Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche

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Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
Christen heute 2019/06

                         Di e A lt-K at hol i sc h e Z e i tsc h r i f t i n Deu tsc h l a n d           +    63. Ja h rg a ng · J u n i 2 019

                                                                                                              Sonderteil zum neuen
                                                                                                              Corporate Design           ab Seite 20

                         3   Leben auf Vorschuss             10 Auf dem See                          13 Dem Glauben Raum geben
                             von Harald Klein                   von Jutta Respondek                     von Otto Holzapfel

                         6   Die Vertrauensvollen sind die   11   Das etwas andere Liebesgeflüster   29 Weniger ist nötig!
                             Dummen                               von Max Burkhardt                     von Dieter Puhl
                             von Francine Schwertfeger
                                                             12 In die Irre gehen
                         8   Die Angst überwinden               von Lothar Steffens
                             von Jutta Respondek
Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
„Grüner Knopf “ für faire Kleidung         Strafgerichtshof ermittelt                Gutachten fordert Trendwende
                                                                       Entwicklungsminister Gerd                  weiter gegen Duterte                      beim Umgang mit Digitalisierung
                                                                       Müller (CSU) kündigte an, das              Der Internationale Strafge-               Digitalisierung und Nachhal-
                                                                       geplante Gütesiegel für fair produ-        richtshof in Den Haag führt die Vor-      tigkeit müssen stärker verknüpft
                         Namen & Nachrichten
                                                                       zierte Kleidung, der „Grüne Knopf “,       ermittlungen gegen den philippini-        werden: Zu diesem Schluss kommt
                                                                       solle im Juli kommen. Dann wolle           schen Präsidenten Rodrigo Duterte         ein Gutachten „Globale Umweltver-
                                                                       er zunächst zehn deutsche Firmen           weiter. Das geht aus einem Schreiben      änderungen“ des Wissenschaftlichen
                                                                       vorstellen, die sagten: „Wir machen        des Gerichtshofs an die „Nationale        Beirats der Bundesregierung. Das
                                                                       mit und wir gehen als Erste an den         Union der Volksanwälte“ (NUPL)            Verständnis von menschlicher Ent-
                                                                       Markt; der Grüne Knopf, Kleidung           auf den Philippinen hervor. Im soge-      wicklung müsse im Zeitalter der Digi-
                                                                       mit diesem Nachhaltigkeitssiegel, ist      nannten Anti-Drogenkrieg auf den          talisierung grundlegend neu bestimmt
                                                                       bei uns zu kaufen.“ Der Knopf solle        Philippinen sind nach offiziellen         werden, heißt es darin. Kurzfristig
                                                                       als von staatlicher Seite kontrolliertes   Polizeiangaben bislang rund 5.000         gelte es, die Digitalisierung mit den
                                                                       Produktionssiegel gewährleisten, dass      Menschen erschossen worden. Men-          2015 vereinbarten globalen Nachhal-
                                                                       Kleidung sozial- und umweltverträg-        schenrechtler und Kirchen auf den         tigkeitszielen sowie dem Pariser Kli-
                                                                       lich produziert wurde, so Müller:          Philippinen sprechen von weiteren         maschutzabkommen in Einklang zu
                                                                       „Ich werbe dafür, dass der deutsche        20.000 außergerichtlichen Tötun-          bringen. Der Beirat fordert die Bun-
                                                                       Textilhandel das nicht blockiert, son-     gen, die auf das Konto von anonymen       desregierung auf, sich während ihrer
                                                                       dern unterstützt, als klares Signal an     Todesschwadronen gingen. Die NUPL         EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020
                                                                       die Kunden.“ Der Minister kündigte         hatten im vergangenen August im           für ein eigenes europäisches Digitali-
                                                                       zugleich an, im zweiten Halbjahr 2019      Namen von acht Familien von Opfern        sierungsmodell einzusetzen. Nachhal-
                                                                       ein Aktionsbündnis gegen Kinderar-         des „Anti-Drogenkriegs“ Klage gegen       tigkeit, faire Produktionsbedingun-
                                                                       beit, Menschenhandel und Zwangs-           Duterte eingereicht. Als Reaktion         gen, Privatheit und Cybersicherheit
                                                                       arbeit ins Leben zu rufen: „Ausbeu-        kündigte Duterte die Mitgliedschaft       müssten bei einem solchen Leitbild im
                                                                       terische Kinderarbeit zur Herstellung      der Philippinen beim Internationalen      Zentrum stehen.
                                                                       oder Gewinnung von Ressourcen              Strafgerichtshof auf; der Austritt trat
                                                                       muss ausgeschlossen werden.“               am 17. März dieses Jahres in Kraft.       Gesicht von Johannes
                                                                                                                  Nach Ansicht von Völkerrechtsex-          Nepomuk rekonstruiert
                                                                       Unmöglich?                                 perten hat das Gericht jedoch das         Wissenschaftler des Mähri-
                                                                       Arbeitgeberpräsident Ingo                  Recht, vor der Aufkündigung der Mit-      schen Landesmuseums im tsche-
                                                                       Kramer hält die Pläne der Bundes-          gliedschaft eines Landes eingeleitete     chischen Brünn (Brno) haben das
                                                                       regierung für eine Verpflichtung zur       Ermittlungen fortzusetzen.                Gesicht des bekannten „Brücken-
                                                                       Einhaltung von Menschenrechten                                                       heiligen“ Johannes von Nepomuk
                                                                       in globalen Produktionsketten für          Evangelisches Friedensinstitut            rekonstruiert. Sie gingen bei ihrer
                                                                       absurd. „Hier wird eine faktische          in Freiburg geplant                       Gesichtsrekonstruktion von äußerst
                                                                       Unmöglichkeit von den Unterneh-            Die Gründung eines Institut               detaillierten, einer Autopsie nahe
                                                                       mern verlangt: Sie sollen persönlich       für Friedenspädagogik und Friedens-       kommenden Messungen, Zeichnun-
                                                                       für etwas haften, das sie persönlich in    arbeit hat die badische Landessynode      gen und Fotografien aus dem Jahr
                                                                       unserer globalisierten Welt gar nicht      bei ihrer Frühjahrstagung in Bad Her-     1972 aus. Auf Basis der Neu­rekons­
Titelfoto: Pionites melanocephalus, „233/365 - 10 juin 2012“, Flickr

