Christian Interview: www.vbw-bayern.de Schutzgebühr 6,- Euro
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EDITORIAL das Jahr neigt sich dem Ende zu. Müsste ich einen Begriff finden für das, was wir seit dem Frühjahr erle- ben, dann wäre das lateinische „Annus horribilis“ mehr als zutreffend – denn das Jahr 2022 war wahrlich ein „Schreckensjahr“. Russlands Krieg in der Ukraine hat uns in eine immense Energie- und Wirtschaftskrise ge- stürzt, hat die friedliche Nachkriegsordnung in Europa zerstört und war offensichtlich der Auftakt zu einer völligen Neujustierung globaler Zusammenhänge. Gleichwohl: Die wahren Herausforderungen werden erst im Jahr 2023 richtig sichtbar und spürbar wer- den. Und sie werden Auswirkungen auf unser gesell- schaftliches Wohlstandsniveau haben, wie es sich vie- le noch gar nicht vorstellen können. Oder wollen. Aber Sie kennen mich: Ich bin nicht für den Pessimis- mus geboren. Krisen sind bekanntlich Zwischenschrit- te des Fortschritts – und in aller Regel eine gute Ge- legenheit, jedenfalls für die Fleißigen und Mutigen, sich neue Chancen zu erarbeiten. Dafür gibt es gute Beispiele aus der Vergangenheit: Bayern etwa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg vom räumlich abgelegenen und energiearmen Agrar- land zu einem führenden und wohlhabenden High- techland hochgearbeitet. Entscheidend dafür waren kluge und zukunftsweisende politische Entscheidun- gen. Ein Essay (ab S. 20) zeichnet diese Entwicklung nach. In diesem Zusammenhang rate ich auch, unser Titelinterview mit dem Chef der Liberalen, Bundes finanzminister Christian Lindner (ab S. 14), aufmerk- sam zu lesen. Dass wir angesichts der immensen sachlichen Heraus- forderungen dafür sorgen müssen, dass der gesell- schaftliche Zusammenhalt und unsere Demokratie nicht unter die Räder kommen, darauf weisen zu Recht die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Ursula Münch (S. 11) und Pfarrer Rainer Maria Schießler (S. 38) hin – ihre Gedanken sind sozusagen die kleine Weihnachtslektüre, die ich Ihnen für die staade Zeit besonders ans Herz legen möchte. BERTRAM BROSSARDT, Herausgeber
INHALT 6PORTRÄT 14 INTERVIEW 20 GESCHICHTE Verteidigte Marke Chancen liegen Mutig und Nürnberger Lebküchner achten in den Freiheiten durchdacht streng auf die Qualität der weltbe- Bundesfinanzminister Christian Bayern hat sich nach dem rühmten Spezialität. Das Familien- Lindner erklärt nötig gewordene Krieg vom Agrarland zum unternehmen Woitinek konzentriert Schulden, spricht über Chancen für Premium-Wirtschaftsstandort sich ganz auf das Weihnachtsgebäck. den Wirtschaftsstandort Deutschland entwickelt. Basis war eine und plädiert für die Prinzipien von Reihe kluger Weichenstellun- Selbstverantwortung und Eigen gen. vorsorge.
INHALT STANDPUNKT11 EINE FRAGE NOCH ... 38 IMPRESSUM MACH(T)RAUM12 vbw Unternehmermagazin 06/2022 HERAUSGEBER vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. VR 15888 Amtsgericht München 24 28 Hauptgeschäftsführer: Bertram Brossardt Max-Joseph-Str. 5, 80333 München Büro des Herausgebers: Andreas Ebersperger E-Mail: unternehmermagazin@vbw-bayern.de HERAUSGEBERBEIRAT Bertram Brossardt Holger Busch Anna Engel-Köhler BILDUNG LIFESTYLE Michael Forster Klaus Lindner Thomas Schmid Dr. Peter J. Thelen Hoch motiviert Kreierte Marke Walter Vogg GESAMTKOORDINATION Dr. Peter J. Thelen Im integrativen Dienstleistungs- Mit einer Wechseltasche haben Tel.: 089-551 78-333, unternehmen „win – wir zwei Münchnerinnen ihr E-Mail: peter.thelen@vbw-bayern.de CHEFREDAKTEUR integrieren gGmbH“ arbeiten eigenes Label aufgebaut. Den Alexander Kain (V.i.S.d.P.) Menschen mit und ohne Erfolg brachte – im zweiten REDAKTION: Sandra Hatz AUTOREN: Alexander Kain, Behinderung Seite an Seite. Anlauf – eine ausgefeilte Sandra Hatz, Lisa Plank, Dr. Thomas Vitzthum Marketingstrategie. GRAFIK: Johanna Geier, Silvia Niedermeier KORRESPONDENTENBÜROS D – 10117 Berlin, Charlottenstraße 35/36, Dr. Peter J. Thelen B – 1000 Brüssel, Rue Marie de Bourgogne 58, Volker Pitts-Thurm USA – 10174 New York, The Chrysler Building, 405 Lexington Ave, 37th Fl., Christoph Kolle VERLAG vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft Projektgesellschaft mbH HRB 106556 Amtsgericht München Geschäftsführer: Klaus Kornitzer KOOPERATIONSPARTNER · GESAMTABWICKLUNG · ANZEIGEN Reiner Fürst, PNP Sales GmbH Medienstraße 5, 94036 Passau Tel.: 0851-802-594 Anzeigentechnik E-Mail: josef.feucht@vgp.de TITELFOTO: Marco Urban DRUCK PASSAVIA Druckservice GmbH & Co. KG Medienstraße 5b 94036 Passau Tel.: 0851-966 180-0 Das vbw Unternehmermagazin erscheint sechsmal im Jahr mit einer Auflage von 70.000 Exemplaren. ISSN 1866-4989 Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Herausgebers. Für die Zusendung unverlangter Manuskripte oder Bilder wird keine Gewähr übernommen. www.vbw-bayern.de
PORTRÄT Blech für Blech holt Vanessa Woitinek von August bis Dezember aus dem Ofen der Nürnberger Familienlebküchnerei. Foto: Matthias Hucke 6
PORTRÄT WEIHNACHTLICHE TRADITION Zum Anbeißen NÜRNBERGER LEBKUCHEN sind als Marke streng geschützt – Ein Verband achtet auf den guten Ruf – Für die Tradition der Lebküchnerei in der Stadt steht das FAMILIENUNTERNEHMEN WOITINEK Lebkuchen gehören in Bayern zur für die Glasur, Vorweihnachtszeit wie Christbaum nicht bei som- und Krippe zum Fest. Und Nürnberg merlicher Hitze ist die Stadt, deren Name untrennbar dahinschmilzt, mit dem würzigen Gebäck verbunden können die Palet- ist. Genau festgelegte Normen bestim- ten, auf denen der men Auswahl und Zusammensetzung wertvolle Rohstoff ge- der Rohstoffe. Ein Verband der Leb- liefert wird, nicht ein- küchner sorgt dafür, dass Qualität fach da stehen bleiben, und guter Ruf erhalten bleiben. Kein wo sie entladen werden. Sie Wunder. Nürnberger Lebkuchen-Bä- müssen möglichst schnell wie- cker haben in der Geschichte immer der in die Kühlung im Keller. Meist wieder um die Rechte ihrer Marke absolviert Seniorchef Bernd Woitinek ringen müssen. die sportlichen Einheiten. „Das kann Wenn Familie Woitinek im August schon mal stressig sein“, meint Bernd sem Blech stimmt das Gewicht noch mit der Produktion in der Nürnberger Woitinek, der ansonsten die Arbeit in nicht ganz. Lebküchnerei loslegt und die Außen- der Halle seines Betriebs gelassen ver- Bis 2004 hatten Pia und Bernd temperatur schon mal 30 Grad be- folgt, überprüft und korrigiert: Hier Woitinek eine klassische Bäckerei, in trägt, ist das nicht nur schweißtrei- etwas mehr Puderzucker auf die Roh- der sie und ihre Mitarbeiter ab Hoch- bend, sondern bedarf zusätzlicher linge – aber nicht zu viel. Da ein Blick sommer auch Lebkuchen in den Ofen logistischer Vorkehrungen. Damit die in die Knetmaschine: Hat die Masse schoben. Heute konzentriert sich der Zartbitter-Kuvertüre, die nach eige- die richtige Konsistenz? Dort müssen Betrieb allein auf das beliebte Nürn- nem Rezept hergestellte Schokolade die Nüsse aus dem Ofen und von die- berger Weihnachtsgebäck, produziert 7
