Christian Interview: www.vbw-bayern.de Schutzgebühr 6,- Euro

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Christian Interview: www.vbw-bayern.de Schutzgebühr 6,- Euro
www.vbw-bayern.de
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                06
Interview:
Christian
Lindner         2022         1
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Wissen Sie, wo
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der Krankenkassen in Bayern auf einen
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EDITORIAL

das Jahr neigt sich dem Ende zu. Müsste ich einen
­Begriff finden für das, was wir seit dem Frühjahr erle-
 ben, dann wäre das lateinische „Annus horribilis“ mehr
 als zutreffend – denn das Jahr 2022 war wahrlich ein
 „Schreckensjahr“. Russlands Krieg in der Ukraine hat
 uns in eine immense Energie- und Wirtschaftskrise ge-
 stürzt, hat die friedliche Nachkriegsordnung in Europa
 zerstört und war offensichtlich der Auftakt zu einer
 völligen Neujustierung globaler Zusammenhänge.
 Gleichwohl: Die wahren Herausforderungen werden
 erst im Jahr 2023 richtig sichtbar und spürbar wer-
 den. Und sie werden Auswirkungen auf unser gesell-
 schaftliches Wohlstandsniveau haben, wie es sich vie-
 le noch gar nicht vorstellen können. Oder wollen.
 Aber Sie kennen mich: Ich bin nicht für den Pessimis-
 mus geboren. Krisen sind bekanntlich Zwischenschrit-
 te des Fortschritts – und in aller Regel eine gute Ge-
 legenheit, jedenfalls für die Fleißigen und Mutigen, sich
 neue Chancen zu erarbeiten.
 Dafür gibt es gute Beispiele aus der Vergangenheit:
 Bayern etwa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg
 vom räumlich abgelegenen und energiearmen Agrar-
 land zu einem führenden und wohlhabenden High-
 techland hochgearbeitet. Entscheidend dafür waren
 kluge und zukunftsweisende politische Entscheidun-
 gen. Ein Essay (ab S. 20) zeichnet diese Entwicklung
 nach. In diesem Zusammenhang rate ich auch, unser
 Titelinterview mit dem Chef der Liberalen, Bundes­
 finanzminister Christian Lindner (ab S. 14), aufmerk-
 sam zu lesen.
 Dass wir angesichts der immensen sachlichen Heraus-
 forderungen dafür sorgen müssen, dass der gesell-
 schaftliche Zusammenhalt und unsere Demokratie
 nicht unter die Räder kommen, darauf weisen zu
 Recht die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Ursula
 Münch (S. 11) und Pfarrer Rainer Maria Schießler
 (S. 38) hin – ihre Gedanken sind sozusagen die kleine
 Weihnachtslektüre, die ich Ihnen für die staade Zeit
 besonders ans Herz legen möchte.

BERTRAM BROSSARDT, Herausgeber
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INHALT

6PORTRÄT
                                       14
                                       INTERVIEW
                                                                             20
                                                                             GESCHICHTE

 Verteidigte Marke                     Chancen liegen                        Mutig und
 Nürnberger Lebküchner achten          in den Freiheiten                     durchdacht
 streng auf die Qualität der weltbe-
                                       Bundesfinanzminister Christian        Bayern hat sich nach dem
 rühmten Spezialität. Das Familien-
                                       Lindner erklärt nötig gewordene       Krieg vom Agrarland zum
 unternehmen Woitinek konzentriert
                                       Schulden, spricht über Chancen für    Premium-Wirtschaftsstandort
 sich ganz auf das Weihnachtsgebäck.
                                       den Wirtschaftsstandort Deutschland   entwickelt. Basis war eine
                                       und plädiert für die Prinzipien von   Reihe kluger Weichenstellun-
                                       Selbstverantwortung und Eigen­        gen.
                                       vorsorge.
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INHALT

STANDPUNKT11                       EINE FRAGE NOCH ...             38
                                                                                      IMPRESSUM
MACH(T)RAUM12
                                                                               vbw Unternehmermagazin 06/2022
                                                                                       HERAUSGEBER
                                                                                    vbw – Vereinigung der
                                                                                 Bayerischen Wirtschaft e. V.
                                                                               VR 15888 Amtsgericht München

24                                  28
                                                                            Hauptgeschäftsführer: Bertram Brossardt
                                                                              Max-Joseph-Str. 5, 80333 München
                                                                          Büro des Herausgebers: Andreas Ebersperger
                                                                          E-Mail: unternehmermagazin@vbw-bayern.de
                                                                                     HERAUSGEBERBEIRAT
                                                                                       Bertram Brossardt
                                                                                         Holger Busch
                                                                                      Anna Engel-Köhler
 BILDUNG                             LIFESTYLE                                          Michael Forster
                                                                                         Klaus Lindner
                                                                                        Thomas Schmid
                                                                                       Dr. Peter J. Thelen

 Hoch motiviert                      Kreierte Marke                                       Walter Vogg
                                                                                  GESAMTKOORDINATION
                                                                                        Dr. Peter J. Thelen
 Im integrativen Dienstleistungs-    Mit einer Wechseltasche haben                     Tel.: 089-551 78-333,
 unternehmen „win – wir              zwei Münchnerinnen ihr                    E-Mail: peter.thelen@vbw-bayern.de
                                                                                       CHEFREDAKTEUR
 integrieren gGmbH“ arbeiten         eigenes Label aufgebaut. Den                  Alexander Kain (V.i.S.d.P.)
 Menschen mit und ohne               Erfolg brachte – im zweiten                   REDAKTION: Sandra Hatz
                                                                                  AUTOREN: Alexander Kain,
 Behinderung Seite an Seite.         Anlauf – eine ausgefeilte            Sandra Hatz, Lisa Plank, Dr. Thomas Vitzthum
                                     Marketingstrategie.                   GRAFIK: Johanna Geier, Silvia Niedermeier
                                                                                 KORRESPONDENTENBÜROS
                                                                            D – 10117 Berlin, Charlottenstraße 35/36,
                                                                                       Dr. Peter J. Thelen
                                                                          B – 1000 Brüssel, Rue Marie de Bourgogne 58,
                                                                                      Volker Pitts-Thurm
                                                                          USA – 10174 New York, The Chrysler Building,
                                                                           405 Lexington Ave, 37th Fl., Christoph Kolle
                                                                                           VERLAG
                                                                          vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft
                                                                                    Projektgesellschaft mbH
                                                                               HRB 106556 Amtsgericht München
                                                                                Geschäftsführer: Klaus Kornitzer
                                                                                 KOOPERATIONSPARTNER ·
                                                                            GESAMTABWICKLUNG · ANZEIGEN
                                                                                Reiner Fürst, PNP Sales GmbH
                                                                                 Medienstraße 5, 94036 Passau
                                                                                      Tel.: 0851-802-594
                                                                          Anzeigentechnik E-Mail: josef.feucht@vgp.de
                                                                                   TITELFOTO: Marco Urban
                                                                                           DRUCK
                                                                            PASSAVIA Druckservice GmbH & Co. KG
                                                                                      Medienstraße 5b
                                                                                        94036 Passau
                                                                                    Tel.: 0851-966 180-0
                                                                             Das vbw Unternehmermagazin erscheint
                                                                             sechsmal im Jahr mit einer Auflage von
                                                                                      70.000 Exemplaren.
                                                                                        ISSN 1866-4989
                                                                             Nachdruck oder Vervielfältigung, auch
                                                                            auszugsweise, nur mit Genehmigung des
                                                                          Herausgebers. Für die ­Zusendung unverlangter
                                                                           Manuskripte oder Bilder wird keine Gewähr
                                                                                         übernommen.
                                                                                      www.vbw-bayern.de
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PORTRÄT

          Blech für Blech holt
          Vanessa Woitinek von
          August bis Dezember aus
          dem Ofen der Nürnberger
          Familienlebküchnerei.

