Luft nach oben Zugänge erleichtern durch Prävention, Frühintervention und zielgruppengerechte Hilfen? - Niedersachsen
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Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Dokumentation der 28. Niedersächsischen Suchtkonferenz 11| 2018 Luft nach oben Zugänge erleichtern durch Prävention, Frühintervention und zielgruppengerechte Hilfen? Berichte zur Suchtkrankenhilfe
28. Niedersächsische Suchtkonferenz Berichte zur Suchtkrankenhilfe 11.2018 Luft nach oben Zugänge erleichtern durch Prävention, Frühintervention und zielgruppengerechte Hilfen? Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Impressum Herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Hannah-Arendt-Platz 2 30159 Hannover in Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. Fenskeweg 2 30165 Hannover Redaktion: Thomas Altgeld Sabine Erven Theresa Vanheiden Layoutkonzept und Gestaltung: Homann Güner Blum, Visuelle Kommunikation, Hannover Erschienen im April 2019 Druck: Unidruck, Hannover Bildnachweis: Titel ©djama - Fotolia.com
I n ha lt 5 VORwort Dr. Carola Reimann Luft nach oben – Zugänge erleichtern durch Prävention, 7 Niedersächsische Ministerin Frühintervention und zielgruppengerechte Hilfen für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Vorträge Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge: 10 Aktuelle Entwicklungen und Anforderungen an die Praxis PD Dr. Florian Rehbein Anregungen zur Weiterentwicklung der niedersächsischen 19 Suchtprävention auf der Basis der Daten des Forschungs- projektes „Prävention und Hilfe bei stoffgebundenen und stoffungebundenen Suchterkrankungen in Niedersachsen“ der sog. Delphi-Studie Dr. Tobias Hayer Glücksspielsucht: Alte und neue Herausforderungen 28 für Prävention, Frühintervention und Hilfeangebote Dr. Gallus Bischof Frühintervention in der medizinischen Versorgung 34 Anhang Verzeichnis der Referent*innen 41 Themen bisheriger Suchtdokumentationen 42 Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel Hilfe für Helfer*innen – brauchen wir andere Hilfen und Zugangswege? Dieser Vortrag erscheint nicht in der Dokumentation. 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
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Vor w o rt 7 Dr. Carola Reimann Niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Luft nach oben Zugänge erleichtern durch Prävention, Frühintervention und zielgruppengerechte Hilfen? Sehr geehrte Damen und Herren, intervention und zielgruppengerech- ist nicht nur gut für die Erkrankten, liebe Kolleg*innen, te Hilfen?“ begrüßen zu dürfen. Ein sondern auch für deren soziales und wichtiges Ziel dieser seit 28 Jahren berufliches Umfeld, für den zielge- Sucht und Abhängigkeitserkrankun- stattfindenden Konferenz ist auch, nauen Einsatz begrenzter Behand- gen sind häufige Erkrankungen, die zur Entstigmatisierung von Suchter- lungsressourcen. Nicht zuletzt leiden großes persönliches Leid verursachen. krankungen beizutragen. Nur wenn mit jeder*jedem Suchtkranken die Sucht ist kein Randphänomen unserer eine Erkrankung nicht mit Schuldvor- Kinder, die Familie, die Angehörigen Gesellschaft, sondern kommt in allen würfen und Scham besetzt ist, kann und Freund*innen. Gesellschaftsschichten und bei allen es besser gelingen, gefährdete und sozialen Gruppierungen vor. Sucht ist erkrankte Menschen frühzeitig zu Suchtgefährdete und suchtkranke nach wie vor die am meisten stigma- erreichen und bedarfsgerecht zu be- Menschen werden vom Behandlungs- tisierte Krankheit unserer Gesellschaft. handeln. Das Thema der heutigen system erreicht. Sie sind entweder Die Wahrnehmung von Suchterkran- Konferenz ist „Luft nach oben“. Die wegen somatischer oder psychischer kungen ist geprägt durch Schuldvor- Suchthilfe und Suchtprävention Erkrankungen in ärztlicher Betreuung würfe, die Erkrankung wird weniger haben in vielerlei Hinsicht „Luft nach oder aufgrund sozialer Probleme in akzeptiert als andere psychische Er- oben“. Die suchtspezifische Behand- Beratung. Aber: Suchtkranke Men- krankungen und betroffene Sucht- lungsquote suchtkranker Menschen schen werden häufig erst sehr spät kranke werden stärker abgelehnt. liegt bundesweit bei circa 25 Prozent. und erst über Umwege nach durch- Dies hat leider auch Einfluss auf die Noch längst nicht alle Altersgruppen schnittlich 10,7 Jahren suchtspezifisch Angehörigen suchtkranker Menschen, werden ausreichend mit suchtspezifi- behandelt. Der*die Patient*in driftet auf Partner*innen, auf Kinder und schen Präventionsangeboten erreicht. durch unser Gesundheitssystem. Dies auch auf enge Freund*innen, die Daher wird die heutige Konferenz, bedeutet, dass zu viel Zeit, wertvolle aufgrund der Ablehnung häufig mit werden die heutigen Referenten aus Zeit vergeht. Zeit, die nicht zur spezifi- Geheimhaltung und sozialem Rück- völlig verschiedenen Blickwinkeln schen Behandlung genutzt wird, Zeit, zug reagieren. Stigmatisierung kann und mit ganz unterschiedlichen Zu- die zu chronifizierten Verläufen und die Vermeidungstendenz suchtkranker gängen den Blick auf Möglichkeiten Komorbiditäten führen kann, und Menschen, Hilfen und Behandlung und Chancen zur Verbesserung der Zeit, die das Stigma verfestigt und in Anspruch zu nehmen, deutlich Prävention, zur Verbesserung von die Krankheitslast erhöhen kann. Der verstärken. Zugängen zur suchtspezifischen Be- Krankheitsverlauf der Sucht ist häufig ratung und Behandlung eröffnen. Ich ein langwieriger Prozess, in dem Ich freue mich daher sehr, Sie heute bin der festen Überzeugung, dass es betroffene Menschen ihr Erleben Morgen zur 28. Suchtkonferenz des von zentraler Bedeutung ist, sucht- und Verhalten grundlegend ändern. Landes Niedersachsen mit dem kranke Menschen möglichst frühzei- Die Lebensgewohnheiten verändern Thema „Luft nach oben – Zugänge tig zu erreichen. Die frühzeitige adä- sich, die Lebensumstände verändern erleichtern durch Prävention, Früh- quate suchtspezifische Behandlung sich, häufig durch den Verlust von 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