PORTRÄT Fotos: Sandra Hatz 1 2 3 für den eigenen Online-Handel und rei im Jahre 1895 gegründet. 1942 (geborene Attmanspacher), den Be- den Fabrikverkauf, der jedes Jahr im übernahm Großvater Georg trieb und verkauften ihre Leckereien Oktober startet, für regionale Spezia- Attmanspacher, der ab 1952 mit einer erfolgreich auf immer mehr Weih- litäten-Abteilungen der Geschäfte Bude auf dem berühmten Nürnber- nachtsmärkten. Bernd und Pia über- sowie Eigenmarken. Das läuft gut. ger Christkindlesmarkt dafür sorgte, nahmen 1995. Bernd, gelernter und Woitinek verkauft Millionen Lebku- dass die Familie mit ihren Lebku- ausgezeichneter Bäcker- und Kondi- chen im Jahr. Etwa 20.000 Stück chen, Früchtebroten und Lebzelten tormeister, und Pia, gelernte Kondito- kommen jeden Tag aufs Blech. immer bekannter und beliebter wur- rin aus der Schweiz. Inzwischen ar- Karl Attmanspacher, der Urgroßvater de. 1970 übernahmen die Eltern von beiten alle drei Kinder – Dominic, von Bernd Woitinek, hatte die Bäcke- Bernd, Heinz Woitinek und Margot Vanessa und Maximilian – mit. Seit Schritt für Schritt Haselnüsse werden geröstet 1 : 35 Minuten nüssen. Das ist dunkler und von kräftigerem Am nächsten Morgen verzieren die Bäcker 6 bei 190 Grad. Geschmack. die Lebkuchen. Die Rührmaschine vermengt und knetet alle Eine Maschine bringt die Masse auf die Oblaten Sie kommen in den Ofen 7 und werden bei Zutaten 45 Minuten lang 2 . Die Konsistenz und dann auf die Bleche 4 . Danach werden 200 Grad gebacken. wird kritisch überwacht. Wie genau die Masse die Rohlinge erst einmal über Nacht getrock- Lebkuchen mit Biss 8 : Insider erkennen einen ausschauen muss, kann Bernd Woitinek nicht net – bei 12 Prozent Luftfeuchtigkeit und 35 guten Lebkuchen, wenn sie ihn auseinander- beschreiben. Erfahrung eben. Die Masse sollte Grad Celsius. brechen. „Unsere Nüsse sind nur grob gemah- nicht zu feucht, aber keinesfalls zu trocken sein. Seniorchef Bernd Woitinek 5 hat die Abläufe len. Man will ja schließlich auf was draufbei- Familie Woitinek stellt das Marzipan 3 , das in in der Lebküchnerei und Qualität seiner Pro- ßen“, meint Bernd Woitinek. die Lebkuchen kommt, selber her. Aus Hasel- dukte stets im Blick. 6 7 8 8
4 5 den 1950er Jahren wurde die Bäckerei und Kinder – das war Pia und Bernd glasur oder schwarz mit Schokoglasur. an der Nürnberger Peter-Henlein- Woitinek in diesen Jahren zu viel ge- Meist sind Lebkuchen rund, oft auch Straße immer wieder mal erweitert. worden. Seitdem dreht sich alles nur rechteckig. Die Rezepturen wurden Besonders gut erinnert sich Bernd noch um die Qualität der Lebkuchen. meist von Generation zu Generation Woitinek an den ersten Tag in der In Nürnberg hat jeder Bäcker seine ei- überliefert. 22 Nürnberger Lebküch- neuen Produktionshalle. Es war der genen Geheimnisse rund um den Star ner haben sich in einem Schutzver- Tag des Anschlags auf Amerika am der Weihnachtszeit, der dann aber band zusammengeschlossen, in dem 11. September 2001. Der Sohn war doch immer ganz schlicht und ähnlich alle regelmäßig geprüft und zertifiziert gerade eingeschult. Doch Laden, in drei verschiedenen Varianten da- werden. Die geografische Angabe Backstube, Buchführung, Produktion herkommt: naturbraun, mit Zucker- „Elisenlebkuchen aus Nürnberg“ Anzeige A A B C D E F G ANTEIL EIGENVERSORGUNG ROBOTERARM REGENERATIV ENERGIEEFFIZIENZKLASSE A WIR FÖRDERN ENERGIEKREDIT RE GENERATIV IN ENERGIESCHAFFEN FÜR INVESTITIONEN ERNEUERBAR E EN ER GIEN UND ENERGIESPAREN Bayerns Mittelstand ist stark in seiner Vielfalt. Als Förderbank für Bayern unterstützen wir Unternehmen darin, die Energieeffizienz ihrer Gebäude und Maschinen zu optimieren. Mit unserem Energiekredit Regenerativ fördern wir außerdem Investitionen in Ihre Selbstversorgung mit erneuerbarer Energie. Gerne beraten wir Sie kostenfrei. Tel. 089 / 21 24 - 10 00 www.lfa.de
PORTRÄT nterliegt strengen Richtlinien. Die Zutaten sind u Die Nürnberger Lebküchner von heute sehen sich reglementiert. Mindestens 25 Prozent Haselnüsse nicht als Konkurrenz. Man hilft sich gegenseitig. und maximal zehn Prozent Mehlanteil darf der Woitinek: „Wir haben ein gutes Miteinander.“ Lebkuchen enthalten. „Aber wer etwas auf sich Als es etwa kurz nach der Corona-Pandemie hält, der achtet sowieso selbst darauf und nimmt schwierig war, die richtige Folie aufzutreiben, mehr Nüsse als vorgeschrieben“, so Woitinek. habe eins der ganz großen Unternehmen den Nicht umfassend geklärt ist, woher die Bezeich- kleinen ausgeholfen. Und als kürzlich einem Kol- nung „Leb“ kommt. Sie könnte auf den Begriff legen Verpackungen fehlten, konnte Woitinek ECKDATEN ZUR „Laib“ zurückzuführen sein, aber auch von Kartons anbieten. LEBKÜCHNEREI „Leben“ kommen, zu dessen Gesundheit der Ge- Vier Monate läuft die Produktion. Das heißt nicht, WOITINEK nuss der Legende nach beitragen soll, oder vom dass es in der übrigen Zeit nichts zu tun gibt: GEGRÜNDET 1895 von lateinischen „Libum“ – das bedeutet „Fladen“. Die Hochsaison muss vorbereitet sein: Bernd Karl Attmanspacher, Lebkuchen gibt es in Nürnberg laut Bundesver- Woitinek sucht die Rohstoffe aus und nimmt ab Urgroßvater des heutigen band der Deutschen Süßwarenindustrie seit dem dem Frühjahr, wenn die Bäume gerade mal blü- Seniorchefs Mittelalter. Das älteste schriftlich überlieferte hen, Kontakt auf zu den Herstellern, um über FAMILIE Lebkuchen-Rezept stammt aus dem 16. Jahrhun- Mengen und Preise zu verhandeln. Gemeinsam Bernd, Pia, Dominic, Vanessa und dert. Ihren Ruhm als Lebkuchen-Metropole ver- bringt die Familie die Halle auf Vordermann, Maximilian Woitinek dankt die Stadt nicht zuletzt seiner verkehrs repariert Maschinen und Geräte. günstigen Lage: Am Kreuzungspunkt vieler PRODUKTION ca. 20.000 Oblaten Handelswege und alter Gewürzstraßen gelegen, Der Lebküchner sagt lebkuchen am Tag war Nürnberg der ideale Ort für die Lebkuchen- Masse – nicht Teig von August bis Dezember bäckerei. Gewürze kamen aus aller Welt: Anis aus Woitinek legt besonderen