                                                                       beeinflussen können“, sagte er. „Da,       renalb beschlossen. Die Einrichtung       truktionen hat der Bildhauer Ondrej
                                                                       wo ich als Unternehmer persönlich          soll der Evangelischen Hochschule         Bilek eine Bronzebüste mit dem
                                                                       Einfluss etwa auf die Produktion in        Freiburg angegliedert und im kom-         Gesicht des Heiligen gefertigt. Nepo-
                                                                       meiner Fabrik im Ausland habe, fühle       menden Jahr eröffnet werden. Die          muks Gesichtszüge dürften demnach
                                                                       ich mich selbstverständlich verpflich-     Synode sieht das Institut als „wichti-    deutlich rundlicher gewesen sein, als
                                                                       tet, nach unseren sozialen und ökolo-      gen Schritt, um auch die notwendige       er seit der Barockzeit auf Abertausen-
                                                                       gischen Standards arbeiten zu lassen“,     wissenschaftliche Bearbeitung und         den Skulpturen in ganz Mitteleuropa
                                                                       sagte Kramer weiter. „Aber nicht           Begleitung der Friedensthematik zu        zu sehen ist. Johannes Nepomuk
                                                                       dort, wo ich das gar nicht beeinflus-      stärken“.                                 wurde als Johannes Welflin oder
                                                                       sen kann oder als Mittelständler noch                                                Wolfflin um 1345 in Pomuk geboren.
                                                                       nicht einmal überblicken kann. Das                                                   Als Domherr und Generalvikar des
                                                                                                                    Kirche im Radio
                                                                       ist absurd“. Arbeitsminister Hubertus                                                Erzbischofs von Prag wurde Nepo-
                                                                       Heil (SPD) stellte sich dagegen hinter       „Positionen“                            muk 1393 nach kirchenpolitischen
                                                                       die Pläne. „Unsere Unternehmen müs-          Bayern 2 Radio                          Streitigkeiten auf Befehl des böhmi-
                                                                       sen sicherstellen, dass die Produkte,        30. Juni, 6:30 Uhr                      schen Königs Wenzel IV. gefoltert,
                                                                       die sie verkaufen, unter menschenwür-        Dekan i. R. Harald Klein                von der Prager Karlsbrücke gestürzt
                                                                       digen Arbeitsbedingungen hergestellt         Rosenheim                               und in der Moldau ertränkt.
                                                                       wurden. Es geht zum Beispiel um Kin-
                                                                       derarbeit und Zwangsarbeit, die wir
                                                                       ausschließen wollen“.
                                                                                                                                                            fortgesetzt auf Seite 31            5

