NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
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Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer Naturgefahrenreport 2018
02 Inhaltsverzeichnis Einleitung 03 Editorial 04 „Wir nutzen alle Kanäle, um die Menschen aufzurütteln.“ Ein Gespräch mit GDV-Präsident Dr. Wolfgang Weiler 05 Schäden durch Naturgefahren auf einen Blick Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 08 „Winterstürme sind stärker.“ Ein Gespräch mit Wetterexpertin Christiana Lefebvre 12 „Die Azubis müssen mit ran.“ Krisenmanagement der Versicherer in den Sturm-Gebieten 15 Die verlorenen Bäume. Sturmschäden in Wäldern und Parks 19 „Morgen fahren wir wieder.“ Ein Gespräch mit Bahn-Manager Achim Wolters 21 Kurz genug fürs Gleis. Das Vegetationsmanagement der Bahn 22 Was droht und was ist zu tun? Die Vorwarnsysteme 24 Das sturmerprobte Dach. Schutz für unterschiedliche Konstruktionen Kapitel zwei: Unmengen Regen. Die Schadenbilanz 2017 der Sach- und Kfz-Versicherung 28 Frost, Starkregen, Orkane. Der Jahresrückblick 2017 30 Sturzflut in der Hauptstadt. Die Sachschäden 2017 32 Unmengen zerstörter Autos. Die Schäden an Fahrzeugen 2017 34 Keine Blüten, keine Früchte. Die Schäden in der Landwirtschaft 2017 36 Auf der Suche nach dem Grund. Der Starkregen in Leegebruch 41 „Hochwasser oder Grundwasser?“ Der Unterschied in der Versicherung Kapitel drei: Strategien für den Risikoschutz 44 Gefahr binnen einer Stunde. Das Starkregenprojekt von DWD und GDV 46 Baustandard für Klimawandel. Erste DIN-Spec zum Hitzeschutz 47 „Das Risiko wird sichtbar.“ Ein Gespräch mit Dr. Olaf Burghoff, Leiter Sachstatistik beim GDV 48 „Je robuster, desto sicherer.“ Ein Gespräch mit Bau-Experten Prof. Thomas Naumann 50 Kein Betriebsausfall möglich. Starkregen-Schutz öffentlicher Gebäude 51 Das blau-grüne Management. Deutschlands erste Regenwasseragentur 52 Information und Vorsorge. Die Länderkampagnen 53 Kompass Naturgefahren. Risiken per Mausklick erkennen Anhang 54 Publikationen und Links 55 Bildnachweis 56 Impressum Naturgefahrenreport 2018
Einleitung 03 W enn Überschwemmungen nach Starkregen von wo- chenlanger Dürre mit kata strophalen Ernteschäden abgelöst wer- den, dann ist Sommer in Deutschland. Und zwar nicht einer, wie er früher ein- mal war. Dass die Menschheit derzeit einen Klimawandel erlebt, darüber ist sich die Wissenschaft inzwischen weit- gehend einig. Vieles spricht dafür, dass wir – die Menschen – ihn maßgeblich beschleunigen. Die Folgen zeigen sich weltweit. An den Polen wird das Eis buchstäb- lich dünn. In Asien versinken ganze Landstriche langsam im Meer, in den USA erleben Millionen Menschen die schlimmsten Regenfluten seit Langem. Im Pazifik verlieren Korallenriffe erst wiederaufgebaut? Und: Welche Lehre haben die Behörden aus der Katastro- phe gezogen? Editorial ihre Farbe, dann die Fische, und ster- Und katastrophale Notlagen erle- ben schließlich ab. ben wir nicht nur infolge von Stark Auch hierzulande zeigt sich das regen – die Orkane, die im Winter Wetter von seinen extremen Seiten. 2017/2018 über Deutschland hinweg- 2018 wird es wohl in die Liga der fünf zogen, suchen in Zahl und Gewalt ih- schwersten Sturmjahre der vergan resgleichen. Nach Friederike im Janu- genen zwei Jahrzehnte schaffen. Mit ar dieses Jahres waren viele Bahnstre- 1,3 Milliarden Euro liegen die versicher cken und Straßen unbefahrbar. Umge- ten Sturm-, Hagel- und Starkregen stürzte Bäume haben auch Dächer, teils schäden an Wohngebäuden in den ers- komplette Häuser zerstört. Wie unser ten sechs Monaten schon so hoch wie Bericht zeigt, greifen dann bei den Ver- sonst im Gesamtjahr. Und die Schä- sicherern die Krisenmechanismen: Bis den der Landwirte durch die anhalten- hin zu den Azubis sind alle mit einge- de Trockenheit im Sommer dürften bunden – mit vollem Engagement für sich auf mehr als zwei Milliarden Euro die Kunden. summieren. Wie gehen wir mit dem Klimawan- Wird das Extreme also zum Norma del und seinen Folgen um? Wie können len? Der vorliegende Naturgefahren- wir künftig verhindern, dass Menschen report 2018 weist in diese Richtung – durch Unwetter, Überschwemmung auch wenn die Probleme im Vorjahr oder Hitzewellen alles verlieren, was teils ganz andere waren. Erinnern Sie sie sich im Laufe eines Lebens müh- sich etwa noch an den späten Frost im sam aufgebaut haben? Die Versicherer Frühjahr 2017? Das Ergebnis von erfro- beschäftigen sich seit jeher mit Fragen renen Blüten waren zur Erntezeit feh- wie diesen. Und sie tun das nicht allein, lende Kirschen, Äpfel, Birnen und Pflau- sondern mit Wetterexperten, Architek- men. Für die Bewohner von Leegebruch ten und Materialforschern. Prävention war das allerdings das geringste Übel. kann Naturkatastrophen nicht verhin- Dr. Wolfgang Weiler Ein Jahr nach der verheerenden Stark- dern, aber ihre Folgen im besten Fall auf (Präsident) regenflut haben wir die kleine Gemein- ein Minimum reduzieren. Dazu tragen de bei Oranienburg besucht. Wie geht wir, die Versicherungswirtschaft, bei es den Menschen, die Anfang Juli 2017 – auch mit dem vorliegenden Natur teilweise alles verloren? Haben sie alle gefahrenreport und seinem umfang Dr. Jörg von Fürstenwerth nötige Hilfe erfahren? Sind ihre Häuser reichen Statistikteil. (Vorsitzender der Geschäftsführung) Naturgefahrenreport 2018
04 Einleitung „Wir nutzen alle Kanäle, um die Menschen aufzurütteln.“ Der Klimawandel ist global, seine Auswirkungen spüren die Menschen lokal. Welche Lösungen vor Ort helfen und wie wir unser Wissen nutzen können, um die Folgen abzumildern – ein Gespräch mit GDV-Präsident Dr. Wolfgang Weiler. Herr Dr. Weiler, Meteorologen warnen vor einer fremdfinanziert ist, bedeutet dies nicht selten eine zer- Zunahme extremer Unwetter. Worauf müssen wir störte Existenz. Und deshalb sind alle Hebel wichtig, die uns einstellen? das Thema in den Köpfen verankern können. Die Um- Zwar bin ich kein Klimaforscher, aber unsere Branche weltminister von Bund und Ländern sprechen sich für hat bereits vor einigen Jahren in einer Klimastudie da- ein einheitliches Informationssystem für Naturgefahren rauf aufmerksam gemacht, dass sich Hochwasserschä- aus. Wir bieten an, all unsere Erfahrung – insbesondere den in Deutschland bis zum Ende des Jahrhunderts min- mit unserem Infoportal „Kompass Naturgefahren“– in destens verdoppeln können. Das Potsdam-Institut für die Entwicklung eines Bundesportals einzubringen. Ein Klimafolgenforschung erwartet inzwischen sogar