Wert darauf, dass die GEWICHT EINES Ägypten, Nelken aus Madagaskar, Ingwer und Lebkuchen saftig sind. „Das ist ein Markenzei- LEBKUCHENS Kardamom aus Indien, Muskatblüten aus Sumat- chen“, unterstreicht der Seniorchef. Zur Masse – 80 Gramm ra, Piment aus Mexiko und Zimt aus China. der Lebküchner sagt nicht Teig – gehören ein ho- Zudem saßen die Nürnberger Lebküchner durch her Nussanteil, Honig, Aprikosenmarmelade, die großen Bienengärten in den Wäldern rund Eiweiß, Zitronat, Orangeat und andere Gewürze, um Nürnberg direkt an der süßen Honigquelle. selbst gefertigtes Marzipan – übrigens nicht aus In fränkischen Klöstern waren zunächst abge- Mandeln, sondern aus Haselnüssen, das viel schirmt von der Öffentlichkeit erste „Lebkuchen“ dunkler ist und kräftiger schmeckt. „Wenn man hergestellt worden. Oblaten sorgten dafür, dass den Lebkuchen auseinanderbricht, sieht man, die Rohlinge nicht auf den Backblechen kleben dass er schön saftig ist. Wenn ich ihn schneide, blieben. dann meine ich, der ist nicht durchgebacken.“ Wie ein Geschenk verpacken die Mitarbeiterinnen um Pia Woitinek je fünf Stück in Folie und bringen Schleifen an. Dann kommen die Lebkuchen in Kartons und auf Paletten für den Versand. 10
STANDPUNKT „Demokratie ist kein Geschenk, sondern Arbeit“ In Zeiten großer Krisen ist es wichtig, pfleglich mit unserer Demokratie umzugehen – und zu differenzieren, anstatt zu polarisieren, findet die POLITIKWISSENSCHAFTLERIN PROF. DR. URSULA MÜNCH. Vor allem sollte man nicht auf das Narrativ der Feinde der Demokratie hereinfallen, offene Gesellschaften stünden vor dem Kollaps Keine Zeiten für Zufriedenheit. Die zögen. Zweifelsohne – es gibt viel zu so viel einfacher – und oft auch unter- Gründe dafür sind bekannt, die Aus- bemängeln an „der“ Politik: von der haltsamer. Unsere freiheitliche Demo- wirkungen ebenfalls: Fast 70 Prozent widersprüchlichen Energiepolitik die- kratie ist kein Geschenk, sondern Ar- der Befragten sind unzufrieden mit ser und früherer Bundesregierungen beit. Einen Teil davon delegieren wir der Arbeit der Bundesregierung. Wer über die innovationsfeindliche Büro- aus gutem Grund an unsere Reprä- frühere Umfragewerte zum Beispiel kratie bis hin zu den Mängeln in der sentanten. Aber etwas können und vom „ARD-DeutschlandTREND“ öffentlichen Infrastruktur. Umgekehrt dürfen wir nicht an andere abgeben: vergleichend heranzieht, stellt fest, gehört zur freiheitlichen Demokratie unsere F ähigkeit zu differenzieren so- dass die Deutschen auch schon frühe- aber auch eine Bürgerschaft, die in wie unseren Widerstand gegenüber re Bundesregierungen schlecht beur- der Lage ist zu unterscheiden: näm- denjenigen, die unsere pluralistische teilten. Neu – und beunruhigend – ist lich zwischen der berechtigten Kritik Demokratie auf Schwarz und Weiß etwas anderes: Ein nennenswerter Teil an den durch die „Multikrise“ heraus- reduzieren wollen. der Bürgerschaft geht auch auf Dis- geforderten politischen Akteuren und tanz zur bundesdeutschen Demokra- der Verächtlichmachung einer aus gu- tie: Lediglich 59 Prozent der West- ten Gründen gewaltenteilenden Ver- Prof. Dr. Ursula Münch ist Direkto- deutschen, und nur noch 39 Prozent fassungsordnung und ihrer demokra- rin der Akademie für Politische Bil- der Ostdeutschen äußerten sich zu- tisch legitimierten Repräsentanten. dung in Tutzing und lehrt Politikwis- frieden „mit der Demokratie, so wie Diese Bereitschaft und Fähigkeit zur senschaften an der Universität der sie in Deutschland funktioniert“. An- Unterscheidung sind auch erforder- Bundeswehr München. gesichts dieser Befunde drängt sich lich, um den kremlfreundlichen Lü- der Verdacht auf, dass die Bundesre- genkampagnen gewachsen zu publik womöglich nur eine „Schön- sein, die uns Angst machen wetterdemokratie“ ist, die sich nur wollen und deshalb frech dann hoher Wertschätzung erfreut, (und unzutreffend) be- Foto: Akademie für Politische Bildung, Tutzing wenn der Wohlstand gesichert scheint haupten, die offenen Ge- und die meisten ein komfortables Le- sellschaften des Westens ben führen können. So einfach sollte stünden quasi vor dem es sich kein vernünftiger Mensch ma- Kollaps. chen. Der darin zum Ausdruck kom- Derlei Lügengeschichten mende Fatalismus ist unangebracht gab es natürlich auch und brandgefährlich. Zudem wäre es schon in der analogen auch undankbar, wenn wir einfach Vergangenheit. Aber im hinnehmen würden, dass Krisen und Zeitalter digitaler Meinungs- Katastrophen gleich die nächste Kata- mache, die auf redaktionelle Fil- strophe – nämlich den Verlust unserer terung verzichten zu können meint, freiheitlichen Demokratie – nach sich sind Verunsicherung und Irreführung 11
Mach(t)Raum Fotos: Astrid Schmidhuber Als Glauber als Minister startete, fiel ihm auf, wie unwohl sich Mitarbeiter fühlten, wenn sie einen Termin im Ministerbüro hatten. Die Erinnerung, die Geste des Lächelns nicht zu vergessen, soll das Wohlbefinden fördern – auf beiden Seiten. Der Kalksandstein ist eine bedeuten- de geologische Formation in Glaubers oberfränkischer Heimat – in zwei Ausprä- gungen steht sie in seinem Büro: als künstliche Pyramide und als sogenann- ter „Hirnstein“, einer natürlich entstande- nen Kalkstein-Auswaschung. Diese Playmobilfiguren mit der Hochwasserabsperrung gibt es nicht zu kaufen – sie sind eine mit dem Unternehmen vereinbarte Sonderanfertigung der Was- serwirtschafts-Abteilung des Ministeriums. Die Kleinserie gibt es nur als Geschenk. 12
Information Anzeige Ein Jahr hat Umwelt- und Verbraucherminister THORSTEN GLAUBER (Freie Wähler) sein Ministerium vom Keller aus geführt. Grund: Das Mi- für Sie in Bestform nisteriumsgebäude am Rosenkavalierplatz in München-Bogenhausen wur- de umfassend energetisch saniert. Jetzt ist es fertig – und ein bisserl sieht man, dass der Minister im zivilen Leben selbst studierter Architekt mit gro- ßem Verständnis für Formen, Farben und Materialien ist. Das neue Minis- terbüro etwa hat einen enormen Modernisierungsschub erfahren: Nicht nur ein modisches Beleuchtungskonzept mit LED-Lichtern, eine grün be- e www.vbw-bayern.d Schutzgebühr 6,– Euro pflanzte Wand, ein Steh-Schreibtisch und Designermöbel holen die einst altbackene Machtzentrale in eine neue Zeit, sondern auch die räumliche Neugliederung konsequent nach den jeweils anstehenden Aufgaben: So wurde etwa ein separater Nebenraum als digitale Kommunikationszentrale eingerichtet – weil das Umweltministerium, zuständig von Problembären bis hin zu potenziellen