8 V o r w o rt Dr. carola reimann Luft nach oben – Zugänge erleichtern … Partnerschaften, durch den Verlust intensiv befasst. Meiner Auffassung gen darstellen und Anforderungen an des Arbeitsplatzes – oftmals verän- nach führt die konsequente Ausrich- die Praxis formulieren wird. Dabei dert sich die gesamte Persönlichkeit. tung von Suchtprävention, Suchthilfe wird er insbesondere auf das Thema Obwohl es sich bei Sucht um eine und Suchtselbsthilfe an den Prämis- Frühintervention eingehen. Anschlie- seit 1968 anerkannte Krankheit sen des bio-psycho-sozialen Modells ßend wird Herr Dr. Pfeiffer-Gerschel handelt und effektive Behandlungs- dazu, dass Zugangswege offener vom IFT München/DBDD das Thema ansätze vorhanden sind, besteht ein werden. „Hilfe für die Helferinnen und Helfer – starkes Missverhältnis zwischen der brauchen wir andere Hilfen und Zu- Verbreitung von Abhängigkeitserkran- Das bio-psycho-soziale Modell setzt gangswege“ erörtern. kungen und der Inanspruchnahme Kooperation und Vernetzung auf von Entwöhnungsbehandlungen. Augenhöhe voraus, fordert Respekt 2. Suchtprävention Deshalb ist mir das Thema unserer und Anerkennung der Kompetenzen Das von 2015 bis 2017 in Niedersach- heutigen Landessuchtkonferenz unterschiedlicher Berufsgruppen sen durchgeführte Forschungsprojekt wichtig. Der Blick auf die Zugangs- einschließlich der Selbsthilfe und „Prävention und Hilfe bei stoffge- wege, die Schnittstellen und die kann – konsequent angewendet – bundenen und stoffungebundenen Optimierungsmöglichkeiten ist drin- zum Abbau von Schnittstellen und Suchterkrankungen in Niedersachsen“ gend notwendig. Die Kapazitäten zur Stärkung von Vernetzung bei- (die sogenannte Delphi-Studie) weist vor Ort, vor allem im ländlichen tragen. Genau diese Form der inte- darauf hin, dass der Übergang von Raum, sind begrenzt. grativen Zusammenarbeit und Über- präventiven Angeboten zur Sucht- nahme von Verantwortlichkeiten beratung und Suchthilfe noch ver- Mir als Sozialministerin kommt es brauchen wir in der Suchthilfe, in bessert werden kann. Potenziale sind sehr darauf an, Ressourcen gut und diesem komplexen System unter- im Rahmen der indizierten Suchtprä- effektiv zu nutzen, um in Nieder- schiedlicher Akteur*innen, Kosten- vention, der Angebote für vulnerable sachsen ein gutes, möglichst flächen- träger*innen und Ebenen. Zielgruppen sowie der Früherkennung deckendes Behandlungsangebot und Frühintervention erkennbar, aufrechterhalten zu können. Ich Lassen Sie mich abschließend auf die insbesondere in allgemein-medizi- bin mir sicher, dass noch „Luft nach Schwerpunkte der heutigen Landes- nischen Settings und im Rahmen oben“ ist und dass durch Kooperation suchtkonferenz eingehen: sozialer, psychosozialer und arbeits- und Vernetzung Prävention und Früh- bezogener Beratungskontexte. intervention gestärkt und Behand- 1. Zugangswege erweitern lungsquoten erhöht werden können. Wir verfügen in Niedersachsen über Nach der Mittagspause wird Herr Suchterkrankungen sind komplexe ein ausdifferenziertes Präventions-, Dr. Rehbein vom Kriminologischen Erkrankungen. Weder die Ursachen Beratungs- und Behandlungssystem Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. von Sucht noch deren Bewältigung für suchtgefährdete und suchtkranke mit der Vorstellung der im Rahmen lassen sich auf einzelne Faktoren Menschen. Dennoch gilt auch für des Forschungsprojektes „Prävention zurückführen. Niedersachsen, dass die suchtspezi- und Hilfe bei stoffgebundenen und fische Behandlungsquote mit durch- stoffungebundenen Suchterkrankun- Gerade in diesem Jahr haben sich die schnittlich 25 Prozent sehr niedrig gen in Niedersachsen“ entwickelten großen Fachverbände der Suchthilfe, erscheint. Zudem werden suchtkranke Handlungsempfehlungen Anregungen die Deutsche Hauptstelle für Sucht- Menschen erst nach durchschnittlich zur Weiterentwicklung der nieder- fragen (DHS) und der Fachverband 10,7 Jahren suchtspezifisch behandelt. sächsischen Suchtprävention geben. Drogen (fdr), mit dem der Sucht zu- Ich freue mich, dass Herr Dr. Weissin- grunde liegenden Behandlungsmodell ger vom Fachverband Sucht in seinem – dem bio-psycho-sozialen Modell – Eingangsvortrag aktuelle Entwicklun- 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
Vor w o rt 9 Dr. carola reimann Luft nach oben – Zugänge erleichtern … Mit der Rolle von Prävention und tung die Frage – „Luft nach oben – Ihre kontinuierliche Arbeit und Ihr Frühintervention werden sich am Zugänge erleichtern durch Prävention, Engagement vor Ort sind ein wich- Nachmittag zwei parallele Foren Frühintervention und zielgruppen- tiges und unverzichtbares Gegen- befassen. In Forum 1 wird sich Herr gerechte Hilfen?“ – mit wichtigen gewicht. Dr. Hayer von der Universität Bremen Inhalten gefüllt ist und dass wir das dem Thema Glückspielsucht widmen. niedersächsische Suchthilfesystem Auch dafür meinen herzlichen Dank! Hierbei wird Herr Dr. Hayer im Be- wieder ein kleines Stückchen besser Ich wünsche Ihnen einen guten sonderen auf alte und neue Heraus- machen werden. Konferenzverlauf und bedanke mich forderungen für Prävention, Früh- für Ihre Aufmerksamkeit. intervention und Hilfeangebote ein- Ich möchte heute aber auch die gehen. Öffentlichkeitsarbeit, konti- Gelegenheit nutzen, mich ganz Vielen Dank. nuierliche Medienpräsenz von Sucht- herzlich für Ihr zum Teil jahrelanges beratungsstellen, Informationstrans- Engagement, für Ihre langjährige Dr. Carola Reimann port über das Internet sowie die Arbeit mit suchtgefährdeten oder Niedersächsische Ministerin Bekanntmachung in entsprechenden suchtkranken Menschen, für Ihr für Soziales, Gesundheit und Arbeitskreisen und Gremien werden Engagement für Angehörige, ins- Gleichstellung Themen dieses Forums sein. besondere für die Kinder sucht- kranker Eltern, für Ihr Engagement in In Forum 2 wird Herr Dr. Bischof auf der Prävention, für Ihr Engagement in die Frühintervention in der medizini- der Suchtselbsthilfe bedanken. Lassen schen Versorgung eingehen. Die Sie nicht nach in Ihrem Engagement! Frage, wie sich die Kooperation von Mir als Sozialministerin des Landes niedergelassenen Ärzt*innen und Niedersachsen liegt Ihre Arbeit sehr Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe am Herzen. Wir brauchen Sie, wir nachhaltig stärken lässt, wird von brauchen Fachkräfte, die neue Im- Herrn Dr. Bischof thematisiert. Welche pulse im Arbeitsfeld setzen können, Rolle spielt der*die Hausärzt*in für die es als lohnend und sinnstiftend die Frühintervention bei substanz- begreifen, in der Suchtprävention/ bezogenen, aber auch substanzun- Suchthilfe tätig zu werden. abhängigen Störungen? Wie sieht es mit Screeningverfahren aus? Müssen Auch ich werde nicht nachlassen, Aus- und Fortbildungsangebote an- mich für diesen Arbeitsbereich stark gepasst werden? Sind Verordnungen zu machen und für gute Rahmen- beziehungsweise Verordnungser- bedingung einzusetzen. Denn auch mächtigungen zu erweitern? hier ist noch „Luft nach oben“. In der Suchthilfe haben wir es mit Ich freue mich sehr, dass unsere starken Lobbyverbänden zu tun. heutigen Referenten aus ganz unter- Wie Sie wissen, nimmt die Angebots- schiedlichen Blickwinkeln und mit seite einen großen Einfluss auf das fundiertem wissenschaftlichem und Nutzungsverhalten von Suchtmitteln praktischem Erfahrungswissen auf (stoffbezogen oder nicht stoffbezo- das Thema der 28. Landessuchtkon- gen) und ist der Suchthilfe häufig ferenz eingehen werden. Ich bin mir einen Schritt voraus. Davon sollten sicher, dass am Ende der Veranstal- Sie sich nicht entmutigen lassen. 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