                                    Foto: Matthias Hucke

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PORTRÄT

                                                            WEIHNACHTLICHE TRADITION

           Zum Anbeißen
NÜRNBERGER LEBKUCHEN sind als Marke streng geschützt – Ein
Verband achtet auf den guten Ruf – Für die Tradition der Lebküchnerei in
der Stadt steht das FAMILIENUNTERNEHMEN WOITINEK

Lebkuchen gehören in Bayern zur         für die Glasur,
Vorweihnachtszeit wie Christbaum        nicht bei som-
und Krippe zum Fest. Und Nürnberg       merlicher Hitze
ist die Stadt, deren Name untrennbar    dahinschmilzt,
mit dem würzigen Gebäck verbunden       können die Palet-
ist. Genau festgelegte Normen bestim-   ten, auf denen der
men Auswahl und Zusammensetzung         wertvolle Rohstoff ge-
der Rohstoffe. Ein Verband der Leb-     liefert wird, nicht ein-
küchner sorgt dafür, dass Qualität      fach da stehen bleiben,
und guter Ruf erhalten bleiben. Kein    wo sie entladen werden. Sie
Wunder. Nürnberger Lebkuchen-Bä-        müssen möglichst schnell wie-
cker haben in der Geschichte immer      der in die Kühlung im Keller. Meist
wieder um die Rechte ihrer Marke        absolviert Seniorchef Bernd Woitinek
ringen müssen.                          die sportlichen Einheiten. „Das kann
Wenn Familie Woitinek im August         schon mal stressig sein“, meint Bernd      sem Blech stimmt das Gewicht noch
mit der Produktion in der Nürnberger    Woitinek, der ansonsten die Arbeit in      nicht ganz.
Lebküchnerei loslegt und die Außen-     der Halle seines Betriebs gelassen ver-    Bis 2004 hatten Pia und Bernd
temperatur schon mal 30 Grad be-        folgt, überprüft und korrigiert: Hier      ­Woitinek eine klassische Bäckerei, in
trägt, ist das nicht nur schweißtrei-   etwas mehr Puderzucker auf die Roh-         der sie und ihre Mitarbeiter ab Hoch-
bend, sondern bedarf zusätzlicher       linge – aber nicht zu viel. Da ein Blick    sommer auch Lebkuchen in den Ofen
logistischer Vorkehrungen. Damit die    in die Knetmaschine: Hat die Masse          schoben. Heute konzentriert sich der
Zartbitter-Kuvertüre, die nach eige-    die richtige Konsistenz? Dort müssen        Betrieb allein auf das beliebte Nürn-
nem Rezept hergestellte Schokolade      die Nüsse aus dem Ofen und von die-         berger Weihnachtsgebäck, produziert

                                                                                                                            7
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PORTRÄT

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                                         1                                                            2                                                3

          für den eigenen ­Online-Handel und               rei im Jahre 1895 gegründet. 1942              (geborene Attmanspacher), den Be-
          den Fabrikverkauf, der jedes Jahr im             übernahm Großvater Georg                       trieb und verkauften ihre Leckereien
          Oktober startet, für regionale Spezia-           ­Attmanspacher, der ab 1952 mit einer          erfolgreich auf immer mehr Weih-
          litäten-Abteilungen der Geschäfte                 Bude auf dem berühmten Nürnber-               nachtsmärkten. Bernd und Pia über-
          ­sowie Eigenmarken. Das läuft gut.                ger Christkindlesmarkt dafür sorgte,          nahmen 1995. Bernd, gelernter und
           Woitinek verkauft Millionen Lebku-               dass die Familie mit ihren Lebku-             ausgezeichneter Bäcker- und Kondi-
           chen im Jahr. Etwa 20.000 Stück                  chen, Früchtebroten und Lebzelten             tormeister, und Pia, gelernte Kondito-
           ­kommen jeden Tag aufs Blech.                    immer bekannter und beliebter wur-            rin aus der Schweiz. Inzwischen ar-
            Karl Attmanspacher, der Urgroßvater             de. 1970 übernahmen die Eltern von            beiten alle drei Kinder – ­Dominic,
            von Bernd Woitinek, hatte die Bäcke-            Bernd, Heinz Woitinek und ­Margot             Vanessa und Maximilian – mit. Seit

Schritt für Schritt
Haselnüsse werden geröstet 1 : 35 Minuten            nüssen. Das ist dunkler und von kräftigerem      Am nächsten Morgen verzieren die Bäcker 6
bei 190 Grad.                                        Geschmack.                                       die Lebkuchen.
Die Rührmaschine vermengt und knetet alle            Eine Maschine bringt die Masse auf die Oblaten   Sie kommen in den Ofen 7 und werden bei
Zutaten 45 Minuten lang 2 . Die Konsistenz           und dann auf die Bleche 4 . Danach werden        200 Grad gebacken.
wird kritisch überwacht. Wie genau die Masse         die Rohlinge erst einmal über Nacht getrock-     Lebkuchen mit Biss 8 : Insider erkennen einen
ausschauen muss, kann Bernd Woitinek nicht           net – bei 12 Prozent Luftfeuchtigkeit und 35     guten Lebkuchen, wenn sie ihn auseinander-
beschreiben. Erfahrung eben. Die Masse sollte        Grad Celsius.                                    brechen. „Unsere Nüsse sind nur grob gemah-
nicht zu feucht, aber keinesfalls zu trocken sein.   Seniorchef Bernd Woitinek 5 hat die Abläufe      len. Man will ja schließlich auf was draufbei-
Familie Woitinek stellt das Marzipan 3 , das in      in der Lebküchnerei und Qualität seiner Pro-     ßen“, meint Bernd Woitinek.
die Lebkuchen kommt, selber her. Aus Hasel-          dukte stets im Blick.

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Christian Interview: www.vbw-bayern.de Schutzgebühr 6,- Euro
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            den 1950er Jahren wurde die Bäckerei        und Kinder – das war Pia und Bernd           glasur oder schwarz mit ­Schokoglasur.
            an der Nürnberger Peter-­Henlein-           Woitinek in diesen Jahren zu viel ge-        Meist sind Lebkuchen rund, oft auch
            Straße immer wieder mal erweitert.          worden. Seitdem dreht sich alles nur         rechteckig. Die Rezepturen wurden
            Besonders gut erinnert sich Bernd           noch um die Qualität der Lebkuchen.          meist von Generation zu Generation
            Woitinek an den ersten Tag in der           In Nürnberg hat jeder Bäcker seine ei-       überliefert. 22 Nürnberger Lebküch-
            neuen Produktionshalle. Es war der          genen Geheimnisse rund um den Star           ner haben sich in einem Schutzver-
            Tag des Anschlags auf Amerika am            der Weihnachtszeit, der dann aber            band zusammengeschlossen, in dem
            11. September 2001. Der Sohn war            doch immer ganz schlicht und ähnlich         alle regelmäßig geprüft und zertifiziert
            gerade eingeschult. Doch Laden,             in drei verschiedenen Varianten da-          werden. Die geografische Angabe
            Backstube, Buchführung, Produktion          herkommt: naturbraun, mit Zucker-            ­„Elisenlebkuchen aus Nürnberg“

                                                                                                                                                Anzeige

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                                                                                                                  E
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                                 ANTEIL
                                 EIGENVERSORGUNG                                                                 ROBOTERARM
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Christian Interview: www.vbw-bayern.de Schutzgebühr 6,- Euro
PORTRÄT