Atomunfällen auch immer ein Krisen-, Katastro- phen- und Lagezentrum sein muss. Den zentralen Kommunikations-Desk dort hat Glauber selbst designt – und bewusst so angelegt, dass man von jedem Sitzplatz aus immer auch jeden anderen sehen kann. Motto: Verste- cken gilt nicht. Was nur wenige wissen: Das 1970 gegründete baye- rische Umwelt-Ressort ist nicht nur das dienstälteste überhaupt, son- Interview : Andrea 020422 www.vbw-bayern.d e Schutzgebühr 6,– Euro dern hat mit den früheren Minis- Nahles 1 tern Max Streibl und Markus Söder bereits zwei spätere Ministerpräsi- denten hervorgebracht. Interview : 020 5 Hans Jörg Das Geschenk einer Freundin Bachmeier dient als Untersetzer auf dem 22 1 Minister-Schreibtisch – und erinnert ihn stets daran, wie die Dinge im Idealfall laufen: Miteinander sprechen. Das vbw Unternehmermagazin ist die Premium- Publikation für Menschen aus der bayerischen Wirtschaft und Politik. Das sind Unternehmer, Führungskräfte in den Betrieben, politische Mei- nungsbildner, Entscheider aus den Verbänden sowie Multiplikatoren gesellschaftlich relevanter Gruppen. Das Glas-Kreuz ist ein Wir wollen Ihnen mit dem vbw Unternehmer- Geschenk aus seiner magazin alle zwei Monate nutzwertorientierte Heimatgemeinde, wo Inhalte geben, darunter Best-Practice-Beispiele aus man Glaubers Berufung bayerischen Unternehmen, Wirtschaftspolitik, ins Kabinett im November Glauber läuft – Ma- Recht, Soziales, Forschung und Technik, Bildung 2018 mit Feuerwerk, rathon und Halbmara- Fackelzug und großem und Lifestyle. thon. Das Brustschild Empfang feierte. Wenn Sie auch zu diesem Leserkreis gehören wollen, stammt vom letzten Lauf. Die großen bestellen Sie ein kostenloses Abonnement. Senden Wettbewerbe – Sie uns einfach eine kurze E-Mail mit Ihren Adress- London, Boston oder daten an unternehmermagazin@vbw-bayern.de New York – stehen allerdings noch aus. Ihre personenbezogenen Daten werden ausschließlich für die Zusendung des vbw Unternehmermagazins verarbeitet. Informationen zum Datenschutz gem. Art. 13, 14 13 DS-GVO finden Sie unter www.vbw-bayern.de/01dsv
INTERVIEW „Unsere Werkbänke werden auch in Zukunft im Ausland stehen“ Seit einem Jahr ist CHRISTIAN LINDNER BUNDESFINANZMINISTER. Auf die Schulden, die in dieser Zeit gemacht wurden, sei er nicht stolz, sagt er offen im Interview mit dem vbw Unternehmermagazin – aber sie seien wegen der Energie- krise nötig geworden. Was die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland angeht, sieht er Chancen vor allem in den Freiheiten, nicht in Restriktionen. Und die Prinzipien von Selbstverantwortung und Eigenvorsorge, die seien weiter zentral Herr Lindner, „besser nicht re- ches erreicht wird. Mit den Freien eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule gieren als falsch regieren“ haben Demokraten gibt es auch für die einzuziehen. Das wäre seinerzeit un- Sie 2017 gesagt und die Koaliti- Wirtschaft keine zusätzlichen Belas- möglich gewesen. onssondierungen für „Jamaika“ tungen. Im Gegenteil: Bei Planungs- platzen lassen. Im Ernst: Fühlt es und Genehmigungsverfahren arbei- Derzeit ist die wirtschaftliche sich für Sie tatsächlich so an, als ten wir an Entbürokratisierung und Verflechtung mit China das gro- würden Sie in der Ampel-Bun- Entlastung. ße Thema. Hat die Wirtschaft desregierung mit SPD und Grü- Ihrer Meinung nach die Zeichen nen gerade „richtig“ regieren? Können Sie „richtig regieren“ der Zeit schon ausreichend er- Wir haben herausfordernde Zeiten eigentlich definieren? kannt? Dass sie politischer wer- mit einem Energiekrieg und zu hoher In der Konstellation von 2017 hätte den muss? Inflation. Deshalb geht Regieren die FDP nichts umsetzen können. Das ist nicht mein Kritikpunkt. Aus nicht leicht von der Hand. Aber allein Wir wären Mehrheitsbeschaffer für meiner Sicht ist völlig klar, dass die die beschlossenen 50 Milliarden Euro Schwarz-Grün gewesen. Jetzt kann Wirtschaft dort investiert, wo volu- Entlastungen durch die Verhinderung die FDP Einfluss nehmen und eigene menstarke Märkte und Wachstum zu der kalten Progression in den kom- Projekte umsetzen. Ein Beispiel: Wir finden sind. Es ist nicht Aufgabe der menden beiden Jahren zeigen, dass in beginnen im nächsten Jahr in der ge- Politik, das zu zensieren. Aufgabe der diesem Bündnis durch uns Erhebli- setzlichen Rentenversicherung damit, Bundesregierung muss es sein, die 14
INTERVIEW Fotos: Marco Urban 15
INTERVIEW Barrieren für den Handel mit ande- selseitige Investitionen geben. Was in drauf und dran, uns in Abhängigkei- ren Weltregionen zu reduzieren. Da- Deutschland chinesischen Investoren ten zu begeben. Auch bei der Debatte mit China in der Bedeutung weniger erlaubt wird, muss umgekehrt deut- über die Beteiligung des chinesischen wichtig wird, weil andere wichtiger schen Investoren in China erlaubt Konzerns Cosco an einem Terminal werden. Deshalb ist es richtig und sein. des Hamburger Hafens hätte das be- wichtig, nach Jahren der Blockade herzigt werden müssen. Nun ist es so, endlich das Freihandelsabkommen dass die Beteiligung dort begrenzt CETA mit Kanada zu ratifizieren. Da- wird und sie bezieht sich auf eine Ge- ran müssen wir nun anknüpfen. So „Wertepartner sollten sellschaft, die ein Terminal dort ge- müssen wir alles daransetzen, mit pachtet hat. Eine Eigentumsübernah- den Vereinigten Staaten Handelsbar- auch präferierte me an der Infrastruktur des Hafens rieren zu reduzieren und einen neuen Handelspartner sein“ wäre für mich hingegen ausgeschlos- Anlauf für ein Freihandelsabkommen sen. Die Bedeutung des chinesischen zu nehmen. Wertepartner sollten Binnenmarkts für Deutschland ist be- auch präferierte Handelspartner sein. sorgniserregend groß. Das muss sich Millionen Menschen benutzen ändern. Jede Übernahme durch ein chi- Handys von Huawei. Tiktok, das nesisches Unternehmen gerät Jugendliche lieben, gehört den Unser System beruht seit Jahr- nun in Verruf. Wie weit können Chinesen. Doktern wir nur an der zehnten darauf, dass wir unsere wir das treiben? Deutschland in- absoluten Oberfläche herum? Werkbänke ins Ausland verla- vestiert in China weit mehr als Wir können den Menschen nicht ver- gert haben und billig produzieren die Chinesen bei uns. bieten, Huawei-Handys oder Tiktok konnten. Nun geht das nicht Wir sollten die Kirche im Dorf lassen. zu benutzen. Solange hier keine si- mehr so einfach. Was kommt Bei Unternehmen, die eine entschei- cherheitsrelevanten Fragen berührt danach? dende, einflussreiche Rolle für unsere sind, habe ich keine Einwände. Aber Ich bin und bleibe ein Anhänger der kritische Infrastruktur haben, muss die technische Infrastruktur des Mo- Idee einer weltweiten Arbeitsteilung. die Politik die Entscheidung treffen. bilfunks an China zu verkaufen, das Also der Globalisierung. Eine Gesell- Das gilt auch für sicherheitsrelevante wäre eine völlig andere Sache. Hier schaft wie die deutsche, die über viel Firmen. Generell muss es aber wech- waren wir ja vor einigen Jahren schon Wohlstand verfügen will und viel so- 16