10 V ORTR ÄG E Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Aktuelle Entwicklungen und Anforderungen an die Praxis Ausgangslage: psychischen Probleme, 68 Prozent bidität auf (Trautmann et al., 2016). Psychische Störungen hatten hingegen keinen Kontakt. Mit Zudem sind sie weit verbreitet: Ohne und Suchterkrankungen der Anzahl der Diagnosen steigt auch Berücksichtigung der Tabakabhängig- in Deutschland der Kontakt der Betroffenen zu spezi- keit leiden in der Altersgruppe der fischen Berater*innen und Behand- 18– 64-Jährigen schätzungsweise 4,61 Psychische Störungen und damit ler*innen, bei vier und mehr Diag- Millionen Menschen unter einer stoff- auch Suchterkrankungen sind weit nosen sind es 40 Prozent. Insgesamt gebundenen Abhängigkeit. (s. Abb.1) verbreitet in Deutschland und führen zeigt die Studie, dass das Ausmaß der Hinzu kommen abhängige Menschen zu vielfältigen Beeinträchtigungen Unter-, Fehl- und verzögerten Versor- von stoffungebundenen Suchtformen und Partizipationsstörungen. Die gung psychischer Störungen unter wie pathologischem Glücksspiel oder Studie zur Gesundheit Erwachsener allen Krankheitsgruppen einzigartig PC-/Internetgebrauch. in Deutschland (Jacobi et al., 2014) hoch ist und die Früherkennung und ergab, dass jedes Jahr circa 27,7 Pro- frühzeitige Behandlung somit ent- zent der Bevölkerung in der Alters- scheidend ist, um einer Chronifizie- Politischer Handlungsbedarf gruppe von 18–79 Jahren von min- rung entgegenzuwirken. Dies ist zur Förderung der Früher- destens einer psychischen Störung auch von gesellschaftlicher Relevanz, kennung und -intervention betroffen sind. Zudem zeigte sich, denn mit psychischen Störungen am Beispiel alkoholbezogener dass über 44 Prozent zwei und mehr sind erhebliche direkte und indirek- Störungen Diagnosen aufweisen, von Alkohol- te Folgekosten verbunden und diese störungen waren 4,8 Prozent betrof- sind meist gut behandelbar. Psychi- Im Verlauf einer Suchterkrankung fen (Alkoholmissbrauch 1,8 Prozent, sche Störungen erhöhen das Risiko treten meist erhebliche Belastungen Alkoholabhängigkeit 3,0 Prozent). von krankheitsbedingten Ausfalltagen und Einschränkungen der Teilhabe Nur ein geringer Anteil der Betroffe- um den Faktor 3–5, bei Suchterkran- sowie ein erhöhtes Risiko für körper- nen mit einer 12-Monats-Diagnose kungen liegt die mittlere Anzahl bei liche Erkrankungen und frühzeitige einer psychischen Störung berichtete 5,3 Tagen pro Monat im Vergleich zu Mortalität auf. Suchterkrankungen allerdings, im letzten Jahr aufgrund 2,0 Tagen, wenn keine psychische zählen zu den Erkrankungen mit psychischer Probleme in Kontakt mit Erkrankung vorliegt. der höchsten individuellen Krank- dem Gesundheitssystem gestanden heitslast. zu haben. Suchterkrankungen sind – wie auch die weiteren psychischen Störungen Im europäischen Aktionsplan zur Von jenen mit einer diagnostizierten – mit erheblichen individuellen und Verringerung des schädlichen Alko- psychischen Störung hatten lediglich gesellschaftlichen Folgekosten ver- holkonsums (2012–2020) verweist 11 Prozent im letzten Jahr Kontakt zu bunden. Sie verlaufen oft chronisch die Weltgesundheitsorganisation – einer*m Behandler*in aufgrund der und weisen zudem eine hohe Komor- Regionalbüro für Europa – darauf, 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
VORTR ÄG E 11 Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Substanz Anzahl Quelle Alkohol 1.770.000 Pabst, A. et al. (2013): Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. In: Sucht, 59(6), 321–331 Medikamente 2.300.000 Pabst, A. et al. (2013): Substanzkonsum und substanz-bezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012. In: Sucht, 59(6), 321–331 Illegale Drogen 319.000 Pabst, A. et al. (2013): Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen hier: Cannabis/Kokain/Amphetamin in Deutschland im Jahr 2012. In: Sucht, 59(6), 321–331 Pathologisches 111.000 bis Haß, W. und Lang, P. (2016): Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Glücksspiel 415.000 Deutschland. Ergebnisse des Surveys 2015 und Trends. Forschungsbericht der BZgA. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Abbildung 1: Suchtkranke in Deutschland: Schätzungen zu Abhängigkeitserkrankungen (18–64-Jährige) dass sich in der europäischen Region zu derartigen Programmen bereit- Zu den direkten Kosten zählen vor 40 Prozent aller Erkrankungen und stellen und angemessene Entgelte allem die Ausgaben für medizinische vorzeitigen Todesfälle auf nur drei ver- für diese Interventionen im Rahmen Behandlungen, Medikamente, Re- meidbare Risikofaktoren zurückführen einer Qualitätsverbesserungsinitiative habilitationsmaßnahmen und Pflege- lassen: Rauchen, Alkoholmissbrauch oder durch Einzelleistungsvergütun- leistungen, zu den indirekten Kosten und Verkehrsunfälle (oft durch Alko- gen sichern. Erbringern der primären alkoholbedingte Produktionsausfälle hol verursacht) (WHO – Regionalbüro Gesundheitsversorgung fällt die Inter- in der Volkswirtschaft, Kosten durch für Europa, 2011). Deshalb empfiehlt vention leichter, wenn sie durch Spe- Frühverrentung, Arbeitslosigkeit und die WHO eine schrittweise Verringe- zialeinrichtungen unterstützt werden, vorzeitigen Tod. Zudem entstehen rung der Zahl der Menschen, denen an die sie schwer beherrschbare Fälle durch schädlichen und abhängigen eine Beratung zum Alkoholkonsum überweisen können. Das Manage- Alkoholkonsum erhebliche psycho- und seinen schädlichen Folgen, eine ment der Missbrauchsstörungen soll- soziale Belastungen, wie das Leid, Rehabilitationsmaßnahme oder Be- te im Idealfall zwischen Primär- und der Schmerz und Verlust an Lebens- handlung gegen Alkoholmissbrauch Spezialeinrichtungen nahtlos abge- qualität der Betroffenen sowie von nutzen könnte und die dennoch nicht wickelt werden.“ (ebd. S. 10). deren Angehörigen. Aufgrund der in den Genuss einer solchen Maßnah- hohen Relevanz gehört „Alkoholkon- me kommen. „Regierungen können Wie sieht die Einschätzung für sum reduzieren“ zu den zentralen die Erkennung sowie Kurzberatung Deutschland aus? Gesundheitszielen in Deutschland und Überweisung an Spezialeinrich- Schädlicher Alkoholkonsum verur- (Bundesanzeiger-Bekanntmachung, tungen unterstützen, indem sie kli- sacht auch in Deutschland erhebliche BAnz AT, 19.05.2015, B3, 15-20), nische Leitlinien für derartige Inter- volkswirtschaftliche Kosten: schät- denn die negativen gesundheitlichen ventionen breit verfügbar machen, zungsweise 39,3 Milliarden Euro Folgen von zu hohem Alkoholkon- Erbringer der primären Gesundheits- jährlich, unterteilt in 9,15 Milliarden sum sind eines der gravierendsten versorgung entsprechend ausbilden, Euro direkte und 30,15 Milliarden und vermeidbaren Gesundheitsrisi- klinische Materialien und Ratschläge Euro indirekte Kosten (Effertz, 2015). ken in Deutschland. 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