eine solches System ist längst überfällig! noch größere Zunahme. Sie rufen also nach dem Staat? Das hört sich nicht sehr optimistisch an. Ich bin überzeugt, dass wir die unmittelbaren Folgen des Man kann das auch anders sehen: Wer weiß, was auf Klimawandels nur mit einer gesamtgesellschaftlichen ihn zukommt, der kann sich vorbereiten. Wir können Anstrengung meistern können. Da gehört die Wirtschaft Menschen, Gebäude und Infrastruktur vor Extremwet- dazu, der Staat und jeder Einzelne. Von staatlicher Seite ter schützen. Damit meine ich übrigens nicht nur Hoch- erwarte ich einen funktionsfähigen Hochwasserschutz, wasser, sondern auch Starkregen oder – wie wir es in vorausschauende Flächen- und Bauleitplanung und das diesem Sommer erlebt haben – anhaltende Trockenheit. Anpassen überholter Bauvorschriften. Letztere sind ein Was bedeutet das konkret? maßgeblicher Grund dafür, warum die wenigsten Häu- Es gibt mehrere Hebel, die wir nutzen können. Einer lau- ser heutzutage auf Hochwasser- und Starkregenereig- tet: Teile dein Wissen! Wir wissen aus unseren Studien nisse vorbereitet sind. beispielsweise, dass ein Starkregenereignis an je- Und der Staat kann dafür sorgen, dass sich dem Ort auftreten kann. Viele Menschen wissen alle Menschen versichern … das nicht. Lediglich 41 Prozent der Gebäude sind Könnte er – ich halte allerdings nichts von einer gegen dieses Risiko versichert. Das sind zwar Pflichtversicherung. Zum einen: Es gibt umfas- deutlich mehr als noch vor einigen Jahren, aber sende private Angebote der Versicherer und kei- noch immer viel zu wenige. Aus diesem Grund nen Notstand. Zum anderen: Wenn man die Men- haben wir die Kampagne „Stadt.Land.unter“ ins schen in eine Versicherung zwingt, gibt Leben gerufen. Videos, Zeitungsartikel, es in der Folge nicht weniger, son- Radiobeiträge, Social Media – wir nut- dern mehr Schäden. Nennen Sie zen alle Kanäle, um die Menschen auf- mir einen Grund, warum ich als zurütteln, sie zu informieren, an ihre Hausbesitzer in Prävention inves- Eigenverantwortung zu appellieren. tieren sollte, wenn die Pflicht- Nehmen Ihnen die Menschen das versicherung alles zahlt. Und ab? Oder heißt es nicht vielmehr, dieser Fehlanreiz beträfe nicht Sie wollen doch nur Produkte nur den Einzelnen. Schon heu- verkaufen … te gibt es auf kommunaler Natürlich verkauft die Branche Pro- Ebene einen riesigen Inves- dukte, deshalb muss die Botschaft titionsstau, wenn es um den doch nicht falsch sein. Am Ende geht Schutz vor Naturgefahren es immer um zerstörte oder schwer geht. Aus dieser Verantwor- beschädigte Häuser, die eben nicht ver- tung werden wir die öffentli- sichert sind. Gerade wenn ein Haus che Hand nicht entlassen. Naturgefahrenreport 2018 Dr. Wolfgang Weiler
05 Schäden durch Naturgefahren 2017 auf einen Blick 2,9 Mrd. € in der Sach- und Sachversicherung Kfz-Versicherung 2017 Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Kfz-Versicherung Gewerbe und Landwirtschaft Voll- und Teilkasko 2,0 1.700 Mio. € 300 Mio. € 850 Mio. € 10 Mio. € 860 Mrd. € Mio. € 1.130.000 60.000 405.000 3.000 Sturm- und Sturm- und Überschwemmungs- weitere Hagelschäden Hagelschäden schäden Naturgefahrenschäden (Elementar) 9 Sachversicherung*: 9,0 8,8 Jährlicher Schadenaufwand für Sturm, Hagel und weitere Naturgefahren (Elementar)** 8 in Mrd. €*** Ab 2002: Sturm und Hagel 7 weitere Naturgefahren (Elementar) 6,6 6 5,4 5,5 5,0 5 4,2 4 3 2,0 2 1 0 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 *) Wohngebäude, Hausrat, Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft **) Schäden durch Überschwemmung/Starkregen, Hochwasser, Erdbeben, Erdsenkung, Schneedruck, Lawinen/Erdrutsch und Vulkane ***) Sturm-/Hagel-, seit 2002 auch weitere Naturgefahrenschäden (Elementar); hochgerechnet auf Bestand und Preise 2017 Quelle: GDV Naturgefahrenreport 2018
06 Kapitel eins Sturm – die rasende Gefahr Was ist Sturm? Starker Wind, sagen Meteorologen. In seiner Stärke liegt zerstörerische Macht. Sturm erschlägt Menschen, zerschlägt Häuser und Fahrzeuge, zerstört den Lebensraum Wald und lebenswichtige Ernte. Durch Deutschland ziehen in Herbst und Winter der Jahre 2017/2018 Orkane, die in Anzahl und Gewalt ihresgleichen suchen. Wenige Stunden nur brauchen sie, um zu vernichten. Die rasende Gefahr ist nicht zu fassen, dafür umso stärker zu spüren. Eine Betrachtung der Naturgewalt Sturm, ihrer Herkunft und ihrer Auswüchse.
08 Zur Typologie eines Phänomens „Winterstürme sind stärker.“ Deutschland erlebt im zurückliegenden Winter verheerende Stürme, mit Friederike einen der schwersten Orkane der vergangenen 20 Jahre. Wo und wie entfalten Stürme sich zur rasenden Gefahr? Auskünfte von Christiana Lefebvre, Klimaexpertin des Deutschen Wetterdienstes (DWD) in Hamburg. E ine rasende Stafette der Verwüstung. Am dauernde sogenannte Westwindlage. Tief- Donnerstag, den 18. Januar 2018, 9 Uhr mor- druckgebiete ziehen in rascher Abfolge über gens, trifft Sturm Friederike, aus den Nieder- die Nordsee ostwärts und beeinflussen mit landen kommend, mit einer Geschwindigkeit von ihren Ausläufern das Wetter in Mitteleuropa. 107 Kilometern pro Stunde auf Aachen. Wenig spä- Wie entstehen Stürme? ter, 10.30 Uhr, fegt er mit 127 Stundenkilometern Sturm ist ja nichts anderes als starker Wind, durch die Stadt Münster. Orkanstärke. Dann wei- also bewegte Luft. Er entsteht beim Ausgleich ter über Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Sachsen von Luftdruckunterschieden zwischen Hoch- und Thüringen. 203 Kilometer pro Stunde auf dem und Tiefdruckgebieten. Je größer die Druckun- Brocken, 130 sind es in Erfurt. Knapp acht Stunden terschiede sind, desto stärker ist der Wind. Ab zieht Friederike durch Deutschland eine 200 Kilo Windstärke 12, ab 118 Kilometern pro Stunde, meter breite, verheerende Bahn. Friederike ist der sprechen wir von Orkan. letzte von fünf zerstörerischen Orkanen dieses Win- Vom Nordatlantik bis nach Deutschland terhalbjahres. Acht Tote fordert er allein in Deutsch- ist es ein weiter Weg. Wie entwickeln sich land, 900 Millionen Euro versicherte Sachschäden. die Stürme auf diesem Weg? Frau Lefebvre, die Wintersaison 2017/2018 Kaltluft aus den Polargebieten und feuchte bringt ungewöhnlich viele und starke Warmluft aus den südlichen Breiten treffen Stürme und Orkane. Woran liegt das? aufeinander. Bei sehr großen Temperaturun- Die Sturmsaison beginnt auch ungewöhnlich terschieden zwischen beiden Luftmassen oder früh, mit Sebastian am 14. September. Üblich starker Höhenströmung sinkt der Luftdruck im ist eher Ende Oktober. Ursache für die Sturm- Tiefdruckgebiet rapide. Dadurch kann es sich häufung sind atmosphärische Bedingungen. zu einem Sturm- oder Orkantief verstärken. Über dem Nordatlantik, da, wo unser Wetter Auf seiner Vorderseite führt es Warmluft nach maßgeblich entsteht, herrscht eine lange an- Norden, auf seiner Rückseite Kaltluft südwärts. Sturm Schäden stürmischer Wind Zweige brechen, erschwertes Äste brechen, Dachziegel Gehen im Freien werden abgehoben durch Stürme Windstärken laut Beaufort-Skala, Windgeschwindigkeit in km/h