                              ­ nterliegt strengen Richtlinien. Die Zutaten sind
                              u                                                     Die Nürnberger Lebküchner von heute sehen sich
                              reglementiert. Mindestens 25 Prozent Haselnüsse       nicht als Konkurrenz. Man hilft sich gegenseitig.
                              und maximal zehn Prozent Mehlanteil darf der          Woitinek: „Wir haben ein gutes Miteinander.“
                              Lebkuchen enthalten. „Aber wer etwas auf sich         Als es etwa kurz nach der Corona-Pandemie
                              hält, der achtet sowieso selbst darauf und nimmt      schwierig war, die richtige Folie aufzutreiben,
                              mehr Nüsse als vorgeschrieben“, so Woitinek.          habe eins der ganz großen Unternehmen den
                              Nicht umfassend geklärt ist, woher die Bezeich-       kleinen ausgeholfen. Und als kürzlich einem Kol-
                              nung „Leb“ kommt. Sie könnte auf den Begriff          legen Verpackungen fehlten, konnte Woitinek
      ECKDATEN ZUR            „Laib“ zurückzuführen sein, aber auch von             Kartons anbieten.
      LEBKÜCHNEREI            ­„Leben“ kommen, zu dessen Gesundheit der Ge-         Vier Monate läuft die Produktion. Das heißt nicht,
          WOITINEK
                               nuss der Legende nach beitragen soll, oder vom       dass es in der übrigen Zeit nichts zu tun gibt:
 GEGRÜNDET 1895 von            ­lateinischen „Libum“ – das bedeutet „Fladen“.       Die Hochsaison muss vorbereitet sein: Bernd
    Karl Attmanspacher,         Lebkuchen gibt es in Nürnberg laut Bundesver-       ­Woitinek sucht die Rohstoffe aus und nimmt ab
Urgroßvater des heutigen
                                band der Deutschen Süßwarenindustrie seit dem        dem Frühjahr, wenn die Bäume gerade mal blü-
             Seniorchefs
                                Mittelalter. Das älteste schriftlich überlieferte    hen, Kontakt auf zu den Herstellern, um über
                 FAMILIE        Lebkuchen-Rezept stammt aus dem 16. Jahrhun-         Mengen und Preise zu verhandeln. Gemeinsam
               Bernd, Pia,
     Dominic, Vanessa und
                                dert. Ihren Ruhm als Lebkuchen-Metropole ver-        bringt die Familie die Halle auf Vordermann,
      Maximilian Woitinek       dankt die Stadt nicht zuletzt seiner verkehrs­       ­repariert ­Maschinen und Geräte.
                                günstigen Lage: Am Kreuzungspunkt vieler
         PRODUKTION
     ca. 20.000 Oblaten­
                                Handelswege und alter Gewürzstraßen gelegen,        Der Lebküchner sagt
       lebkuchen am Tag         war Nürnberg der ideale Ort für die Lebkuchen-      Masse – nicht Teig
von August bis Dezember         bäckerei. Gewürze kamen aus aller Welt: Anis aus    Woitinek legt besonderen Wert darauf, dass die
        GEWICHT EINES           Ägypten, Nelken aus Madagaskar, Ingwer und          Lebkuchen saftig sind. „Das ist ein Markenzei-
          LEBKUCHENS            Kardamom aus Indien, Muskatblüten aus Sumat-        chen“, unterstreicht der Seniorchef. Zur Masse –
             80 Gramm           ra, Piment aus Mexiko und Zimt aus China.           der Lebküchner sagt nicht Teig – gehören ein ho-
                                ­Zudem saßen die Nürnberger Lebküchner durch        her Nussanteil, Honig, Aprikosenmarmelade,
                                 die großen Bienengärten in den Wäldern rund        Eiweiß, Zitronat, Orangeat und andere Gewürze,
                                 um Nürnberg direkt an der süßen Honigquelle.       selbst gefertigtes Marzipan – übrigens nicht aus
                                 In fränkischen Klöstern waren zunächst abge-       Mandeln, sondern aus Haselnüssen, das viel
                                 schirmt von der Öffentlichkeit erste „Lebkuchen“   dunkler ist und kräftiger schmeckt. „Wenn man
                                 hergestellt worden. Oblaten sorgten dafür, dass    den Lebkuchen auseinanderbricht, sieht man,
                                 die Rohlinge nicht auf den Backblechen ­kleben     dass er schön saftig ist. Wenn ich ihn schneide,
                                 blieben.                                           dann meine ich, der ist nicht durchgebacken.“ 

                  Wie ein Geschenk verpacken die
                 Mitarbeiterinnen um Pia Woitinek
                  je fünf Stück in Folie und bringen
                    Schleifen an. Dann kommen die
                     Lebkuchen in Kartons und auf
                          Paletten für den Versand.

10
STANDPUNKT

„Demokratie ist kein Geschenk,
sondern Arbeit“
In Zeiten großer Krisen ist es wichtig, pfleglich mit unserer Demokratie
umzugehen – und zu differenzieren, anstatt zu polarisieren, findet die
 POLITIKWISSENSCHAFTLERIN PROF. DR. URSULA MÜNCH.
Vor allem sollte man nicht auf das Narrativ der Feinde der Demokratie
hereinfallen, offene Gesellschaften stünden vor dem Kollaps

Keine Zeiten für Zufriedenheit. Die     zögen. Zweifelsohne – es gibt viel zu   so viel einfacher – und oft auch unter-
Gründe dafür sind bekannt, die Aus-     bemängeln an „der“ Politik: von der     haltsamer. Unsere freiheitliche Demo-
wirkungen ebenfalls: Fast 70 Prozent    widersprüchlichen Energiepolitik die-   kratie ist kein Geschenk, sondern Ar-
der Befragten sind unzufrieden mit      ser und früherer Bundesregierungen      beit. Einen Teil davon delegieren wir
der Arbeit der Bundesregierung. Wer     über die innovationsfeindliche Büro-    aus gutem Grund an unsere Reprä-
frühere Umfragewerte zum Beispiel       kratie bis hin zu den Mängeln in der    sentanten. Aber etwas können und
vom „ARD-DeutschlandTREND“              öffentlichen Infrastruktur. Umgekehrt   dürfen wir nicht an andere abgeben:
vergleichend heranzieht, stellt fest,   gehört zur freiheitlichen Demokratie    unsere F­ ähigkeit zu differenzieren so-
dass die Deutschen auch schon frühe-    aber auch eine Bürgerschaft, die in     wie unseren Widerstand gegenüber
re Bundesregierungen schlecht beur-     der Lage ist zu unterscheiden: näm-     denjenigen, die unsere pluralistische
teilten. Neu – und beunruhigend – ist   lich zwischen der berechtigten Kritik   Demokratie auf Schwarz und Weiß
etwas anderes: Ein nennenswerter Teil   an den durch die „Multikrise“ heraus-   ­reduzieren wollen.
der Bürgerschaft geht auch auf Dis-     geforderten politischen Akteuren und
tanz zur bundesdeutschen Demokra-       der Verächtlichmachung einer aus gu-
tie: Lediglich 59 Prozent der West-     ten Gründen gewaltenteilenden Ver-         Prof. Dr. Ursula Münch ist Direkto-
deutschen, und nur noch 39 Prozent      fassungsordnung und ihrer demokra-         rin der Akademie für Politische Bil-
der Ostdeutschen äußerten sich zu-      tisch legitimierten Repräsentanten.        dung in Tutzing und lehrt Politikwis-
frieden „mit der Demokratie, so wie     Diese Bereitschaft und Fähigkeit zur       senschaften an der Universität der
sie in Deutschland funktioniert“. An-   Unterscheidung sind auch erforder-                      Bundeswehr München.
gesichts dieser Befunde drängt sich     lich, um den kremlfreundlichen Lü-
der Verdacht auf, dass die Bundesre-    genkampagnen gewachsen zu
publik womöglich nur eine „Schön-       sein, die uns Angst machen
wetterdemokratie“ ist, die sich nur     wollen und deshalb frech
dann hoher Wertschätzung erfreut,       (und unzutreffend) be-
                                                                                                                           Foto: Akademie für Politische Bildung, Tutzing

wenn der Wohlstand gesichert scheint    haupten, die offenen Ge-
und die meisten ein komfortables Le-    sellschaften des Westens
ben führen können. So einfach sollte    stünden quasi vor dem
es sich kein vernünftiger Mensch ma-    Kollaps.
chen. Der darin zum Ausdruck kom-       Derlei Lügengeschichten
mende Fatalismus ist unangebracht       gab es natürlich auch
und brandgefährlich. Zudem wäre es      schon in der analogen
auch undankbar, wenn wir einfach        Vergangenheit. Aber im
hinnehmen würden, dass Krisen und       Zeitalter digitaler Meinungs-
Katastrophen gleich die nächste Kata-   mache, die auf redaktionelle Fil-
strophe – nämlich den Verlust unserer   terung verzichten zu können meint,
freiheitlichen Demokratie – nach sich   sind Verunsicherung und Irreführung

                                                                                                                                         11
Mach(t)Raum

                                                                                                 Fotos: Astrid Schmidhuber
                                              Als Glauber als Minister startete, fiel ihm auf,
                                                wie unwohl sich Mitarbeiter fühlten, wenn
                                              sie einen Termin im Ministerbüro hatten. Die
                                              Erinnerung, die Geste des Lächelns nicht zu
                                             vergessen, soll das Wohlbefinden fördern – auf
                                                              beiden Seiten.

                                                  Der Kalksandstein ist eine bedeuten-
                                                  de geologische Formation in Glaubers
                                               ­oberfränkischer Heimat – in zwei Ausprä-
                                                     gungen steht sie in seinem Büro:
                                                als künstliche Pyramide und als sogenann-
                                               ter „Hirnstein“, einer natürlich entstande-
                                                       nen Kalkstein-Auswaschung.

              Diese Playmobilfiguren mit
               der Hochwasserabsperrung
                 gibt es nicht zu kaufen –
                   sie sind eine mit dem
                Unternehmen vereinbarte
              Sonderanfertigung der Was-
              serwirtschafts-Abteilung des
              Ministeriums. Die Kleinserie
                gibt es nur als Geschenk.