INTERVIEW ziale Absicherung garantieren möch- Das gibt es de facto bereits. Und es ist zu machen, nur einen Beitrag gegen te, kann das nur über eine sehr hohe nicht schön. Die gestiegenen Preise die Klimaerwärmung sehen. Aber es Wertschöpfung pro Kopf erreichen. für Energieimporte nach Deutsch- ist viel mehr. Es ist ein Beitrag, über- Das bedeutet, dass die Mehrheit der land haben aus meiner Sicht diese haupt unsere wirtschaftliche Stärke in Menschen hochqualifizierte und Funktion der Produktivitätspeitsche. die nächsten Jahrzehnte hinüberzu- hochdotierte Tätigkeiten ausüben Wir wissen, wir werden unsere Pro- retten. muss. Daraus folgt, dass Tätigkeiten, duktion dekarbonisieren müssen und die in der Wertschöpfungskette einen weiterhin mehr für fossile Energieträ- Werden wir 2030 sagen, dass uns geringeren Beitrag leisten, weltweit ger zahlen, die wir importieren. Bei- diese aktuelle Energiekrise mehr diversifiziert werden müssen. Und des zusammengenommen wird einen geholfen als geschadet hat? daran hat sich nichts geändert. Wir gigantischen Investitionsschub auslö- Es liegt in unserer Hand, ob wir die- werden etwa in Deutschland keine sen. Kurzfristig ist das alles sehr sen Schluss ziehen können. Aber ich Textilproduktion im großen Maßstab mehr aufbauen. Es ist aber möglich, dass wir uns aus politischen Gründen entscheiden, nicht mehr in denselben „Eine Gesellschaft wie die deutsche, die über viel Regionen wie das heute der Fall ist, produzieren zu lassen. Unsere Werk- Wohlstand verfügen will und viel soziale Absicherung bänke werden aber auch in Zukunft garantieren möchte, kann das nur über eine sehr hohe weiterhin im Ausland stehen. Wertschöpfung pro Kopf erreichen“ Als die Engländer im 19. Jahrhun- dert die Dampfmaschine an ihre Webstühle anschlossen, wurde verfügt, dass die handbetriebe- schmerzlich. Aber mit unserem bin optimistisch. Wir realisieren bin- nen Webstühle einfach mal zer- Know-how können wir daraus einen nen eines Jahres nun Flüssiggas-Ter- stört werden müssen. Wünsch- Vorteil für den Standort entwickeln. minals. Das ist Lichtgeschwindigkeit, ten Sie sich das manchmal auch? Ich sehe derzeit noch, dass viele im vergleicht man es mit dem Bau gewis- Den Fortschritt erzwingen? Bemühen, Produktion CO2-neutral ser Flughäfen. Aus dieser Ausnahme 17
INTERVIEW muss nun die Regel werden. Im öf- Und wie passt dazu, dass der doch viele Kritik an dieser Politik. fentlichen und privaten Sektor. Staat einen 200-Milliarden-Ab- Für mich war Nord Stream 2 nie ein wehrschirm erschafft? Heißt das rein privatwirtschaftliches Unterfan- Wir bewegen uns von einer Krise nicht: Im Zweifel ist immer ge- gen. Aber ich gebe zu: Das Tempo in die nächste. Ist nicht die Angst nug Geld da? und die Schärfe, mit denen die Pro vor einer größer werdenden Be- Das ist etwas anderes. Wir brauchen bleme nun auftraten und der Pers- wegung Radikaler inzwischen bei den Abwehrschirm, weil Gas zu einer pektivwechsel erzwungen wurde, jedem Politiker im Hinterkopf Waffe wurde. Damit soll unser wirt- fühlen sich durchaus schmerzlich an präsent, wenn neue Maßnahmen schaftliches Fundament beschädigt und stimmen mich und viele Kolle- entwickelt werden? werden. Diese Gesellschaft soll fürch- gen nachdenklich. Wir müssen unser Land in der Mitte ten, die wirtschaftliche Basis zu ver- halten. Das bedeutet, dass die Radi- lieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Es gab stets zwei zentrale libera- kalen keinen Einfluss auf den Kurs Deshalb setzen wir unsere fiskali- le Versprechen: an das Individu- bekommen dürfen. Da denke ich schen Möglichkeiten ein. Wenn die- um, dass gesellschaftlicher Auf- stieg durch Leistung möglich ist, und an die Gesellschaft, dass es der Nachfolger-Generation bes- ser gehen wird als der Vorgän- „Auch Klimaschutz geht nur innerhalb ger-Generation. Gerade Zweite- des Rechtsstaates, sonst verliert er res ist nun nicht mehr garantiert. Ist das ein Problem für Ihre die Akzeptanz der Mitte“ Partei? Beides ist nicht mehr garantiert und beides ist ein Problem für die Gesell- schaft. Für meine Partei auch, aber auch bewusst an jene, die sich auf ses Land weiter eine starke wirt- darum geht es nicht. Das Aufstiegs- den Straßen festkleben. Durch die schaftliche Basis hat, wenn wir nach versprechen ist brüchig geworden. Wahl dieses falschen Mittels erwei- der Krise wieder Wachstum haben Deshalb müssen wir es erneuern. sen sie dem Klimaschutz einen und die Schuldenbremse wieder be- Durch mehr Investitionen in Bil- Bärendienst. Ein edles Motiv wird achten, werden wir noch in diesem dung. Wir werden die Begabtenför- durch das falsche Mittel erheblich Jahrzehnt nahe an oder auf die derungswerke für die berufliche Bil- beeinträchtigt. Auch Klimaschutz Maastricht-Grenze von 60 Prozent dung öffnen. Wir müssen mehr geht nur innerhalb der Grenzen des Staatsverschuldung zurückkehren. Ressourcen an die Schulen geben. Rechtsstaates, sonst verliert er die Das heißt: Wir bürden diese Schul- Wir müssen mehr Anreize geben zur Akzeptanz der Mitte. den auch nicht der Enkel-Generation Aufnahme von Erwerbstätigkeit, auf, sondern werden noch selbst an wenn Menschen Grundsicherung be- Wird Deutschland zum Wohl- die Rückzahlung gehen. Doch dafür kommen. Ich komme noch mal auf fahrtsstaat nach skandinavi- brauchen wir etwas, das zu benennen schem Vorbild? manchen schon sauer aufstößt: Wir sind kein Volksheim. Die Prinzi- Wachstum. pien von Selbstverantwortung und „Das Aufstiegs Eigenvorsorge sind bei uns weiterhin Das Beispiel Angela Merkels zentral. Das muss man auch stärken. zeigt, dass eine Politik, die jahre- versprechen ist Unsere Sozialversicherung wird über- lang als richtig angesehen wer- wiegend finanziert aus Beiträgen von den kann – billige Energie zu kau- brüchig geworden. Beschäftigten und Arbeitgebern. Das fen –, sich von einem Moment auf Deshalb müssen wir ist eine Bremse für die Politik, Leis- den anderen als völlig falsch er- tungen zu beschließen, ohne über weisen kann. Ist das eine Urer- es erneuern“ ihre nachhaltige Finanzierung nach- fahrung, die Politiker wie Sie ge- zudenken. Ginge das alles in einem rade machen? Steuertopf auf, wäre das eine Einla- Diese Energiepolitik war schon zu dung an wohlmeinende Politiker, Zeiten von Angela Merkel umstrit- das Thema Wachstum zurück. Indi- langfristige Nachhaltigkeit hintanzu- ten. Die USA, die europäischen Part- vidueller Aufstieg geht nur in einer stellen. ner und auch hierzulande übten prosperierenden Gesellschaft. Es gibt 18
