einer fernen Zukunft, Schweizer Biennale zu Wissenschaft, Technik liche Hirne leisten, werden von den die von elektronischer Intelligenz domi- und Ästhetik: «Das Rätsel des menschlichen künftigen Möglichkeiten der künstlichen niert sein wird, kann man sich durchaus Bewusstseins», SA 20. Januar, 9 bis 18 Uhr, Intelligenz total in den Schatten gestellt vorstellen, dass separate «Gehirne» ihre Verkehrshaus der Schweiz, Luzern werden. So wie die Erde für uns «Organi- Individualität verlieren und ein gemeinsa- www.neugalu.ch/d_bienn_2018.html Kartenbestellung via E-Mail: info@neugalu.ch sche» die passende Umgebung ist, sind es mes Bewusstsein teilen. 14
Die menschliche Jukebox Michel Richter besitzt nicht nur über 40 000 Tonträger, sondern haucht als DJ altehrwürdigen Hits neues Leben ein. Zu Besuch beim wohl dienstältesten Plattenaufleger der Schweiz. Von Stefan Zihlmann, Bild: Matthias Jurt 15
PORT R ÄT K aum sind wir in der Wohnung von Michel Richter er fast zehn Jahre vollberuflich als Plattenaufleger in in Horw, bittet er uns in sein Archiv-Zimmer. verschiedenen Lokalitäten in der Innerschweiz. Wenn Dort stapeln sich bis unter die Decke über 20 000 auch nicht als DJ, blieb er der Musik verpflichtet – als Single-Platten in den Regalen. Alles alphabetisch und Radiojournalist und beim Musiklabel K-Tel. Seit zehn nach Musikstil geordnet. An den Wänden hängen Fan- Jahren arbeitet Richter wieder hauptberuflich als DJ Utensilien, Autogrammkarten und Dankeskarten seiner und gibt etwa hundert Auftritte pro Jahr. Fans. Es bleibt kaum Zeit, sich sattzusehen, schon hält uns der Jäger und Sammler stolz eine seiner Trouvaillen Messlatte Massengeschmack entgegen. Es ist die Single «Ninety Nine Years (Dead Or Seinen Erfolg verdankt der DJ unter anderem seiner Alive)» von Guy Mitchell aus dem Jahr 1956. Vorsichtig langjährigen Erfahrung. Seit Anbeginn führt er minutiös legt er die Scheibe auf seinen von Holz ummantelten Buch über die Musikwünsche seiner Besucher, die er Plattenspieler. Ab dem ersten Takt wird klar, warum in eine Datenbank auf seinem Computer einträgt. Die Richter an dieser Scheibe hängt. Sie klingt häufigsten Nachfragen? «Das sind defini- wie das James Bond Theme, aber nur tiv Songs von Elvis und den Beatles, von beinahe: John Barry, der Komponist der denen habe ich über 80 verschiedene Lie- Erkennungsmelodie der 007-Filme, hat bei Er spielt Songs derwünsche registriert.» Mithilfe dieser diesem Song schamlos abgekupfert. Wo aus einer Zeit, Statistik nimmt Richter für jeden Anlass heute schnell mal die Juristen vor der Tür einen fixen Grundstock von etwa 1000 stehen würden, war das zu dieser Zeit gang als Hits noch Platten mit. «Mit diesem Stock kann und gäbe. «Auch Polo Hofer hat geklaut», sagt Richter, und nennt als Beispiel den Gassenhauer ich 95 Prozent aller Wünsche erfüllen», erzählt Richter nicht ohne Stolz. Das Song «Kiosk», den Polo National bis auf waren. wollten wir ausprobieren und besuchten den Text nahezu eins zu eins von Little seine Rock’n’Roll-Circus-Veranstaltung, Feats «Dixie Chicken» kopierte. die jeweils jeden ersten Freitag im Monat Über nahezu jede seiner Platten kann in der Bar 59 stattfindet. Wir fragten Richter eine Geschichte erzählen. Und dieses Wissen nach «The Boys Are Back In Town» von Thin Lizzy. Das nutzt der 65-Jährige auch an seinen DJ-Auftritten, hatte er nicht dabei, schrieb sich den Song aber gleich wo er, wie früher üblich, zwischen den Stücken Titel in seine Notizen. Bei Richter entscheidet der Massenge- und Interpret ansagt. Bei gegebenem Anlass erzählt schmack. Der Song wird selten