12 V O RT R ÄG E Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Ziel 5: Alkoholprobleme werden frühzeitig erkannt und angesprochen. Die Frühintervention ist sichergestellt. Teilziel 5.1 Wissen und Kompetenz zu Methoden der Früherkennung und Frühintervention sind beim ärztlichen, psychotherapeutischen, sozialarbeiterischen und medizinischen Personal sowie bei Lehrkräften in der Schule und Fachkräften in Beratungsstellen etc. erhöht. Teilziel 5.2 Eine Vernetzung zwischen medizinischer Basisversorgung und Suchtkrankenversorgung ist hergestellt. Teilziel 5.3 Die Zahl der Personen mit problematischen Konsum, die angesprochen werden, ist erhöht. (ebd. S. 16). Abbildung 2: Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“ An der Entwicklung des Gesundheits- den Akteuren im Gesundheitswesen Ausgeführt wird hierzu: „Trotz hoher ziels „Alkoholkonsum reduzieren“, eine besonders wichtige Stellung gesellschaftlicher Folgekosten des das einen Mix aus verhaltens- und zu.“ (ebd. S. 15). Im Konsens der problematischen Alkoholkonsums verhältnispräventiven Ansätzen und wichtigen Akteur*innen wird im und alkoholbezogener Erkrankungen Empfehlungen umfasst, sind wichtige Kontext des Gesundheitsziels „Alko- ist in Deutschland eine Unterversor- Akteur*innen im Gesundheits- und holkonsum reduzieren“ auf beste- gung insbesondere in den Bereichen Sozialwesen beteiligt. Dazu gehören hende Schnittstellenprobleme vor der Früherkennung und Frühinter- neben den entsprechenden Bundes- dem Hintergrund unterschiedlicher vention bekannt und belegt. Anderer- ministerien die gesetzlichen Kranken- Zuständigkeiten im Versorgungs- seits wurde in Studien die Wirksam- versicherungen, die Rentenversicher- system für Menschen mit alkohol- keit von Frühinterventionen insbe- ung, die Bundesärztekammer, die bezogenen Störungen in Deutsch- sondere in Hausarztpraxen und unter Bundespsychotherapeutenkammer, land hingewiesen. „Nur ein kleiner besonderen Voraussetzungen auch die Bundeszentrale für gesundheit- Teil der Menschen mit alkoholbezo- im Allgemeinkrankenhaus nachge- liche Aufklärung, das Robert Koch- genen Problemen bzw. einer Alko- wiesen.“ (ebd.). Institut, die Suchtverbände sowie holabhängigkeit findet ohne Um- Selbsthilfegruppen. wege und zeitnah Zugang zum Trotz dieses breiten Konsenses der suchtspezifischen Versorgungssys- verantwortlichen Akteur*innen Dabei kann das Gesundheits- und tem.“ (ebd.). Somit besteht zur Opti- herrscht nach wie vor das Problem, Sozialwesen in allen Lebensweisen mierung der Schnittstellen zwischen dass nur wenige Betroffene in mit Angeboten zur Veränderung den jeweiligen Hilfebereichen Weiter- Deutschland auf ihre Suchterkrankung des Alkoholkonsums beitragen. entwicklungsbedarf. Eine wesentliche angesprochen werden und profes- „Bei der Primär- und Sekundärprä- Zielsetzung des Gesundheitsziels sionelle Hilfe im Gesundheitssystem vention, Früherkennung, Behandlung „Alkoholkonsum reduzieren“ lautet erhalten. Trautmann und Wittchen und Schadensminimierung sowie daher: Alkoholprobleme werden früh- stellen hierzu fest: „Die Behandlungs- Rehabilitation und Rückfallprophy- zeitig erkannt und angesprochen. raten betragen zwischen 5 und 33 laxe von Alkoholerkrankungen kommt (s. Abb. 2) Prozent (Kraus, Pabst, Gomes de 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
VORTR ÄG E 13 Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Funktionen Aktivitäten Teilhabe an Lebensbereichen a: Psychische Ressourcen / Problem- / Ressourcen- Problembereiche z.B. Probleme z.B. bereiche z.B. » Arbeitslosigkeit, berufliche » Affektivität » des täglichen Lebens Unsicherheit » Denkinhalte / Kontrolle (Selbstversorgung etc.) » Wohnungslosigkeit, des Denkens » Kommunikation und problematische Wohn- » Emotionale Stabilität soziale Kontakte situation » Merkfähigkeit » berufliche Leistungs- » Schulden, finanzielle » Orientierung fähigkeit Probleme » Selbstvertrauen » Nutzung sozialer und » sozialer Rückzug, » Selbstwertgefühl kultureller Angebote Einsamkeit » Wahrnehmung b: Körperliche Probleme z.B. » Verdauungssystem » Herz- und Kreislaufsystem » Nervensystem » Muskolo-skelettales System Persönliche und umweltbedingte » Fitness » Körperwahrnehmung Kontextfaktoren Abbildung 3: ICF – Das bio-psycho-soziale Modell: Psychische Erkrankungen / Behinderungen Matos und Piontek 2014; Mack et so schwerer, da inzwischen zahlreiche versen Ebenen. Wesentliche Voraus- al. 2014), mit den niedrigsten Raten ambulante und stationäre Interven- setzung ist, Früherkennung und Früh- für Alkohol (5–16 Prozent) und tionsbehandlungen von Suchterkran- intervention in den unterschiedlichen Cannabisstörungen (4–8 Prozent) kungen verfügbar sind (insbesondere Handlungsfeldern, die mit abhängig- (Hildebrand, Lippert, Sonntag, Bauer, für Alkohol- und Cannabisstörungen) keitskranken Menschen zu tun haben, Bühringer 2009; Kraus et al. 2014). (Bottlender & Soyka, 2005; Hoch et ebenso zu stärken wie ein sektoren- Damit gehören Suchterkrankungen al., 2012) und eine rechtzeitige Be- übergreifendes Fallmanagement und zu den psychischen Störungen mit handlung nachweislich die psychische die engere Vernetzung zwischen den der größten Behandlungslücke (…). und körperliche Morbidität senken verschiedenen Versorgungsbereichen. Zudem werden Betroffene häufig erst kann (Rehm et al,. 2014).“ (Traut- Überdies ist ein gesellschaftliches dann erreicht, wenn die Störung be- mann & Wittchen, 2016, S. 11) Umdenken im Umgang mit psychi- reits fortgeschritten und erste psychi- schen und speziell mit Suchterkran- sche und körperliche Folgeschäden Eine nachhaltige Verbesserung der kungen zu fördern. bereits eingetreten sind (Hildebrand Versorgungssituation speziell für ab- et al. 2009; Trautmann et al. – in hängigkeitskranke Menschen erfor- Druck –). Dieser Umstand wiegt um- dert ein Maßnahmenbündel auf di- 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
