NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV

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NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

  Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer

   Naturgefahrenreport
   2018
NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
02     Inhaltsverzeichnis

                  Einleitung
             03         Editorial
             04         „Wir nutzen alle Kanäle, um die Menschen aufzurütteln.“
                        Ein Gespräch mit GDV-Präsident Dr. Wolfgang Weiler
             05         Schäden durch Naturgefahren auf einen Blick

                  Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr
             08         „Winterstürme sind stärker.“ Ein Gespräch mit Wetterexpertin Christiana Lefebvre
             12         „Die Azubis müssen mit ran.“ Krisenmanagement der Versicherer in den Sturm-Gebieten
             15         Die verlorenen Bäume. Sturmschäden in Wäldern und Parks
             19         „Morgen fahren wir wieder.“ Ein Gespräch mit Bahn-Manager Achim Wolters
             21         Kurz genug fürs Gleis. Das Vegetationsmanagement der Bahn
             22         Was droht und was ist zu tun? Die Vorwarnsysteme
             24         Das sturmerprobte Dach. Schutz für unterschiedliche Konstruktionen

                  Kapitel zwei: Unmengen Regen. Die Schadenbilanz 2017 der Sach- und Kfz-Versicherung
             28         Frost, Starkregen, Orkane. Der Jahresrückblick 2017
             30         Sturzflut in der Hauptstadt. Die Sachschäden 2017
             32         Unmengen zerstörter Autos. Die Schäden an Fahrzeugen 2017
             34         Keine Blüten, keine Früchte. Die Schäden in der Landwirtschaft 2017
             36         Auf der Suche nach dem Grund. Der Starkregen in Leegebruch
             41         „Hochwasser oder Grundwasser?“ Der Unterschied in der Versicherung

                  Kapitel drei: Strategien für den Risikoschutz
             44         Gefahr binnen einer Stunde. Das Starkregenprojekt von DWD und GDV
             46         Baustandard für Klimawandel. Erste DIN-Spec zum Hitzeschutz
             47         „Das Risiko wird sichtbar.“ Ein Gespräch mit Dr. Olaf Burghoff, Leiter Sachstatistik beim GDV
             48         „Je robuster, desto sicherer.“ Ein Gespräch mit Bau-Experten Prof. Thomas Naumann
             50         Kein Betriebsausfall möglich. Starkregen-Schutz öffentlicher Gebäude
             51         Das blau-grüne Management. Deutschlands erste Regenwasseragentur
             52         Information und Vorsorge. Die Länderkampagnen
             53         Kompass Naturgefahren. Risiken per Mausklick erkennen

                  Anhang
             54         Publikationen und Links
             55         Bildnachweis
             56         Impressum

     Naturgefahrenreport 2018
NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Einleitung      03

W
           enn Überschwemmungen
           nach Starkregen von wo-
           chenlanger Dürre mit kata­
strophalen Ernteschäden abgelöst wer-
den, dann ist Sommer in Deutschland.
Und zwar nicht einer, wie er früher ein-
mal war. Dass die Menschheit derzeit
einen Klimawandel erlebt, darüber ist
sich die Wissenschaft inzwischen weit-
gehend einig. Vieles spricht dafür, dass
wir – die Menschen – ihn maßgeblich
beschleunigen.
     Die Folgen zeigen sich weltweit.
An den Polen wird das Eis buchstäb-
lich dünn. In Asien versinken ganze
Landstriche langsam im Meer, in den
USA erleben Millionen Menschen die
schlimmsten Regenfluten seit Langem.
Im Pazifik verlieren Korallenriffe erst
                                            wiederaufgebaut? Und: Welche Lehre
                                            haben die Behörden aus der Katastro-
                                            phe gezogen?
                                                                                        Editorial
ihre Farbe, dann die Fische, und ster-          Und katastrophale Notlagen erle-
ben schließlich ab.                         ben wir nicht nur infolge von Stark­
     Auch hierzulande zeigt sich das        regen – die Orkane, die im Winter
Wetter von seinen extremen Seiten.          2017/2018 über Deutschland hinweg-
2018 wird es wohl in die Liga der fünf      zogen, suchen in Zahl und Gewalt ih-
schwersten Sturmjahre der vergan­           resgleichen. Nach Friederike im Janu-
genen zwei Jahrzehnte schaffen. Mit­­       ar dieses Jahres waren viele Bahnstre-
1,3 Milliarden Euro liegen die versicher­   cken und Straßen unbefahrbar. Umge-
ten Sturm-, Hagel- und Starkregen­          stürzte Bäume haben auch Dächer, teils
schä­den an Wohngebäuden in den ers-        komplette Häuser zerstört. Wie unser
ten sechs Monaten schon so hoch wie         Bericht zeigt, greifen dann bei den Ver-
sonst im Gesamtjahr. Und die Schä-          sicherern die Krisenmechanismen: Bis
den der Landwirte durch die anhalten-       hin zu den Azubis sind alle mit einge-
de Trockenheit im Sommer dürften            bunden – mit vollem Engagement für
sich auf mehr als zwei Milliarden Euro      die Kunden.
summieren.                                      Wie gehen wir mit dem Klimawan-
     Wird das Extreme also zum Norma­       del und seinen Folgen um? Wie können
len? Der vorliegende Naturgefahren-         wir künftig verhindern, dass Menschen
report 2018 weist in diese Richtung –       durch Unwetter, Überschwemmung
auch wenn die Probleme im Vorjahr           oder Hitzewellen alles verlieren, was
teils ganz andere waren. Erinnern Sie       sie sich im Laufe eines Lebens müh-
sich etwa noch an den späten Frost im       sam aufgebaut haben? Die Versicherer
Frühjahr 2017? Das Ergebnis von erfro-      beschäftigen sich seit jeher mit Fragen
renen Blüten waren zur Erntezeit feh-       wie diesen. Und sie tun das nicht allein,
lende Kirschen, Äpfel, Birnen und Pflau-    sondern mit Wetterexperten, Architek-
men. Für die Bewohner von Leegebruch        ten und Materialforschern. Präven­tion
war das allerdings das ge­ringste Übel.     kann Naturkatastrophen nicht verhin-        Dr. Wolfgang Weiler
Ein Jahr nach der verheerenden Stark-       dern, aber ihre Folgen im besten Fall auf   (Präsident)
regenflut haben wir die kleine Gemein-      ein Minimum reduzieren. Dazu tragen
de bei Oranienburg besucht. Wie geht        wir, die Versicherungswirtschaft, bei
es den Menschen, die Anfang Juli 2017       – auch mit dem vorliegenden Natur­
teilweise alles verloren? Haben sie alle    gefahrenreport und seinem umfang­           Dr. Jörg von Fürstenwerth
nötige Hilfe erfahren? Sind ihre Häuser     reichen Statistikteil.                      (Vorsitzender der Geschäftsführung)

Naturgefahrenreport 2018
NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
04    Einleitung

     „Wir nutzen alle Kanäle, um
     die Menschen aufzurütteln.“
     Der Klimawandel ist global, seine Auswirkungen spüren die Menschen lokal.
     Welche Lösungen vor Ort helfen und wie wir unser Wissen nutzen können, um
     die Folgen abzumildern – ein Gespräch mit GDV-Präsident Dr. Wolfgang Weiler.