12
Information

                                                                                        Anzeige
   Ein Jahr hat Umwelt- und Verbraucherminister   THORSTEN GLAUBER  
   (Freie Wähler) sein Ministerium vom Keller aus geführt. Grund: Das Mi-
                                                                                                      für Sie
                                                                                                   in Bestform
   nisteriumsgebäude am Rosenkavalierplatz in München-Bogenhausen wur-
   de umfassend energetisch saniert. Jetzt ist es fertig – und ein bisserl sieht
   man, dass der Minister im zivilen Leben selbst studierter Architekt mit gro-
   ßem Verständnis für Formen, Farben und Materialien ist. Das neue Minis-
   terbüro etwa hat einen enormen Modernisierungsschub erfahren: Nicht
   nur ein modisches Beleuchtungskonzept mit LED-Lichtern, eine grün be-
                                                                                                                                                      e
                                                                                                                                    www.vbw-bayern.d
                                                                                                                                  Schutzgebühr 6,– Euro

   pflanzte Wand, ein Steh-Schreibtisch und Designermöbel holen die einst
   altbackene Machtzentrale in eine neue Zeit, sondern auch die räumliche
   Neugliederung konsequent nach den jeweils anstehenden Aufgaben: So
   wurde etwa ein separater Nebenraum als digitale Kommunikationszentrale
   eingerichtet – weil das Umweltministerium, zuständig von Problembären
   bis hin zu potenziellen Atomunfällen auch immer ein Krisen-, Katastro-
   phen- und Lagezentrum sein muss. Den zentralen Kommunikations-Desk
   dort hat Glauber selbst designt – und bewusst so angelegt, dass man von
   ­jedem Sitzplatz aus immer auch jeden anderen sehen kann. Motto: Verste-
                                           cken gilt nicht. Was nur wenige
                                           wissen: Das 1970 gegründete baye-
                                           rische Umwelt-Ressort ist nicht nur
                                           das dienstälteste überhaupt, son-
                                                                                                     Interview :
                                                                                                     Andrea
                                                                                                                                                 020422           www.vbw-bayern.d
                                                                                                                                                                                    e
                                                                                                                                                                Schutzgebühr 6,– Euro

                                           dern hat mit den früheren Minis-                          Nahles
                                                                                                                                                          1

                                           tern Max Streibl und Markus Söder
                                           bereits zwei spätere Ministerpräsi-
                                           denten hervorgebracht.

                                                                                                                   Interview :

                                                                                                                                                              020 5
                                                                                                               Hans Jörg
Das Geschenk einer Freundin                                                                                    Bachmeier
dient als Untersetzer auf dem                                                                                                                                   22  1

  Minister-Schreibtisch – und
 erinnert ihn stets daran, wie
 die Dinge im Idealfall laufen:
    Miteinander sprechen.                                                                         Das vbw Unternehmermagazin ist die Premium-
                                                                                                  Publikation für Menschen aus der bayerischen
                                                                                                  Wirtschaft und Politik. Das sind Unternehmer,
                                                                                                  Führungskräfte in den Betrieben, politische Mei-
                                                                                                  nungsbildner, Entscheider aus den Verbänden sowie
                                                                                                  Multiplikatoren gesellschaftlich relevanter Gruppen.
                                    Das Glas-Kreuz ist ein                                        Wir wollen Ihnen mit dem vbw Unternehmer-
                                     Geschenk aus seiner
                                                                                                  magazin alle zwei Monate nutzwertorientierte
                                    Heimatgemeinde, wo
                                                                                                  Inhalte geben, darunter Best-Practice-Beispiele aus
                                    man Glaubers Berufung
                                                                                                  bayerischen Unternehmen, Wirtschaftspolitik,
                                  ins Kabinett im November
 Glauber läuft – Ma-                                                                              Recht, Soziales, Forschung und Technik, Bildung
                                     2018 mit Feuerwerk,
rathon und Halbmara-
                                    Fackelzug und großem                                          und Lifestyle.
thon. Das Brustschild
                                       Empfang feierte.                                           Wenn Sie auch zu diesem Leserkreis gehören wollen,
 stammt vom letzten
   Lauf. Die großen                                                                               bestellen Sie ein kostenloses Abonnement. Senden
   Wettbewerbe –                                                                                  Sie uns einfach eine kurze E-Mail mit Ihren Adress-
London, Boston oder                                                                               daten an unternehmermagazin@vbw-bayern.de
 New York – stehen
 allerdings noch aus.
                                                                                                  Ihre personenbezogenen Daten werden ausschließlich für
                                                                                                  die Zusendung des vbw Unternehmermagazins verarbeitet.
                                                                                                  Informationen zum Datenschutz gem. Art. 13, 14
                                                                                   13             DS-GVO finden Sie unter www.vbw-bayern.de/01dsv
INTERVIEW

     „Unsere Werkbänke
     werden auch in Zukunft
     im Ausland stehen“
                     Seit einem Jahr ist CHRISTIAN LINDNER BUNDESFINANZMINISTER. Auf die
                       Schulden, die in dieser Zeit gemacht wurden, sei er nicht stolz, sagt er offen im
                    Interview mit dem vbw Unternehmermagazin – aber sie seien wegen der Energie-
                       krise nötig geworden. Was die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland
                      angeht, sieht er Chancen vor allem in den Freiheiten, nicht in Restriktionen. Und
                   die Prinzipien von Selbstverantwortung und Eigenvorsorge, die seien weiter zentral

     Herr Lindner, „besser nicht re-          ches erreicht wird. Mit den Freien     eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule
     gieren als falsch regieren“ haben        Demokraten gibt es auch für die        einzuziehen. Das wäre seinerzeit un-
     Sie 2017 gesagt und die Koaliti-         Wirtschaft keine zusätzlichen Belas-   möglich gewesen.
     onssondierungen für „Jamaika“            tungen. Im Gegenteil: Bei Planungs-
     platzen lassen. Im Ernst: Fühlt es       und Genehmigungsverfahren arbei-       Derzeit ist die wirtschaftliche
     sich für Sie tatsächlich so an, als      ten wir an Entbürokratisierung und     Verflechtung mit China das gro-
     würden Sie in der Ampel-Bun-             Entlastung.                            ße Thema. Hat die Wirtschaft
     desregierung mit SPD und Grü-                                                   Ihrer Meinung nach die Zeichen
     nen gerade „richtig“ regieren?            Können Sie „richtig regieren“         der Zeit schon ausreichend er-
     Wir haben herausfordernde Zeiten         ­eigentlich definieren?                kannt? Dass sie politischer wer-
     mit einem Energiekrieg und zu hoher      In der Konstellation von 2017 hätte    den muss?
     Inflation. Deshalb geht Regieren         die FDP nichts umsetzen können.        Das ist nicht mein Kritikpunkt. Aus
     nicht leicht von der Hand. Aber allein   Wir wären Mehrheitsbeschaffer für      meiner Sicht ist völlig klar, dass die
     die beschlossenen 50 Milliarden Euro     Schwarz-Grün gewesen. Jetzt kann       Wirtschaft dort investiert, wo volu-
     Entlastungen durch die Verhinderung      die FDP Einfluss nehmen und eigene     menstarke Märkte und Wachstum zu
     der kalten Progression in den kom-       Projekte umsetzen. Ein Beispiel: Wir   finden sind. Es ist nicht Aufgabe der
     menden beiden Jahren zeigen, dass in     beginnen im nächsten Jahr in der ge-   Politik, das zu zensieren. Aufgabe der
     diesem Bündnis durch uns Erhebli-        setzlichen Rentenversicherung damit,   Bundesregierung muss es sein, die

14
INTERVIEW

Fotos: Marco Urban          15
INTERVIEW

     Barrieren für den Handel mit ande-       selseitige Investitionen geben. Was in   drauf und dran, uns in Abhängigkei-
     ren Weltregionen zu reduzieren. Da-      Deutschland chinesischen Investoren      ten zu begeben. Auch bei der Debatte
     mit China in der Bedeutung weniger       erlaubt wird, muss umgekehrt deut-       über die Beteiligung des chinesischen
     wichtig wird, weil andere wichtiger      schen Investoren in China erlaubt        Konzerns Cosco an einem Terminal
     werden. Deshalb ist es richtig und       sein.                                    des Hamburger Hafens hätte das be-
     wichtig, nach Jahren der Blockade                                                 herzigt werden müssen. Nun ist es so,
     endlich das Freihandelsabkommen                                                   dass die Beteiligung dort begrenzt
     CETA mit Kanada zu ratifizieren. Da-                                              wird und sie bezieht sich auf eine Ge-
     ran müssen wir nun anknüpfen. So           „Wertepartner sollten                  sellschaft, die ein Terminal dort ge-
     müssen wir alles daransetzen, mit                                                 pachtet hat. Eine Eigentumsübernah-
     den Vereinigten Staaten Handelsbar-            auch präferierte                   me an der Infrastruktur des Hafens
     rieren zu reduzieren und einen neuen       Handelspartner sein“                   wäre für mich hingegen ausgeschlos-
     Anlauf für ein Freihandelsabkommen                                                sen. Die Bedeutung des chinesischen
     zu nehmen. Wertepartner sollten                                                   Binnenmarkts für Deutschland ist be-
     auch präferierte Handelspartner sein.                                             sorgniserregend groß. Das muss sich
                                              Millionen Menschen benutzen              ändern.
     Jede Übernahme durch ein chi-            Handys von Huawei. Tiktok, das
     nesisches Unternehmen gerät              Jugendliche lieben, gehört den            Unser System beruht seit Jahr-
     nun in Verruf. Wie weit können           Chinesen. Doktern wir nur an der          zehnten darauf, dass wir unsere
     wir das treiben? Deutschland in-         absoluten Oberfläche herum?               Werkbänke ins Ausland verla-
     vestiert in China weit mehr als          Wir können den Menschen nicht ver-        gert haben und billig produzieren
     die Chinesen bei uns.                    bieten, Huawei-Handys oder Tiktok         konnten. Nun geht das nicht
     Wir sollten die Kirche im Dorf lassen.   zu benutzen. Solange hier keine si-       mehr so einfach. Was kommt
     Bei Unternehmen, die eine entschei-      cherheitsrelevanten Fragen berührt       ­danach?
     dende, einflussreiche Rolle für unsere   sind, habe ich keine Einwände. Aber      Ich bin und bleibe ein Anhänger der
     kritische Infrastruktur haben, muss      die technische Infrastruktur des Mo-     Idee einer weltweiten Arbeitsteilung.
     die Politik die Entscheidung treffen.    bilfunks an China zu verkaufen, das      Also der Globalisierung. Eine Gesell-
     Das gilt auch für sicherheitsrelevante   wäre eine völlig andere Sache. Hier      schaft wie die deutsche, die über viel
     Firmen. Generell muss es aber wech-      waren wir ja vor einigen Jahren schon    Wohlstand verfügen will und viel so-