14 V O RT R ÄG E Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge » Psychische Probleme und Störungen » Arbeitsplatzverlust, berufliche Unsicherheit » Geringere Arbeitsproduktivität » Trennung/Scheidung » Finanzielle Probleme/Schulden » Unfälle » Straftaten » Wohnungslosigkeit, problematische Wohnsituation » Sozialer Rückzug » Lebensunzufriedenheit, geringere Lebensqualität Abbildung 4: Mögliche Folgen des chronischen Suchtmittelkonsums Hilfebedarfe suchtkranker einer Suchterkrankung auf den Inanspruchnahme des Menschen am Beispiel verschiedenen Ebenen der persön- Versorgungs- und Sucht- Alkoholabhängigkeit lichen Funktionen, der Aktivitäten hilfesystems in Deutschland wie auch der Teilhabe an verschie- am Beispiel alkohol- Sucht ist in Deutschland zwar als denen Lebensbereichen darstellen. bezogener Störungen Krankheit anerkannt und Leistungs- Bei einer Abhängigkeit können viel- und Einrichtungsträger*innen haben fältige Wechselwirkungen zwischen Laut einer aktuellen Studie zur Prä- in den letzten Jahrzehnten ein hoch- diesen Ebenen bestehen (s. Abb. 3). valenz und den Behandlungsraten wertiges Beratungs- und Behand- Suchterkrankungen zeigen oft chro- von Störungen durch Alkoholkonsum lungssystem für abhängigkeitskranke nische Verläufe, die mit der Zeit an in der primärärztlichen Versorgung Menschen entwickelt. Gleichwohl Komplexität zunehmen und viel- betrug die 12-Monats-Prävalenz von erhalten nur wenige Betroffene pro- fältige Folgen aufweisen können Patient*innen mit einer Alkoholab- fessionelle Hilfe im Gesundheits- (s. Abb. 4). hängigkeit beim*bei der Hausärzt*in system – dies angesichts der ge- 17 Prozent für Männer und 6,4 Pro- sundheitsschädigenden und lebens- Somit weisen suchtkranke Menschen zent für Frauen (insgesamt 11 Pro- gefährlichen Auswirkungen einer vielfältige Hilfebedarfe in unterschied- zent). Von den Patient*innen mit chronischen Alkoholabhängigkeit lichen Dimensionen auf, woraus folgt, einer Alkoholabhängigkeit hatten nur und der damit verbundenen mas- dass sie – abhängig vom jeweiligen 13 Prozent angegeben, in den letzten siven Beeinträchtigungen und be- Hilfebedarf und den spezifischen 12 Monaten beim*bei der Hausärzt*in ruflichen, familiären und sozialen Folgen der Suchterkrankung – auch und 4,1 Prozent außerhalb des*r Teilhabeprobleme. Auf Basis der mit unterschiedlichen Sektoren des Hausärzt*in eine spezifische Behand- ICF (Internationale Klassifikation Gesundheits- und Sozialsystems in lung zu ihrer Abhängigkeit erfahren der Funktionsfähigkeit, Behinderung Kontakt kommen können. Häufig wird zu haben (Trautmann et al., 2016). und Gesundheit) und vor dem aber die im Hintergrund wirkende Zudem nehmen Betroffene selbst Hintergrund der UN-Behinderten- Suchterkrankung übersehen, darauf ihr Suchtproblem oft nicht wahr und rechtskonvention – die den Begriff nicht eingegangen oder es fehlen verdrängen es. Bei Alkoholabhängig- der Inklusion fokussiert – lassen sich auch entsprechende Kooperations- keit und -missbrauch ist diese Ver- die vielfältigen Auswirkungen und strukturen zu suchtspezifischen drängung deutlich häufiger zu finden damit verbundenen Hilfebedarfe Spezialeinrichtungen. als bei illegalen Drogen. Auch der 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
VORTR ÄG E 15 Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Hausarzt /-ärztin Facharzt /-ärztin Teilhabe Wohnen Beratungsstelle Pflegedienst Teilhabe Arbeit Psychotherapeutin Wohnungslosenhilfe Allg. Krankenhaus Gesetzliche Psychiatrische Klinik Betreuer/-in Psychiatrische Psychiatrische Ambulanz Tagesklinik Abbildung 5: (Wienberg: Instituts- statt Personenorientierung): Der*die Betroffene im komplexen Hilfesystem Deutsche Suchtsurvey (Gomes de Einrichtungen auch Angebote zur Flexibilisierung der Suchthilfe und Matos et al., 2013) bestätigt, dass Be- Förderung der beruflichen Teilhabe, -behandlungsangebote die Möglich- troffene spezifische Hilfen oft nicht der Wohnungslosenhilfe, der Straf- keit, gezielt auf die unterschiedlichen in Anspruch nehmen. fälligenhilfe und vieles mehr. Auch Belange und Bedürfnisse der Men- findet man Suchtkranke vergleichs- schen mit substanzbezogenen Stö- Im Vergleich nehmen deutlich mehr weise häufig im Sektor III der medi- rungen einzugehen (s. Abb. 5). Abhängige von illegalen Drogen als zinischen Primärversorgung, wozu Alkoholabhängige entsprechende insbesondere niedergelassene Ärzt*- Da sich alle Anbieter*innen primär um Hilfen in Anspruch. Hier ist zu berück- innen und Allgemeinkrankenhäuser ihr spezifisches Aufgabenfeld küm- sichtigen, dass eine Vielzahl opiat- zählen. Die Sektoren stehen in mern, ist nicht davon auszugehen, abhängiger Menschen sich in einer diesem Modell relativ unverbunden dass bei einem komplexen Hilfebe- Substitutionsbehandlung befindet. nebeneinander. Somit erhält nur darf die grundsätzlichen und vielfäl- Hingegen ist davon auszugehen, eine geringe Anzahl der Betroffenen tigen Probleme – und damit auch dass eine Vielzahl alkoholabhängig- Zugang zu den hochqualifizierten eine „verdeckte“ Suchterkrankung – keitskranker Menschen im akut- Angeboten der Suchtberatung und erkannt und zudem fachkompetent medizinischen Bereich aufgrund der -behandlung. Zentrale Verbesse- behandelt werden. Grund dafür ist somatischen Folgeerkrankungen und rungsmöglichkeiten sind daher, auch, dass in einem gegliederten nicht wegen der zugrunde liegenden das Schnittstellenmanagement Sozialversicherungs- und Gesund- Suchterkrankungen behandelt wird. zwischen dem Bereich der Sucht- heitssystem die Zuständigkeiten der hilfe und -behandlung und den jeweiligen Leistungsträger*innen in Demgegenüber steht eine deutlich weiteren Sektoren zu optimieren. unterschiedlichen Sozialgesetzbü- höhere Anzahl suchtkranker Men- chern geregelt sind und somit eine schen im Sektor II, der psychosozialen Jedoch besteht in den letzten Jahren übergreifende Teilhabebedarfsfest- und psychiatrischen Basisversorgung. und Jahrzehnten durch eine zuneh- stellung und -planung häufig fehlt. Hierzu zählen neben psychiatrischen mende Professionalisierung und 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
16 V O RT R ÄG E Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Zusammenfassend ist also festzustel- » Integrierte Entzugs- und Entwöh- len Handlungsbedarf für niedergelas- len, dass Deutschland ein differen- nungsbehandlung sowie stationäre sene Ärzt*innen und Krankenhäuser ziertes und qualifiziertes System der Motivationsbehandlung beschreiben. An Bedeutung kann Suchthilfe und -behandlung aufweist, zudem die Früherkennung und -inter- das Hilfesystem aber nur einen ver- » Somatische und psychosomatische vention von suchtbezogenen Störun- gleichsweise geringen Teil der be- Rehabilitation sowie Leistungen gen in der psychotherapeutischen handlungsbedürftigen Menschen er- zur Teilhabe am Arbeitsleben Versorgung gewinnen. reicht und die meisten suchtgefährde- ten und -kranken Menschen Kontakt » Betrieblicher Bereich (etwa Firmen- Auch weitere Bereiche der medizi- zur medizinischer Versorgung und/ service der Leistungsträger*innen) nischen und beruflichen Rehabilita- oder sozialen Hilfen haben. Somit tion, Agenturen für