          2                                                                                                                                                                 Christen heute
Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
Leben auf Vorschuss

                                                                                                                             Dekan i. R.
                                                              Kürzlich in Paris geschehen: Da hat Gott die eigene Kathe-     Harald Klein
                                                              drale abbrennen lassen. Es scheint wirklich dafür kein         ist Mitglied
                                                                                                                             der Gemeinde
                                                              Anderer verantwortlich gemacht werden zu können. Es            Rosenheim
                                                              war ein Zufall, ein Kurzschluss, der zum Brand geführt
                                                              hat, ein typischer Stolperstein der Geschichte, an dem
                                                              eben allenfalls Gott Schuld trägt. Zumindest wird auch
                                                              der Frömmste nicht bestreiten, dass Gott es locker hätte
                                                              verhindern können. Aber er hat es nicht getan. Soll man
                                                              so jemandem vertrauen? Er hat ja auch Tschernobyl, die
                                                              NS-Gräuel, Auschwitz, Kreuzzüge, das Kreuz Jesu nicht
Vo n H ar ald K lein                                          verhindert. Heißt Vertrauen nicht, dass man sich auf die
                                                              Stärke und Hilfe eines Größeren wirklich verlassen kann?!

Z
        weifellos gehört das Vertrauen zu den                 Total verlassen kann?! Oder ist an diesem Verständnis von
        ältesten und selbstverständlichsten Handlungen        Vertrauen irgendetwas falsch?
        und Haltungen auf der Erde. Zu vertrauen, das ist
so „normal“, dass wir es schon gar nicht mehr registrieren,   Wo es herkommt
wenn ein Politiker vor der Wahl, ein neuer Firmenchef bei          Vertrauen, trauen, Treue, all diese heutigen Wörter
VW, ein Werbeonkel für Kopfschmerztabletten, ein Lehrer       stehen in Verbindung mit dem germanischen Wort „tero“
vor seiner Klasse, ein Bischof das in Anspruch nimmt. Fast    für Baum, Eichenbaum. Im Englischen heißt es heute noch
alle Beziehungen, die guten wie die zweifelhaften, fußen      „tree“. Dort hat das Vertrauen seinen Ursprung. Im Ver-
auf Vertrauen oder der Forderung nach Vertrauen.              trauen findet man jemanden, der so stark ist wie eine Eiche.

                                                                                                                                Foto: Kurt Haubrich, „2012-064-366 ... As a parent you are
     Auch in der Tierwelt gab und gibt es Vertrauen;          Im Vertrauen lehnt man sich an eine Eiche oder bekommt
man braucht sich nur das Verhalten von untergeordneten        selber Halt und Festigkeit wie ein Baum. Kinder brauchen
Tieren im Rudel anzuschauen oder die Treue und Fol-           das, Untergebene brauchen das, Menschen im Rudel auch.
gebereitschaft eines Hundes gegenüber „Frauchen“ oder         Vertrauen als Abstützung beim Stärkeren oder Erfahrene-           everything. Even when you are not there“, Flickr
„Herrchen“. Vertrauen, wo man hinsieht. Alexander der         ren, beim Mächtigeren oder Würdevolleren, das scheint
Große hat es eingefordert, Kleopatra, Attila und jegliche     klar und richtig.
Heerführer ebenso. Päpste mit Unfehlbarkeitsanspruch               Aber ist es dann nicht auch selbstverständlich, dass
haben sogar „blindes“ Vertrauen gewollt. Urbild des Ver-      Fremd-Vertrauen schwindet, je gleichwertiger jemand Klei-
trauens ist womöglich das, welches von Kindern ihren          nes wird, je selbstständiger und souveräner ein Schüler,
Eltern entgegengebracht wird. Nein, sagen da andere, das      eine Schülerin wird? Warum soll ich vertrauen, wenn ich
Urbild des Vertrauens ist das felsenfeste Vertrauen, das      allmählich selber für meine Sicherheit und Gewähr sorgen
Gläubige gegenüber Gott haben. Ergebenheit, Demut,            kann? Wenn Menschen sich wie im Kölner Dom ein Eisen-
Nibelungentreue, bedingungsloser Glaubensgehorsam wie         träger-Dach und ein Brandschutzsystem einbauen, werden
der, den Abraham zeigte, als er bereit war, seinen eigenen    sie nicht mehr wie in Paris auf den Feuerschutz durch Gott
Sohn zu schlachten: Das ist das wahre Vertrauen.              oder Maria vertrauen müssen.
     Ich könnte nun entgegenhalten, dass man doch                  Insofern könnte man zu der Überzeugung gelangen,
jemandem nicht vertraut, der sein eigenes Haus anzündet.      dass wir uns in einer Zeit des schwindenden Vertrauens
                                                              befinden, in einer Zeit, in der Vertrauen immer weniger