gewünscht, also bleibt er auch mal Anekdoten zwischen den Liedern, etwa die Platte zu Hause im Archiv. Seine Mission besteht bei Senioren-Tanznachmittagen oder bei seinen Good darin, die Besucher mit Evergreens zu beglücken, wo Old(ies)-Sunday-Veranstaltungen, die er schon seit alle mitsingen können. Er spielt Songs aus einer Zeit, als fünfzehn Jahren sonntags in der Bar im Hotel Montana Hits noch Gassenhauer waren und nicht ein endloser durchführt. An Durchsagen zwischen den Songs hält er Stream aus Bits und Bytes. Geschmackssicher erfüllt eisern fest, auch wenn sich die Abläufe der Tanzveran- Michel Richter diese Sehnsucht nach Nostalgie. Denn staltungen seit seinen Anfangstagen verändert haben: seien wir ehrlich: Mit Blick auf die standardisierte Sülze, «Damals spielte man einige schnelle Songs, darauf die heutzutage in den Hitparaden gespielt wird, hätte folgten ruhige Songs, sogenannte Schmusesongs, bei ein Song wie «Hotel California» keine Chance mehr. denen die Gäste geschlossen tanzen konnten. Danach Dies ist übrigens der Song, der von seinen Gästen am gabs eine zehnminütige Pause, bei denen die Besucher meisten gewünscht wird. zu ihren Tischen zurückkehrten. Das ging stündlich so weiter bis um ein Uhr, dann war Zapfenstreich, an Werktagen bereits um Mitternacht», erzählt Richter. Rock’n’Roll Circus mit DJ Michel Richter, FR 5. Januar, Nach seiner Lehre in einem Reisebüro 1968 arbeitete 22 Uhr, Bar 59, Luzern 16
AT EL I ER ST I PE N DI E N Zentralschweizer Kulturschaffende schwärmen aus in Atelierwohnun- gen von Chicago bis Buenos Aires, von Berlin bis Belgrad. Es gibt aber auch Kreative, die es hierhin zieht. Wo wohnen und arbeiten diese? Fünf Beispiele. Hiesige Residenzen Haus am See, Krämerstein (Horw) Bilder: Mik Matter Die Stiftung Haus am See betreibt im Park der Villa Krämerstein seit 1990 ein Künstlerhaus, das an Kulturschaffende sowie Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler vermietet wird. Nebst den bezahlenden Gästen lädt der Stiftungsrat jährlich zwei bis drei Kulturschaffende für einen Aufenthalt von einer bis vier Wochen ein. Wenn immer möglich wird mit diesen ein öffentlicher Anlass durchgeführt. (red) 17
AT EL I ER ST I PE N DI E N Bilder: Mik Matter Südpol, Luzern Neben den verschiedenen Bühnen und dem Bistro verfügt der Südpol Luzern auch über eine eigene Künstlerwohnung. Sie war in den vergangenen Jahren Ausgangspunkt und Schauplatz zahlreicher Projekte von lokalen wie auswärtigen Künstlerinnen und Künstlern vorwiegend aus den Sparten Tanz, Theater und Musik. (red) Atelier für verfolgte Schriftsteller, Luzern In der ehemaligen Schreibstube Otto Marchis bietet der Deutschschweizer Ableger des internationalen PEN Zentrums seit 2015 ein Stipendium plus Wohnmöglichkeit für verfolgte Schriftsteller an. Erster Gast war der eritreische Menschenrechtsanwalt, Autor und Lyriker Daniel Mekon- nen. (red) Bilder: Mik Matter 18
AT EL I ER ST I PE N DI E N Bilder: Mik Matter Seit September 2017 wird das Gästezimmer des Gelben Hauses auch als längerfristige Künstlerresidenz genutzt, namentlich für Gäste aus Chicago und Stipendiatinnen und Stipendiaten von Istanbuluzern. Ansonsten wird es gehandhabt wie eh und je: Man kann beim Gelben Haus anfragen, ob das Zim- mer frei ist, und dort an seinem Projekt arbeiten. Die ersten zwei Wochen sind gratis, danach kostet es. Die maximale Aufenthaltsdauer beträgt sechs Wochen. (red) Gästezimmer Gelbes Haus Kloster Maria Die Landis & Gyr Stiftung betreibt im Annexbau des Klosters Maria Opferung in Zug ein Atelierhaus mit drei Atelierwohnungen, einem Wohnstudio mit separatem Arbeitsraum und einem Atelier für visuelle Opferung, Zug Künstlerinnen und Künstler. Die Atelierwohnungen stehen osteuropäi- schen Schriftstellerinnen, Übersetzern und Geisteswissenschaftlerinnen sowie Schweizer Schriftstellern, Übersetzerinnen sowie Kunstschaffenden aus dem Tessin und aus der Romandie zur Verfügung. (red) Bilder: Guido Baselgia 19