16
INTERVIEW

ziale Absicherung garantieren möch-     Das gibt es de facto bereits. Und es ist   zu machen, nur einen Beitrag gegen
te, kann das nur über eine sehr hohe    nicht schön. Die gestiegenen Preise        die Klimaerwärmung sehen. Aber es
Wertschöpfung pro Kopf erreichen.       für Energieimporte nach Deutsch-           ist viel mehr. Es ist ein Beitrag, über-
Das bedeutet, dass die Mehrheit der     land haben aus meiner Sicht diese          haupt unsere wirtschaftliche Stärke in
Menschen hochqualifizierte und          Funktion der Produktivitätspeitsche.       die nächsten Jahrzehnte hinüberzu-
hochdotierte Tätigkeiten ausüben        Wir wissen, wir werden unsere Pro-         retten.
muss. Daraus folgt, dass Tätigkeiten,   duktion dekarbonisieren müssen und
die in der Wertschöpfungskette einen    weiterhin mehr für fossile Energieträ-     Werden wir 2030 sagen, dass uns
geringeren Beitrag leisten, weltweit    ger zahlen, die wir importieren. Bei-      diese aktuelle Energiekrise mehr
diversifiziert werden müssen. Und       des zusammengenommen wird einen            geholfen als geschadet hat?
daran hat sich nichts geändert. Wir     gigantischen Investitionsschub auslö-      Es liegt in unserer Hand, ob wir die-
werden etwa in Deutschland keine        sen. Kurzfristig ist das alles sehr        sen Schluss ziehen können. Aber ich
Textilproduktion im großen Maßstab
mehr aufbauen. Es ist aber möglich,
dass wir uns aus politischen Gründen
entscheiden, nicht mehr in denselben           „Eine Gesellschaft wie die deutsche, die über viel
Regionen wie das heute der Fall ist,
produzieren zu lassen. Unsere Werk-         ­Wohlstand verfügen will und viel soziale Absicherung
bänke werden aber auch in Zukunft
                                           garantieren möchte, kann das nur über eine sehr hohe
weiterhin im Ausland stehen.
                                                          Wertschöpfung pro Kopf erreichen“
Als die Engländer im 19. Jahrhun-
dert die Dampfmaschine an ihre
Webstühle anschlossen, wurde
verfügt, dass die handbetriebe-         schmerzlich. Aber mit unserem              bin optimistisch. Wir realisieren bin-
nen Webstühle einfach mal zer-          Know-how können wir daraus einen           nen eines Jahres nun Flüssiggas-Ter-
stört werden müssen. Wünsch-            Vorteil für den Standort entwickeln.       minals. Das ist Lichtgeschwindigkeit,
ten Sie sich das manchmal auch?         Ich sehe derzeit noch, dass viele im       vergleicht man es mit dem Bau gewis-
Den Fortschritt erzwingen?              Bemühen, Produktion CO2-neutral            ser Flughäfen. Aus dieser Ausnahme

                                                                                                                              17
INTERVIEW

     muss nun die Regel werden. Im öf-        Und wie passt dazu, dass der             doch viele Kritik an dieser Politik.
     fentlichen und privaten Sektor.          Staat einen 200-Milliarden-Ab-           Für mich war Nord Stream 2 nie ein
                                              wehrschirm erschafft? Heißt das          rein privatwirtschaftliches Unterfan-
     Wir bewegen uns von einer Krise          nicht: Im Zweifel ist immer ge-          gen. Aber ich gebe zu: Das Tempo
     in die nächste. Ist nicht die Angst      nug Geld da?                             und die Schärfe, mit denen die Pro­
     vor einer größer werdenden Be-           Das ist etwas anderes. Wir brauchen      bleme nun auftraten und der Pers-
     wegung Radikaler inzwischen bei          den Abwehrschirm, weil Gas zu einer      pektivwechsel erzwungen wurde,
     jedem Politiker im Hinterkopf            Waffe wurde. Damit soll unser wirt-      fühlen sich durchaus schmerzlich an
     präsent, wenn neue Maßnahmen             schaftliches Fundament beschädigt        und stimmen mich und viele Kolle-
     entwickelt werden?                       werden. Diese Gesellschaft soll fürch-   gen nachdenklich.
     Wir müssen unser Land in der Mitte       ten, die wirtschaftliche Basis zu ver-
     halten. Das bedeutet, dass die Radi-     lieren. Das dürfen wir nicht zulassen.   Es gab stets zwei zentrale libera-
     kalen keinen Einfluss auf den Kurs       Deshalb setzen wir unsere fiskali-       le Versprechen: an das Individu-
     bekommen dürfen. Da denke ich            schen Möglichkeiten ein. Wenn die-       um, dass gesellschaftlicher Auf-
                                                                                       stieg durch Leistung möglich ist,
                                                                                       und an die Gesellschaft, dass es
                                                                                       der Nachfolger-Generation bes-
                                                                                       ser gehen wird als der Vorgän-
           „Auch Klimaschutz geht nur innerhalb                                        ger-Generation. Gerade Zweite-
              des Rechtsstaates, sonst verliert er                                     res ist nun nicht mehr garantiert.
                                                                                       Ist das ein Problem für Ihre
                     die Akzeptanz der Mitte“                                          ­Partei?
                                                                                       Beides ist nicht mehr garantiert und
                                                                                       beides ist ein Problem für die Gesell-
                                                                                       schaft. Für meine Partei auch, aber
     auch bewusst an jene, die sich auf       ses Land weiter eine starke wirt-        darum geht es nicht. Das Aufstiegs-
     den Straßen festkleben. Durch die        schaftliche Basis hat, wenn wir nach     versprechen ist brüchig geworden.
     Wahl dieses falschen Mittels erwei-      der Krise wieder Wachstum haben          Deshalb müssen wir es erneuern.
     sen sie dem Klimaschutz einen            und die Schuldenbremse wieder be-        Durch mehr Investitionen in Bil-
     ­Bärendienst. Ein edles Motiv wird       achten, werden wir noch in diesem        dung. Wir werden die Begabtenför-
      durch das falsche Mittel erheblich      Jahrzehnt nahe an oder auf die           derungswerke für die berufliche Bil-
      beeinträchtigt. Auch Klimaschutz        Maastricht-Grenze von 60 Prozent         dung öffnen. Wir müssen mehr
      geht nur innerhalb der Grenzen des      Staatsverschuldung zurückkehren.         Ressourcen an die Schulen geben.
      Rechtsstaates, sonst verliert er die    Das heißt: Wir bürden diese Schul-       Wir müssen mehr Anreize geben zur
      Akzeptanz der Mitte.                    den auch nicht der Enkel-Generation      Aufnahme von Erwerbstätigkeit,
                                              auf, sondern werden noch selbst an       wenn Menschen Grundsicherung be-
     Wird Deutschland zum Wohl-               die Rückzahlung gehen. Doch dafür        kommen. Ich komme noch mal auf
     fahrtsstaat nach skandinavi-             brauchen wir etwas, das zu benennen
     schem Vorbild?                           manchen schon sauer aufstößt:
     Wir sind kein Volksheim. Die Prinzi-     Wachstum.
     pien von Selbstverantwortung und                                                         „Das Aufstiegs­
     Eigenvorsorge sind bei uns weiterhin     Das Beispiel Angela Merkels
     zentral. Das muss man auch stärken.      zeigt, dass eine Politik, die jahre-            versprechen ist
     Unsere Sozialversicherung wird über-     lang als richtig angesehen wer-
     wiegend finanziert aus Beiträgen von     den kann – billige Energie zu kau-
                                                                                            brüchig geworden.
     Beschäftigten und Arbeitgebern. Das      fen –, sich von einem Moment auf            Deshalb müssen wir
     ist eine Bremse für die Politik, Leis-   den anderen als völlig falsch er-
     tungen zu beschließen, ohne über         weisen kann. Ist das eine Urer-                   es ­erneuern“
     ihre nachhaltige Finanzierung nach-      fahrung, die Politiker wie Sie ge-
     zudenken. Ginge das alles in einem       rade machen?
     Steuertopf auf, wäre das eine Einla-     Diese Energiepolitik war schon zu
     dung an wohlmeinende Politiker,          Zeiten von Angela Merkel umstrit-        das Thema Wachstum zurück. Indi-
     langfristige Nachhaltigkeit hintanzu-    ten. Die USA, die europäischen Part-     vidueller Aufstieg geht nur in einer
     stellen.                                 ner und auch hierzulande übten           prosperierenden Gesellschaft. Es gibt