6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 3
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Propheten. Er, der nach alter Überlieferung schon Unmen-
                                                                                              gen an Menschen hatte umbringen lassen auf der Suche
                                                                                              nach dem wahren Gott, er musste nun lernen, dass Gott
                                                                                              eben nicht im Sturm, nicht im Berg, nicht im Getöse zu
                                                                                              finden war, sondern in einem leisen Säuseln. Das ist keine
                                                                                              germanische Eiche, keine massive Festung, an die man sich
                                                                                              da anlehnen könnte, das ist etwas völlig Anderes.
                                                                                                    In diesem Sinne hat auch Jesus, relativ kurze Zeit spä-
                                                                                              ter, einen anderen Gott gepredigt als den der Macht und
                                                                                              Stärke. Und spätestens mit seinem Kreuzweg hat er diese
                                                                                              Predigt auch so intensiv wie nur denkbar bezeugt.
                                                                                                    Vertrauen muss etwas Anderes sein als der eigen-
                                                                                              nützige Gewinn von Stärke. Es muss auch etwas Ande-
                                                                                              res sein als das auswendig gelernte Vokabular eines
                                                                                              Katechismus-Glaubens.

                                                                                              Vertrauen ist mehr
                                                                                                    Vertrauen – so meine ich – ist immer etwas Gegen-
                                                                                              seitiges. Vertrauen geht nicht nur in eine Richtung: vom
                                                                                              Schwachen zum Starken. Vertrauen entsteht überhaupt
                                                                                              erst da, wo eben das Zweiseitige gespürt und erlebt wird.
                                                                                              Erst wo ich merke, dass jemand mir etwas schenkt, kann
                                                                                              ich ihm Vertrauen entgegenbringen. Vielleicht ist das alte
                                                                                              theologische Wort vom Bund etwas, das diesen Aspekt des
                               nötig und angebracht ist. Statt gläubiger Fürbitten und        Vertrauens näher beleuchtet. Wenn Vertrauen nur eine ein-
                               Ergebenheitsbezeigungen sind heute Aufklärung und              seitige Anlehnung oder Suche nach Stärke beinhaltet, dann
                               Mitverantwortung, Überprüfung und eigenes Handeln              ist es letztlich nichts Anderes als Angst oder Hilflosigkeit.
                               gefragt. Natürlich könnten wir auch heute noch einen           Aber genau so etwas hat zum Beispiel Gott letztlich nie
                               Monarchen auf Lebenszeit zum Staatslenker ernennen             gewollt. Der Gott, den Jesus gepredigt hat, will nicht aus
                               und salben, aber eher neigen wir doch jetzt dazu, alle vier    Angst heraus angebetet werden. Und auch Menschen, die
                               Jahre nachzuprüfen, ob er noch im Sinne der Allgemein-         wirklich Wert auf Vertrauen legen, wollen nicht aus Angst
                               heit regiert, und per Wahl den Regierungsauftrag neu zu        geehrt oder gemocht werden.
                               vergeben. Vertrauen wird kritischer gesehen. Aber viel-              Vertrauen besteht durch Beziehung. Vertrauen wächst
                               leicht liegt hier auch ein großes Missverständnis vor. Und     durch erlebte Begegnung. In Firmen oder Betrieben wird
                               so möchte ich die Anfangsfrage noch einmal stellen: Was        im Allgemeinen davon ausgegangen, dass Vertrauen nur
                               ist Vertrauen?                                                 entstehen kann, wenn die Beteiligten sich mehrfach positiv
                                                                                              begegnen und erfahren. Ein Chef, der nur bei der Weih-
                               Wo es in Frage gestellt wird                                   nachtsfeier sichtbar wird, kann nicht Vertrauen erwarten.
                                    In einer alten Geschichte tritt ein Mensch auf, der             Vertrauen ist gegenseitige Verbindung. Auch das
                               schon allein äußerlich einem Baum ähnelt. Er steht da,         Kind, das seinen Eltern gegenübersteht, hat tatsächliches
                               wuchtig und selbstbewusst, größer als alle andern, mit
                               Muskeln und Waffen ausgestattet, und hat in sich das Ver-
                               trauen seines ganzen Volkes. Er ist ein Philister; niemand
                               wagt es, ihm entgegenzutreten. Und als dann doch so ein
                               Winzling auftritt und ihm gegenüber Aufstellung nimmt,
                               erntet der nur Hohn und Gelächter. Ein Mann wie eine
                               Eiche, einer, in den jeder anwesende Philister seinen Glau-
                               ben und seine Gefolgschaft investiert. Aber wir kennen
                               den Ausgang der Geschichte. Elhanan erschlägt den Riesen
                               (2. Buch Samuel 21,19). Später wird seine Tat König David
Bilder aus Wikimedia Commons