     Herr Dr. Weiler, Meteorologen warnen vor einer             fremdfinanziert ist, bedeutet dies nicht selten eine zer-
     Zunahme extremer Unwetter. Worauf müssen wir               störte Existenz. Und deshalb sind alle Hebel wichtig, die
     uns einstellen?                                            das Thema in den Köpfen verankern können. Die Um-
     Zwar bin ich kein Klimaforscher, aber unsere Branche       weltminister von Bund und Ländern sprechen sich für
     hat bereits vor einigen Jahren in einer Klimastudie da-    ein einheitliches Informationssystem für Naturgefahren
     rauf aufmerksam gemacht, dass sich Hochwasserschä-         aus. Wir bieten an, all unsere Erfahrung – insbeson­dere
     den in Deutschland bis zum Ende des Jahrhunderts min-      mit unserem Infoportal „Kompass Naturgefahren“– in
     destens verdoppeln können. Das Potsdam-Institut für        die Entwicklung eines Bundesportals einzubringen. Ein
     Klimafolgenforschung erwartet inzwischen sogar eine        solches System ist längst überfällig!
     noch größere Zunahme.                                      Sie rufen also nach dem Staat?
     Das hört sich nicht sehr optimistisch an.                  Ich bin überzeugt, dass wir die unmittelbaren Folgen des
     Man kann das auch anders sehen: Wer weiß, was auf          Klimawandels nur mit einer gesamtgesellschaftlichen
     ihn zukommt, der kann sich vorbereiten. Wir können         Anstrengung meistern können. Da gehört die Wirtschaft
     Menschen, Gebäude und Infrastruktur vor Extremwet-         dazu, der Staat und jeder Einzelne. Von staatlicher Seite
     ter schützen. Damit meine ich übrigens nicht nur Hoch-     erwarte ich einen funktionsfähigen Hochwasserschutz,
     wasser, sondern auch Starkregen oder – wie wir es in       vorausschauende Flächen- und Bauleitplanung und das
     diesem Sommer erlebt haben – anhaltende Trockenheit.       Anpassen überholter Bauvorschriften. Letztere sind ein
     Was bedeutet das konkret?                                  maßgeblicher Grund dafür, warum die wenigsten Häu-
     Es gibt mehrere Hebel, die wir nutzen können. Einer lau-   ser heutzutage auf Hochwasser- und Starkregenereig-
     tet: Teile dein Wissen! Wir wissen aus unseren Stu­dien     nisse vorbereitet sind.
     beispielsweise, dass ein Starkregenereignis an je-                 Und der Staat kann dafür sorgen, dass sich
     dem Ort auftreten kann. Viele Menschen wissen                       alle Menschen versichern …
     das nicht. Lediglich 41 Prozent der Gebäude sind                    Könnte er – ich halte allerdings nichts von einer
     gegen dieses Risiko versichert. Das sind zwar                       Pflichtversicherung. Zum einen: Es gibt umfas-
     deutlich mehr als noch vor einigen Jahren, aber                    sende private Angebote der Versicherer und kei-
     noch immer viel zu wenige. Aus diesem Grund                        nen Notstand. Zum anderen: Wenn man die Men-
     haben wir die Kampagne „Stadt.Land.unter“ ins                                schen in eine Versicherung zwingt, gibt
     Leben gerufen. Videos, Zeitungsartikel,                                          es in der Folge nicht weniger, son-
     Radiobeiträge, Social Media – wir nut-                                           dern mehr Schäden. Nennen Sie
     zen alle Kanäle, um die Menschen auf-                                            mir einen Grund, warum ich als
     zurütteln, sie zu informieren, an ihre                                            Hausbesitzer in Prävention inves-
     Eigenverantwortung zu appellieren.                                                  tieren sollte, wenn die Pflicht-
     Nehmen Ihnen die Menschen das                                                        versicherung alles zahlt. Und
     ab? Oder heißt es nicht vielmehr,                                                     dieser Fehlanreiz beträfe nicht
     Sie wollen doch nur Produkte                                                           nur den Einzelnen. Schon heu-
     verkaufen …                                                                             te gibt es auf kommunaler
     Natürlich verkauft die Branche Pro-                                                      ­Ebene einen riesigen Inves-
     dukte, deshalb muss die Botschaft                                                         titionsstau, wenn es um den
     doch nicht falsch sein. Am Ende geht                                                     Schutz vor Naturgefahren
     es immer um zerstörte oder schwer­                                                      geht. Aus dieser Verantwor-
     beschädigte Häuser, die eben nicht ver-                                                tung werden wir die öffentli-
     sichert sind. Gerade wenn ein Haus                                                    che Hand nicht entlassen.

     Naturgefahrenreport 2018                                                            Dr. Wolfgang Weiler
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05

 Schäden durch Naturgefahren 2017 auf einen Blick

               2,9 Mrd. €
                   in der Sach- und                            Sachversicherung
                Kfz-Versicherung 2017               Wohngebäude, Hausrat, Industrie,                                                 Kfz-Versicherung
                                                       Gewerbe und Landwirtschaft                                                    Voll- und Teilkasko

2,0                                         1.700 Mio. €
                                                                                                     300
                                                                                                    Mio. €              850 Mio. €          10 Mio. €        860
Mrd. €                                                                                                                                                        Mio. €

                                           1.130.000                                             60.000                      405.000                  3.000
                                              Sturm- und                                                                      Sturm- und          Überschwemmungs-
                                                                                                  weitere
                                             Hagelschäden                                                                    Hagelschäden              schäden
                                                                                           Naturgefahrenschäden
                                                                                                (Elementar)

 9        Sachversicherung*:                                             9,0                                      8,8
          Jährlicher Schadenaufwand
          für Sturm, Hagel und
          weitere Naturgefahren (Elementar)**
 8        in Mrd. €***
          Ab 2002:

                Sturm und Hagel
 7              weitere Naturgefahren (Elementar)
                                                                                                                                                    6,6

 6
               5,4        5,5

                                                                                                                                    5,0
 5

                                                     4,2
 4

 3

                                                                                                                                                                  2,0
 2

 1

 0
     1970              1975            1980             1985             1990             1995             2000              2005          2010            2015

 *) Wohngebäude, Hausrat, Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft
 **) Schäden durch Überschwemmung/Starkregen, Hochwasser, Erdbeben, Erdsenkung, Schneedruck, Lawinen/Erdrutsch und Vulkane
 ***) Sturm-/Hagel-, seit 2002 auch weitere Naturgefahrenschäden (Elementar); hochgerechnet auf Bestand und Preise 2017
 Quelle: GDV

 Naturgefahrenreport 2018
NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
06   Kapitel eins

        Sturm –
        die rasende
        Gefahr
        Was ist Sturm? Starker Wind, sagen Meteorologen. In seiner
        Stärke liegt zerstörerische Macht. Sturm erschlägt Menschen,
        zerschlägt Häuser und Fahrzeuge, zerstört den Lebensraum
        Wald und lebenswichtige Ernte. Durch Deutschland ziehen
        in Herbst und Winter der Jahre 2017/2018 Orkane, die in
        Anzahl und Gewalt ihresgleichen suchen. Wenige Stunden nur
        brauchen sie, um zu vernichten. Die rasende Gefahr ist nicht
        zu fassen, dafür umso stärker zu spüren. Eine Betrachtung der
        Naturgewalt Sturm, ihrer Herkunft und ihrer Auswüchse.
NATURGEFAHRENREPORT 2018 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Naturgefahrenreport 2018
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08

     Zur Typologie eines Phänomens

     „Winterstürme sind stärker.“
     Deutschland erlebt im zurückliegenden Winter verheerende Stürme, mit Friederike einen der
     schwersten Orkane der vergangenen 20 Jahre. Wo und wie entfalten Stürme sich zur rasenden Gefahr?
     Auskünfte von Christiana Lefebvre, Klimaexpertin des Deutschen Wetterdienstes (DWD) in Hamburg.

                           E
                                    ine rasende Stafette der Verwüstung. Am          dauernde sogenannte Westwindlage. Tief-
                                    Donnerstag, den 18. Januar 2018, 9 Uhr mor-      druckgebiete ziehen in rascher Abfolge über
                                    gens, trifft Sturm Friederike, aus den Nieder-   die Nordsee ostwärts und beeinflussen mit
                            landen kommend, mit einer Geschwindigkeit von            ihren Ausläufern das Wetter in Mitteleuropa.
                            107 Kilometern pro Stunde auf Aachen. Wenig spä-         Wie entstehen Stürme?
                            ter, 10.30 Uhr, fegt er mit 127 Stundenkilometern        Sturm ist ja nichts anderes als starker Wind,
                            durch die Stadt Münster. Orkanstärke. Dann wei-          also bewegte Luft. Er entsteht beim Ausgleich
                            ter über Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Sachsen          von Luftdruckunterschieden zwischen Hoch-
                            und Thüringen. 203 Kilometer pro Stunde auf dem          und Tiefdruckgebieten. Je größer die Druckun-
                            Brocken, 130 sind es in Erfurt. Knapp acht Stunden       terschiede sind, desto stärker ist der Wind. Ab
                            zieht Friederike durch Deutschland eine 200 Kilo­        Windstärke 12, ab 118 Kilometern pro Stunde,
                            meter breite, verheerende Bahn. Friederike ist der       sprechen wir von Orkan.
                            letzte von fünf zerstörerischen Orkanen dieses Win-      Vom Nordatlantik bis nach Deutschland
                            terhalbjahres. Acht Tote fordert er allein in Deutsch-   ist es ein weiter Weg. Wie entwickeln sich
                            land, 900 Millionen Euro versicherte Sachschäden.        die Stürme auf diesem Weg?
                            Frau Lefebvre, die Wintersaison 2017/2018                Kaltluft aus den Polargebieten und feuchte
                            bringt ungewöhnlich viele und starke                     Warmluft aus den südlichen Breiten treffen
                            Stürme und Orkane. Woran liegt das?                      aufeinander. Bei sehr großen Temperaturun-
                            Die Sturmsaison beginnt auch ungewöhnlich                terschieden zwischen beiden Luftmassen oder
                            früh, mit Sebastian am 14. September. Üblich             starker Höhenströmung sinkt der Luftdruck im
                            ist eher Ende Oktober. Ursache für die Sturm-            Tiefdruckgebiet rapide. Dadurch kann es sich
                            häufung sind atmosphärische Bedingungen.                 zu einem Sturm- oder Orkantief verstärken.
                            Über dem Nordatlantik, da, wo unser Wetter               Auf seiner Vorderseite führt es Warmluft nach
                            maßgeblich entsteht, herrscht eine lange an-             Norden, auf seiner Rückseite Kaltluft südwärts.