heute zu viel Wachstumsskepsis, ja woher muss das Geld ja gekom- Wachstumsfeindlichkeit links der men sein. Mitte, bisweilen sogar in konservati- Die Länder stehen insgesamt finanzi- ven Milieus, die es gut haben. Diese ell besser da als der Bund. Dabei blei- Skepsis passt aber nicht mehr in die be ich. Der Bund muss die ganzen Zeit. In einer Gesellschaft, die keinen Krisenfolgen abfedern. Unsere Fi- Wohlstandszugewinn mehr erreicht, nanzsituation ist herausfordernder stagniert auch jeder Einzelne. Wie als die in München, Wiesbaden oder soll man denn seine Lebenssituation Berlin. sonst verbessern? Das ginge dann nur im harten Ellbogenwettbewerb. Zum Schluss: Sie sind nun ein Um selbst etwas zu gewinnen, muss Jahr Minister. Worauf sind Sie ein anderer etwas verlieren. Eine Ge- nicht stolz? sellschaft, die nicht mehr auf Wachs- Natürlich bin ich nicht stolz auf die tum setzt, ist eine zutiefst ungerechte Schulden. Aber es sind Schulden, die und brutale Gesellschaft. Und nicht, notwendig geworden sind, weil wir wie sich die Linken das ausmalen, mit einem Energiekrieg konfrontiert das Gegenteil. worden sind. Ansonsten möchte ich mir nach einem Jahr noch keine No- Leistung muss sich wieder loh- ten geben. Das sollen die Bürger tun. Christian Lindner ist Bundesfinanzminister nen. Wie funktioniert das bei und Vorsitzender der FDP. zehn Prozent Inflation? Gar nicht. Daran dürfen wir uns nicht gewöhnen. Das ist eine Aufgabe einer unabhängigen Notenbank. Und der Politik. Wir müssen das Angebot ausweiten. Dass das funktioniert, se- hen wir doch gerade im Energiebe- reich. Dass die Preise wieder sinken, geht nur, weil das Angebot zugenom- men hat. Bayerns Staatsregierung hat wieder einmal einen Anlauf für eine Klage gegen den Länderfinanzausgleich an- gekündigt. Nervt Sie die erneute Wiederauflage der Geschichte „Wir gegen Berlin“? Nein. Aber die letzte Reform des Länderfinanzausgleichs liegt noch nicht lange zurück. Dennoch ist es jedermanns gu- tes Recht, zu klagen. Ist denn der bayerische Vor- wurf aus Ihrer Sicht nicht ir- gendwie gerechtfertigt? Berlin hat etwa schon seit Oktober ein 29-Euro-Ticket. Und im Zuge der bevorstehenden Wahlwiederho- lung wird gerade das finanzielle Füllhorn ausgegossen. Irgend
XXX Fotos: BMW Group, Sigi Kerscher Kraftakt für Bayerns Zukunft Bayern hat sich nach dem Krieg durch mutige Politik, kluge Projekte und durch- dachte Reformen VON EINEM RÜCKSTÄNDIGEN AGRARSTAAT ZU EINEM WIRTSCHAFTLICHEN SUPER-STANDORT hochgearbeitet. Angesichts der aktuellen Entwicklungen droht die Zukunft wieder deutlich düsterer zu werden 20
GESCHICHTE Unter anderem das BMW-Werk in Dingolfing sorgt bis heute dafür, dass nicht nur Ballungszentren, sondern auch ländliche Räume wie in Nie- derbayern von der prosperierenden Wirtschaft des Freistaats profitie- ren. Grundsteinlegung war 1970. Ein Essay von Alexander Kain größte Mühe, alle zu ernähren. kraft innerhalb der EU lediglich hin- „Angesichts des Trümmerfeldes …“ – Das Zukunftsversprechen der damali- ter dem übrigen Deutschland, Frank- mit diesen Worten beginnt die Prä- gen Zeit? Überleben, den Tag, die reich, Italien, Spanien und den ambel der Bayerischen Verfassung, Woche, den Monat … Niederlanden einreihen. Allesamt die im Dezember 1946 in Kraft trat. deutlich einwohnerstärker als das „Trümmerfeld“ – das war nun wirk- So steht Bayern heute da weiß-blaue Bayern. lich keine Übertreibung: Bayerns Inf- Heute ist Bayern top, eine Oase des Von den DAX-40-Unternehmen ha- rastruktur war nach dem Großen Wachstums und des Wohlstandes. ben zehn ihren Sitz in Bayern (rech- Krieg in weiten Teilen zerstört, Bahn- Der Prognos-Zukunftsatlas beschei- net man Siemens mit dem Doppelsitz höfe, Schienenverbindungen, Brü- nigte dem Freistaat kürzlich eine in München-Berlin hinzu, sind es so- cken, Industrieanlagen lagen in Spitzenstellung: Die Hälfte der gar elf). Das schafft kein anderes Schutt und Asche. Auch die Groß- Top-10-Standorte des Prognos-Ran- Bundesland. städte hat es übel erwischt, München kings sind bayerisch. Unter den 100 Genau wie bei der Arbeitslosigkeit – war zu einem Drittel beschädigt oder stärksten sind 44 Standorte bayerisch, mit einem Wert von etwa drei Pro- zerstört, Nürnberg zur Hälfte, Würz- während es unter den 100 schwächs- zent war der Freistaat zuletzt sozusa- burg sogar zu drei Vierteln. ten nur fünf sind. gen ein Eldorado der Arbeitnehmer. Die Rohstoffversorgung in Bayern zu 662 Milliarden Euro wurden in Bay- jener Zeit: prekär. Die wirtschaftliche ern im vergangenen Jahr erwirtschaf- Der Weg an die Spitze Produktion lag flächendeckend am tet, im ersten Halbjahr 2022 war ein Der Erfolg ist Bayern nicht von allei- Boden. Zudem strömten etwa zwei Wachstum von 2,9 Prozent zu ver- ne zugefallen. Freilich, es gab ein paar Millionen Kriegsflüchtlinge ins Land. zeichnen. Wäre Bayern eigenständig, kluge Festlegungen, gleich nach dem Obwohl Agrarstaat, hatte Bayern die müsste es sich mit seiner Wirtschafts- Krieg: Weil gar so viele Flüchtlinge 21