                               zugeschrieben, und nun wird ausdrücklich betont, dass der
                               Sieger klein und unerfahren war und eine Steinschleuder
                               einsetzte (1. Buch Samuel 17). Was verdient tatsächlich Ver-
                               trauen? Das Baumhafte, das protzig Große ist es nicht, an
                               das man sich als Mensch anlehnen und stützen kann. Und
                               vielleicht ist es überhaupt kein Ziel und kein Wert, dass
                               man selber im Leben einmal solch ein monumentaler Bro-
                               cken werden möchte.
                                    Ebenfalls in der letzten Zeit des Alten Testaments
                               entstand die Elias-Episode von dem Gott suchenden

    4                                                                                                                             Christen heute
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Vertrauen nur, wenn es zugleich eine unglaublich dichte              Erst auf dieser Basis kann dann auch das Umgekehrte
Beziehung seitens der Eltern erfährt oder erfahren hat.         entstehen, nämlich dass wir Gott vertrauen. Wir glau-
     Und letztlich ist das, was da von Seiten der Eltern ein-   ben ihm das: Wir glauben, dass Gott uns liebt und ernst
gebracht wird, ebenfalls Vertrauen. Denn es gibt Vertrauen      nimmt. Wir glauben keine Dogmenkataloge, keine Lehr-
nicht nur von „unten“ nach „oben“, sondern genauso von          bücher; wir glauben zentral nur das Eine: dass Gott uns
„oben“ nach „unten“, nicht nur als Merkmal der Anleh-           vertraut. Und dann glauben wir auch, dass das, was über
nung, sondern auch als Merkmal des Geschenks. Da                unser Vermögen geht, bei ihm gut aufgehoben ist. Er wird
schenkt mir jemand (oder ein Elternpaar) seine ungeteilte       es nicht in die Hand nehmen, wie ein Goliath es in die
Hochachtung und Wertschätzung. Da verzichtet jemand             Hand genommen hätte. Gott ist eben anders, rätselhafter,
auf die eigene Handlungsvollmacht und schenkt sein              geheimnisvoller, liebevoller. Jesus hat das am Ostermorgen
Zutrauen, indem er mir Verantwortung überlässt. Das ist         erfahren.
Vertrauen.