18
heute zu viel Wachstumsskepsis, ja        woher muss das Geld ja gekom-
Wachstumsfeindlichkeit links der          men sein.
Mitte, bisweilen sogar in konservati-     Die Länder stehen insgesamt finanzi-
ven Milieus, die es gut haben. Diese      ell besser da als der Bund. Dabei blei-
Skepsis passt aber nicht mehr in die      be ich. Der Bund muss die ganzen
Zeit. In einer Gesellschaft, die keinen   Krisenfolgen abfedern. Unsere Fi-
Wohlstandszugewinn mehr erreicht,         nanzsituation ist herausfordernder
stagniert auch jeder Einzelne. Wie        als die in München, Wiesbaden oder
soll man denn seine Lebenssituation       Berlin.
sonst verbessern? Das ginge dann
nur im harten Ellbogenwettbewerb.         Zum Schluss: Sie sind nun ein
Um selbst etwas zu gewinnen, muss         Jahr Minister. Worauf sind Sie
ein anderer etwas verlieren. Eine Ge-     nicht stolz?
sellschaft, die nicht mehr auf Wachs-     Natürlich bin ich nicht stolz auf die
tum setzt, ist eine zutiefst ungerechte   Schulden. Aber es sind Schulden, die
und brutale Gesellschaft. Und nicht,      notwendig geworden sind, weil wir
wie sich die Linken das ausmalen,         mit einem Energiekrieg konfrontiert
das Gegenteil.                            worden sind. Ansonsten möchte ich
                                          mir nach einem Jahr noch keine No-
Leistung muss sich wieder loh-            ten geben. Das sollen die Bürger tun.    Christian Lindner ist Bundesfinanzminister
nen. Wie funktioniert das bei                                                     und Vorsitzender der FDP.
zehn Prozent Inflation?
Gar nicht. Daran dürfen wir uns
nicht gewöhnen. Das ist eine Aufgabe
einer unabhängigen Notenbank. Und
der Politik. Wir müssen das Angebot
ausweiten. Dass das funktioniert, se-
hen wir doch gerade im Energiebe-
reich. Dass die Preise wieder sinken,
geht nur, weil das Angebot zugenom-
men hat.

 Bayerns Staatsregierung hat
 wieder einmal einen Anlauf
 für eine Klage gegen den
 Länderfinanzausgleich an-
 gekündigt. Nervt Sie die
 erneute Wiederauflage
 der Geschichte „Wir
­gegen Berlin“?
Nein. Aber die letzte Reform
des Länderfinanzausgleichs
liegt noch nicht lange zurück.
Dennoch ist es jedermanns gu-
tes Recht, zu klagen.

Ist denn der bayerische Vor-
wurf aus Ihrer Sicht nicht ir-
gendwie gerechtfertigt? Berlin
hat etwa schon seit Oktober ein
29-Euro-Ticket. Und im Zuge der
bevorstehenden Wahlwiederho-
lung wird gerade das finanzielle
Füllhorn ausgegossen. Irgend­
XXX
Fotos: BMW Group, Sigi Kerscher

                                        Kraftakt für
                                        Bayerns Zukunft
                                           Bayern hat sich nach dem Krieg durch mutige Politik, kluge Projekte und durch-
                                           dachte Reformen VON EINEM RÜCKSTÄNDIGEN AGRARSTAAT ZU EINEM­ 
                                              WIRTSCHAFTLICHEN SUPER-STANDORT hochgearbeitet. Angesichts der
                                           aktuellen Entwicklungen droht die Zukunft wieder deutlich düsterer zu werden

                                  20
GESCHICHTE

                                                              Unter anderem das BMW-Werk in
                                                              Dingolfing sorgt bis heute dafür, dass
                                                              nicht nur Ballungszentren, sondern
                                                              auch ländliche Räume wie in Nie-
                                                              derbayern von der prosperierenden
                                                              Wirtschaft des Freistaats profitie-
                                                              ren. Grundsteinlegung war 1970.

Ein Essay von Alexander Kain              größte Mühe, alle zu ernähren.              kraft innerhalb der EU lediglich hin-
„Angesichts des Trümmerfeldes …“ –        Das Zukunftsversprechen der damali-         ter dem übrigen Deutschland, Frank-
mit diesen Worten beginnt die Prä-        gen Zeit? Überleben, den Tag, die           reich, Italien, Spanien und den
ambel der Bayerischen Verfassung,         Woche, den Monat …                          Niederlanden einreihen. Allesamt
die im Dezember 1946 in Kraft trat.                                                   deutlich einwohnerstärker als das
„Trümmerfeld“ – das war nun wirk-         So steht Bayern heute da                    weiß-blaue Bayern.
lich keine Übertreibung: Bayerns Inf-     Heute ist Bayern top, eine Oase des         Von den DAX-40-Unternehmen ha-
rastruktur war nach dem Großen            Wachstums und des Wohlstandes.              ben zehn ihren Sitz in Bayern (rech-
Krieg in weiten Teilen zerstört, Bahn-    Der Prognos-Zukunftsatlas beschei-          net man Siemens mit dem Doppelsitz
höfe, Schienenverbindungen, Brü-          nigte dem Freistaat kürzlich eine           in München-Berlin hinzu, sind es so-
cken, Industrieanlagen lagen in           Spitzenstellung: Die Hälfte der             gar elf). Das schafft kein anderes
Schutt und Asche. Auch die Groß-          Top-10-Standorte des Prognos-Ran-           Bundesland.
städte hat es übel erwischt, München      kings sind bayerisch. Unter den 100         Genau wie bei der Arbeitslosigkeit –
war zu einem Drittel beschädigt oder      stärksten sind 44 Standorte bayerisch,      mit einem Wert von etwa drei Pro-
zerstört, Nürnberg zur Hälfte, Würz-      während es unter den 100 schwächs-          zent war der Freistaat zuletzt sozusa-
burg sogar zu drei Vierteln.              ten nur fünf sind.                          gen ein Eldorado der Arbeitnehmer.
Die Rohstoffversorgung in Bayern zu       662 Milliarden Euro wurden in Bay-
jener Zeit: prekär. Die wirtschaftliche   ern im vergangenen Jahr erwirtschaf-        Der Weg an die Spitze
Produktion lag flächendeckend am          tet, im ersten Halbjahr 2022 war ein        Der Erfolg ist Bayern nicht von allei-
Boden. Zudem strömten etwa zwei           Wachstum von 2,9 Prozent zu ver-            ne zugefallen. Freilich, es gab ein paar
Millionen Kriegsflüchtlinge ins Land.     zeichnen. Wäre Bayern eigenständig,         kluge Festlegungen, gleich nach dem
Obwohl Agrarstaat, hatte Bayern die       müsste es sich mit seiner Wirtschafts-      Krieg: Weil gar so viele Flüchtlinge