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 09 Bäume, die zu Hunderttausenden entwurzeln, weil Je rasender die Stürme, desto größer ihre Zer- der Boden durch tagelangen Regen aufgeweicht ist. störung. Die Orkane des Winters 2017/2018 errei- Autos, die mit ihren Insassen im zentimetertiefen chen 120 Stundenkilometer und mehr. Die Bilanz Schnee von der Fahrbahn geweht werden. Die Schä- dieser Sturmsaison: 21 getötete Menschen; versi- den durch Stürme sind vielfältig. Regen und Tau- cherte Sachschäden von über einer Milliarde Euro. wetter, wie sie etwa Orkan Burglind Anfang Januar 2018 mitbringt, lassen Rhein, Mosel und Saar über- Frau Lefebvre, Stürme gibt es schwemmen. Sturmflut reißt Land und Gebäude im Winter und im Sommer. an den Küsten mit sich. Doch immer wieder und Worin unterscheiden sie sich? hauptsächlich: Bäume stürzen auf Fahrzeuge, Dä- Winterstürme sind stärker, weil die Tem- cher, Menschen, auf die Schienen der Bahn und des peraturunterschiede größer sind. Die Nahverkehrs. Herumwirbelnde Gegenstände prallen Luft über den Polargebieten ist dann käl- gegen Häuser und Wände, Dächer werden komplett ter. Im Winter sind Stürme auch häufi- oder teilweise abgedeckt. ger als im Sommer. Typische Sommer- stürme sind mit Gewitter, Regen oder Hagel verbunden. Sie erstrecken sich meist nur über wenige Kilometer, während Sturm-Typologie Winterstürme mehrere Hundert bis 1.000 Ki- lometer erreichen. Sturm: starker Wind mit einer Geschwindig- Und Tornados? keit von 75 bis 117 Stundenkilometern Tornados sind kleinräumige und kurzlebige, Christiana Lefebvre, (ab Windstärke 9). mehr oder weniger senkrecht stehende Wirbel Sachgebietsleiterin Orkan: Sturm ab 118 Stundenkilometern mit Bodenkontakt. Sie sind an Gewitterwol- maritime Klima Geschwindigkeit (Windstärke 12 und mehr). ken gebunden, ihre zerstörerische Wirkung überwachung beim umfasst bis zu einen Kilometer Breite. Die ho- Seewetteramt des Hagelsturm: starker, böiger Wind mit Hagel hen Temperaturunterschiede in Gewitterwol- Deutschen Wetterdiens- während eines Gewitters. Die Größe der Ha- ken und starke Windänderungen lassen die tes (DWD) in Hamburg gelkörner reicht von fünf Millimetern bis über Luft senkrecht rotieren. Tornados in Deutsch- zehn Zentimeter. land dauern meist nur wenige Minuten und Tornado: senkrechte, stark rotierende sind schwer vorhersehbar. Luftsäule. Die Geschwindigkeit reicht von Welche Regionen in Deutschland sind 63 Stundenkilometern (leichter Tornado) bis stärker von Stürmen betroffen? 500 Stundenkilometern (sehr starker Tornado). Am stärksten exponierte Bergkuppen, da die Windgeschwindigkeit mit der Höhe über schwerer Sturm orkanartiger Sturm Orkan Die Orkane 2017/2018 Bäume brechen, größere Bäume entwurzeln, starke Schwere Xavier bis 177 Schäden an Gebäuden Schäden an Gebäuden Verwüstungen km/h Sebastian Herwart bis 120 bis 176 km/h km/h Burglind Friederike bis 159 bis 203 km/h km/h 89–102 km/h 103–117 km/h ≥ 118 km/h 10 11 12 Naturgefahrenreport 2018
10 Vier der zehn verheerendsten Naturkatastrophen sind Stürme Schadenaufwand Sach- und Kraftfahrtversicherung: Sach1 Die zehn verheerendsten Naturkatastrophen in Deutschland 2002-2017 in Mio. € 31.07.–02.09.2002 August-Hochwasser 4.050 18.01.–19.01.2007 Sturm Kyrill 3.050 27.07.–28.07.2013 Hagel Andreas + Bernd 1.850 25.05.–15.06.2013 Juni-Hochwasser 1.950 0 1.950 27.10.–28.10.2002 Sturm Jeanett 1.250 100 1.350 29.05.–02.06.2008 Hagel Hilal 500 750 1.250 18.06.–21.06.2002 Hagel Tracy u. a. 300 500 800 08.06.–10.06.2014 Sturm Ela 500 250 750 19.06.–20.06.2013 Hagel Manni + Norbert 300 450 750 28.02.2010 Sturm Xynthia 650 50 700 ¹ Hochgerechnet auf Bestand und Preise 2017; gerundet in 50 Mio. € ² Überschwemmungsereignisse werden in der Kraftfahrtversicherung erst ab einer bundesweiten Schadenhäufigkeit von 0,1‰ ermittelt. Somit ist das Juni-Hochwasser kein Kumulereignis in der Kraftfahrtversicherung. Quelle: GDV Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 11 + Schadenaufwand = Schadenaufwand Kraftfahrt1, 2 Sach- und Kraftfahrt1 100 4.150 250 3.300 1.100 2.950 Grund zunimmt. Von Winterstürmen wasser weicht Fahrzeuginnenräume, sonden, die an Ballonen in bis zu 30 insbesondere der Norden. Orkane wie Wohnräume und Hausrat auf. Kilometer Höhe aufsteigen. Insge- Friederike 2018 oder der verheerende samt erfassen wir Daten wie Wind- Orkan Kyrill 2007 zeigen aber, dass Frau Lefebvre, beobachtet der geschwindigkeit und -richtung, Luft- auch die Mitte und der Süden nicht DWD eine Zunahme von Stürmen? druck, -feuchte und -temperatur über sturmsicher sind. Im Sommer tre- Wir sprechen von einer dekadischen ganz Deutschland. ten Stürme, die durch Gewitter aus- Oszillation, einer wiederkehrenden Wie entstehen daraus gelöst werden, vorrangig in der Süd- Schwankung. Es gibt Phasen mit Vorhersagen? hälfte Deutschlands auf. mehr Stürmen, es gibt Phasen mit Dank unserer modernen Wetter- weniger Stürmen. Jahre, in denen vorhersagemodelle lassen sich Über eine Milliarde Euro versicherte viele Stürme vorkommen, sind mit schon kleinste Tiefdruckgebiete Sachschäden, Hunderttausende um- einem verstärkten Westwinddrift beim Entstehen erkennen und über gestürzte Bäume, zerstörte Dächer, über dem atlantisch-europäischen Tage verfolgen, sodass wir recht- zerschlagene Fahrzeuge. Die Bilanz Raum verbunden. 