                                                                                                                  Sturm
            Schäden
                                                                                stürmischer Wind
                                                                                Zweige brechen, erschwertes       Äste brechen, Dachziegel
                                                                                Gehen im Freien                   werden abgehoben
            durch Stürme
            Windstärken laut Beaufort-Skala,
            Windgeschwindigkeit in km/h
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Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr              09

 Bäume, die zu Hunderttausenden entwurzeln, weil          Je rasender die Stürme, desto größer ihre Zer-
 der Boden durch tagelangen Regen aufgeweicht ist.    störung. Die Orkane des Winters 2017/2018 errei-
 Autos, die mit ihren Insassen im zentimetertiefen    chen 120 Stundenkilometer und mehr. Die Bilanz
 Schnee von der Fahrbahn geweht werden. Die Schä-     dieser Sturmsaison: 21 getötete Menschen; versi-
 den durch Stürme sind vielfältig. Regen und Tau-     cherte Sachschäden von über einer Milliarde Euro.
 wetter, wie sie etwa Orkan Burglind Anfang Ja­nuar
 2018 mitbringt, lassen Rhein, Mosel und Saar über-   Frau Lefebvre, Stürme gibt es
 schwemmen. Sturmflut reißt Land und Ge­bäude         im Winter und im Sommer.
 an den Küsten mit sich. Doch immer wieder und        Worin unterscheiden sie sich?
 hauptsächlich: Bäume stürzen auf Fahrzeuge, Dä-      Winterstürme sind stärker, weil die Tem-
 cher, Menschen, auf die Schienen der Bahn und des    peraturunterschiede größer sind. Die
 Nahverkehrs. Herumwirbelnde Gegenstände prallen      Luft über den Polargebieten ist dann käl-
 gegen Häuser und Wände, Dächer werden komplett       ter. Im Winter sind Stürme auch häufi-
 oder teilweise abgedeckt.                            ger als im Sommer. Typische Sommer-
                                                      stürme sind mit Gewitter, Regen oder
                                                      Hagel verbunden. Sie erstrecken sich
                                                      meist nur über wenige Kilometer, während
 Sturm-Typologie                                      Winterstürme mehrere Hundert bis 1.000 Ki-
                                                      lometer erreichen.
 Sturm: starker Wind mit einer Geschwindig-
                                                      Und Tornados?
 keit von 75 bis 117 Stundenkilometern
                                                      Tornados sind kleinräumige und kurzlebige,             Christiana Lefebvre,
 (ab Windstärke 9).
                                                      mehr oder weniger senkrecht stehende Wirbel            Sachgebietsleiterin
 Orkan: Sturm ab 118 Stundenkilometern                mit Bodenkontakt. Sie sind an Gewitterwol-             maritime Klima­
 ­Geschwindigkeit (Windstärke 12 und mehr).           ken gebunden, ihre zerstörerische Wirkung              überwachung beim
                                                      umfasst bis zu einen Kilometer Breite. Die ho-         Seewetteramt des
 Hagelsturm: starker, böiger Wind mit Hagel
                                                      hen Temperaturunterschiede in Gewitterwol-             Deutschen Wetterdiens-
 während eines Gewitters. Die Größe der Ha-
                                                      ken und starke Windänderungen lassen die               tes (DWD) in Hamburg
 gelkörner reicht von fünf Millimetern bis über
                                                      Luft senkrecht rotieren. Tornados in Deutsch-
 zehn Zentimeter.
                                                      land dauern meist nur wenige Minuten und
 Tornado: senkrechte, stark rotierende                sind schwer vorhersehbar.
 Luftsäule. Die Geschwindigkeit reicht von            Welche Regionen in Deutschland sind
 63 Stundenkilometern (leichter Tornado) bis          stärker von Stürmen betroffen?
 500 Stun­denkilometern (sehr starker Tornado).       Am stärksten exponierte Bergkuppen, da die
                                                      Windgeschwindigkeit mit der Höhe über

 schwerer Sturm               orkanartiger Sturm                   Orkan                 Die Orkane 2017/2018
 Bäume brechen, größere       Bäume entwurzeln, starke             Schwere                                               Xavier
                                                                                                                         bis 177
 Schäden an Gebäuden          Schäden an Gebäuden                  Verwüstungen                                           km/h
                                                                                      Sebastian               Herwart
                                                                                       bis 120                 bis 176
                                                                                        km/h                    km/h

                                                                                                  Burglind                    Friederike
                                                                                                   bis 159                      bis 203
                                                                                                    km/h                         km/h

89–102 km/h                    103–117 km/h                      ≥ 118 km/h

 10                              11                             12
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      Vier der zehn verheerendsten Naturkatastrophen
      sind Stürme              Schadenaufwand
      Sach- und Kraftfahrtversicherung:                     Sach1
      Die zehn verheerendsten Naturkatastrophen
      in Deutschland 2002-2017
      in Mio. €

     31.07.–02.09.2002
     August-Hochwasser
                                         4.050

     18.01.–19.01.2007
     Sturm Kyrill
                                         3.050

     27.07.–28.07.2013
     Hagel Andreas + Bernd
                                         1.850

     25.05.–15.06.2013
     Juni-Hochwasser
                                         1.950                                                   0 1.950

     27.10.–28.10.2002
     Sturm Jeanett
                                         1.250                                       100 1.350

     29.05.–02.06.2008
     Hagel Hilal
                                         500                                    750 1.250

     18.06.–21.06.2002
     Hagel Tracy u. a.
                                         300                  500 800

     08.06.–10.06.2014
     Sturm Ela
                                         500                250 750

     19.06.–20.06.2013
     Hagel Manni + Norbert
                                         300                450 750

     28.02.2010
     Sturm Xynthia
                                         650                 50 700

     ¹ Hochgerechnet auf Bestand und Preise 2017; gerundet in 50 Mio. €
     ² Überschwemmungsereignisse werden in der Kraftfahrtversicherung
        erst ab einer bundesweiten Schadenhäufigkeit von 0,1‰ ermittelt.
        Somit ist das Juni-Hochwasser kein Kumulereignis in der Kraftfahrtversicherung.
     Quelle: GDV

      Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr             11

                                        + Schadenaufwand         = Schadenaufwand
                                             Kraftfahrt1, 2      Sach- und Kraftfahrt1