Arbeit/Jobcenter, sind Screening, Früherkennung und » Früherkennung auf Basis der Routi- Betriebe sowie die verschiedenen frühzeitige Intervention sowie die nedaten der Leistungsträger*innen Leistungsträger*innen spielen eine Optimierung einer sektorenübergrei- wichtige Rolle hinsichtlich der Förde- fenden Vernetzung zentrale Zukunfts- » Jobcenter/Agenturen für Arbeit rung der Früherkennung und -inter- aufgaben, um den frühzeitigen und vention. Ergänzend seien die Bereiche nahtlosen Zugang zu passgenauen » Fallmanagement und -begleitung der Jugend- und Altenhilfe erwähnt, Hilfsangeboten zu fördern. zur Förderung der Zu- und Über- auf welche hier jedoch nicht näher gänge eingegangen wird. Entwicklungspotenziale » Nutzung moderner Informations- Generell ist es essenziell, an den und Handlungsmöglich- technologien zur Förderung des Übergängen der unterschiedlichen keiten zur Förderung Zugangs Versorgungsbereiche Brücken zu eines frühzeitigen und bilden durch ein entsprechendes nahtlosen Zugangs Besonders bedeutend bezüglich der Fallmanagement. Zudem lassen sich Frühintervention bei Abhängigkeits- durch die gezielte Nutzung moder- Weitere Entwicklungspotenziale, erkrankungen sind – nicht zuletzt ner Informationstechnologien Zu- die einen frühzeitigen und naht- wegen der hohen Inanspruchnahme gänge erleichtern und verbessern. losen Zugang zur Suchtkrankenhilfe von entsprechenden Leistungen im und Entwöhnungsbehandlung er- akutmedizinischen Bereich – speziell möglichen, bieten folgende Be- die niedergelassenen Ärzt*innen und Fazit und Ausblick reiche (Fachverband Sucht e.V. Krankenhäuser. Die Bundesärztekam- 2012, Missel, 2016): mer und der Fachverband Sucht e. V. Es herrscht zwar breiter Konsens hatten schon 2010 ein Positions- hinsichtlich der allgemeinen Zielset- » Niedergelassene Ärzt*innen papier publiziert zur Förderung der zung, einen frühzeitigen und naht- Früherkennung und -intervention losen Zugang zu einer bedarfs- und » Niedergelassene Psycho- und nahtlosen Vermittlung in sucht- leitliniengerechten Therapie und therapeut*innen spezifische Angebote (Bundesärzte- Rehabilitation bei Suchterkrankungen kammer, Fachverband Sucht e. V., sicherzustellen. Allerdings gibt es in » Qualifizierter Entzug 2010). Der Drogen- und Suchtrat der Realität erhebliche Hürden und hatte folgend hierzu am 07.12.2011 Schnittstellenprobleme, die ferner » Entgiftung/Entzugsbehandlung entsprechende „Empfehlungen zur auf unterschiedlichen Zuständigkeiten und Krankenhausbehandlung Früherkennung und Frühintervention und Verantwortlichkeiten von Leis- bei alkoholbezogenen Störungen“ tungsträger*innen und Leistungs- herausgegeben (SuchtAktuell 19/ erbringer*innen beruhen. Aus Sicht 01.12, 90-92), die auch den aktuel- der Betroffenen wäre ein integriertes, 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
VORTR ÄG E 17 Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge berufsgruppenübergreifendes und Erforderlichenfalls sollten die Leis- bedarfsgerechtes Versorgungs- und tungserbringer*innen durch ent- Hilfesystem notwendig, das einen sprechende Fallmanager*innen möglichst nahtlosen Zugang zu den (etwa Konsil- und Liaisondienste erforderlichen Leistungen bietet. Dies in Krankenhäusern) systematisch ist auch eine wesentliche Zielsetzung unterstützt werden. Durch das sys- des Bundesteilhabe-, des Flexirenten- tematische Zusammenwirken der und des Präventionsgesetzes. Ge- beteiligten Leistungsträger*innen fragt sind somit Brückenkonzepte und -erbringer*innen werden und sektorenübergreifende Inter- entsprechende Leistungen wie ventionsstrategien. Angesichts des aus einer Hand erbracht. zum Krankheitsbild einer Abhängig- keit zählenden vergleichsweise Abschließend sei darauf verwiesen, geringen Problembewusstseins der dass durch einen frühzeitigen und Betroffenen und der bestehenden nahtlosen Zugang und eine ent- gesellschaftlichen Stigmatisierung sprechende Brückenbildung zwischen von Abhängigkeitserkrankungen ist den Versorgungssektoren letztlich es besonders wichtig, dass alle in alle Beteiligten gewinnen: den verschiedenen Versorgungs- sektoren Tätigen (niedergelassene » Betroffenen wird geholfen, wieder Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, ein selbstbestimmtes suchtfreies Krankenhaus-, Pflegepersonal) ihre Leben zu führen. Aufmerksamkeit für substanzgebun- dene und -ungebundene Störungen » Angehörigen, Partner*innen und systematisch erhöhen (Günthner et insbesondere den Kindern werden al., 2016). Überdies sind folgende neue Perspektiven für das Zusam- Erfordernisse zu beachten: menleben mit dem betroffenen suchtkranken Menschen eröffnet. » Niedrigschwellige wohnortnahe Zugangswege zu qualifizierten » Die Nichtantrittsquoten einer Beratungs- und Behandlungs- Entwöhnungsbehandlung ver- einrichtungen vorzuhalten ringern sich. » zeitnah personenzentrierte und » Weitere Entzugsbehandlungen passgenaue Hilfen für Menschen und Chronifizierungen werden mit einer suchtbezogenen Störung vermieden. wie auch für deren Angehörige bereitzustellen » Betriebliche Ausfallzeiten und Kosten für Arbeitgeber*innen » Maßnahmen zum Screening/zur sinken. Früherkennung, insbesondere zur Identifizierung von Risikogruppen, » Hohe Folgekosten zulasten der in allen Einrichtungen der Versor- Sozialleistungsträger*innen gung mit geeigneten Instrumenten (GKV, DRV, BAR, Kommunen) durchzuführen (vergleiche ebd, werden eingespart. 202f.) 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
18 V O RT R ÄG E Dr. Volker Weissinger Zugangswege – Frühintervention – Behandlungserfolge Literatur Bundesärztekammer, Fachverband Sucht e.V. (2010): Haß, W. und Lang, P. (2016): Glücksspiel- Hausärztliche Versorgung und verhalten und Glücksspielsucht in Suchtbehandlung – Erkennen, Steuern, Deutschland. Ergebnisse des Surveys 2015 Handeln, Gemeinsames Positionspapier, und Trends. Forschungsbericht der BZgA. Köln: SuchtAktuell 18/01.11, 60–63 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Jacobi, F., Höfler, M., Strehle, J., Mack, S., Gerschler, A., (2014): Glücksspielverhalten und Glücks- Scholl, L., Busch, M.A., Maske, U., Hapke, U., spielsucht in Deutschland 2013 Gaebel, W., Maier, W., Wagner, M., Zielasek, J., Wittchen, H.