1990/1991 hatten zeitig Sturmwarnungen herausge- des Sturmwinters 2017/2018 ist ver- wir viele kräftige Orkane im Win- ben können. Um die Zugbahn des heerend, die Zahl der Toten erschre- ter; dann 2007 unter anderem Or- Sturms und die voraussichtlich be- ckend. Feuerwehrleute sind darunter, kan Kyrill, 2017/2018 gleich fünf troffenen Gebiete vorhersagen zu die Menschen in Not helfen wollen oder Winterstürme. Perspektivisch aller- können, fließen alle Daten in unse- Straßen freiräumen. dings müssen wir mit einer Zunah- re Modellrechnungen ein. Winterstürme sind stärker, häufi me stärkerer Stürme rechnen. Und Ihr Wetteramt hat seinen Sitz im ger als sommerliche Hagelstürme. die Sturmtiefs verlagern sich nach windreichen Hamburg. Ist es Die schlimmsten Hagelstürme lie- Nordwest- und Mitteleuropa. auch die stürmischste Wetter- gen fünf Jahre zurück. Im Juni 2013 Der Deutsche Wetterdienst station des DWD? treffen Andreas und Bernd vor al- warnt oft schon mehrere Tage In Hamburg weht zwar oft ein fri- lem auf Niedersachsen und den Sü- im Voraus vor Stürmen. Woher scher Wind, doch die sturmreichste den. Mit Windgeschwindigkeiten beziehen Sie Ihre Erkenntnisse? Wetterstation ist auf dem Brocken bis zu 170 Kilometern pro Stunde; Wir erhalten weltweite Wetterdaten im Harz, mit orkanartigen Spitzen- mit extremen Hagelschlägen. Ihr zer- und beobachten rund um die Uhr böen oder Orkanböen an durch- störerisches Werk: über 1,8 Milliar- mit Messgeräten an unseren 268 schnittlich 69 Tagen jährlich. Auf den Euro versicherte Sachschäden, hauptamtlichen Wetterstationen, der Zugspitze gibt es diese an elf bis 1,1 Milliarden Euro an Kfz-Schäden. auf Bojen und Forschungsstationen zwölf Tagen, gefolgt von Kap Arko- Die Hagelstürme reißen nicht nur Dä- in Ost- und Nordsee. Auch Schiffe na an der Ostsee mit sieben Tagen, cher ab; sie zerlöchern Fassaden und erfassen das Wetter. Dazu kommen Helgoland und St. Peter-Ording mit Karosserien. Nachdringendes Regen- Satellitenbeobachtungen und Radio- sechs bzw. fünf Tagen. Naturgefahrenreport 2018
12 Krisenmanagement der Versicherer „Die Azubis müssen mit ran.“ Orkan Friederike hinterlässt am 18. Januar 2018 Zehntausende, Hunderttausende Schäden. Hunderttausende Schäden – das sind Hunderttausende Kundinnen und Kunden in Not. Die Versicherungsunternehmen helfen ihnen mit Krisenmanagement und Samstagsarbeit. Für sie sind die Verwüstungen des Orkans der „moment of truth“. Momentaufnahmen dieser Wahrheit. E s ist eine ihrer ersten Amtshandlungen. rike ist zu dieser Zeit an der Grenze zu Polen Kerstin Kastenholz hat gerade die Posi angekommen. Sie hinterlässt eine mehr als tion als Leiterin der Sachversicherung 200 Kilometer breite Bahn der Zerstörung. bei der Allianz übernommen, da löst sie den Durchatmen. Los. Der Krisenstab ruft den Notfall aus. Die erfahrene Frau weiß: Dieser Kumulplan aus, den Managementplan für sol- Orkan braucht den Sonderstatus. „Die Calls che verheerenden Ereignisse. steigen.“ Stündlich. „Einmal mitten durch Deutschland.“ Zuerst kommen die Anrufe geschädigter Kundinnen und Kunden aus Der Sturm trifft sie mit voller Wucht Nordrhein-Westfalen, dann aus Niedersach- Wie Kerstin Kastenholz, wie Silke Liedtke sen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, agieren die Krisenmanagerinnen und -mana Sachsen – entlang der Zugbahn des Sturms. ger in den betroffenen Versicherungsun- Silke Liedtke sieht die Windfelder auf ternehmen im Westen, Norden, in Mittel- dem Smartphone, sie sitzt in einem Meeting deutschland. Tausende Schadenmeldungen in Hamburg. Ich muss los, denkt sie. Sie bricht gehen bereits am Tag des Orkans ein. 17.000 das Meeting ab, unterrichtet einen Kollegen. allein bei der Westfälischen Provinzial. Bei Gemeinsam fahren sie zurück zum Firmensitz der Allianz werden es in der ersten Woche der Westfälischen Provinzial nach Münster, 30.000 Schadenmeldungen mehr als in nor- zurück in den Sturm. Die Bahn hat da ihren malen Zeiten sein. Der „moment of truth“, Zugverkehr aus Sicherheitsgründen bereits Moment der Wahrheit, nennen sie solche Er- eingestellt. Friederike stürmt mit 140 Stunden- eignisse bei der Provinzial. Jetzt bewahrheitet kilometern übers Land – lebensgefährlich. Der sich, was sie ihren Kunden versichern: schnel- Kollege lenkt den Wagen. Sie telefoniert: Wie le, unkomplizierte Hilfe. Jetzt, da der Sturm viele Schadenmeldungen gehen ein? Sie ruft „uns mit voller Wucht trifft“, wie Silke Liedtke den Krisenstab zusammen. Der tagt noch am sagt. 203 Kilometer pro Stunde auf dem Bro- Abend dieses Donnerstags, 18. Januar. Friede cken im Harz. Acht Tote. Kein Bahn- und Flug- Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 13 verkehr, unbefahrbare Straßen. Viele Stadt- diese Weise, obwohl es Onlineportale gibt. Es teile ohne Telefon. Hunderttausende umge- ist, als wollten sie in den Stunden der Not eine stürzte Bäume, Schäden an Dächern, kom- menschliche Stimme hören, die ihnen sagt, was plette Häuser kaputt. zu tun ist. „Wir arbeiten dann ein wenig wie Durchatmen, los. Bei der Allianz, bei der die Leitstelle der Feuerwehr“, sagt Dr. Martin Westfälischen Provinzial und ihrer Schwester Creutz von der Provinzial Düsseldorf, „ruhig in Düsseldorf, bei der LVM Versicherung, der bleiben, das Notwendige klären, Hilfe in Aus- R+V und vielen anderen Versicherern besetzen sicht stellen, Hilfe organisieren.“ auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Am zweiten Tag nach dem Sturm wissen Bereichen die Telefone. Leitungen zu Schwes- die Unternehmen allmählich, was geschehen terunternehmen werden geschaltet, überall ist. Eine unglaublich hohe Anzahl an Schäden. im Land nehmen Kollegen die Schadenmel- 120.000 Sachschäden allein bei der Westfä- dungen der Kunden entgegen. Die Homepages lischen Provinzial, 150 Millionen Sachwerte. und Nachrichten werden mit Informationen 65.000 Schäden bei ihrer Schwester in und um bestückt: Was ist bei einem Schaden zu tun? Düsseldorf. 60.000 bei der R+V. 70.000 Schä- Die Agenturen vor Ort erhalten Checklisten. den bei der LVM, „damit haben wir in einigen Alle Versicherungsunternehmen haben Stunden die Hälfte der Schäden, die wir sonst für Naturkatastrophen einen Krisenplan. Da- in einem Jahr haben“, sagt Benedikt Hoff- mit die Schäden schnell bearbeitet werden schulte. Zu diesem Zeitpunkt wird deut- können. „Nach jedem Extremereignis ma- lich: Für alle fünf Versicherungsunter- chen wir ein Update dieses Plans“, sagt Bene- nehmen ist Friederike das schlimms- dikt Hoffschulte von der LVM. te Ereignis seit Orkan Kyrill, genau Am Abend des 18. Januar 2018, da wissen elf Jahre zuvor. „Richtig heftig“ hat es sie, dass es viel wird. Wie viel, ahnen sie erst sie erwischt, sagt Kerstin Kastenholz. nach zwei Tagen. Entlang der ganzen 200 Kilometer breiten Bahn von Nordrhein-West- „Ein Orkan richtet heute viel größere falen bis Sachsen. Sachschäden an als ein Sturm gleicher Stärke in den 60er-Jahren, weil heute viel mehr da ist, das kaputtgehen kann. Das Land liegt lahm Es gibt also auch viel mehr Dinge, Das ganze Land diskutiert nach Friederike den die wir schützen müssen.“ Klimawandel. Der Orkan ist der fünfte verhee- Sven Plöger, Sven Plöger, Meteorologe und Klimaforscher rende Orkan in wenigen Monaten; im Som- TV-Meteorologe und mer 2017 überschwemmen schlimme Starkre- Klimaforscher, ist ei- Ruhe schaffen nach dem Sturm. Das Aufräu- gen Berlin, Brandenburg und den Harz. Unter ner der prominentes- men und Reparieren beginnt am Telefon. Die dem #Friederike sammeln sich in den sozialen ten Warner vor dem meisten Kunden melden ihren Schaden auf Medien Erfahrungsberichte und kuriose Klimawandel. Naturgefahrenreport 2018