                                                 100 4.150

                 250 3.300

1.100 2.950

 Grund zunimmt. Von Winterstürmen       wasser weicht Fahrzeuginnenräume,     sonden, die an Ballonen in bis zu 30
 insbesondere der Norden. Orkane wie    Wohnräume und Hausrat auf.            Kilometer Höhe auf­steigen. Insge-
 Friederike 2018 oder der verheerende                                         samt erfassen wir Daten wie Wind-
 Orkan Kyrill 2007 zeigen aber, dass    Frau Lefebvre, beobachtet der         geschwindigkeit und -richtung, Luft-
 auch die Mitte und der Süden nicht     DWD eine Zunahme von Stürmen?         druck, -feuchte und -temperatur über
 sturmsicher sind. Im Sommer tre-       Wir sprechen von einer dekadischen    ganz Deutschland.
 ten Stürme, die durch Gewitter aus-    Oszillation, einer wiederkehrenden    Wie entstehen daraus
 gelöst werden, vorrangig in der Süd-   Schwankung. Es gibt Phasen mit        Vorhersagen?
 hälfte Deutschlands auf.               mehr Stürmen, es gibt Phasen mit      Dank unserer modernen Wetter-
                                        weniger Stürmen. Jahre, in denen      vorhersagemodelle lassen sich
 Über eine Milliarde Euro versicherte viele Stürme vorkommen, sind mit        schon kleinste Tiefdruckgebiete
 Sachschäden, Hunderttausende um- einem verstärkten Westwinddrift             beim Ent­ste­­hen erkennen und über
 gestürzte Bäume, zerstörte Dächer, über dem atlantisch-europäischen          Tage verfol­gen, sodass wir recht-
 zerschlagene Fahrzeuge. Die Bilanz Raum verbunden. 1990/1991 hatten          zeitig Sturmwarnungen herausge-
 des Sturmwinters 2017/2018 ist ver- wir ­viele kräftige Orkane im Win-       ben können. Um die Zugbahn des
 heerend, die Zahl der Toten erschre- ter; dann 2007 unter anderem Or-        Sturms und die voraussichtlich be-
 ckend. Feuerwehrleute sind darunter, kan Kyrill, 2017/2018 gleich fünf       troffenen Gebie­te vorhersagen zu
 die Menschen in Not helfen wollen oder Winterstürme. Perspektivisch aller-   können, fließen alle Daten in unse-
 Straßen freiräumen.                    dings müssen wir mit einer Zunah-     re Modellrechnun­gen ein.
    Winterstürme sind stärker, häufi­ me stärkerer Stürme rechnen. Und        Ihr Wetteramt hat seinen Sitz im
 ger als sommerliche Hagelstürme. die Sturmtiefs verlagern sich nach          windreichen Hamburg. Ist es
 Die schlimmsten Hagelstürme lie- Nordwest- und Mitteleuropa.                 auch die stürmischste Wetter-
 gen fünf Jahre zurück. Im Juni 2013 Der Deutsche Wetterdienst                station des DWD?
 treffen Andreas und Bernd vor al- warnt oft schon mehrere Tage               In Hamburg weht zwar oft ein fri-
 lem auf Niedersachsen und den Sü- im Voraus vor Stürmen. Woher               scher Wind, doch die sturmreichste
 den. Mit Windgeschwindigkeiten beziehen Sie Ihre Erkenntnisse?               Wetterstation ist auf dem Brocken
 bis zu 170 Kilometern pro Stunde; Wir erhalten weltweite Wetterdaten         im Harz, mit orkanartigen Spitzen-
 mit extremen Hagelschlägen. Ihr zer- und beobachten rund um die Uhr          böen oder Orkanböen an durch-
 störerisches Werk: über 1,8 Milliar- mit Messgeräten an unseren 268          schnittlich 69 Tagen jährlich. Auf
 den Euro versicherte Sachschäden,­ hauptamtlichen Wetterstationen,           der Zugspitze gibt es diese an elf bis
 1,1 Milliarden Euro an Kfz-Schäden. auf Bojen und Forschungsstationen        zwölf Tagen, gefolgt von Kap Arko-
 Die Hagelstürme reißen nicht nur Dä- in Ost- und Nordsee. Auch Schiffe       na an der Ostsee mit sieben Tagen,
 cher ab; sie zerlöchern Fassaden und erfassen das Wetter. Dazu kommen        Helgoland und St. Peter-Ording mit
 Karosse­rien. Nachdringendes Regen- Satellitenbeobachtungen und Radio-       sechs bzw. fünf Tagen.

 Naturgefahrenreport 2018
12

     Krisenmanagement der Versicherer

     „Die Azubis müssen mit ran.“
     Orkan Friederike hinterlässt am 18. Januar 2018 Zehntausende, Hunderttausende Schäden.
     Hunderttausende Schäden – das sind Hunderttausende Kundinnen und Kunden in Not.
     Die Versicherungsunternehmen helfen ihnen mit Krisenmanagement und Samstagsarbeit.
     Für sie sind die Verwüstungen des Orkans der „moment of truth“. Momentaufnahmen dieser Wahrheit.

                        E
                               s ist eine ihrer ersten Amtshandlungen.     rike ist zu dieser Zeit an der Grenze zu Polen
                               Kerstin Kastenholz hat gerade die Posi­     angekommen. Sie hinterlässt eine mehr als
                               tion als Leiterin der Sachversicherung      200 Kilometer breite Bahn der Zerstörung.
                         bei der Allianz übernommen, da löst sie den           Durchatmen. Los. Der Krisenstab ruft den
                         Notfall aus. Die erfahrene Frau weiß: Dieser      Kumulplan aus, den Managementplan für sol-
                         Orkan braucht den Sonderstatus. „Die Calls        che verheerenden Ereignisse.
                         steigen.“ Stündlich. „Einmal mitten durch
                         Deutschland.“ Zuerst kommen die Anrufe
                         geschädigter Kundinnen und Kunden aus             Der Sturm trifft sie mit voller Wucht
                         Nordrhein-Westfalen, dann aus Niedersach-         Wie Kerstin Kastenholz, wie Silke Liedtke
                         sen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen,           agieren die Krisenmanagerinnen und -mana­
                         Sachsen – entlang der Zugbahn des Sturms.         ger in den betroffenen Versicherungsun-
                             Silke Liedtke sieht die Windfelder auf        ternehmen im Westen, Norden, in Mittel-
                         dem Smartphone, sie sitzt in einem Meeting        deutschland. Tausende Schadenmeldungen
                         in Hamburg. Ich muss los, denkt sie. Sie bricht   gehen bereits am Tag des Orkans ein. 17.000
                         das Meeting ab, unterrichtet einen Kollegen.      allein bei der Westfälischen Provinzial. Bei
                         Gemeinsam fahren sie zurück zum Firmensitz        der Allianz werden es in der ersten Woche
                         der Westfälischen Provinzial nach Münster,        30.000 Schadenmeldungen mehr als in nor-
                         zurück in den Sturm. Die Bahn hat da ihren        malen Zeiten sein. Der „moment of truth“,
                         Zugverkehr aus Sicherheitsgründen bereits         Moment der Wahrheit, nennen sie solche Er-
                         eingestellt. Friederike stürmt mit 140 Stunden-   eignisse bei der Provinzial. Jetzt bewahrheitet
                         kilometern übers Land – lebensgefährlich. Der     sich, was sie ihren Kunden versichern: schnel-
                         Kollege lenkt den Wagen. Sie telefoniert: Wie     le, unkomplizierte Hilfe. Jetzt, da der Sturm
                         viele Schadenmeldungen gehen ein? Sie ruft        „uns mit voller Wucht trifft“, wie Silke Liedtke
                         den Krisenstab zusammen. Der tagt noch am         sagt. 203 Kilometer pro Stunde auf dem Bro-
                         Abend dieses Donnerstags, 18. Januar. Friede­     cken im Harz. Acht Tote. Kein Bahn- und Flug-

     Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr             13

verkehr, unbefahrbare Straßen. ­Viele Stadt-       diese Weise, obwohl es Onlineportale gibt. Es
teile ohne Telefon. Hunderttausende umge-          ist, als wollten sie in den Stunden der Not eine
stürzte Bäume, Schäden an Dächern, kom-            menschliche Stimme hören, die ihnen sagt, was
plette Häuser kaputt.                              zu tun ist. „Wir arbeiten dann ein wenig wie
     Durchatmen, los. Bei der Allianz, bei der     die Leitstelle der Feuerwehr“, sagt Dr. Martin­
Westfälischen Provinzial und ihrer Schwester       Creutz von der Provinzial Düsseldorf, „ruhig
in Düsseldorf, bei der LVM Versicherung, der       bleiben, das Notwendige klären, Hilfe in Aus-
R+V und vielen anderen Versicherern besetzen       sicht stellen, Hilfe organisieren.“
auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen                Am zweiten Tag nach dem Sturm wissen
Bereichen die Telefone. Leitungen zu Schwes-       die Unternehmen allmählich, was geschehen
terunternehmen werden geschaltet, überall          ist. Eine unglaublich hohe Anzahl an Schäden.
im Land nehmen Kollegen die Schadenmel-            120.000 Sachschäden allein bei der Westfä-
dungen der Kunden entgegen. Die Homepages          lischen Provinzial, 150 Millionen Sachwerte.
und Nachrichten werden mit Informationen           65.000 Schäden bei ihrer Schwester in und um
bestückt: Was ist bei einem Schaden zu tun?        Düsseldorf. 60.000 bei der R+V. 70.000 Schä-
Die Agenturen vor Ort erhalten Checklisten.        den bei der LVM, „damit haben wir in einigen
     Alle Versicherungsunternehmen haben           Stunden die Hälfte der Schäden, die wir sonst
für Naturkatastrophen einen Krisenplan. Da-        in einem Jahr haben“, sagt Benedikt Hoff-
mit die Schäden schnell bearbeitet werden          schulte. Zu diesem Zeitpunkt wird deut-
können. „Nach jedem Extremereignis ma-             lich: Für alle fünf Versicherungsunter-
chen wir ein Update dieses Plans“, sagt Bene-      nehmen ist Friederike das schlimms-
dikt Hoffschulte von der LVM.                      te Ereignis seit Orkan Kyrill, genau
     Am Abend des 18. Januar 2018, da wissen       elf Jahre zuvor. „Richtig heftig“ hat es
sie, dass es viel wird. Wie viel, ahnen sie erst   sie erwischt, sagt Kerstin Kastenholz.
nach zwei Tagen.                                   Entlang der ganzen 200 Kilometer
                                                   breiten Bahn von Nordrhein-West-
„Ein Orkan richtet heute viel größere              falen bis Sachsen.
Sachschäden an als ein Sturm gleicher
Stärke in den 60er-Jahren, weil heute viel
mehr da ist, das kaputtgehen kann.                 Das Land liegt lahm
Es gibt also auch viel mehr Dinge,                 Das ganze Land diskutiert nach Friederike den
die wir schützen müssen.“                          Klimawandel. Der Orkan ist der fünfte verhee-      Sven Plöger,
­Sven Plöger, Meteorologe und Klimaforscher
                                                   rende Orkan in wenigen Monaten; im Som-            TV-Meteorologe und
                                                   mer 2017 überschwemmen schlimme Starkre-           Klimaforscher, ist ei-
Ruhe schaffen nach dem Sturm. Das Aufräu-          gen Berlin, Brandenburg und den Harz. Unter        ner der prominentes-
men und Reparieren beginnt am Telefon. Die         dem #Friederike sammeln sich in den sozialen       ten Warner vor dem
meisten Kunden melden ihren Schaden auf            Medien Erfahrungsberichte und kuriose              Klimawandel.