AT EL I ER ST I PE N DI E N 903 North Damen Avenue Der Künstler, Schriftsteller und Kunsttheoretiker Peter Stobbe war im Winter 2003/04 im Luzerner Atelier für Kulturschaffende in Chicago zu Gast. An die- ser Stelle spürt er der damaligen Atmosphäre sowie seinem Tun nach – und vermittelt uns Daheimgebliebenen, was ein Atelierstipendium sein kann. September 2003 «Er steht am Küchenfenster und schaut auf Mauern aus ro- Klingen der Silbermünzen im Pappbecher eines Bettlers in tem Backstein. Abgestorbene Bäume, Autos, überquellende der City, das apokalyptische Rattern der L, das akustische Müllcontainer. Auf der Bank im Hof sitzen die Köchinnen Sammelsurium des normalen urbanen Wahnsinns. Ohren von Cesar’s Deli und rauchen. Sie sprechen polnisch und und Augen, denn es ist auch ein visuelles Tagebuch meines tragen weisse Hauben. Die Familie im Haus gegenüber schaut Aufenthaltes im Atelier in der North Damen. Notabene eine TV. Von ihnen sind aber nur die Hinterköpfe auf Sofakissen recht grosszügige Wohnung. Ich habe mich da eingenistet zu sehen und Beine auf dem Tisch und manchmal Hände fürs Schreiben, für das Malen und Zeichnen. Drin sein. In mit Gabeln und Löffeln, und bloss wenn jemand neues etwas Innerem. Drinnen. Essen hereinbringt, ein ganzer Körper. Lorraine’s Diner Draussen: laufen, Tag für Tag – quer durch die Stadt, ist leer. Vor der Lava Lounge steht schon Oketch mit dem nachts, im Hellen, im Morgengrauen und fort bis in die Bild: Mart Meyer, Luzerner Atelier in Chicago, 2006 Pepitahut. Kenny sitzt auf den Stufen vor seinem Laden. Zwischenzeiten. Ich bin auf eine Weise unterwegs, wie Ken schliesst das Rainbo auf. Die Bäume an der Strasse ich es mir lange schon gewünscht habe. Laufen. Sehen. haben noch Blätter. Es ist windig. Es wird dunkel.» Sam Burckhardt, ein Schweizer, Saxofonist. Durch ihn komme ich auch abends in die Gänge: Musik hören, am Ich bin in Chicago und schreibe an einem Buch mit liebsten im Smoke Daddy (Spare Ribs and Chips). dem Titel «Das vierte Klima». Siehe oben, der Anfang des Oder auch so was – ich laufe zum Wicker Park, plötzlich Ganzen. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der fahren zwei Polizeiautos ganz langsam neben mir her, vor Töne sucht für eine Wayang-Kulit-Schattenoper. Lautes, Kenny’s Laden keilen sie mich ein: «Hey, you, put your Leises, das Dazwischen und das hinter den Linien – das hands on the car.» Ein wütender kleiner männlicher Cop 20
AT EL I ER ST I PE N DI E N («I don’t like artists», stellt das Kantenkinn nach oben und Phonetics: Der Physiklehrer im Gymi sagte «Tschikägo» – zieht reichlich Luft in die Nase) und eine etwas nettere falsch. «Tschikago», landläufige Aussprache, stimmt auch Polizistin, die mich ermahnt, jetzt keine blöden Witze zu nicht. Dort sagen sie «Schikago», wobei das «i» fast ein «ü» machen. ist und das «sch» so rund wie ein Suppenteller. Oder farbenblind: Bin zu einer Neujahrsparty bei Künst- lerfreunden eingeladen und will vorher neue Klamotten kaufen. Ich gehe extra in einen noblen Laden und sage, ich sei farbenblind, der Verkäufer möge mir bitte eine Hose Dezember 2017 und ein passendes Hemd aussuchen. Das ist mir später sehr peinlich, aber eine knallgrüne Hose mit lila Hemd habe