14 Meldungen. Menschen organisieren sich wir unseren Kunden schuldig“, sagt Martin Mitfahrgelegenheiten, weil in einigen Teilen Creutz von der Provinzial Rheinland. Deutschlands die Züge tagelang nicht auf die Gleise können. In Nordrhein-Westfalen bleiben Schulen wegen der Schäden geschlossen und Struktur bis ins kleinste Detail die Eltern managen digital die Kinderbetreu- Wer macht was? Die Versicherungsunterneh- ung. Ein Stück öffentliches Leben liegt lahm. men organisieren durch – von den Firmen- „Sturm, Sturm, Sturm“, sagt Alois Dittrich. zentralen bis in die Agenturen vor Ort. Die Seine R+V Versicherung hat gerade die vorhe- Agenturen sind die häufigsten Ansprechpart- rigen Naturkatastrophen zu den Akten legen ner für die Kunden. Hier laufen die Anfragen können. Jetzt geht es wieder los. Auch für die auf, die Meldungen. Sie vereinfachen das Ver- Kunden, von denen viele erneut geschädigt fahren. Schäden bis 5.000 oder 6.000 Euro werden. „Viele haben noch die Notabdeckung regulieren die Agenturen selbst, beurteilen von Orkan Burglind auf dem Dach“, sagt auch die Schäden, geben die Gelder frei. Aus den Martin Creutz. „Da kommt Friederike und hat Zentralen kommt regelmäßig die Abfrage: leichtes Spiel.“ „Reichen eure Kapazitäten? Sonst hisst die weiße Flagge.“ „Wir leben in einer hochtechnisierten Die großen Schäden schultern sie in den Welt und glauben, wir hätten alles im Griff. Zentralen, schaufeln den Experten für die Wir müssen wieder lernen, komplexen Fälle den Rücken frei. Einsturz- dass Stürme, Gewitter und Starkregen gefährdete Dächer und Gebäude, in die der lebensgefährlich sind.“ Orkan gefahren ist – und die Statik erschüt- Sven Plöger tert hat. Oder Gewerbehallen, in denen Pro- duktionsgüter ungeschützt liegen. Oder dann, Der zweite Tag nach Friederike ist ein Samstag. eben doch: Abriss von Gebäuden, die der Or- Dieser und die nächsten Samstage werden zu kan zerstört hat. Arbeitstagen in den Versicherungsunterneh- Die Bäume sind es oft, die den Schaden in men. Überstunden sind in diesen Zeiten selbst- die Länge ziehen. Oft müssen sie von Exper- verständlich – und alle ziehen mit. Ein Drittel ten zersägt, die schweren Stämme mit Spezial der Schäden schaffen die Allianz-Mitarbeiten- werkzeug vom Grundstück gezogen werden, den an den Samstagen. Bei der Westfälischen bis ein Gutachter der Versicherer sich das Dach Provinzial nehmen Teilzeitarbeitende Note- anschauen kann. books mit nach Hause. Die LVM spannt ihre Schaden annehmen, Gutachter rausschi- Azubis mit ein. „Für sie gute Praxis, für uns eine cken, Schaden bewerten, Gelder freigeben, große Hilfe“, sagt Benedikt Hoffschulte. Hun- Handwerker organisieren, Sanierung beglei- derttausende Schäden sind zu bearbeiten. ten. Hunderttausendfach. Erst zwei Monate Abgedeckte Dächer, die geflickt werden nach dem Orkan läuft der Arbeitspuls lang- müssen, heruntergewehte oder beschädigte sam wieder auf Normalmaß. Vorbei ist es Dachziegel. Unzählige umgestürzte Bäume, die noch lange nicht. Manchmal wird auch erst Fenster oder Dächer beschädigen; kaputte Satel- fünf Monate danach ein Schaden gemeldet, litenschüsseln. Die meisten Schäden liegen bei der erst jetzt auffällt. 3.000 bis 5.000 Euro. Auch sie müssen schnell Fünf Monate danach, im Sommer 2018, da repariert werden, damit keine Folgeschäden prasseln die ersten Unwetter wieder auf Nord- entstehen – Dächer, die noch stärker zerstört rhein-Westfalen, Sachsen und Rheinland-Pfalz werden. Bäume, die weiter abrutschen können. herein. Die Calls der Kunden steigen wieder. Hunderttausende Schäden sind Hundert- tausende Kunden, die Geld und Handwerker „Wir müssen eine brauchen. „Wir können die Leute ja nicht vier Doppelstrategie fahren: uns an Wochen warten lassen“, sagt Alois Dittrich von den Klimawandel anpassen und der R+V. Das gehört zum „moment of truth“: einen weiteren vermeiden.“ Einen Tag nach Schadenmeldung sollen die Kunden wissen, wie es weitergeht. „Das sind Sven Plöger Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 15 Sturmschäden in Parks und Wäldern Die verlorenen Bäume S turm fällt Holz. In der Orkansaison im Herbst und Winter der Jahre 2017 und 2018 fallen Millionen Bäume in Deutschland – brechen ab oder entwurzeln komplett. Was bedeutet dieser Verlust? Eine Wanderung durch wirtschaftliche und kulturelle Schneisen, durch geschlagene, verletzte Wälder und zerstörte Landschaftsbilder. E s trifft vor allem die Nadelbäume, vor al- im September, der schlimme Orkan Xavier im lem die Fichten. Auch Lärchen, Kiefern. Oktober, kurz danach Herwart, da tragen sie 80 Jahre, 100 Jahre und älter. Sie fallen noch ihre Blätter. Die dichten Kronen bieten zuhauf auf großen Flächen, allein 5.000 Hek- dem Wind mehr Angriffsfläche. Tagelanger tar Wald in Nordrhein-Westfalen. „Bis wir das Regen hat zuvor den Boden aufgeweicht, gibt wieder aufgeforstet haben, werden zwei Jahre den Wurzeln kaum noch Halt. Stolze, ehrwür- vergehen“, sagt Förster Frank Homuth aus Soest dige Bäume werden zur leichten Beute. Anfang in Nordrhein-Westfalen. Acht Jahrzehnte wird Januar 2018 Burglind. Am schlimmsten wütet es dauern, bis die neu gepflanzten Bäumchen Friederike am 18. Januar. „Nach diesen Stürmen zu Bäumen gewachsen sind. muss auch ich mein Waldverständnis revidie- „Reiner Nadelwald ist sturmanfällig, weil ren“, sagt Andreas Wiese von der AXA Versiche die Bäume zu flach wurzeln. Einen soliden rung: reine Nadelwälder sind anfälliger als Mischwald wirft ein Sturm so schnell nicht um“, Mischwälder, Mittelgebirge gefährdeter als sagt Christoph Weber Chrustschoff von der Go- Bäume im Tiefland. Die Stürme scheren sich thaer Allgemeinen Versicherung. Sein Unter- nicht um die vermeintlichen Risiken. „Das nehmen versichert Waldbestände und berät in Risiko ist immer schwerer zu fassen“, sagt der der Prävention. 2017/2018 knicken auch stabile Waldexperte der AXA, dessen Kunden Bäume Laubbäume weg. Der erste Sturm kommt früh, zuhauf verlieren. Naturgefahrenreport 2018