Naturgefahrenreport 2018
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                         Meldungen. Menschen organisieren sich                wir unseren Kunden schuldig“, sagt Martin
                         Mitfahrgelegenheiten, weil in einigen Teilen         Creutz von der Provinzial Rheinland.
                         Deutschlands die Züge tagelang nicht auf die
                         Gleise können. In Nordrhein-Westfalen bleiben
                         Schulen wegen der Schäden geschlossen und            Struktur bis ins kleinste Detail
                         die Eltern managen digital die Kinderbetreu-         Wer macht was? Die Versicherungsunterneh-
                         ung. Ein Stück öffentliches Leben liegt lahm.        men organisieren durch – von den Firmen-
                              „Sturm, Sturm, Sturm“, sagt Alois Dittrich.     zentralen bis in die Agenturen vor Ort. Die
                         Seine R+V Versicherung hat gerade die vorhe-         Agenturen sind die häufigsten Ansprechpart-
                         rigen Naturkatastrophen zu den Akten legen           ner für die Kunden. Hier laufen die Anfragen
                         können. Jetzt geht es wieder los. Auch für die       auf, die Meldungen. Sie vereinfachen das Ver-
                         Kunden, von denen viele erneut geschädigt            fahren. Schäden bis 5.000 oder 6.000 Euro
                         werden. „Viele haben noch die Notabdeckung           regulieren die Agenturen selbst, beurteilen
                         von Orkan Burglind auf dem Dach“, sagt auch          die Schäden, ­geben die Gelder frei. Aus den
                         Martin Creutz. „Da kommt Friederike und hat          Zentralen kommt regelmäßig die Abfrage:
                         leichtes Spiel.“                                     „Reichen eure Kapazitäten? Sonst hisst die
                                                                              weiße Flagge.“
                         „Wir leben in einer hochtechnisierten                     Die großen Schäden schultern sie in den
                         Welt und glauben, wir hätten alles im Griff.         Zentralen, schaufeln den Experten für die
                         Wir müssen wieder lernen,                            komplexen Fälle den Rücken frei. Einsturz-
                         dass Stürme, Gewitter und Starkregen                 gefährdete Dächer und Gebäude, in die der
                         lebensgefährlich sind.“                              Orkan gefahren ist – und die Statik erschüt-
                         Sven Plöger
                                                                              tert hat. Oder Gewerbehallen, in denen Pro-
                                                                              duktionsgüter ungeschützt liegen. Oder dann,
                         Der zweite Tag nach Friederike ist ein Samstag.      eben doch: Abriss von Gebäuden, die der Or-
                         Dieser und die nächsten Samstage werden zu           kan zerstört hat.
                         Arbeitstagen in den Versicherungsunterneh-                Die Bäume sind es oft, die den Schaden in
                         men. Überstunden sind in diesen ­Zeiten selbst-      die Länge ziehen. Oft müssen sie von Exper-
                         verständlich – und alle ziehen mit. Ein Drittel      ten zersägt, die schweren Stämme mit Spezial­
                         der Schäden schaffen die Allianz-Mitarbeiten-        werkzeug vom Grundstück gezogen werden,
                         den an den Samstagen. Bei der Westfälischen          bis ein Gutachter der Versicherer sich das Dach
                         Provinzial nehmen Teilzeitarbeitende Note-           anschauen kann.
                         books mit nach Hause. Die LVM spannt ihre                 Schaden annehmen, Gutachter rausschi-
                         Azubis mit ein. „Für sie gute Praxis, für uns eine   cken, Schaden bewerten, Gelder freigeben,
                         große Hilfe“, sagt Benedikt Hoffschulte. Hun-        Handwerker organisieren, Sanierung beglei-
                         derttausende Schäden sind zu bearbeiten.             ten. Hunderttausendfach. Erst zwei Monate
                              Abgedeckte Dächer, die geflickt werden          nach dem Orkan läuft der Arbeitspuls lang-
                          müssen, heruntergewehte oder beschädigte            sam wieder auf Normalmaß. Vorbei ist es
                         Dachziegel. Unzählige umgestürzte Bäume, die         noch lange nicht. Manchmal wird auch erst
                         Fenster oder Dächer beschädigen; kaputte Satel-      fünf Mo­nate danach ein Schaden gemeldet,
                         litenschüsseln. Die meisten Schäden liegen bei       der erst jetzt auffällt.
                         3.000 bis 5.000 Euro. Auch sie müssen schnell             Fünf Monate danach, im Sommer 2018, da
                         repariert werden, damit keine Folgeschäden           prasseln die ersten Unwetter wieder auf Nord-
                         entstehen – Dächer, die noch stärker zerstört        rhein-Westfalen, Sachsen und Rheinland-Pfalz
                         werden. Bäume, die weiter abrutschen können.         herein. Die Calls der Kunden steigen wieder.
                              Hunderttausende Schäden sind Hundert-
                         tausende Kunden, die Geld und Handwerker
                                                                              „Wir müssen eine
                         brauchen. „Wir können die Leute ja nicht vier
                                                                              Doppelstrategie fahren: uns an
                         Wochen warten lassen“, sagt Alois Dittrich von
                                                                              den Klimawandel anpassen und
                         der R+V. Das gehört zum „moment of truth“:
                                                                              einen weiteren vermeiden.“
                         ­Einen Tag nach Schadenmeldung sollen die
                          Kunden wissen, wie es weitergeht. „Das sind         Sven Plöger

     Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr     15

Sturmschäden in Parks und Wäldern

Die verlorenen Bäume
S turm fällt Holz. In der Orkansaison im Herbst und Winter der Jahre 2017 und 2018 fallen Millionen Bäume
 in Deutschland – brechen ab oder entwurzeln komplett. Was bedeutet dieser Verlust? Eine Wanderung durch
 wirtschaftliche und kulturelle Schneisen, durch geschlagene, verletzte Wälder und zerstörte Landschaftsbilder.

E
       s trifft vor allem die Nadelbäume, vor al-   im September, der schlimme Orkan Xavier im
       lem die Fichten. Auch Lärchen, Kiefern.      Oktober, kurz danach Herwart, da tragen sie
       80 Jahre, 100 Jahre und älter. Sie fallen    noch ihre Blätter. Die dichten Kronen bieten
zuhauf auf großen Flächen, allein 5.000 Hek-        dem Wind mehr Angriffsfläche. Tagelanger
tar Wald in Nordrhein-Westfalen. „Bis wir das       Regen hat zuvor den Boden aufgeweicht, gibt
wieder aufgeforstet haben, werden zwei Jahre        den Wurzeln kaum noch Halt. Stolze, ehrwür-
vergehen“, sagt Förster Frank Homuth aus Soest      dige Bäume werden zur leichten Beute. Anfang
in Nordrhein-Westfalen. Acht Jahrzehnte wird        Januar 2018 Burglind. Am schlimmsten wütet
es dauern, bis die neu gepflanzten Bäumchen         Friederike am 18. Januar. „Nach diesen Stürmen
zu Bäumen gewachsen sind.                           muss auch ich mein Waldverständnis revidie-
     „Reiner Nadelwald ist sturmanfällig, weil      ren“, sagt Andreas Wiese von der AXA Versiche­
die Bäume zu flach wurzeln. Einen soliden           rung: reine Nadelwälder sind anfälliger als
­Mischwald wirft ein Sturm so schnell nicht um“,    Mischwälder, Mittelgebirge gefährdeter als
 sagt Christoph Weber Chrustschoff von der Go-      Bäume im Tiefland. Die Stürme scheren sich
 thaer Allgemeinen Versicherung. Sein Unter-        nicht um die vermeintlichen Risiken. „Das
 nehmen versichert Waldbestände und berät in        Risiko ist immer schwerer zu fassen“, sagt der
 der Prävention. 2017/2018 knicken auch stabile     Waldexperte der AXA, dessen Kunden Bäume
 Laubbäume weg. Der erste Sturm kommt früh,         zuhauf verlieren.