Rückschau: ich noch nie gehabt. Chicago Winter 2003/4 – war eine richtig gute Zeit, für Dann wird es sehr kalt. Jonathan (wohnhaft nebenan die ich heute noch dankbar bin. auf der Treppe) braucht warme Kleider, die Homeless auf Output (damals): der Ashland brauchen Suppe. Ich gehe da hin und mache «Das vierte Klima» fertig, «Chicago Papers» und «Ding- mit beim Kochen – «No homeless in Switzerland?». Studien» umfangreich, Vasen gemalt. Manchmal ist es einsam. Buchläden, Pinsel- und Papier- Sonst noch: geschäfte gibt es reichlich. Kann sogar im Goethe-Institut «25 Or 6 To 4» von Chicago (früher eine Band) gehört die Chicago Papers ausstellen und eine Lesung aus meinem (Autoradio), nachts schwer philosophierend durch die Buch «Nach Delft gehen» gibt’s da auch noch, auf Deutsch Stadt gefahren. Vorher Mexican Food und Margaritas. und Englisch. In der anderen Sprache hört sich der Text Studs Terkel, der Schriftsteller, ist schon fast taub. fremd an und unwirklich. Bitte: Und noch was für’s Ego – mit einer E-Gitarre und einem Ateliers weiterhin subventionieren und Leute, die was Verstärker vom Musikladen zurück ins Atelier durch Chicago tun wollen mit sich und für sich und mit ihrem Kunst- laufen ... Like the boys from the band, yeah. zeugs, losschicken. 21
AT EL I ER ST I PE N DI E N Atelierstipendien sind ein Pfeiler der Kul- turförderung. Die Idee: Kreativschaffende sollen sich an einem neuen Ort für eine bestimmte Zeit, frei und ohne finanzielle Sorgen, ihrem Werk widmen können. Wir fragten einige ehemalige Stipendiatinnen und Stipendiaten, wie der Atelieraufent- halt auf ihr Schaffen wirkte. «Der Atelieraufenthalt hat mich noch offener und neugieriger für andere Vorgehens- und Ausdrucksweisen innerhalb von Spoken Word gemacht. Gleichzeitig interessiere ich mich seit dieser extrem inspirierenden Auszeit noch mehr für andere Kultursparten und den künstlerischen Austausch sieren konnte. «Für mich das Beste, was mir pas untereinander.» jede m Fall! Viele neue gute Horizonterweiternd in André Schürmann (Autor und Kulturvermittler), Atelier in Chicago 2012 Connections bis heute!» lier in Chicago 2011 Christoph Erb (Musiker), Ate «Einerseits geht’s ums Ge ld: Wenn man seinen Lebensunterhalt nicht nu r mit Kunst bestreitet, hat man selten die Geleg enheit, ohne Druck ein halbes Jahr an eigenen Pro jekten arbeiten zu können. Andererseits sin d Atelieraufenthalte identitätsstiftend: Währe nd ich sonst auch andere Rollen einnehme , bin ich während eines Atelieraufenthalts für eine gewisse Zeit ausschliesslich Künstler. Dieser Effekt hat mich nachhaltig beeinf lusst, gen auso wie die Arbei- ten, die zu dieser Zeit ent standen sind.» Urs Hofer (Künstler un d Programmierer), Atelier in Chicago 20 05 , zusammen mit Stefan Bischoff 22
«Die Dynamik dieser Grossstadt, das Neben- einander von High and Low, das Vermischen der diversen Szenen haben mich extrem inspiriert – einem Schwamm gleich sog ich die unterschiedlichsten Aktivitäten auf: Ausstel- lungen, Filmfestivals, Konzerte in der ganzen Bandbreite von Klassik, Jazz bis zur zeitge- «Die sechs Monate in Kairo haben mein Leben und nössischen Musik, Theater, die wunderbaren mein Schaffen extrem geprägt. Ich habe erlebt, wie Pubs und immer wieder die Begegnung mit Bürger von einer willkürlichen Regierung kontrol- der Architektur. Eine Horizonterweiterung, liert und unterdrückt werden. Mir wurde bewusst, die mir ermöglichte, meine Arbeit als Kurato- was es heisst, ohne Meinungsfreiheit zu leben und rin zu reflektieren und zur Gruppenausstel- unter Zensur künstlerisch arbeiten zu müssen. Ich lung ‹London meets Altdorf› führte.» schätze es nun viel mehr, hier in der Schweiz frei ar- t beiten zu dürfen, zu sagen, was ich denke – sei es in Barbara Zürcher (Direktorin Haus für Kuns Uri), Atelier in London (sechsmonatiges meinen Arbeiten oder einfach so auf der Strasse.» Residenzstipendium der Landis & Gyr Stif- tung), 2017/2015 Corina Schwingruber Ilić (Filmemacherin), Atelier in Kairo 2014 «In meinem Aufenthalt in Chicago habe ich die Wechselwirkungen zwischen Städtebau, Architektur und Denkmalpflege neu zu sehen «Das Atelierstipendium war für mich und meine Arbeit genial und gelernt. Gentrifizierung ist für kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Es ermöglichte mir nicht nur, mich zum zentralen Faktor des meinen kreativen Denkraum durch eine andere Kultur, Sprache Stadtumbaus geworden.» und ein neues künstlerisches Netzwerk zu erweitern, sondern ich Gerold Kunz (Architekt), Atelier in konnte auch ganz konkret aus dem Moment heraus ein Filmessay Chicago 2016 entwickeln und drehen, das mit Buenos Aires verknüpft ist. Durch den (finanziellen, örtlichen und sozialen) Freiraum war es mir mög- lich, einen anderen Arbeitsprozess und eine verfeinerte Bildsprache fest, dass in unseren zu entwickeln; davon habe ich viel mit nach Hause genommen. Die «In Luzern angekommen, stellen wir Kontakte pflege ich nach wie vor. Zurzeit arbeite ich am Schnitt dieses erer Musik.» Adern mehr Chicago fliesst als in uns Filmessays («Freundschaft schliessen mit einer Stadt» (AT)), das im ier in Chicago 2017 Frühling 2018 fertig werden soll. Auch dank der sehr guten Atelier- Shady and the Vamp (Band), Atel betreuung (Vermittlung von Kontakten und Anlässen) vor Ort konnte ich so stark vom Aufenthalt profitieren.» Antonia Meile (Filmemacherin), Atelier in Buenos Aires 2015 «Es war ein Privileg, die Geburtsstun de einer neuen Türkei unter Erdogan fotografisch zu begleiten. Nac h einer längeren Pause wegen meiner Kinder war es mir endlich wied er möglich, mich eingehend einem Thema im Ausland zu widmen . Danke an meine Frau!» Fabian Biasio (Fotograf), Atelier in Istanbul (Istanbuluzern), 2017 23
JA Z Z P R E I S Eine Improvisatorin mit Power Musiktheater immer wichtiger Neuerdings hat sich ihr kreativer Fokus ver- stärkt auf Bühnenprojekte gerichtet, in denen sie sowohl musikalisch mitmischt als auch Die Sängerin und Stimmkünstlerin Isa Wiss erhielt im Dezember selber spielt und performt. Mit der Equipe 2017 den mit 10 000 Franken dotierten Jazzpreis Luzern. In ihren Wiss produziert sie verschiedenste Formate vielfältigen Projekten verbindet sie Musik, Wort und Performance. in den Bereichen Musik-Theater und Musik- Performance. Dieses Jahr kommt die neue Von Pirmin Bossart Eigenproduktion «Die grosse Wörterfabrik» (mit Vera Kappeler, Peter Conradin Zumthor und Luca Sisera) zur Aufführung. Und im Mai hat «Maul auf» (beim Forum Neue Musik Luzern) Premiere: Eine experimen- telle Stimmen-Sextett-Musik-Performance mit Urban Mäder, Mischa Käser, Dorothea Schürch, Irina Ungureanu, Urs Weibel und Isa Wiss. In jüngster Zeit beschäftigt sich Wiss vermehrt auch mit musikalisch-literarischen Projekten. 