16 Eine Lücke im Generationenvertrag und Magdeburger Agrar erstattet Schäden ent- Elf Millionen Festmeter Holz schlägt Orkan wurzelter oder gebrochener Bäume, die in vie- Friederike im Norden, Westen und Osten len Fällen in den fünfstelligen Bereich gehen. Deutschlands. Das entspricht rund 3,5 Millio- Der Verlust, den Friederike unter den 300 ver- nen Bäumen. Nur die Orkane Kyrill 2007 und sicherten Kunden anrichtet, sei „deutlich spür- Lothar 1999 sind verheerender. Sie lassen das bar“, sagt Experte Peter Buchhierl. Dreifache stürzen. In Brandenburg fällen Xa- „Ein Wald ist ein Generationenvertrag“, vier und Friederike 2018 ein Drittel des gesam- sagt Andreas Wiese. Fällt der Sturm die 80 Jahre ten wirtschaftlichen Einschlags eines Jahres, alten Fichten zu Hunderttausenden, entgeht 1,4 Millionen Festmeter Holz. In Nordrhein- den Waldbesitzern der steigende Wert, bis die Westfalen lässt allein Friederike eine Milli- nächsten Bäume herangewachsen sind. on Meter Holz stürzen, 1,5 Millionen in Hes- Die Fachleute der Waldwirtschaft spre- sen. Für einige Waldbesitzer existenzbedro- chen von Festmetern Holz; Prof. Michael Rohde, hende Verluste. Der höchste Einzelschaden, Gartendirektor der Stiftung Preußische Schlös- den beispielsweise Weber Chrustschoffs Ver- ser und Gärten Berlin-Brandenburg, spricht sicherungsunternehmen betreut, geht in die von UNESCO-Welterbe. So manifestiert sich Hunderttausende. Ein sächsischer Waldbesit- der Verlust der Bäume bereits im Vokabular. zer verliert Bäume auf nahezu seiner gesam- Eintausend Bäume fallen in den kulturhistori- ten Fläche von 2,6 Hektar. Auch die Münchener schen Anlagen der Stiftung Preußische Schlös- 11,4 Millionen Hektar Wald wachsen in Deutschland auf rund einem Drittel der Landesfläche. 48 Prozent davon gehören zwei Millionen privaten Waldbesitzerinnen und Waldbesitzern. Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 17 ser und Gärten rund um die Schlösser in Pots- dioxid; über die Wurzeln wird das Treibhaus- dam Sanssouci, Charlottenburg in Berlin oder gas auch im Waldboden gebunden. im brandenburgischen Rheinsberg. Einzeln Millionenfacher Verlust nach den Orka- stehende Bäume sind dabei, Solitäre aus der nen. Auch höchste Gefahr. Die Parks der Stif- Zeit des 30-jährigen Krieges, ganze Baum- tung Preußische Gärten, viele Wälder in Nord- gruppen und geschlossene Gehölzpartien. rhein-Westfalen, Hessen, Sachsen-Anhalt oder Blutbuchen, Platanen, Rosskastanien, Eschen Sachsen sind tagelang, wochenlang nicht be- und Stieleichen. Eintausend, zehnmal so viel gehbar. Die gestürzten Bäume versperren Zu- wie in einem üblichen Jahr, sagt Michael Roh- fahrtsstraßen und Wege; verletzte Bäume de: „Dramatisch.“ Und er meint damit nicht drohen umzustürzen. Riskant für Menschen nur dramatisch für die Gärtner, deren Herz und andere Bäume, die sie mitreißen könnten. an jedem einzelnen der sorgfältig gepflegten Forstleute suchen unter Lebensgefahr, die Wäl- Bäume hängt. Er meint die Zerstörung von der zu beräumen – und das Holz wenigstens für einzigartiger Landschaftskunst, die seit vie- die Verarbeitung zu retten. Auch das ist je nach len Jahrhunderten das kulturelle Gedächtnis Baumart unterschiedlich. „Viele Kiefern bre- der Menschheit bildet. In den Wäldern hinter- chen in drei Meter Höhe weg – daraus können 80 lassen die Stürme breite Schneisen oder kahle Sie kein brauchbares Holz mehr machen“, sagt Flächen, Wunden in sensiblen Ökosystemen. Versicherungsexperte Weber Chrustschoff. In den Parks hinterlassen sie Lücken. Wun- Je länger das Holz liegt, desto größer den, die ein Gemälde auseinanderbrechen. auch die Gefahr, dass sich Schädlinge einnis- Jahre und mehr ten, die es für eine Weiterverarbeitung ver- braucht ein Baum nichten. Mit Hubschraubern holen Exper- Lebensspender, verloren zum Wachsen. ten die Stämmevon unzugänglichen Hän- Was sind Bäume? Lebensspender, auf vielfäl gen. Der unerwartete Zugewinn an Holz tige Weise. Sie produzieren den Sauerstoff, stellt die Waldeigentümer und Forstleute den wir Menschen und alle Lebewesen at- dann vor ein anderes Pro- men. Jeder Baum im Durchschnitt vier Tonnen blem: Sägewerke und jährlich – genug für elf Menschen. Sie geben Holzverarbeiter neh- Schutz, strahlen Schönheit aus. Sie sind Le- men die Massen nicht ab, bensraum, Erholungsraum. Ihr Holz dient der Wert des ohnehin min dem Bau, dem Heizen, den viel- deren Sturmholzes sinkt noch fältigen Dingen des Alltags. weiter. Damit das Holz länger nutzbar bleibt, be- In Schlossparks und Gärten wässern viele Forstleute die Stämme auf künst- formen sie die Landschaft lichen Nassflächen. zu einer idealisierten Welt, In den königlichen Parks der Stiftung las- die wir durchwandern, ge- sen die Gärtner zunächst bewusst einzelne nießen; uns inspirieren lassen. Baumstümpfe stehen, als Zeichen des Verlo- Als Form-, Gestaltungswillen und renen. Die Nachpflanzungen für die grünen Lebensausdruck früherer Zei- Raumbilder werden die Stiftung noch ten und Künstler. Zum direkten viele Jahre beschäftigen. Weil Geld Schaden, so das Bundesland- knapp ist; weil der denkmalpfle- wirtschaftsministerium in seiner gerische Anspruch einer Studie „Extre m authentischen Welt wetterlagen in der erbe-Gartenkunst mit Land- und Forst- zu pflanzen ist. Wachsen sollen wie- wirtschaft“, kommt bei der die gleichen oder adäquate Arten, das be- massenhaften Sturmschäden der indi- deutet sorgfältiges Planen. rekte, langfristige. Direkt fallen die Bäu- me, indirekt geht damit Wald als lebensnot- wendiger Klimaregulierer verloren, als Was- Sorgfalt für biologischen Kreislauf sersammler, -speicher und -reiniger. Als Filter: Wie umgehen mit solchen extremen Natur Bäume entziehen der AtmosphäreKohlen- ereignissen? Mit zunehmenden Stürmen, Naturgefahrenreport 2018