Es könnte alles verändern
     Und siehe da, es ist genau die Form des Vertrauens,
die Jesus den Menschen nahebringen wollte. Natürlich hat
Jesus auch vom Vertrauen der Menschen auf Gott gespro-
chen. Aber seine tiefste Botschaft war, dass Gott einem
jeden von uns und einer jeden von uns das Vertrauen aus-
spricht. Gott nimmt jeden Einzelnen wichtig und traut
ihm oder ihr zu, ein eigenverantwortlicher Mensch zu
sein. Gott traut uns. Gott übergibt uns unser Leben und
schenkt uns dazu Freiheit. Wir sind nicht mehr an ein
Gesetz gefesselt, sondern können aus eigener christlicher
Freiheit heraus handeln und uns wertgeschätzt fühlen.
     In dieser Botschaft Jesu steckt das Evangelium der Men-
schenwürde und der Liebe, das Jesus zu bringen gekommen
war. Gott ist kein Baum, der irgendwo steht und angebetet
und gefürchtet werden möchte, sondern er ist der Wind-
hauch, der diese Erde erfüllen will – gerade auch durch unser
persönliches Mitwirken. Gott ist der Geist, der uns erfüllt          Das wirkliche Vertrauen ist nicht das, welches Stärke
und genau so die Schöpfung erneuern will.                       sucht oder sich andere unterwirft. Das von Jesus verkün-
     Vertrauen ist das große Geschenk. Gott investiert es       dete Vertrauen ist das der Anerkennung und Zuneigung,
und wir können es auch investieren. Letztlich ist es auch       das, welches sich selbst und einander vertraut. Wir leben
genau dieses Geschenk, das in jeder christlichen Taufe dem      auf Vorschuss, so wie im Evangelium von den Tagelöhnern
Kind (oder Erwachsenen) vermittelt wird: Gott vertraut          jeder einen Denar bekommt, egal wann er gekommen ist
dir dein eigenes Leben und diese Welt an, Gott traut dir das    und wieviel er geleistet hat. Wir leben auf Vertrauensvor-
Gute zu, Gott vertraut dir. Auch wenn wir Fehler machen,        schuss. Das ist Frohe Botschaft. Bauen wir mit an einer ver-
wenn wir Sünder sind und Bedrängte: Gott traut uns.             trauensvollen Welt.                                       ■

   Editorial                                                                        Leitlinien für den einheitli-
                                                                                    chen Auftritt der Kirche und der
                                                                                    Gemeinden erarbeitet – Angebote,
   Von Ger h ar d Ruisch                                                            welche für den Internetauftritt
                                                                                    und für gedruckte Publikationen
   Liebe Leserinnen und Leser,              und Vertrauen: πίστις (pístis). Es      der Gemeinden wie Gemeinde-

  A
           us gegebenem Anlass              ist aber zugleich auch ein Grundt-      briefe und Faltblätter verwendet
           hat dieses Heft zwei The-        hema des menschlichen Lebens            werden können. Die Vorstellung
           men: Im vorderen Teil fin-       überhaupt. Ich freue mich, dass wir     dieser Ideen und Leitlinien ist das
   den Sie das schon lange geplante         Ihnen hierzu im vorderen Teil der       zweite Thema dieser Juni-Ausgabe.
   Thema „Vertrauen“. Es ist ein            Zeitschrift einige fundierte Texte      Sie finden die Beiträge dazu ab der
   Grundthema des christlichen Glau-        anbieten können.                        Heftmitte.
   bens – im Griechischen, in dem das            In den vergangenen Mona-                 Ich wünsche Ihnen Freude
   Neue Testament verfasst ist, gibt es     ten hat unsere Kirche mit Hilfe         beim Lesen und grüße Sie herzlich,
   überhaupt nur ein Wort für Glaube        der Agentur RMG Connect neue                              Ihr Gerhard Ruisch

6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 5
Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
Handschlag rechtfertigen, alles über
                                                                                                                                         Gebühr erklären und eidesstattliche
                                                                                                                                         Versicherungen abgeben, damit das
                                                                                                                                         Misstrauen besänftigt wird – und man
                                                                                                                                         kann es doch nicht stillen. Vertrauen
                                                                                                                                         ist nicht alles, aber ohne Vertrauen ist
                                                                                                                                         alles Mist, um es frei nach Schopen-
                                                                                                                                         hauer zu sagen.
                                                                                                                                               Wer vertrauen will, muss sich
                                                                                                                                         trauen. Davon (mittelhochdeutsch
                                                                                                                                         truwen) erzählen die Bibel ebenso wie
                                                                                                                                         Märchen. Der Narr, der „Dummling“,
                                                                                                                                         jener, der mit den Zwergen (oder
                                                                                                                                         Tieren) spricht, gewinnt die goldene
                                                                                                                                         Gans.
                                                                                                                                               Dieses Vertrauen beruht nicht
                                                                                                                                         einmal auf Gegenseitigkeit. Wenn wir
                                                                                                                                         die Dummlinge im Märchen nehmen,
                                                                                                                                         so scheinen sie nicht viel von weltli-
                                                                                                                                         chen Dingen zu verstehen, weshalb
                                                                                                                                         sie verlacht werden. Aber das Glück
                                                                                                                                         ist mit ihnen, weil sie ein gutes Herz