2015 hat sie mit dem Hausquar- tett (Christoph Baumann, Hämi Hämmerli, Tony Renold) und dem Autor Guy Krneta die CD «Unger Üs» veröffentlicht und auf die Bühne gebracht. Regelmässig tritt sie mit der Schwyzer Autorin Martina Clava- detscher («Knochenlieder») auf, wo Wiss den musikalischen Part übernimmt. Ende November 2017 wirkte sie in Stans in der literarisch-musikalischen Hommage an die Schriftstellerin und Künstlerin Annemarie von Matt mit. Bild: Ralph Kühne Wortreich und performativ ist auch die Zusammenarbeit mit dem Bassisten Luca Isa Wiss ist eine herausragende Impro- Nacktmull interaktive Impro-Konzerte für Sisera, etwa, wenn sie zusammen Rezep- visatorin. Ob in technisch schwierigsten Kinder. Inzwischen sind daraus Isa Wiss’ te aus Kochbüchern oder Anleitungen für Klanggefilden oder in theatralischen Kon- Frächdächs (mit Albin Brun, Markus Lau- Frisuren vertonen. Mit Luca Sisera spielt texten: Sie findet stets einen Weg, sich mit terburg und Luca Sisera) geworden. Solche sie noch in anderen Kontexten, so etwa als ihrer Stimme so einzunisten, dass sie beim Konzerte erreichen viele kleine Menschen, Gast-Vokalistin in dessen Formation Roofer. Publikum etwas berührt und auslöst. Ihre die sich dann vielleicht auch später für freie Ein regelmässiger Partner ist Albin Brun, Lautsprachen und Silbentänze scheinen künstlerische Prozesse begeistern lassen. mit dem sie sowohl im Duo als auch im unerschöpflich. Zärtlich, rabiat, entrückt, Isa Wiss (39) ist in Dinhard/ZH aufge- Quartett spielt. Nochmals ganz anders ist knallig und in allen Spektren dazwischen wachsen. Sie nahm klassischen Gesangs- ihr Engagement in der Freien Oper Zürich. mäandert sie auf der Bühne durch klangliche unterricht am Konservatorium Winterthur Nach einer ersten Produktion 2013 wird und szenische Welten. Sie sagt: «Die Stimme und besuchte ein Jahr die Swiss Jazz School Wiss als «Opernsängerin» im März 2018 in ist mein Instrument. Es gefällt mir, sie in in Bern. 2005 schloss sie an der Jazzabtei- «Orpheus» auf der Bühne stehen. ihren verschiedensten Facetten einzusetzen.» lung der Hochschule Luzern – Musik ihre Die Beispiele zeigen, dass das künst- Die stimmliche Vielseitigkeit und die Musikpädagogik-Ausbildung mit dem Master lerische Wirken von Wiss nicht wirklich Power ihrer Improvisationen brachten Wiss ab. Weiter ist sie Mitbegründerin des Mull- kategorisierbar ist. Sie selber komme gut früh auf den Radar als herausragende Per- baus, dem Raum für improvisierte Musik. mit dieser Vielseitigkeit klar, sagt die Stimm- formerin. Zudem leistet sie mit ihren spe- Bei den Migma Performancetagen Luzern künstlerin. «Ich suche sie auch, um meine zifischen Kinder-Projekten eine nicht zu war sie bis 2017 als Kuratorin tätig. Seit ihrer Stimme und Vokaltechniken immer wieder unterschätzende Vermittlungsarbeit. Schon Ausbildung lebt Wiss, mittlerweile mit Mann neu auszuloten und die Stimme in all ihren vor zehn Jahren spielte sie mit ihrer Band und zwei Kindern, in Luzern. Ausprägungen als Instrument einzusetzen.» 24
AKTUELL Spare, spare? Filmle schauen! Wird die vom Luzerner Regierungsrat eingeschlagene Finanzpolitik irgendwann funktionieren? Wir wissen es nicht. Eine Filmrecherche soll nun aufzeigen, wieso die versprochenen Mehreinnahmen ausbleiben und öffentliche Leistungen kontinuierlich abgebaut werden. Von Christian Löffel Als der Regierungsrat im Juni dieses Jahres existenzgefährdende Kürzungen in der Kulturförderung ankündigte, reagierte ein Kol- lektiv von Luzerner Kulturschaffenden in Form von selbstgemachten Kondolenzkarten. Diese wurden zu Hunderten an den Kultur- und Bildungsdepartements-Vorsitzenden Reto Wyss und die politischen Parteien versandt. Seither folgten weitere Aktionen. Bei den beiden «Sichtbarmachungen» standen Dutzende Menschen in schwarzer Kleidung platschnass vor dem KKL respektive dem Regierungsge- bäude. Zudem gabs einen Kurzfilm, eine Landsgemeinde, einen Kulturstop und ein Manifest. Die bisherigen Aktionen zeigen die Präsenz und Lebendigkeit der lokalen Kulturszene, reichen jedoch