                                                                                                                                 21
GESCHICHTE

                                                 nach Bayern kamen, die versorgt              Empfänger zum Zahler, ja gar zum              Um die bis dahin gemachten wirt-
                                                 ­werden mussten, konnte man die              Großfinanzier beim Länderfinanz-              schaftspolitischen Erfolge auf breiter
                                                  US-Militärregierung überzeugen, die         ausgleich wurde, das hat auch mit             Ebene zu konsolidieren, machte sich
                                                  Beute- und Demontageaktionen ein            klugen Weichenstellungen zu tun, die          Anton Jaumann, Nachfolger Schedls
                                                  paar Nummern kleiner ausfallen zu           in Bayern getroffen wurden.                   und Wirtschaftsminister bis 1988, da-
                                                  lassen als ursprünglich geplant. Im         Es war eine Aufholjagd ohne­gleichen,         ran, den Mittelstand zu stärken. Seine
                                                  Gegenteil gab es sogar eine Reihe von       die mit vielen Namen verbunden ist,           Grundmotive „­ waren nicht in erster
                                                  Neuansiedelungen – Unternehmen,             bei der drei aber herausstechen: die          Linie ökonomischen Ursprungs, etwa
                                                  die dem russischen Zugriff entzogen         bayerischen Wirtschaftsminister Otto          begründet im Streben nach einer
                                                  werden sollten. Zudem war man sich          Schedl, ­Anton Jaumann und Otto               höchstmöglichen volkswirtschaftli-
                                                  in Bayern einig, dass Bayerns Zukunft       Wiesheu.                                      chen Effizienz. Jaumanns vorrangiges
                                                  möglichst dezentral neu aufgebaut           Als die wirtschaftliche Lage im Frei-         Motiv war es, die ökonomischen und
                                                  werden solle – neuer Wohnraum,              staat Ende der 1950er, Anfang der             damit die kulturellen Lebensbedin-
                                                  neue Arbeitsplätze, neue Industrien         1960er Jahre so weit stabilisiert war,        gungen der Menschen durch die
                                                  sollten nicht alleine in den Ballungs-      dass das Wachstum in Bayern zumin-            ­Erreichung gleichwertiger, nicht
                                                  räumen entstehen, sondern quer              dest nicht mehr hinter dem Bundes-             gleichartiger, Lebensverhältnisse ins-
                                                  durchs Land.                                durchschnitt zurückblieb und die In-           besondere auch im ländlichen Raum
                                                  Und freilich taten die Hilfen des           dustriedichte sogar stärker stieg als          zu verbessern“, wie es in einer Ab-
                                                  Bundes, von der Zonenrandförde-             im Bundesdurchschnitt, da galt es vor          handlung des Bayerischen Haupt-
                                                  rung bis zum Länderfinanzausgleich,         allem eine Aufgabe zu lösen: Bayern            stadtarchivs über ihn heißt.
                                                  bei dem Bayern einst noch Empfän-           brauchte preiswerte Energie, denn              Jaumann, zudem auch Verkehrsmi-
                                                  ger war, das Ihrige. Doch dass Bay-         Kohle musste nach Bayern transpor-             nister, war es zudem ein Anliegen,
                                                  ern, um im Bild zu bleiben, vom             tiert werden – und war hier folglich           neben (dem gelösten) Standortnach-
                                                                                              teurer als andernorts.                         teil bei der Energie auch den Nachteil
                                                                                              Es war die Stunde von Otto Schedl,             beim Verkehr zu lösen – denn Bay-
Foto: Rudolf Zablowsky/Archiv Donaukurier

                                                                                              Wirtschaftsminister von 1957 bis               erns Marktferne bedeutete höhere
                                                                                              1970: Er trieb die Pläne für eine Pipe-        Transportkosten. Seine Forderung:
                                                                                              line vom Mittelmeer nach Bayern vo-            Der Ausbau der Verkehrsinfrastruk-
                                                                                              ran, denn für die Zukunft wollte man           tur sollte nicht nur die Bedarfe de-
                                                                                              auf Erdöl statt auf Kohle setzen. Die          cken, sondern auch Regionen neu er-
                                                                                              von 1963 bis 1966 fertiggestellte und          schließen und so Chancen schaffen.
                                                                                              in Betrieb genommene Pipeline                  Der Bau sämtlicher Kernkraftwerke
                                                                                              reichte vom italienischen Genua bis            in Bayern, der Aufwuchs von BMW
                                                                                              ins oberbayerische Ingolstadt, wo in           in Werken im ländlichen Raum wie
                                                                                              der Folge zahlreiche Raffinerien ent-          in Dingolfing, aber auch Planung und
                                                                                              standen. Daneben wurde Bayern                  Baustart für den neuen Münchner
                                                                                              1964 ans deutsche Ferngasnetz ange-            Flughafen fielen in die Amtszeit
                                                                                              schlossen und trieb 1970 auch den              ­Jaumanns.
                                                                                              Kauf von russischem Gas mit voran.              Was nun den Mittelstand angeht, so
                                                                                              Und auch die Kernkraft wurde in                 sah Jaumann in ihm ein „Kernele-
                                                                                              Bayern staatlich gefördert, so wurde            ment für eine vielfältige, flexible, an-
                                                                                              für günstigen Strom am Standort ge-             passungsfähige, innovationsfreudige
                                                                                              sorgt. In der Folge der Politik jener           und relativ krisenresistente Wirt-
                                                                                              Zeit lag Bayerns Wirtschaftswachs-              schaftsstruktur“, heißt es in der Ab-
                                                                                              tum mit großer Verlässlichkeit fast             handlung weiter. Sein Gesetz zur Mit-
                                                                                              immer über dem deutschen – aber                 telstandsförderung von 1974 sei als
                                                                                              für eine Spitzenstellung Bayerns                vorbildlich erachtet worden und habe
                                                                                              reichte das noch nicht, es galt noch            eine Vorreiterrolle für eine entspre-
                                                                                              zu viel aufzuholen.                             chende Politik auch in der Bundesre-
                                                                                                                                              publik bekommen.
                                                                                                                                              Als Jaumann 1988 aus dem Amt aus-
                                                                          Auch der Ausbau der Pipeline vom Mittelmeer nach Bayern             schied, schrieb ihm Ministerpräsident
                                                                          trug zum Fortschritt im Freistaat bei. Sie wurde von 1963           Franz Josef Strauß (trotz aller politi-
                                                                          bis 1966 fertig­gestellt. In Ingolstadt entstanden Raffinerien.
                                                                                                                                              schen Spannungen, die das Verhältnis

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GESCHICHTE

                                                     der beiden prägte): „Sie haben in hohem Maße        Was wird die Zukunft bringen?
                                                     dazu beigetragen, dass der Freistaat Bayern heute   Die aktuelle Situation ist für Bayern gleichwohl
                                                     unter den Ländern einen Spitzenplatz einnimmt       herausfordernd. Neben der allerorten mit großem
                                                     und ein hochmoderner Industriestandort ist, des-    Bangen erwarteten Insolvenzwelle setzen die po-
                                                                                                                                                               Otto Schedl
                                                     sen Fundament eine gesunde mittelständische         litisch gewollte Energiewende und die von Russ-
                                                     Wirtschaft bildet.“ Mit dem Abschied Jaumanns       land ausgelöste aktuelle Energiekrise Bayern als
                                                     wechselte Bayern im Länderfinanzausgleich sei-      erfolgreichem Industriestandort besonders zu.
                                                     nen Status – vom Nehmer- zum Geberland.             Die mühsam erarbeiteten Vorteile früherer Jahr-
                                                     Mit Otto Wiesheu, Wirtschaftsminister von 1993      zehnte, gerade bei der Versorgung mit preiswer-
                                                     bis 2005, nahm Bayern endgültig seine Stellung      ter Energie, drohen verloren zu gehen – denn von
                                                     als Hochtechnologieland ein. Aus Privatisie-        einer Abschaltung der Kernkraftwerke und dem
                                                     rungserlösen – verkauft wurden Staatsunterneh-      ausbleibenden Gas aus Russland ist Bayern be-
Fotos: Bayer. Staatsministerium für Wirtschaft

                                                     men oder staatliche Anteile unter anderem an        sonders betroffen. Ob es zu einem zeitlich be-
                                                     Bayernwerk, VIAG, Eon, der Deutschen Aero­          grenzten Stillstand kommt oder gar zur Abwan-                       Anton Jaumann
                                                     space sowie an der Bayerischen Versicherungs-       derung ganzer Branchen, lässt sich derzeit kaum
                                                     kammer – startete unter Wiesheu die milliarden-     vorhersehen. Fakt ist: Was über Jahrzehnte müh-
                                                     schwere „Offensive Zukunft Bayern“, um Bayern       sam erarbeitet wurde, könnte in kürzester Zeit in
                                                     durch Investitionen in Forschung und Wirtschaft     Scherben liegen. Kluges politisches Handeln, das
                                                     zum Hochtechnologie-Standort auszubauen.            richtige Stellen der Weichen, ist gerade so bedeu-
                                                     Dass B­ ayern zwischenzeitlich in der Informa-      tend wie selten zuvor in der bayerischen Nach-
                                                     tions- und Kommunikationstechnologie, in der        kriegsgeschichte. Andererseits: In der Vergangen-
                                                     Energie-, Umwelt- und Medizintechnik sowie in       heit hat Bayern bewiesen, wie man sich mit
                                                     der Bio- und Gentechnologie europaweit mit an       Klugheit nach ganz vorne arbeiten kann. Warum
                                                     der Spitze stand oder steht, ist gerade auch der    sollte Bayern so ein Kraftakt nicht ein zweites Mal   Otto Wiesheu
                                                     Ägide Wiesheu zu verdanken.                         gelingen?                                       