                                                 Die Vertrauensvollen                                                                    haben. Und dann? Sie trauen sich
                                                                                                                                         weiterzugehen.
                                                                                                                                               Der Dummling, der beim Holz-

                                                 sind die Dummen                                                                         fällen die goldene Gans bekommt,
                                                                                                                                         weil er dem Männlein zu essen abge-
                                                                                                                                         geben hat, tritt nicht etwa mit seiner
                                                                                                                                         Gans den Heimweg an, er wandert
                                                 Warum Intelligenz, Dummheit und Vertrauen einander bedingen                             los aufs Geratewohl, ohne dass uns
      Francine                                   Von Fr a n cin e Schwert feger                                                          ein Beweggrund mitgeteilt wird, und
 Schwertfeger                                                                                                                            übernachtet in einem Gasthaus. Die

                                                 V
  ist Mitglied                                            ertrauen – Liebespaare.           Lilien auf dem Felde, die nicht arbei-       Gans lässt er unbesorgt allein, so dass
der Gemeinde
    Hannover                                              Urvertrauen – Säuglings-          ten, auch nicht spinnen und doch             die Wirtshaustöchter ihr eine Feder
                                                          augen... Wie romantisch           herrlicher gekleidet seien als Salomo,       stehlen wollen. Sie alle bleiben kle-
                                                 klingt doch, was nach ein paar Jah-        weil Gott selbst das Gras kleidet, das       ben, und am nächsten Morgen packt
                                                 ren Erdendasein bei den meisten so         morgen in den Ofen geworfen wird             der Dummling unbekümmert seine
                                                 sang- und klanglos zu verschwinden         (Mt 6,28 ff ). Er rät folglich, sich nicht   Gans und zieht weiter, mit ihm bald
                                                 scheint. Beim Stichwort „Vertrauen“        um Essen und Kleidung oder den               eine Schar illustrer Leute, so dass
                                                 stößt man im Internet auf so denk-         morgigen Tag zu sorgen, denn der             er schließlich im Palast die ernste
                                                 würdige Seiten wie psychotipps.com         himmlische Vater wisse, wessen wir           Königstochter zum Lachen bringt.
                                                 und karrierebibel.de. Also scheint Ver-    bedürfen.                                          „Dem König aber gefiel der
                                                 trauen nicht vom Himmel zu fallen,              Und doch: Vorsorge- und Rechts-         Schwiegersohn nicht“, heißt es bei den
                                                 sondern muss mit guten Tipps antrai-       schutzverträge aller Art gaukeln uns         Grimm-Brüdern. Wieso denn nicht,
                                                 niert oder zurückgewonnen wer-             Sicherheit vor. Absichern heißt das          möchte man fragen. Vielleicht ist
                                                 den. Denn man geht davon aus, dass         Stichwort heute. Die Polizei warnt vor       der Dummling wirklich ein Einfalts-
  Foto gegenüber: Jon Roig, „IMG_0608“, Flickr

                                                 alle Kleinkinder bedingungslos ver-        Haustür-Trickdieben und Internet-            pinsel, aber anscheinend ist es genau
  Foto: -Curly-, „Comfortably dumb“, Flickr

                                                 trauen, bis sie das erste Mal enttäuscht   betrug. Vertrauen soll höchstens im          diese Einfachheit, die ihn vertrau-
                                                 werden.                                    Zwischenmenschlichen geübt werden,           ensvoll zum Baum und dem Männ-
                                                      Dann werden die kleinen Lebe-         denn irgendwo muss man sich ja mal           lein zurückkehren lässt, um Antwort
                                                 wesen misstrauisch oder entwickeln         fallen lassen können, oder?                  und Hilfe für die drei Aufgaben
                                                 im Alter gar eine so genannte Verbit-           Können wir überhaupt leben,             des Königs zu finden. Und siehe, er
                                                 terungsstörung mit allerlei unliebsa-      ohne zu vertrauen?                           bekommt alles, was er braucht, „weil
                                                 men somatischen Beschwerden. Es                                                         du barmherzig gegen mich gewesen
                                                 lebt sich also offenbar gesünder mit       Wer das Leben liebt, vertraut                bist.“
                                                 Vertrauen. Doch das ist leichter gesagt         Misstrauen ist ein schleichendes              Den Gegensatz dazu haben seine
                                                 als getan.                                 Gift. Wer mit misstrauischen Men-            beiden Brüder am Anfang gebildet,
                                                      Das Thema durchzieht die ganze        schen zusammen sein muss, wird               die kein Vertrauen hatten, dass ihr
                                                 Menschheitsgeschichte, denn nicht          immer ein Unbehagen oder extreme             Eierkuchen und Wein auch noch für
                                                 umsonst erzählte schon Jesus von den       Anstrengung dabei empfinden. Jeden           das hungrige Männlein reichen würde,