-U., (2014): Psychische Störungen Drogen- und Suchtrat (2011): Empfehlungen in der Allgemeinbevölkerung – Studie zur zur Früherkennung und Frühintervention Gesundheit Erwachsener in Deutschland bei alkoholbezogenen Störungen, und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit SuchtAktuell 19/01.12, 90–92 (DEGS1 – MH), in: Nervenarzt 2014, 85; 77–87 Effertz, T. (2015): Die volkswirtschaftlichen Missel, P. (2016): Zugangswege erweitern? … Kosten gefährlichen Konsums – eine aus Sicht der Suchtbehandler, theoretische und empirische Analyse für SuchtAktuell 2/2016, 36–38 Deutschland am Beispiel Alkohol, Tabak und Adipositas. Frankfurt: Peter Lang GmbH Pabst, A., Kraus, L., Gomes de Matos, E., Piontek, D. Internationaler Verlag der Wissenschaft, (2013): Substanzkonsum und substanz- Frankfurt a.M. bezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012, in: Sucht, 59 (6), 2013, 321–331 Fachverband Sucht e.V. (2012): Leitbild und Positionen zur Suchtkrankenhilfe und Trautmann, S., Pieper, L., Kuitunen-Paul, S., Manthey, J., -behandlung, SuchtAktuell 2/2012 Wittchen, H.-U., Bühringer, G., Rehm, J. (2016): Prävalenz und Behandlungsraten von Gesundheitsziele.de (2015): Alkoholkonsum Störungen durch Alkoholkonsum in der reduzieren, Bundesanzeiger 19.05.2015, 15–20 primärärztlichen Versorgung in Deutsch- land, Sucht (2016), 62 (4), 233–243 Gomes de Matos, E., Kraus, L., Pabst, A., Piontek, D. (2013): ProblemebewuSStsein und Inanspruch- Trautmann, S., Wittchen., H.-U. (2016): nahme von Hilfe bei substanzbezogenen Häufigkeit und Versorgungssituation Problemen, Sucht 59 (6), 2013, 355–366 von Suchterkrankungen in Deutschland, SuchtAktuell 2/2016, 11–13 Günthner, A., Weissinger, V. et al. (2016): Versorgungsorganisation, in: Weltgesundheitsorganisation – Regionalbüro Mann, K., Hoch, E., Batra, A., (Hrsg.) (2016): für Europa (2011): Europäischer Aktionsplan S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung zur Verringerung des schädlichen alkoholbezogener Störungen, Heidelberg, Alkoholkonsums (2012–2020) 191–210 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
VORTR ÄG E 19 PD Dr. Florian Rehbein Anregungen zur Weiterentwicklung der niedersächsischen Suchtprävention auf der Basis der Daten des Forschungsprojektes „Prävention und Hilfe bei stoffgebundenen und stoffungebundenen Suchterkrankungen in Niedersachsen“, der sog. Delphi-Studie Grundlage des Vortrags ist die Studie analysiert. Dazu erfolgten 20 Inter- die betriebliche Suchtprävention „Prävention und Hilfe bei stoffgebun- views mit ausgewählten Expert*in- beziehungsweise das betriebliche denen und stoffungebundenen Sucht- nen zum Themenbereich sowie eine Gesundheitsmanagement, Präven- erkrankungen in Niedersachsen“, Literatur- und Internetrecherche zu tionskräfte der Polizei, Mitglieder die von einem interdisziplinären For- den bestehenden Strukturen und Kommunaler Präventionsgremien und schungsteam des Kriminologischen Arbeitsschwerpunkten der Suchtprä- des Landespräventionsrates sowie Forschungsinstituts Niedersachsen vention in Niedersachsen. Zusätzlich Akteur*innen des Jugendschutzes. In im Auftrag des Niedersächsischen wurden bundes- als auch nieder- einer ersten Onlinebefragung wurden Ministeriums für Soziales, Gesund- sachsenweite Daten zu Konsum- und diese Akteur*innengruppen zu Stär- heit und Gleichstellung durchgeführt Problemverhaltensweisen Jugendli- ken und Schwächen des aktuellen und 2018 abgeschlossen wurde. Die cher und Erwachsener im Rahmen Systems, vorhandenen Strukturen der Gesamtergebnisse des Projektes sind von Sekundäranalysen ausgewertet. Vernetzung und Kommunikation, ein- den beiden zugehörigen Forschungs- Die epidemiologischen Daten umfass- gesetzten Methoden und zur Priori- berichten zu entnehmen (Forschungs- ten neben dem Konsum legaler Sub- sierung verschiedener präventiver und bericht Nr. 132 Rehbein et al., 2017; stanzen wie Alkohol und Tabak auch interventiver Ziele befragt. Insgesamt Forschungsbericht Nr. 138 Rehbein den Konsum illegaler Drogen sowie wurden 1.113 Hauptakteur*innen zur et al., 2018). Glücksspiel- und Computerspielkon- Befragung eingeladen. Die Antworten sum. Die Ergebnisse der Recherchen von 527 Personen konnten in die Ziel der Studie war es, konsensuale und Interviews dienten der Identifi- Auswertung miteinbezogen werden, Handlungsempfehlungen für die zierung der zentralen Institutionen was einer Rücklaufquote von etwa Weiterentwicklung und zukünftige und Akteur*innengruppen der nieder- 47,3 Prozent entspricht. In der ersten Stärkung der niedersächsischen sächsischen Suchtprävention sowie Onlinebefragung wurden zwölf In- Suchtprävention zu entwickeln. Hier- der Vorbereitung der ersten Online- haltsbereiche identifiziert, die für die für wurde ein an das Delphi-Verfahren befragung. In die Befragung einbe- Beurteilung des Ist-Zustands und angelehntes mehrstufiges Forschungs- zogen wurden unter anderem die eine Ableitung möglicher Weiterent- design verwendet. In einem ersten Mitarbeiter*innen der Fachstellen für wicklungspotenziale der niedersäch- Schritt wurden die Strukturen der Suchtprävention, die Fachkräfte für sischen Suchtprävention relevant niedersächsischen Suchtprävention Suchtprävention, die Suchtselbsthilfe, erschienen: 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
20 V O RT R ÄG E PD Dr. Florian Rehbein Anregungen zur Weiterentwicklung der niedersächsischen Suchtprävention 1 Universalprävention eingeholt. Ziel hierbei war es, bereits diskutiert. Im Zuge dieses Verfahrens konkrete mögliche Strategien zur und mittels einer abschließenden 2 Selektive Suchtprävention Weiterentwicklung der niedersäch- qualitativen Analyse und Kategorien- sischen Suchtprävention zu identifi- bildung wurden 14 abschließende 3 Indizierte Suchtprävention, zieren. Bei dieser Befragung konnten Handlungsempfehlungen abgeleitet. Früherkennung und Früh- die Antworten von 449 der 1.036 Für eine detaillierte Darstellung der intervention eingeladenen Akteur*innen in die Befunde der zweiten Onlinebefra- Auswertung einbezogen werden. gung, der Fokusgruppendiskussionen 4 Verhältnisprävention Dies entspricht einer Rücklaufquote und der abschließenden Handlungs- von 43,3 Prozent. empfehlungen sei an dieser Stelle auf 5 Suchtprävention in Lebens- den projektzugehörigen Abschluss- welten Abschließend wurden die Ergebnis- bericht verwiesen (Rehbein, Weber, se der ersten und zweiten Online- Kühne & Boll, 2018). Im Folgenden 6 Suchtprävention unter befragung in Fokusgruppen mit Mit- werden die Handlungsempfehlungen Inklusionsgesichtspunkten gliedern zentraler Institutionen der gegenüber dem Abschlussbericht in niedersächsischen Suchtprävention leicht gekürzter Form dargestellt. 