18 größerer Hitze, stärkerem Regen? Der Klima- laufen den Bestand. Forstleute durchmischen wandel verschiebt Vegetationsphasen, setzt seit einigen Jahren die Wälder – setzen, wo die Bäume unter Stress, mindert Wachstum und Bodenqualität es erlaubt, stabile Laubbaum Entfaltung und macht sie anfälliger für Pilze, arten wie Buche, Esche, Bergahorn zwischen Krankheiten, Stürme. Wie umgehen damit? die anfälligen Fichten, Tannen oder Dougla- „Nicht widerstehen, anpassen“, sagt Michael sien. Die wurzeln tiefer, stehen schwerer im Rohde. Ein Resultat eines internationalen Boden und bieten den leichten immergrünen Fachkongresses, den die Stiftung 2014 für Bäumen Windschutz. Wenn sie herangewach- Gartendenkmale organisiert hat. Dafür denkt sen sind. Schon 10 bis 20 Prozent Laubbäu- die Stiftung mit einer Arbeitsgruppe der Ber- me in einem Nadelwald sichern ihn besser lin-Brandenburgischen Akademie der Wis- vor Stürmen, bringen indes aber auch 10 bis senschaften „alte Konzepte neu“ und forscht 20 Prozent weniger Holzertrag. zum Gesamtsystem von Pflanzen, Boden und „Gemischtwarenladen Wald“ heißt das Wasser. Die Gärtner kultivieren einheimi- Leitbild des Deutschen Forstwirtschaftsra- sche Bäume wieder in eigenen Reviergärten. tes. Neben dem Verzicht auf Monokulturen Pflanzen aus den Baumschulen vor Ort sind gehört dazu auch der Verzicht auf Monogene- widerstandsfähiger als Pflanzen, die in ande- rationen. Im sogenannten Plenterwald wach- ren Regionen aufwachsen. Sie gehen sorgfäl- sen Jung und Älter nebeneinander – und hel- tiger mit dem biologischen Kreislauf um, sagt fen, die Windgewalt der Orkane zu verteilen. Michael Rohde. Es gibt Bewässerungspläne für Fallen die größeren Bäume, stehen die jünge- den Sommer. Mulchschichten halten Feuch- ren bereits als Nachwuchs in den Startlöchern tigkeit im Boden, gedüngt wird mit biologi- und müssen nicht aufwendig neu gepflanzt schem Dünger. werden. Doch auch diese nächsten Genera Anpassen an zunehmende Wetterextre- tionen von Bäumen müssen erst wachsen. me und Klimawandel – für Parks und Wäl- Eine Jahrhundertaufgabe. „Der Wald, der der, deren Biorhythmus in Jahrzehnten und schafft das schon irgendwie“, sagt AXA-Ex- Jahrhunderten tickt, eine Aufgabe, die Geduld perte Wiese. „Ob wir Menschen das schaffen, braucht, die nicht da ist. Die Ereignisse über- das ist fraglich.“ Versicherungsschutz für den Wald Schutz vor Sturmschäden eines Experten, durch digitales Mit einer Wald-Sturmversiche- Erfassen mit Drohnen, Hub- rung können sich Waldbesitzer schraubern oder Satellitenbil- gegen Risiken durch Stürme dern. Anschließend erfolgt die und Orkane ab Windstärke 8, Berechnung. ab 63 Kilometer Geschwindig- keit pro Stunde absichern. Ver- Schutz vor sichert ist der stehende Be- Waldbrandschäden stand an Bäumen, erstattet Versicherungsunternehmen wird der Ertragsausfall an wirt- bieten Versicherung vor Sturm- schaftlich genutztem Holz, schäden auch im Paket mit berechnet in der Regel anhand einer Waldbrand-Versiche- der Festmeter. Die Entschädi- rung an. Diese deckt Risiken, die gung wird im Schadenfall zeit- durch Brand, Blitzeinschlag und nah erstattet. Dazu wird der Explosion entstehen. Versichert Schaden zunächst begutachtet sind der stehende Waldbestand, und bewertet – je nach Umfang geschlagenes Holz, Abräum und Größe der Fläche durch kosten, Feuerlöschkosten und persönlichen Augenschein Kosten der Wiederaufforstung. Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr 19 Störfall-Management der Bahn „Morgen fahren wir wieder.“ Mehrere Tage liegt in der Sturmsaison 2017/2018 teilweise der Zugverkehr lahm, sitzen Passagiere auf Bahnhöfen fest. Auf Hunderten Kilometern Strecke entstehen Millionenschäden. Wie agiert das Sturmmanagement der Bahn? Welche Vorsorge betreibt das Unternehmen? Einblicke von Achim Wolters, Leiter des Bahn-Betriebsmanagements. Herr Wolters, wie blicken Sie auf die zu- Klimaanlagen aus, sind die Toi rückliegende Sturmsaison 2017/2018? letten nicht mehr benutzbar. Wir hatten insgesamt zwölf Ereignisse, bei de- Sobald möglich fahren die nen wir die Ausnahmestufe ausrufen mussten Züge bis zur nächsten Station und unser zentraler Arbeitsstab zusammen- mit gedrosselten Geschwin- kam. Normal sind jährlich zwei bis drei sol- digkeiten. An den Bahnhö- cher Situationen. Ich selbst bin im Oktober vier fengilt es, die Menschen wei- Nächte hintereinander nicht aus der Leitzen terzu versorgen – wir richten trale herausgekommen. Es gilt, den Betrieb für Aufenthaltszüge ein, geben Hotel- einen Großteil unseres Streckennetzes zu ma- und Taxi-Gutscheine aus. Und schließ- Achim Wolters nagen, damit die Passagiere gut in der nächs- lich liegt unser Augenmerk natürlich darauf, ist als Leiter des Be- ten Station ankommen, Schäden repariert und die Strecken, so schnell es geht, wieder befahr- triebsmanagements der Verkehr schnell wieder aufgenommen wer- bar zu machen – Gleise zu beräumen, Ober der Bahn auch für den kann. leitungen zu reparieren. Störfälle zuständig. Wie managt die Bahn solche Beim Orkan Friederike im Januar 2018 Sturmereignisse? sowie bei Herwart und Xavier im Oktober Das beginnt frühzeitig mit der regelmäßigen 2017 haben Sie den Verkehr in einigen Wetterbeobachtung. Bei entsprechenden Wet- Regionen eingestellt. Ab wann geht terlagen setzen wir die Vorbereitungsstufe Null nichts mehr auf der Schiene? in Kraft, möglichst zwei Tage vor dem Ereig- Windgeschwindigkeiten ab 105 Stundenki- nis. Stufe Eins folgt meist direkt – das Personal lometern sind für uns das Signal. Kommen der Leitzentrale wird verstärkt. Die Einrichtung Züge zum Stehen, weil die Strecke beschädigt des zentralen, oder je nach Ausmaß des regio- ist, geht es darum, unsere Fahrgäste möglichst nalen, Arbeitsstabes für Koordination und Ma- schnell und gut weiter zu bringen. Zudem sind nagement wird angekündigt, die Mannschaf- unsere Fahrzeuge zu schützen. Denn die Bahn ten werden in Bereitschaft versetzt und ver- kann bei solchen Wetterextremen leider nicht stärkt. Ist dann nur eine Region betroffen, gilt immer einsatzbereit sein, obwohl das viele er- Stufe Zwei. Das heißt, die Leute in der Betriebs warten. Unsere Strategie lautet dann: Heute zentrale vor Ort können den Sturm in ihrem ist Unwetter, morgen fahren wir wieder. Dazu regionalen Arbeitsstab behandeln. Ab zwei be- müssen die Züge und Mannschaften aller- troffenen Regionen schaltet sich der zentrale dings alle wieder an den richtigen Orten sein. Arbeitsstab für die überregionale Koordination Wenn möglich überfliegen wir die Strecken ein – Stufe Drei. mit Hubschraubern, um uns ein genaues Bild Und dann, wenn der Sturm tobt? darüber zu machen, wo Gleise blockiert oder Priorität haben unsere Fahrgäste in auf der Oberleitungen beschädigt sind. Ein schnell Strecke liegen gebliebenen Reisezügen. Das verfügbarer Überblick über die Lage hilft bei war in der vergangenen Sturmsaison mehr- der Steuerung der Entstörungskräfte. mals der Fall. Die Menschen müssen dann Wenn der Zugverkehr lahm liegt, schnell versorgt werden, denn wenn zum Bei- haben Sie mit unzufriedenen Kunden zu spiel durch Schäden an den Oberleitungen der rechnen. Wie gehen Sie damit um? Strom wegbleibt, fallen irgendwann auch die Nach den Erfahrungen mit Xavier haben Naturgefahrenreport 2018