GESCHICHTE nach Bayern kamen, die versorgt Empfänger zum Zahler, ja gar zum Um die bis dahin gemachten wirt- werden mussten, konnte man die Großfinanzier beim Länderfinanz- schaftspolitischen Erfolge auf breiter US-Militärregierung überzeugen, die ausgleich wurde, das hat auch mit Ebene zu konsolidieren, machte sich Beute- und Demontageaktionen ein klugen Weichenstellungen zu tun, die Anton Jaumann, Nachfolger Schedls paar Nummern kleiner ausfallen zu in Bayern getroffen wurden. und Wirtschaftsminister bis 1988, da- lassen als ursprünglich geplant. Im Es war eine Aufholjagd ohnegleichen, ran, den Mittelstand zu stärken. Seine Gegenteil gab es sogar eine Reihe von die mit vielen Namen verbunden ist, Grundmotive „ waren nicht in erster Neuansiedelungen – Unternehmen, bei der drei aber herausstechen: die Linie ökonomischen Ursprungs, etwa die dem russischen Zugriff entzogen bayerischen Wirtschaftsminister Otto begründet im Streben nach einer werden sollten. Zudem war man sich Schedl, Anton Jaumann und Otto höchstmöglichen volkswirtschaftli- in Bayern einig, dass Bayerns Zukunft Wiesheu. chen Effizienz. Jaumanns vorrangiges möglichst dezentral neu aufgebaut Als die wirtschaftliche Lage im Frei- Motiv war es, die ökonomischen und werden solle – neuer Wohnraum, staat Ende der 1950er, Anfang der damit die kulturellen Lebensbedin- neue Arbeitsplätze, neue Industrien 1960er Jahre so weit stabilisiert war, gungen der Menschen durch die sollten nicht alleine in den Ballungs- dass das Wachstum in Bayern zumin- Erreichung gleichwertiger, nicht räumen entstehen, sondern quer dest nicht mehr hinter dem Bundes- gleichartiger, Lebensverhältnisse ins- durchs Land. durchschnitt zurückblieb und die In- besondere auch im ländlichen Raum Und freilich taten die Hilfen des dustriedichte sogar stärker stieg als zu verbessern“, wie es in einer Ab- Bundes, von der Zonenrandförde- im Bundesdurchschnitt, da galt es vor handlung des Bayerischen Haupt- rung bis zum Länderfinanzausgleich, allem eine Aufgabe zu lösen: Bayern stadtarchivs über ihn heißt. bei dem Bayern einst noch Empfän- brauchte preiswerte Energie, denn Jaumann, zudem auch Verkehrsmi- ger war, das Ihrige. Doch dass Bay- Kohle musste nach Bayern transpor- nister, war es zudem ein Anliegen, ern, um im Bild zu bleiben, vom tiert werden – und war hier folglich neben (dem gelösten) Standortnach- teurer als andernorts. teil bei der Energie auch den Nachteil Es war die Stunde von Otto Schedl, beim Verkehr zu lösen – denn Bay- Foto: Rudolf Zablowsky/Archiv Donaukurier Wirtschaftsminister von 1957 bis erns Marktferne bedeutete höhere 1970: Er trieb die Pläne für eine Pipe- Transportkosten. Seine Forderung: line vom Mittelmeer nach Bayern vo- Der Ausbau der Verkehrsinfrastruk- ran, denn für die Zukunft wollte man tur sollte nicht nur die Bedarfe de- auf Erdöl statt auf Kohle setzen. Die cken, sondern auch Regionen neu er- von 1963 bis 1966 fertiggestellte und schließen und so Chancen schaffen. in Betrieb genommene Pipeline Der Bau sämtlicher Kernkraftwerke reichte vom italienischen Genua bis in Bayern, der Aufwuchs von BMW ins oberbayerische Ingolstadt, wo in in Werken im ländlichen Raum wie der Folge zahlreiche Raffinerien ent- in Dingolfing, aber auch Planung und standen. Daneben wurde Bayern Baustart für den neuen Münchner 1964 ans deutsche Ferngasnetz ange- Flughafen fielen in die Amtszeit schlossen und trieb 1970 auch den Jaumanns. Kauf von russischem Gas mit voran. Was nun den Mittelstand angeht, so Und auch die Kernkraft wurde in sah Jaumann in ihm ein „Kernele- Bayern staatlich gefördert, so wurde ment für eine vielfältige, flexible, an- für günstigen Strom am Standort ge- passungsfähige, innovationsfreudige sorgt. In der Folge der Politik jener und relativ krisenresistente Wirt- Zeit lag Bayerns Wirtschaftswachs- schaftsstruktur“, heißt es in der Ab- tum mit großer Verlässlichkeit fast handlung weiter. Sein Gesetz zur Mit- immer über dem deutschen – aber telstandsförderung von 1974 sei als für eine Spitzenstellung Bayerns vorbildlich erachtet worden und habe reichte das noch nicht, es galt noch eine Vorreiterrolle für eine entspre- zu viel aufzuholen. chende Politik auch in der Bundesre- publik bekommen. Als Jaumann 1988 aus dem Amt aus- Auch der Ausbau der Pipeline vom Mittelmeer nach Bayern schied, schrieb ihm Ministerpräsident trug zum Fortschritt im Freistaat bei. Sie wurde von 1963 Franz Josef Strauß (trotz aller politi- bis 1966 fertiggestellt. In Ingolstadt entstanden Raffinerien. schen Spannungen, die das Verhältnis 22
GESCHICHTE der beiden prägte): „Sie haben in hohem Maße Was wird die Zukunft bringen? dazu beigetragen, dass der Freistaat Bayern heute Die aktuelle Situation ist für Bayern gleichwohl unter den Ländern einen Spitzenplatz einnimmt herausfordernd. Neben der allerorten mit großem und ein hochmoderner Industriestandort ist, des- Bangen erwarteten Insolvenzwelle setzen die po- Otto Schedl sen Fundament eine gesunde mittelständische litisch gewollte Energiewende und die von Russ- Wirtschaft bildet.“ Mit dem Abschied Jaumanns land ausgelöste aktuelle Energiekrise Bayern als wechselte Bayern im Länderfinanzausgleich sei- erfolgreichem Industriestandort besonders zu. nen Status – vom Nehmer- zum Geberland. Die mühsam erarbeiteten Vorteile früherer Jahr- Mit Otto Wiesheu, Wirtschaftsminister von 1993 zehnte, gerade bei der Versorgung mit preiswer- bis 2005, nahm Bayern endgültig seine Stellung ter Energie, drohen verloren zu gehen – denn von als Hochtechnologieland ein. Aus Privatisie- einer Abschaltung der Kernkraftwerke und dem rungserlösen – verkauft wurden Staatsunterneh- ausbleibenden Gas aus Russland ist Bayern be- Fotos: Bayer. Staatsministerium für Wirtschaft men oder staatliche Anteile unter anderem an sonders betroffen. Ob es zu einem zeitlich be- Bayernwerk, VIAG, Eon, der Deutschen Aero grenzten Stillstand kommt oder gar zur Abwan- Anton Jaumann space sowie an der Bayerischen Versicherungs- derung ganzer Branchen, lässt sich derzeit kaum kammer – startete unter Wiesheu die milliarden- vorhersehen. Fakt ist: Was über Jahrzehnte müh- schwere „Offensive Zukunft Bayern“, um Bayern sam erarbeitet wurde, könnte in kürzester Zeit in durch Investitionen in Forschung und Wirtschaft Scherben liegen. Kluges politisches Handeln, das zum Hochtechnologie-Standort auszubauen. richtige Stellen der Weichen, ist gerade so bedeu- Dass B ayern zwischenzeitlich in der Informa- tend wie selten zuvor in der bayerischen Nach- tions- und Kommunikationstechnologie, in der kriegsgeschichte. Andererseits: In der Vergangen- Energie-, Umwelt- und Medizintechnik sowie in heit hat Bayern bewiesen, wie man sich mit der Bio- und Gentechnologie europaweit mit an Klugheit nach ganz vorne arbeiten kann. Warum der Spitze stand oder steht, ist gerade auch der sollte Bayern so ein Kraftakt nicht ein zweites Mal Otto Wiesheu Ägide Wiesheu zu verdanken. gelingen? Anzeige Umweltbewusst. Verantwortungsvoll. Nachhaltig. Bei der PASSAVIA werden Druckaufträge umweltbewusst abgewickelt und dadurch ein aktiver Beitrag zum Umweltschutz geleistet. Die Einhaltung der FSC® und PEFC™-Standards wird durch jährliche Audits überprüft und gewährleistet. Des Weiteren bieten wir unseren Kunden neben der Verwendung nachhaltiger Papiere und Bio-Farben die Möglichkeit, Projekte durch eine CO2-Kompensation klimaneutral zu produzieren. Mehr über diese und weitere Maßnahmen: www.passavia.de/nachhaltigkeit.html Jetzt bewerben – job@passavia.de