7 Reichweite der niedersächsi- diskutiert. Eingeladen wurden Ver- schen Suchtprävention im treter*innen der Niedersächsischen Setting Schule Landesstelle für Suchtfragen (NLS) Handlungsempfehlungen und der dort organisierten Wohl- zur Stärkung der Kernauf- 8 Substanzbezug und Inhalts- fahrts- sowie Suchtselbsthilfe- und gaben der niedersächsischen bereiche der Suchtprävention Abstinenzverbände, des Niedersäch- Suchtprävention in Niedersachsen sischen Kultusministeriums, des Landeskriminalamts Niedersachsen, 1 » Es wird empfohlen, die Prävention 9 Regionale Verteilung von Sucht- des Landespräventionsrats, der Lan- für Kinder aus suchtbelasteten Fami- präventionsangeboten in desvereinigung für Gesundheit und lien zu stärken, ohne diese zu stigma- Niedersachsen Akademie für Sozialmedizin und der tisieren. Dies sollte durch eine inter- Landesstelle Jugendschutz. Insgesamt institutionelle und multiprofessionelle 10 Kooperation und Vernetzung waren zwölf Diskutant*innen betei- Beteiligung der niedersächsischen ligt, welche auf zwei Fokusgruppen Suchthilfe in Kooperation mit gynä- 11 Nachfrageorientierung aufgeteilt wurden. Diese kamen an kologischen Praxen, der Familien- je zwei ganztägigen Terminen zu- hebammenhilfe, Frühen Hilfen, 12 Evidenzbasierung sammen, um jeweils drei der in der Kinder- und Jugendhilfe, Kindertages- ersten Onlinebefragung identifizier- stätten und Grundschulen auf der Ausführliche Erläuterungen zu den ten Inhaltsbereiche zu diskutieren. Basis von Kooperationsvereinbarun- beschriebenen Projektphasen und Die Moderation übernahm dabei gen umgesetzt werden. identifizierten Inhaltsbereichen finden die Landesdrogenbeauftragte. Nach sich im ersten projektbezogenen einem Input zu den erhobenen Bislang bestehen in Niedersachsen Forschungsbericht (Rehbein, Weber Daten durch das KFN-Forschungs- unklare Zuständigkeiten in der Ver- & Staudt, 2017). team und der Klärung von Verständ- sorgung von Kindern suchtkranker nisfragen sammelte die Gruppe Ziele Eltern mit präventiven Hilfsangeboten. In einer zweiten Onlinebefragung sowie dazugehörige Umsetzungsvor- Um diese Zielgruppe in Zukunft stär- wurden ausgewählte Befunde ins schläge in Bezug auf den jeweiligen ker und vor allem niedrigschwellig zu Feld zurückgespiegelt und hierzu Inhaltsbereich. Diese wurden im An- erreichen, sollte die Zusammenarbeit Einschätzungen der Akteur*innen schluss daran inhaltlich präzisiert und zwischen Suchthilfe/Suchtprävention, 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
VORTR ÄG E 21 PD Dr. Florian Rehbein Anregungen zur Weiterentwicklung der niedersächsischen Suchtprävention der Kinder- und Jugendhilfe und dem In Fällen, bei denen die Kinder- und kommunaler Ebene sollte außerdem medizinischen Versorgungssystem Jugendhilfe aktiv wird, sollte auch sichergestellt werden, dass die Ver- ausgebaut werden. diese bei Hinweisen auf ein riskantes tragswerke sich an örtlichen Bedarfen Konsumverhalten anstreben, einen orientieren und von den Hausspitzen In Zukunft sollte für suchtkranke Kontakt zwischen Eltern und Sucht- der Arbeitsagenturen/Jobcenter Eltern und ihre Kinder im Rahmen hilfe zu vermitteln. Des Weiteren soll- unterstützt werden. der Suchthilfe eruiert werden, inwie- te ebenfalls das fachliche Personal in weit Unterstützungsbedarfe bestehen Kindertagesstätten und Kindergärten 3 » Es wird empfohlen, eine Profil- und Hilfeleistungen (zum Beispiel sowie Grundschulen dahin gehend schärfung der niedersächsischen im Rahmen der Frühen Hilfen oder geschult werden, Kinder aus sucht- Suchtprävention in der Weise vor- Hilfen zur Erziehung) in Anspruch belasteten Familien zu erkennen und zunehmen, dass von Suchtpräven- genommen werden. Dabei ist auf den ihnen und ihren Eltern entsprechende tionsakteur*innen ausgehende uni- freiwilligen Charakter der Hilfsange- Hilfsangebote zu unterbreiten bezie- verselle Suchtprävention in erster bote hinzuweisen und sicherzustellen, hungsweise die Kontaktaufnahme Linie spezifische Konsumrisiken dass den Familien keine Nachteile aus mit dem Suchthilfesystem anzuregen. adressiert und die Inanspruchnah- der Annahme von Hilfen erwachsen. me weiterführender selektiver und Es wird darüber hinaus empfohlen, 2 » Es wird empfohlen, die Verfügbar- indizierter Suchtpräventionsan- dass Frauenärzt*innen beim Erstkon- keit und Zugänglichkeit suchtpräven- gebote Risikogruppen und Risiko- takt mit einer schwangeren Frau das tiver Maßnahmen für Erwerbslose konsument*innen anzielt. aktuell vorliegende Konsumverhal- unter Einbezug der Jobcenter und ten in Bezug auf Alkohol, Tabak und Arbeitsagenturen in Niedersachsen Um die Potenziale von suchtpräven- andere Substanzen erfragen oder zu verbessern. tiven Angeboten gegenüber Angebo- dieses mittels Screeninginstrumenten ten der allgemeinen Gesundheitsför- erheben. Im Falle eines vorliegenden Unterstützungsleistungen für Erwerbs- derung und Krankheitsprävention voll Konsums sollten Ärzt*innen mittels lose sollten explizit Hilfsangebote für auszuschöpfen, erscheint es sinnvoll, motivierender Gesprächsführung eine problematischen und abhängigen dass die niedersächsische Suchtprä- Verhaltensänderung anregen. Bei Konsum beinhalten. Mitarbeiter*innen vention sich zukünftig stärker auf ihre Hinweisen auf einen riskanten Kon- in Arbeitsagenturen und Jobcentern Alleinstellungsmerkmale fokussiert. sum sollte ein Kontakt zur Suchthilfe sollten darin geschult sein, Hinweise So sollte universelle Suchtprävention angeregt werden. Zudem sollten auf ein problematisches Konsum- an spezifisch definierten Konsum- die Frauen auf unterstützende Hilfs- verhalten zu erkennen, sowie Kom- risiken anknüpfen und als (früher) angebote (wie zum Beispiel Frühe munikationstechniken wie die moti- Wegweiser für Risikogruppen und Hilfen) hingewiesen werden. Auch vierende Gesprächsführung dazu zu problematisch Konsumierende in Familienhebammen sowie die Mit- nutzen, problematisch konsumieren- das Suchthilfesystem fungieren. Im arbeiter*innen der Frühen Hilfen de Erwerbslose zur Inanspruchnahme Rahmen universeller Suchtpräven- sollten bei Anzeichen eines proble- weiterführender Hilfen zu motivieren. tionsangebote mit Konsumbezug matischen Konsumverhaltens einen Dementsprechend müssen die Mit- sollten selektive und indizierte Prä- Kontakt zwischen den betroffenen arbeiter*innen auch über regional ver- ventionsangebote daher stets „mit- Eltern und der Suchthilfe vermitteln. fügbare Hilfsangebote informiert sein. gedacht“ und der Zugang zu diesen Hierfür müssen die Akteur*innen Dabei ist sicherzustellen, dass bei befördert werden. Eine besondere suchtfachlich sowie in Techniken der Annahme von Hilfsangeboten Rück- Bedeutung kommt hier auch der motivierenden Gesprächsführung informationen von den Arbeitsagen- suchtfachlichen Aus- und Fortbildung stärker geschult werden. Außerdem turen/Jobcentern nicht angefordert von Multiplikator*innen in den Le- benötigen sie Informationen über werden. Durch den Abschluss von benswelten von Hochrisikogruppen die regionalen Versorgungsangebote. Kooperationsvereinbarungen auf zu (vgl. Handlungsempfehlung 13). 28. Niedersächsische Suchtkonferenz | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2018
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