Naturgefahrenreport 2018
16

                         Eine Lücke im Generationenvertrag                 und Magdeburger Agrar erstattet Schäden ent-
                         Elf Millionen Festmeter Holz schlägt Orkan        wurzelter oder gebrochener Bäume, die in vie-
                         Friederike im Norden, Westen und Osten            len Fällen in den fünfstelligen Bereich gehen.
                         Deutschlands. Das entspricht rund 3,5 Millio-     Der Verlust, den Friederike unter den 300 ver-
                         nen Bäumen. Nur die Orkane Kyrill 2007 und        sicherten Kunden anrichtet, sei „deutlich spür-
                         Lothar 1999 sind verheerender. Sie lassen das     bar“, sagt Experte Peter Buchhierl.
                         Dreifache stürzen. In Brandenburg fällen Xa-          „Ein Wald ist ein Generationenvertrag“,
                         vier und Friederike 2018 ein Drittel des gesam-   sagt Andreas Wiese. Fällt der Sturm die 80 Jahre­
                         ten wirtschaftlichen Einschlags eines Jahres,     alten Fichten zu Hunderttausenden, entgeht
                         1,4 Millionen Festmeter Holz. In Nordrhein-­      den Waldbesitzern der steigende Wert, bis die
                         Westfalen lässt allein Friederike eine Milli-     nächsten Bäume herangewachsen sind.
                         on Meter Holz stürzen, 1,5 Millionen in Hes-          Die Fachleute der Waldwirtschaft spre-
                         sen. Für einige Waldbesitzer existenzbedro-       chen von Festmetern Holz; Prof. Michael Rohde,
                         hende Verluste. Der höchste Einzelschaden,        Gartendirektor der Stiftung Preußische Schlös-
                         den beispielsweise Weber Chrustschoffs Ver-       ser und Gärten Berlin-Brandenburg, spricht
                         sicherungsunternehmen betreut, geht in die        von UNESCO-Welterbe. So manifestiert sich
                         Hundert­tausende. Ein sächsischer Waldbesit-      der Verlust der Bäume bereits im Vokabular.
                         zer verliert Bäume auf nahezu seiner gesam-       Eintausend Bäume fallen in den kulturhistori-
                         ten Fläche von 2,6 Hektar. Auch die Münchener     schen Anlagen der Stiftung Preußische Schlös-

     11,4 Millionen Hektar Wald wachsen in Deutschland auf rund
     einem Drittel der Landesfläche. 48 Prozent davon gehören zwei
     Millionen privaten Waldbesitzerinnen und Waldbesitzern.
     Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr             17

ser und Gärten rund um die Schlösser in Pots-                          dioxid; über die Wurzeln wird das Treibhaus-
dam Sanssouci, Charlottenburg in Berlin oder                           gas auch im Waldboden gebunden.
im brandenburgischen Rheinsberg. Einzeln                                   Millionenfacher Verlust nach den Orka-
stehende Bäume sind dabei, Solitäre aus der                            nen. Auch höchste Gefahr. Die Parks der Stif-
Zeit des 30-jährigen Krieges, ganze Baum-                              tung Preußische Gärten, viele Wälder in Nord-
gruppen und geschlossene Gehölzpartien.                                rhein-Westfalen, Hessen, Sachsen-Anhalt oder
Blutbuchen, Platanen, Rosskastanien, Eschen                            Sachsen sind tagelang, wochenlang nicht be-
und Stieleichen. Eintausend, zehnmal so viel                           gehbar. Die gestürzten Bäume versperren Zu-
wie in einem üblichen Jahr, sagt Michael Roh-                          fahrtsstraßen und Wege; verletzte Bäume
de: „Dramatisch.“ Und er meint damit nicht                             drohen umzustürzen. Riskant für Menschen
nur dramatisch für die Gärtner, deren Herz                             und andere Bäume, die sie mitreißen könnten.
an jedem einzelnen der sorgfältig gepflegten                           Forstleute suchen unter Lebensgefahr, die Wäl-
Bäume hängt. Er meint die Zerstörung von                               der zu beräumen – und das Holz wenigstens für
einzigartiger Landschaftskunst, die seit vie-                          die Verarbeitung zu retten. Auch das ist je nach
len Jahrhunderten das kulturelle Gedächtnis                            Baumart unterschiedlich. „Viele Kiefern bre-
der Menschheit bildet. In den Wäldern hinter-                          chen in drei Meter Höhe weg – da­raus können

                                                   80
lassen die Stürme breite Schneisen oder kahle                          Sie kein brauchbares Holz mehr machen“, sagt
Flächen, Wunden in sensiblen Ökosystemen.                              Versicherungsexperte Weber Chrustschoff.
In den Parks hinterlassen sie Lücken. Wun-                                 Je länger das Holz liegt, desto größer
den, die ein Gemälde auseinanderbrechen.                               auch die Gefahr, dass sich Schädlinge einnis-
                                                   Jahre und mehr      ten, die es für eine Weiterverarbeitung ver-
                                                   braucht ein Baum    nichten. Mit Hubschraubern holen Exper-
Lebensspender, verloren                              zum Wachsen.      ten die Stämme­von unzugänglichen Hän-
Was sind Bäume? Lebensspender, auf vielfäl­                                gen. Der unerwartete Zugewinn an Holz
tige Weise. Sie produzieren den Sauerstoff,                                 stellt die Wald­eigentümer und Forst­leute
den wir Menschen und alle Lebewesen at-                                                      dann vor ein anderes Pro-
men. Jeder Baum im Durchschnitt vier Tonnen                                                     blem: Sägewerke und
jährlich – genug für elf Menschen. Sie geben                                                    Holzverarbei­ter neh-
Schutz, strahlen Schönheit aus. Sie sind Le-                                              men die Massen nicht ab,
bensraum, Erholungsraum. Ihr Holz dient                                                 der Wert des ohnehin min­
dem Bau, dem Heizen, den viel-                                                          deren Sturmholzes sinkt noch
fältigen Dingen des Alltags.                                           weiter. Damit das Holz länger nutzbar bleibt, be-
In Schlossparks und Gärten                                             wässern viele Forstleute die Stämme auf künst-
formen sie die Landschaft                                              lichen Nassflächen.
zu einer idealisierten Welt,                                               In den königlichen Parks der Stiftung las-
die wir durchwandern, ge-                                              sen die Gärtner zunächst bewusst einzelne
nießen; uns inspirieren lassen.                                        Baumstümpfe stehen, als Zeichen des Verlo-
Als Form-, Gestaltungswillen und                                       renen. Die Nachpflanzungen für die grünen
Lebensausdruck früherer Zei-                                                  Raumbilder werden die Stiftung noch
ten und Künstler. Zum direkten                                                 viele Jahre beschäftigen. Weil Geld
Schaden, so das Bundesland-                                                            knapp ist; weil der denkmalpfle-
wirtschaftsministerium in seiner                                                              gerische Anspruch einer
Studie „Extr­e m­                                                                               authentischen Welt­
wetterlagen in der                                                                              erbe-Gartenkunst mit
Land- und Forst-                                                                 zu pflanzen ist. Wachsen sollen wie-
wirtschaft“, kommt bei                                                 der die gleichen oder adäquate Arten, das be-
massenhaften Sturmschäden der indi-                                    deutet sorgfältiges Planen.
rekte, langfristige. Direkt fallen die Bäu-
me, indirekt geht damit Wald als lebensnot-
wendiger Klimaregulierer verloren, als Was-                            Sorgfalt für biologischen Kreislauf
sersammler, -speicher und -reiniger. Als Filter:                       Wie umgehen mit solchen extremen Natur­
Bäume entziehen der Atmosphäre­Kohlen-                                 ereignissen? Mit zunehmenden Stürmen,