Fotos: Colette Höchst INKLUSION Ein Gewinn für beide Seiten 24
BILDUNG Wenn Ly van Bui Datenbanken programmiert, ist vor allem sein Gedächtnis gefragt. Denn der 60-jährige Informatiker hat während des Viet- namkriegs nicht nur beide Arme, sondern auch sein Augenlicht verloren. Während Softwareent- wickler normalerweise ihren Code auf dem Bild- schirm vor sich sehen, muss sich van Bui an sämtliche Befehle erinnern, die er zuvor in den Computer eingegeben hat. „Ich habe alles im Kopf und versuche so, die Übersicht zu behalten“, erklärt er. „Das ist nicht einfach – aber es klappt.“ Etwas Unterstützung leistet ihm dabei die ma- schinelle Sprachausgabe: Sie wiederholt jedes Zei- chen, das er mithilfe seiner Spezialtastatur einge- tippt hat. Sie liest ihm über ein Headset auch Fehlermeldungen vor, die während der Software- Entwicklung unvermeidlich sind. Ly van Buis Beispiel zeigt: Schwerstbehinderte können in den Arbeitsmarkt integriert werden, wenn man ihnen einen auf sie zugeschnittenen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Und wenn sich Arbeitgeber finden, die ihnen eine Chance geben. Ly van Bui hatte Glück: Nach seinem Informatik- Studium war er lange arbeitslos, weil kein Unter- nehmen ihn mit seiner Behinderung einstellen wollte. 1999 kam dann das Angebot aus Würzburg: Die „win – wir integrieren gGmbH“ suchte für ihr damaliges Geschäftsfeld Software-Entwicklung ei- nen Mitarbeiter. Ly van Bui nutzte die Chance. „Ly van Bui (l.) ist ein hoch motivierter Mitarbeiter und Mutmacher.“ win- Geschäftsführer Oliver Sitko (r.) will „Wir integrieren“ Unternehmen ermutigen, ebenfalls mehr Dass Menschen wie er bei win eine Chance be- Menschen mit Handicap einzustellen. kommen, ist Teil der Unternehmensphilosophie. Der Firmenname ist die Abkürzung von „Wir in- tegrieren“, und als integrativer Dienstleistungsan- bieter lässt das Unternehmen Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt Seite an Seite arbeiten. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wi- der: „Wir haben derzeit 485 Mitarbeiterinnen Viele Unternehmen zögern, und Mitarbeiter, von denen fast die Hälfte eine Behinderung hat“, berichtet win-Geschäftsführer MENSCHEN MIT BEHINDERUNG Oliver Sitko. „Wir sehen darin kein Problem, son- einzustellen. Aber dafür gibt es keinen dern einen Gewinn: Beide Gruppen ergänzen sich bestens.“ Grund: Behindertengerechte Arbeitsplätze Das Würzburger Inklusionsunternehmen ist er- werden gefördert, zudem gewinnen die folgreich in verschiedenen Geschäftsfeldern bay- ernweit tätig und in den letzten Jahren stetig ge- Betriebe hoch motivierte Mitarbeiterinnen wachsen. Vor allem bei Gebäudereinigung sowie und Mitarbeiter. So auch bei der „win – wir Hausmeisterdiensten und Grünanlagenpflege sind die win-Services gefragt. „Daneben führen integrieren gGmbH“, einem U nternehmen wir für unsere Kunden aber auch Arbeiten rund der bbw-Gruppe um die Immobilie aus. Die Bandbreite reicht da- bei von Malertätigkeiten bis hin zu Entrümpelun- gen oder Haushaltsauflösungen“, sagt Sitko. ▶ 25
BILDUNG Kein Arbeitsplatz wie jeder andere: Der 60-jährige Informatiker verlässt sich bei seiner Arbeit auf sein Gehör und sein Gedächtnis. Alles begann vor 26 Jahren, als die dass wir nicht die Gewinnmaximie- dauerhaft vermindert ist“, berichtet win mit acht Mitarbeitern und dem rung, sondern den Menschen mit sei- Sitko. Ziel gegründet wurde, Arbeitsplätze nen individuellen Fähigkeiten in den für Menschen mit Behinderung zu Mittelpunkt stellen. Dass dies keinen Menschen mit Fähigkeiten schaffen. Heute ist sie mit ihren Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit werben für Mut zur Einstellung Teams in ganz Bayern aktiv. Neben darstellt, beweist die win bereits seit Auch Ly van Bui wirbt um mehr Mut Unternehmen aus der privaten Wirt- vielen Jahren.“ aufseiten potenzieller Arbeitgeber: schaft gehören auch zahlreiche Be- Andere Unternehmen will er ermuti- „Viele Menschen mit Behinderung hörden zum Kundenstamm, darunter gen, ebenfalls mehr Menschen mit sind fit und wollen unbedingt arbei- die Bundesagentur für Arbeit, die Handicap einzustellen. „Menschen ten, Befürchtungen oder Vorurteile Bayerische Polizei sowie viele Finanz- mit Behinderung sind hoch motivier- sind fehl am Platz. Ich selbst hatte behörden. te Mitarbeiter und gute Botschafter großes Glück, diesen Arbeitsplatz zu nach außen“, sagt Sitko. „Außerdem finden – und ein Unternehmen, bei Hoch motiviert und mit großem verändern sie einen Betrieb positiv: dem mir das ganze Team bei meinen Einfühlungsvermögen Ein Kollege wie Ly van Bui ist bei- Tätigkeiten, aber auch menschlich Bei den Anforderungen an die Ar- spielsweise ein toller Mutmacher: immer zur Seite steht.“ Er ist stolz, beitsergebnisse bekommen die ge- Wenn ich sehe, wie er seinen Alltag seinen Lebensunterhalt selbst bestrei- mischten Teams aus Menschen mit trotz aller Herausforderungen so gut ten zu können. Ly van Bui betont und ohne Behinderung von ihren und mit Optimismus bewältigt, er- aber auch, wie wichtig die soziale Kunden keinen Rabatt. Aber das ist scheinen viele alltägliche Probleme in Komponente der Integration von auch gar nicht nötig: „Unsere Mitar- einem ganz anderen Licht.“ Menschen mit Behinderung in den beiterinnen und Mitarbeiter sind sehr Am Geld muss der Einsatz von Men- Arbeitsmarkt ist: „Ohne Job würde motiviert und sie haben oft ein be- schen mit Behinderung nicht schei- ich den ganzen Tag zu Hause sitzen sonders großes Einfühlungsvermögen tern: Dank Zuschüssen aus den Mit- und niemanden treffen. Das würde für unsere Kunden“, erklärt Sitko. teln der Ausgleichsabgabe lassen sich auf die Seele gehen.“ Aber auch als Arbeitgeber hat die win behindertengerechte Arbeitsplätze einen guten Ruf. Über Social-Media- ohne große zusätzliche Investitionen Kanäle oder die Arbeitsagenturen schaffen. „Die Förderung kann von Die win gGmbH ist ein Unternehmen kommt man mit Bewerbern in Kon- jedem Unternehmen beantragt wer- des Bildungswerks der Bayerischen takt. „Unter ihnen sind auch viele den, wenn das Arbeitstempo oder Wirtschaft (bbw). bbw.de Menschen ohne Behinderung“, be- die individuelle Leistung eines Mit- Zur Webseite der win gGmbH geht es richtet Sitko. „Sie schätzen an uns, arbeiters infolge der Behinderung unter win-wue.de 26
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