                                                                                                                                                                              Anzeige

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Fotos: Colette Höchst

                             INKLUSION

                             Ein Gewinn
                             für beide Seiten
                        24
BILDUNG

                                                        Wenn Ly van Bui Datenbanken programmiert, ist
                                                        vor allem sein Gedächtnis gefragt. Denn der
                                                        60-jährige Informatiker hat während des Viet-
                                                        namkriegs nicht nur beide Arme, sondern auch
                                                        sein Augenlicht verloren. Während Softwareent-
                                                        wickler normalerweise ihren Code auf dem Bild-
                                                        schirm vor sich sehen, muss sich van Bui an
                                                        sämtliche Befehle erinnern, die er zuvor in den
                                                        Computer eingegeben hat. „Ich habe alles im
                                                        Kopf und versuche so, die Übersicht zu behalten“,
                                                        erklärt er. „Das ist nicht einfach – aber es klappt.“
                                                        Etwas Unterstützung leistet ihm dabei die ma-
                                                        schinelle Sprachausgabe: Sie wiederholt jedes Zei-
                                                        chen, das er mithilfe seiner Spezialtastatur einge-
                                                        tippt hat. Sie liest ihm über ein Headset auch
                                                        Fehlermeldungen vor, die während der Software-­
                                                        Entwicklung unvermeidlich sind.
                                                        Ly van Buis Beispiel zeigt: Schwerstbehinderte
                                                        können in den Arbeitsmarkt integriert werden,
                                                        wenn man ihnen einen auf sie zugeschnittenen
                                                        Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Und wenn sich
                                                        Arbeitgeber finden, die ihnen eine Chance geben.
                                                        Ly van Bui hatte Glück: Nach seinem Informatik-­
                                                        Studium war er lange arbeitslos, weil kein Unter-
                                                        nehmen ihn mit seiner Behinderung einstellen
                                                        wollte. 1999 kam dann das Angebot aus Würzburg:
                                                        Die „win – wir integrieren gGmbH“ suchte für ihr
                                                        damaliges Geschäftsfeld Software-Entwicklung ei-
                                                        nen Mitarbeiter. Ly van Bui nutzte die Chance.
            „Ly van Bui (l.) ist ein hoch motivierter
              Mitarbeiter und Mutmacher.“ win-­
             Geschäftsführer Oliver Sitko (r.) will     „Wir integrieren“
            Unternehmen ermutigen, ebenfalls mehr       Dass Menschen wie er bei win eine Chance be-
             Menschen mit Handicap einzustellen.        kommen, ist Teil der Unternehmensphilosophie.
                                                        Der Firmenname ist die Abkürzung von „Wir in-
                                                        tegrieren“, und als integrativer Dienstleistungsan-
                                                        bieter lässt das Unternehmen Menschen mit und
                                                        ohne Behinderung gleichberechtigt Seite an Seite
                                                        arbeiten. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wi-
                                                        der: „Wir haben derzeit 485 Mitarbeiterinnen
        Viele Unternehmen zögern,                       und Mitarbeiter, von denen fast die Hälfte eine
                                                        Behinderung hat“, berichtet win-Geschäftsführer
    MENSCHEN MIT BEHINDERUNG                            Oliver Sitko. „Wir sehen darin kein Problem, son-
  ­einzustellen. Aber dafür gibt es keinen              dern einen Gewinn: Beide Gruppen ergänzen
                                                        sich bestens.“
Grund: Behindertengerechte Arbeitsplätze                Das Würzburger Inklusionsunternehmen ist er-
  werden gefördert, zudem gewinnen die                  folgreich in verschiedenen Geschäftsfeldern bay-
                                                        ernweit tätig und in den letzten Jahren stetig ge-
Betriebe hoch motivierte Mitarbeiterinnen               wachsen. Vor allem bei Gebäudereinigung sowie
und Mitarbeiter. So auch bei der „win – wir             Hausmeisterdiensten und Grünanlagenpflege
                                                        sind die win-Services gefragt. „Daneben führen
integrieren gGmbH“, einem U   ­ nternehmen              wir für unsere Kunden aber auch Arbeiten rund
              der bbw-Gruppe                            um die Immobilie aus. Die Bandbreite reicht da-
                                                        bei von Malertätigkeiten bis hin zu Entrümpelun-
                                                        gen oder Haushaltsauflösungen“, sagt Sitko.       ▶

                                                                                                                25
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                                                                                               andere: Der 60-jährige
                                                                                               Informatiker verlässt sich
                                                                                               bei seiner Arbeit auf sein
                                                                                               Gehör und sein Gedächtnis.

     Alles begann vor 26 Jahren, als die      dass wir nicht die Gewinnmaximie-         dauerhaft vermindert ist“, berichtet
     win mit acht Mitarbeitern und dem        rung, sondern den Menschen mit sei-       Sitko.
     Ziel gegründet wurde, Arbeitsplätze      nen individuellen Fähigkeiten in den
     für Menschen mit Behinderung zu          Mittelpunkt stellen. Dass dies keinen     Menschen mit Fähigkeiten
     schaffen. Heute ist sie mit ihren        Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit        werben für Mut zur Einstellung
     Teams in ganz Bayern aktiv. Neben        darstellt, beweist die win bereits seit   Auch Ly van Bui wirbt um mehr Mut
     Unternehmen aus der privaten Wirt-       vielen Jahren.“                           aufseiten potenzieller Arbeitgeber:
     schaft gehören auch zahlreiche Be-       Andere Unternehmen will er ermuti-        „Viele Menschen mit Behinderung
     hörden zum Kundenstamm, darunter         gen, ebenfalls mehr Menschen mit          sind fit und wollen unbedingt arbei-
     die Bundesagentur für Arbeit, die        Handicap einzustellen. „Menschen          ten, Befürchtungen oder Vorurteile
     Bayerische Polizei sowie viele Finanz-   mit Behinderung sind hoch motivier-       sind fehl am Platz. Ich selbst hatte
     behörden.                                te Mitarbeiter und gute Botschafter       großes Glück, diesen Arbeitsplatz zu
                                              nach außen“, sagt Sitko. „Außerdem        finden – und ein Unternehmen, bei
     Hoch motiviert und mit großem            verändern sie einen Betrieb positiv:      dem mir das ganze Team bei meinen
     Einfühlungsvermögen                      Ein Kollege wie Ly van Bui ist bei-       Tätigkeiten, aber auch menschlich
     Bei den Anforderungen an die Ar-         spielsweise ein toller Mutmacher:         immer zur Seite steht.“ Er ist stolz,
     beitsergebnisse bekommen die ge-         Wenn ich sehe, wie er seinen Alltag       seinen Lebensunterhalt selbst bestrei-
     mischten Teams aus Menschen mit          trotz aller Herausforderungen so gut      ten zu können. Ly van Bui betont
     und ohne Behinderung von ihren           und mit Optimismus bewältigt, er-         aber auch, wie wichtig die soziale
     Kunden keinen Rabatt. Aber das ist       scheinen viele alltägliche Probleme in    Komponente der Integration von
     auch gar nicht nötig: „Unsere Mitar-     einem ganz anderen Licht.“                Menschen mit Behinderung in den
     beiterinnen und Mitarbeiter sind sehr    Am Geld muss der Einsatz von Men-         Arbeitsmarkt ist: „Ohne Job würde
     motiviert und sie haben oft ein be-      schen mit Behinderung nicht schei-        ich den ganzen Tag zu Hause sitzen
     sonders großes Einfühlungsvermögen       tern: Dank Zuschüssen aus den Mit-        und niemanden treffen. Das würde
     für unsere Kunden“, erklärt Sitko.       teln der Ausgleichsabgabe lassen sich     auf die Seele gehen.“
     Aber auch als Arbeitgeber hat die win    behindertengerechte Arbeitsplätze
     einen guten Ruf. Über Social-Media-­     ohne große zusätzliche Investitionen
     Kanäle oder die Arbeitsagenturen         schaffen. „Die Förderung kann von         Die win gGmbH ist ein Unternehmen
     kommt man mit Bewerbern in Kon-          jedem Unternehmen beantragt wer-          des Bildungswerks der Bayerischen
     takt. „Unter ihnen sind auch viele       den, wenn das Arbeitstempo oder           Wirtschaft (bbw). bbw.de
     Menschen ohne Behinderung“, be-          die individuelle Leistung eines Mit-      Zur Webseite der win gGmbH geht es
     richtet Sitko. „Sie schätzen an uns,     arbeiters infolge der Behinderung         unter win-wue.de                 

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