Naturgefahrenreport 2018
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                         größerer Hitze, stärkerem Regen? Der Klima-       laufen den Bestand. Forstleute durchmischen
                         wandel verschiebt Vegetationsphasen, setzt        seit einigen Jahren die Wälder – setzen, wo die
                         Bäume unter Stress, mindert Wachstum und          Bodenqualität es erlaubt, stabile Laubbaum­
                         Entfaltung und macht sie anfälliger für Pilze,    arten wie Buche, Esche, Bergahorn zwischen
                         Krankheiten, Stürme. Wie umgehen damit?           die anfälligen Fichten, Tannen oder Dougla-
                         „Nicht widerstehen, anpassen“, sagt ­Michael      sien. Die wurzeln tiefer, stehen schwerer im
                         Rohde. Ein Resultat eines internationalen         Boden und bieten den leichten immergrünen
                         Fachkongresses, den die Stiftung 2014 für         Bäumen Windschutz. Wenn sie herangewach-
                         Gartendenkmale organisiert hat. Dafür denkt       sen sind. Schon 10 bis 20 Prozent Laubbäu-
                         die ­Stiftung mit einer Arbeitsgruppe der Ber-    me in einem Nadelwald sichern ihn besser
                         lin-Brandenburgischen Akademie der Wis-           vor Stürmen, bringen indes aber auch 10 bis
                         senschaften „alte Konzepte neu“ und forscht       20 Prozent weniger Holzertrag.
                         zum Gesamtsystem von Pflanzen, Boden und               „Gemischtwarenladen Wald“ heißt das
                         Wasser. Die Gärtner kultivieren einheimi-         Leitbild des Deutschen Forstwirtschaftsra-
                         sche Bäume wieder in eigenen Reviergärten.        tes. Neben dem Verzicht auf Monokulturen
                         Pflanzen aus den Baumschulen vor Ort sind         gehört dazu auch der Verzicht auf Monogene-
                         widerstandsfähiger als Pflanzen, die in ande-     rationen. Im sogenannten Plenterwald wach-
                         ren Regionen aufwachsen. Sie gehen sorgfäl-       sen Jung und Älter nebeneinander – und hel-
                         tiger mit dem biologischen Kreislauf um, sagt     fen, die Windgewalt der Orkane zu verteilen.
                         Michael Rohde. Es gibt Bewässerungspläne für      Fallen die größeren Bäume, stehen die jünge-
                         den Sommer. Mulchschichten halten Feuch-          ren bereits als Nachwuchs in den Startlöchern
                         tigkeit im Boden, gedüngt wird mit biologi-       und müssen nicht aufwendig neu gepflanzt
                         schem Dünger.                                     werden. Doch auch diese nächsten Genera­
                              Anpassen an zunehmende Wetterextre-          tionen von Bäumen müssen erst wachsen.
                         me und Klimawandel – für Parks und Wäl-           Eine Jahrhundertaufgabe. „Der Wald, der
                         der, deren Biorhythmus in Jahrzehnten und         schafft das schon irgendwie“, sagt AXA-Ex-
                         Jahrhunderten tickt, eine Aufgabe, die Geduld     perte Wiese. „Ob wir Menschen das schaffen,
                         braucht, die nicht da ist. Die Ereignisse über-   das ist fraglich.“

                                                      Versicherungsschutz für den Wald
                                                      Schutz vor Sturmschäden            eines Experten, durch digitales
                                                      Mit einer Wald-Sturmversiche-      Erfassen mit Drohnen, Hub-
                                                      rung können sich Waldbesitzer      schraubern oder Satellitenbil-
                                                      gegen Risiken durch Stürme         dern. Anschließend erfolgt die
                                                      und Orkane ab Windstärke 8,        Berechnung.
                                                      ab 63 Kilometer Geschwindig-
                                                      keit pro Stunde absichern. Ver-    Schutz vor
                                                      sichert ist der stehende Be-       Waldbrandschäden
                                                      stand an Bäumen, erstattet         Versicherungsunternehmen
                                                      wird der Ertragsausfall an wirt-   bieten Versicherung vor Sturm-
                                                      schaftlich genutztem Holz,         schäden auch im Paket mit
                                                      berechnet in der Regel anhand      einer Waldbrand-Versiche-
                                                      der Festmeter. Die Entschädi-      rung an. Diese deckt Risiken, die
                                                      gung wird im Schadenfall zeit-     durch Brand, Blitzeinschlag und
                                                      nah erstattet. Dazu wird der       Explosion entstehen. Versichert
                                                      Schaden zunächst begutachtet       sind der stehende Waldbestand,
                                                      und bewertet – je nach Umfang      geschlagenes Holz, Abräum­
                                                      und Größe der Fläche durch         kosten, Feuerlöschkosten und
                                                      persönlichen Augenschein           Kosten der Wiederaufforstung.

     Naturgefahrenreport 2018
Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr              19

Störfall-Management der Bahn

„Morgen fahren wir wieder.“
Mehrere Tage liegt in der Sturmsaison 2017/2018 teilweise der Zugverkehr lahm,
sitzen Passagiere auf Bahnhöfen fest. Auf Hunderten Kilometern Strecke entstehen Millionenschäden.
Wie agiert das Sturmmanagement der Bahn? Welche Vorsorge betreibt das Unternehmen?
Einblicke von Achim Wolters, Leiter des Bahn-Betriebsmanagements.

Herr Wolters, wie blicken Sie auf die zu-           Klimaanlagen aus, sind die Toi­
rückliegende Sturmsaison 2017/2018?                 letten nicht mehr benutzbar.
Wir hatten insgesamt zwölf Ereignisse, bei de-            Sobald möglich fahren die
nen wir die Ausnahmestufe ausrufen mussten          Züge bis zur nächsten Station
und unser zentraler Arbeitsstab zusammen-           mit gedrosselten Geschwin-
kam. Normal sind jährlich zwei bis drei sol-        digkeiten. An den Bahnhö-
cher Situationen. Ich selbst bin im Oktober vier    fen­gilt es, die Menschen wei-
Nächte hintereinander nicht aus der Leitzen­        ter­zu versorgen – wir richten
trale herausgekommen. Es gilt, den Betrieb für      Aufent­haltszüge ein, geben Hotel-
einen Großteil unseres Streckennetzes zu ma-        und ­Taxi-Gutscheine aus. Und schließ-             Achim Wolters
nagen, damit die Passagiere gut in der nächs-       lich liegt unser Augenmerk natürlich darauf,       ist als Leiter des Be-
ten Station ankommen, Schäden repariert und         die Strecken, so schnell es geht, wieder befahr-   triebsmanagements
der Verkehr schnell wieder aufgenommen wer-         bar zu machen – Gleise zu beräumen, Ober­          der Bahn auch für
den kann.                                           leitungen zu reparieren.                           Störfälle zuständig.
Wie managt die Bahn solche                          Beim Orkan Friederike im Januar 2018
Sturmereignisse?                                    sowie bei Herwart und Xavier im Oktober
Das beginnt frühzeitig mit der regelmäßigen         2017 haben Sie den Verkehr in einigen
Wetterbeobachtung. Bei entsprechenden Wet-          Regionen eingestellt. Ab wann geht
terlagen setzen wir die Vorbereitungsstufe Null     nichts mehr auf der Schiene?
in Kraft, möglichst zwei Tage vor dem Ereig-        Windgeschwindigkeiten ab 105 Stundenki-
nis. Stufe Eins folgt meist direkt – das Personal   lometern sind für uns das Signal. Kommen
der Leitzentrale wird verstärkt. Die Einrichtung    Züge zum Stehen, weil die Strecke beschädigt
des zentralen, oder je nach Ausmaß des regio-       ist, geht es darum, unsere Fahrgäste möglichst
nalen, Arbeitsstabes für Koordination und Ma-       schnell und gut weiter zu bringen. Zudem sind
nagement wird angekündigt, die Mannschaf-           unsere Fahrzeuge zu schützen. Denn die Bahn
ten werden in Bereitschaft versetzt und ver-        kann bei solchen Wetterextremen leider nicht
stärkt. Ist dann nur eine Region betroffen, gilt    immer einsatzbereit sein, obwohl das viele er-
Stufe Zwei. Das heißt, die Leute in der Betriebs­   warten. Unsere Strategie lautet dann: Heute
zentrale vor Ort können den Sturm in ihrem          ist Unwetter, morgen fahren wir wieder. Dazu
regionalen Arbeitsstab behandeln. Ab zwei be-       müssen die Züge und Mannschaften aller-
troffenen Regionen schaltet sich der zentrale       dings alle wieder an den richtigen Orten sein.
Arbeitsstab für die überregionale Koordina­tion     Wenn möglich überfliegen wir die Strecken
ein – Stufe Drei.                                   mit Hubschraubern, um uns ein genaues Bild
Und dann, wenn der Sturm tobt?                      darüber zu machen, wo Gleise blockiert oder
Priorität haben unsere Fahrgäste in auf der         Oberleitungen beschädigt sind. Ein schnell
Strecke liegen gebliebenen Reisezügen. Das          verfügbarer Überblick über die Lage hilft bei
war in der vergangenen Sturmsaison mehr-            der Steuerung der Entstörungskräfte.
mals der Fall. Die Menschen müssen dann             Wenn der Zugverkehr lahm liegt,
schnell versorgt werden, denn wenn zum Bei-         haben Sie mit unzufriedenen Kunden zu
spiel durch Schäden an den Oberleitungen der        rechnen. Wie gehen Sie damit um?
Strom wegbleibt, fallen irgendwann auch die         Nach den Erfahrungen mit Xavier haben