20 Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr wir die Passagiere bei den folgenden Stürmen Was sind die häufigsten Schäden? bereits früh im Vorfeld auf verschiedenen Ka- Das sind Schäden an den Oberleitungen. Die nälen gebeten, ihre Reise möglichst um einen werden nicht nur durch Äste oder umstür- Tag zu verschieben. Das hat gut funktioniert, zende Bäume verursacht, auch zum Beispiel das Fahrgastaufkommen an den Bahnhöfen durch herumfliegende Ziegel oder Folien aus war deutlich geringer. Wichtig ist es, klar und der Landwirtschaft. Bei den Stürmen der Sai- umfassend zu kommunizieren, wie die be- son 2017/2018 hatten wir auch zahlreiche um- triebliche Lage ist und wann wir den Zugver- gestürzte Bäume, die die Gleise blockierten. kehr wieder aufnehmen. Dann haben die Pas- Welche Erfahrungen ziehen Sie aus sagiere in der Regel auch Verständnis. den verheerenden Stürmen der Saison Wie arbeiten Sie an der Beseitigung 2017/2018? Wie schützen Sie sich von Sturmschäden? vor solchen Schäden? Wir haben im Bundesgebiet Korridore de- Am besten soll kein Baum mehr aufs Gleis fal- finiert, die innerhalb von 24 Stunden wie- len. Nach der zurückliegenden Sturmsaison der frei sein müssen. Das sind die Hauptver- haben wir unser Präventionskonzept deutlich kehrsstrecken zu den Verkehrsknoten Berlin, intensiviert. Seit Anfang 2018 setzen wir den Hamburg, Hannover, Köln, München, Leip- neuen „Aktionsplan Vegetation“ um, der ge- zig. Da schicken wir die Entstörungsfahrzeu- meinsam mit Experten entwickelt wurde. Die- ge zuerst hin, manchmal müssen sie sich Me- ser sorgt durch eine Reihe zusätzlicher stra- ter für Meter durch Äste und Bäume durchar- tegischer Maßnahmen für einen robusteren beiten. An zweiter Stelle stehen sechs Korri- Waldbestand entlang der Strecken und damit dore für den europäischen Güterverkehr, die für eine sturmsicherere Bahn. nahezu deckungsgleich mit dem Fernverkehr Doch auch beim besten Schutz: Es wird sind. Parallel sichern wir, dass der Regionalver- wohl weiter Wetterextreme geben, bei denen kehr wieder aufgenommen werden kann. Die die Bahn wie die anderen Verkehrsträger auch Mannschaften arbeiten dann rund um die Uhr. nicht ganz außen vor ist. Naturgefahrenreport 2018
21 Waldumbau der Bahn Kurz genug fürs Gleis Nach den verheerenden Schäden der Sturmsaison 2017/2018 setzt die Deutsche Bahn auf den Umbau ihres Waldes. Forstfachleute kontrollieren detailliert den Baumbestand entlang der Strecken - und planen ihn stabiler. Das Ziel: Auch aus der zweiten Reihe soll kein Baum mehr aufs Gleis fallen. Eine Streckenbegehung. G erhard Hetzel schaut in seinen ten Streifen beidseitig der Gleise, die soll nachwachsen, was Hetzel „ty- 2.000 Quadratmetern Wald nun als neue Stabilisierungszone pische Eisenbahnerbäume“ nennt: vor allem auf die „bad guys“, sturmsicher gemacht werden. Teil- Eichen und Robinien, auch Eschen, auf Bäume, die krank, morsch, zu weise reicht der Waldbesitz indes Bergahorn und Hainbuchen. Stabile hoch oder sturmanfällig sind. „Als bis zu 300 Meter weit ins gleisfer- Arten, die tief wurzeln und langsam Forstwirt in einem Wirtschaftswald ne Land. wachsen. Wo der Wald sich nicht na- achten Sie auf gesunde Bäume, die Das Jahr von Gerhard Hetzel, türlich verjüngt, pflanzen die Forst- Sie pflegen. Als Forstwirt für die den sechs weiteren Vegetations wirte die Bäume nach. Im Nieder- Deutsche Bahn machen Sie das Ge- managern und rund 1.000 Forst- wald wachsen sie nur bis zu einer genteil.“ Hetzels Job ist der Schutz kolleginnen und -kollegen teilt sich Höhe, die kurz genug fürs Gleis ist. des Zugverkehrs vor umstürzenden dafür in zwei Hälften: in das Halb- Alle drei bis fünf Jahre erfolgt der Bäumen, sein Waldstück umfasst jahr der Inspektion und das Halb- Rückschnitt. Das gewonnene Holz vier Bundesländer. Seine Waldpflege jahr des Schnitts. In der Zeit der kann als Brennholz verkauft wer- misst sich am Abstand zum Gleis. Inspektion, von März bis Ende Sep- den. Etwa die Hälfte des Bahn-Wal- Mit ihrem „Aktionsplan Vegeta- tember, durchforsten sie ihre Wald- des soll auf diese Weise auf siche- tion“ unternimmt die Deutsche Bahn abschnitte Schritt für Schritt, Baum ren Niederwald umgestellt werden, eine umfangreiche Durchforstungs für Baum. Was ist krank, morsch, zu da, wo Standorte und Eigentumsver- initiative. Die zu Hunderten aufs hoch? Wo das Gelände zu unwirt- hältnisse es gestatten. Gleis gestürzten Bäume der Herbst- lich für den direkten Augenschein Eine weitere Variante sturmfes- und Winterstürme 2017/2018 zeigen: ist, nutzen sie Drohnen. Baum für ten Bahn-Waldes ist die Wuchsform Es trifft auch den Waldbestand hinter Baum markieren und digitalisieren durch sogenannten V-Rückschnitt. der sogenannten Sicherheitszone von sie den Wald. Zurück im Büro erstel- Die Bäume in der Stabilisierungs jeweils sechs Metern ab Gleismitte. len sie dann Prioritätenlisten. Wel- zone werden angeschrägt geschnit- Dort darf schon lange kein Gehölz cher Baum birgt das größte Risiko ten, die größeren Bäume bleiben in mehr wachsen. Jetzt soll ein Wald- fürs Gleis? Rückschnitt bzw. Fällen dritter und vierter Reihe erhalten. umbau auch die Vegetation in der erfolgen von Oktober bis Ende Fe Die kleinen an vorderster Stelle las- zweiten Reihe sturmsicher machen. bruar, in der vegetationslosen Zeit. sen den Wind besser abgleiten. Eine Aufgabe, die viele Jahre brau- Durchforstungsinitiative heißt Dass Bahnflächen wertvolle Bio chen wird. Rund 150 Fachleute stellt indes nicht nur: Bäume fällen und tope sein können, zeigt sich vielerorts die Bahn dafür zusätzlich ein. zurückschneiden. Durchforstung innerhalb der baumfreien Sechs-Me- Im Grunde ist die Deutsche Bahn heißt: einen stabilen Wald auf ter-Zone. Seltene Gräser und Kräuter einer der größten Waldbesitzer in bauen – eine Balance zwischen Si- haben sich angesiedelt – mit ihnen Deutschland, sagt Forstwirt Gerhard cherheit und Ökologie. Dafür ent- seltene Schmetterlinge. Weil die Flä- Hetzel. Rund 20.000 Hektar Wald decken Forstwirt Hetzel und sei- chen nicht gedüngt werden und nicht gehören dem Unternehmen. In der ne Kollegen eine uralte Waldform mit Pestiziden behandelt, gedeihen Regel sind das jene zehn Meter brei- neu, den Niederwald. Natürlich sie naturnah. Naturgefahrenreport 2018
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