auch nicht über deren Grenzen hinaus, und somit stockt der Diskurs über die Sparpolitik, der nicht bloss die Kulturschaffenden, sondern die ganze Luzerner Bevölkerung betrifft. Das soll sich ändern. Ein Dokumentarfilm will objektiv der Frage nachgehen, wie es dazu kommt, dass seit Beginn der Tief- Empfang der Luzerner Kantonsparlamentarierinnen und -parlamentarier zum Auftakt der Budget-Session am 4. Dezember 2017. Bild: zvg steuerstrategie nichts als Löcher in den Kantonskassen auftreten: «Gemachte Prognosen sind nicht eingetreten und bereits werden So postete Liembd etwa eine kleine Auswahl von Beispielen, die in neue verkündet», so Marco Liembd, einer der Initianten. Der Film ihrer Absurdität die Dringlichkeit einer breit gestützten Bewegung soll überprüfen, einordnen und hinterfragen. Eine übergreifende seitens der Bevölkerung illustrieren: Debatte, an der sich die gesamte Luzerner Bevölkerung beteiligt, will «7.12.2017: Schwerzmann lobt die hervorragende Arbeit der ausgelöst werden. «Initiiert wurde die Idee zu diesem Dokumentar- Regierung und betont: ‹Wir müssen weiter sparen›.» film von einem Kollektiv besorgter Bürgerinnen und Bürger», sagt Bei Zustandekommen der Fundingschwelle von Fr. 120 000.– Ursula Hildebrand, Regisseurin und Mitinitiantin, «wir wünschen werden professionelle Filmschaffende beauftragt, das Projekt zu uns eine zukunftsgerichtete, starke und offene Gesellschaft, in der realisieren. Die Initiantinnen und Initianten wollen eine Produk- die politische Debatte nicht durch den Spardruck erstickt wird.» tionsleitung und eine Regie einsetzen, die ausserhalb des Kantons «Luzern – Der Film» soll rechtzeitig vor den Kantonsratswahlen Luzern leben und arbeiten und nicht von den Sparmassnahmen 2019 erscheinen, als politische Entscheidungsgrundlage. betroffen sind. «Aussage und Ende des Films werden nicht vor- gegeben. Endet der Film mit der Tatsache, dass die Regierung Ambitioniertes Crowdfunding hervorragende Arbeit leistet, soll dies dann auch zum Ausdruck Auf funders.ch läuft noch bis zum 5. Februar 2018 ein Crowdfun- kommen», versichert Liembd die Objektivität des Films. ding mit dem Finanzierungsziel von Fr. 150 000.–. Dieser Betrag Geplant ist, den Film niederschwellig und so oft wie möglich wird benötigt, um eine fundierte Recherche, die die Meinungen zu zeigen. Auf die Kinopremiere soll eine Roadshow durch Dörfer aller involvierten Akteurinnen und Akteure berücksichtigt, sowie und Städte des Kantons folgen. Der Film wird aber auch frei im die professionelle Produktion dieses aufklärenden Zeitdokuments Internet zur Verfügung stehen. zu finanzieren. Bei jedem erreichten Meilenstein von Fr. 5 000.– Anfang Dezember wurden die Kantonsparlamentarierinnen und meldet sich Schüür-Geschäftsleiter und Kulturaktivist Liembd mit -parlamentarier vor der Session in einer simulierten Filmpremiere einem Blogeintrag zu Wort, der mit Argumenten aus der jüngsten von den Kulturschaffenden mit einem roten Teppich, Cüpli und Luzerner Politikgeschichte aufzeigt, wie ernst, aber auch wie bizarr Blitzlichtgewitter begrüsst. Bleibt zu hoffen, dass die echte Premi- die momentane finanzielle Lage ist. «Ich möchte betonen, dass in ere zustande kommt. Und dass sie politisch etwas auslöst, was die den Blogs ausschliesslich Zitate aus Medien oder Protokollen ver- unhaltbaren Zustände im Kanton Luzern aufhebt. wendet werden», so Liembd, «wir Initianten sagen eigentlich gar nichts, wir lassen lediglich gemachte Aussagen Revue passieren.» www.funders.ch/projekte/luzern-derfilm 25
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