Naturgefahrenreport 2018
20    Kapitel eins: Sturm – die rasende Gefahr

                         wir die Passagiere bei den folgenden Stürmen         Was sind die häufigsten Schäden?
                         bereits früh im Vorfeld auf verschiedenen Ka-        Das sind Schäden an den Oberleitungen. Die
                         nälen gebeten, ihre Reise möglichst um einen         werden nicht nur durch Äste oder umstür-
                         Tag zu verschieben. Das hat gut funktioniert,        zende Bäume verursacht, auch zum Beispiel
                         das Fahrgastaufkommen an den Bahnhöfen               durch herumfliegende Ziegel oder Folien aus
                         war deutlich geringer. Wichtig ist es, klar und      der Landwirtschaft. Bei den Stürmen der Sai-
                         umfassend zu kommunizieren, wie die be-              son 2017/2018 hatten wir auch zahlreiche um-
                         triebliche Lage ist und wann wir den Zugver-         gestürzte Bäume, die die Gleise blockierten.
                         kehr wieder aufnehmen. Dann haben die Pas-           Welche Erfahrungen ziehen Sie aus
                         sagiere in der Regel auch Verständnis.               den verheerenden Stürmen der Saison
                         Wie arbeiten Sie an der Beseitigung                  2017/2018? Wie schützen Sie sich
                         von Sturmschäden?                                    vor solchen Schäden?
                         Wir haben im Bundesgebiet Korridore de-              Am besten soll kein Baum mehr aufs Gleis fal-
                         finiert, die innerhalb von 24 Stunden wie-           len. Nach der zurückliegenden Sturmsaison
                         der frei sein müssen. Das sind die Hauptver-         haben wir unser Präventionskonzept deutlich
                         kehrsstrecken zu den Verkehrsknoten Berlin,          intensiviert. Seit Anfang 2018 setzen wir den
                         Hamburg, Hannover, Köln, München, Leip-              neuen „Aktionsplan Vegetation“ um, der ge-
                         zig. Da schicken wir die Entstörungsfahrzeu-         meinsam mit Experten entwickelt wurde. Die-
                         ge zuerst hin, manchmal müssen sie sich Me-          ser sorgt durch eine Reihe zusätzlicher stra-
                         ter für Meter durch Äste und Bäume durchar-          tegischer Maßnahmen für einen robusteren
                         beiten. An zweiter Stelle stehen sechs Korri-        Waldbestand entlang der Strecken und damit
                         dore für den europäischen Güterverkehr, die          für eine sturmsicherere Bahn.
                         nahezu deckungsgleich mit dem Fernverkehr                Doch auch beim besten Schutz: Es wird
                         sind. Pa­rallel sichern wir, dass der Regionalver-   wohl weiter Wetterextreme geben, bei denen
                         kehr wieder aufgenommen werden kann. Die             die Bahn wie die anderen Verkehrsträger auch
                         Mannschaften arbeiten dann rund um die Uhr.          nicht ganz außen vor ist.

     Naturgefahrenreport 2018
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   Waldumbau der Bahn

   Kurz genug fürs Gleis
   Nach den verheerenden Schäden der Sturmsaison 2017/2018 setzt die Deutsche Bahn auf den Umbau ihres
   Waldes. Forstfachleute kontrollieren detailliert den Baumbestand entlang der Strecken - und planen ihn
   stabiler. Das Ziel: Auch aus der zweiten Reihe soll kein Baum mehr aufs Gleis fallen. Eine Streckenbegehung.

G
        erhard Hetzel schaut in seinen   ten Streifen beidseitig der Gleise, die   soll nachwachsen, was Hetzel „ty-
        2.000 Quadratmetern Wald         nun als neue Stabilisierungszone          pische Eisenbahnerbäume“ nennt:
        vor allem auf die „bad guys“,    sturmsicher gemacht werden. Teil-         Eichen und Robinien, auch Eschen,
auf Bäume, die krank, morsch, zu         weise reicht der Waldbesitz indes         Bergahorn und Hainbuchen. Stabile
hoch oder sturmanfällig sind. „Als       bis zu 300 Meter weit ins gleisfer-       Arten, die tief wurzeln und langsam
Forstwirt in einem Wirtschaftswald       ne Land.                                  wachsen. Wo der Wald sich nicht na-
achten Sie auf gesunde Bäume, die              Das Jahr von Gerhard Hetzel,        türlich verjüngt, pflanzen die Forst-
Sie pflegen. Als Forstwirt für die        den sechs weiteren Vegetations­          wirte die Bäume nach. Im Nieder-
Deutsche Bahn machen Sie das Ge-          managern und rund 1.000 Forst-           wald wachsen sie nur bis zu einer
genteil.“ Hetzels Job ist der Schutz     kolleginnen und -kollegen teilt sich      Höhe, die kurz genug fürs Gleis ist.
des Zugverkehrs vor umstürzenden         dafür in zwei Hälften: in das Halb-       Alle drei bis fünf Jahre erfolgt der
Bäumen, sein Waldstück umfasst           jahr der Inspektion und das Halb-         Rückschnitt. Das gewonnene Holz
vier Bundesländer. Seine Wald­pflege     jahr des Schnitts. In der Zeit der        kann als Brennholz verkauft wer-
misst sich am Abstand zum Gleis.         ­Inspektion, von März bis Ende Sep-       den. Etwa die Hälfte des Bahn-Wal-
     Mit ihrem „Aktionsplan Vegeta-       tember, durchforsten sie ihre Wald-      des soll auf diese Weise auf siche-
tion“ unternimmt die Deutsche Bahn        abschnitte Schritt für Schritt, Baum     ren Niederwald umgestellt werden,
eine umfangreiche Durchforstungs­         für Baum. Was ist krank, morsch, zu      da, wo Standorte und Eigentumsver-
initiative. Die zu Hunderten aufs         hoch? Wo das Gelände zu unwirt-          hältnisse es gestatten.
Gleis gestürzten Bäume der Herbst-        lich für den direkten Augenschein             Eine weitere Variante sturmfes-
und Winterstürme 2017/2018 zeigen:        ist, nutzen sie Drohnen. Baum für        ten Bahn-Waldes ist die Wuchsform
Es trifft auch den Waldbestand hinter     Baum markieren und digitalisieren        durch sogenannten V-Rückschnitt.
der sogenannten Sicherheitszone von       sie den Wald. Zurück im Büro erstel-     Die Bäume in der Stabilisierungs­
jeweils sechs Metern ab Gleismitte.       len sie dann Prioritätenlisten. Wel-     zone werden angeschrägt geschnit-
Dort darf schon lange kein Gehölz         cher Baum birgt das größte Risiko        ten, die größeren Bäume bleiben in
mehr wachsen. Jetzt soll ein Wald-        fürs Gleis? Rückschnitt bzw. Fällen      dritter und vierter Reihe erhalten.
umbau auch die Vegetation in der          erfolgen von Oktober bis Ende Fe­        Die kleinen an vorderster Stelle las-
zweiten Reihe sturmsicher machen.         bruar, in der vegetationslosen Zeit.     sen den Wind besser abgleiten.
Eine Aufgabe, die viele Jahre brau-            Durchforstungsinitiative heißt           Dass Bahnflächen wertvolle Bio­
chen wird. Rund 150 Fachleute stellt      indes nicht nur: Bäume fällen und        tope sein können, zeigt sich vielerorts
die Bahn dafür zusätzlich ein.            zurückschneiden. Durchforstung           innerhalb der baumfreien Sechs-Me-
     Im Grunde ist die Deutsche Bahn      heißt: einen stabilen Wald auf­          ter-Zone. Seltene Gräser und Kräuter
einer der größten Waldbesitzer in         bauen – eine Balance zwischen Si-        haben sich angesie­delt – mit ihnen
Deutschland, sagt Forstwirt Gerhard       cherheit und Ökologie. Dafür ent-        seltene Schmetterlin­ge. Weil die Flä-
Hetzel. Rund 20.000 Hektar Wald           decken Forstwirt Hetzel und sei-         chen nicht gedüngt werden und nicht
gehören dem Unternehmen. In der           ne Kollegen eine uralte Waldform         mit Pestiziden behandelt, gedeihen
Regel sind das jene zehn Meter brei-      neu, den Niederwald. Natürlich           sie naturnah.

Naturgefahrenreport 2018
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