     6                                                                                                                                                 Christen heute
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und es ihm verweigerten. Die „Loser“      Daher ist eine gewisse Intelligenz             Davon ausgehend, dass wir alle
hacken sich in Arm und Bein und sit-      nicht von Nachteil.                       uns nach Liebe und Vertrauen seh-
zen heute noch zuhause bei Muttern...          Eine Studie der Universität          nen, kann eine oder einer den Anfang
                                          Oxford fand heraus, dass Menschen         machen. Und das wiederum nehmen
Irgendwie...                              mit hohem IQ mehr vertrauen. Die          andere Menschen wahr und können
     Macht uns Vertrauen barm-            Forscher um Noah Carl vermuten            selbst vertrauen. Oder heißt es besser:
herzig? Wer weiß, dass er/sie alles       aber, dass diese nicht einfach vertrau-   können sich selbst vertrauen? Denn
bekommt und vom Leben geliebt             ensseliger sind als der Rest, sondern     eines ist klar: Wer kein Selbstwertge-
wird, der liebt das Leben. Der vertraut   dass sie eine intuitive Menschenkennt-    fühl hat, ist unsicher. Und hier kön-
darauf, dass, selbst wenn das Haus        nis besitzen, mit der sie andere besser   nen die Psychoseiten im Internet dann
abfackelt, noch ein höherer Sinn in       einschätzen können, was ihre Vertrau-     auch helfen. Oder eben eine Vorstel-
allem steckt und „es irgendwie immer      enswürdigkeit angeht. Menschen-           lung vom liebenden Gott oder Uni-
weitergeht im Leben“. Das Zauber-         kenntnis hat nichts mit IQ zu tun,        versum oder Allem-was-ist, das uns
wort ist irgendwie. Das benutzen          sondern damit, mit dem Herzen zu          schon vorher vertraut – zugetraut –
natürlich auch Chaoten, denen andere      hören und zu sehen. Im Herzen sind        hat, dass wir das Leben meistern.
dann aus der Patsche helfen müssen,       wir mit dem Göttlichen verbunden,         Irgendwie...                         ■
wenn sie sich wieder verfahren haben.     das uns erkennen lässt, dass wir alle
                                          auf Erden Geschwister sind.

                                          Du bleibst                                Du trägst uns

Letzte                                    wenn alles zerbricht
                                          und kein Ausweg sich zeigt
                                          wenn aller Sinn sich verbirgt
                                                                                    mitsamt unserem Leiden
                                                                                    mit unseren Lasten
                                                                                    mit unserer Trauer

Sicherheit                                und der Schmerz in uns brennt
                                          wenn kein Trost mehr ist
                                          und der Mut uns verlässt
                                                                                    mit unserer Todesangst
                                                                                    Du umarmst uns
                                                                                    in unserer Einsamkeit
Vo n J u tta R esp on dek                 wenn unser Ende naht                      in unserer Gottverlassenheit
                                          und die Angst uns umfängt                 in unserer Sehnsucht
                                                                                    nach Leben und Heil
                                          Du bleibst bei uns                                                                  Jutta Respondek
                                          auf dem letzten Weg                       über alle Tode hinaus                     ist Mitglied der
                                          Du bist an der Schwelle                   geht der Atem Deiner Liebe                Gemeinde Bonn
                                          wo wir loslassen müssen                   bis an die Enden der Erde
                                          Du hältst unsere Hand                     reicht der Schatten Deiner Flügel
                                          wenn unser Leben verlischt                unermesslich ist Dein Erbarmen
                                                                                    und Deine Zärtlichkeit             ■

6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 7
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dem, der durch die Geborgenheit in
                                                                                                                            seinem frühen Menschsein ein stabi-
                                                                                                                            les Urvertrauen entwickelt und ein
                                                                                                                            gesundes Selbst- und Lebensvertrauen
                                                                                                                            mit auf den Weg bekommen hat. Er
                                                                                                                            wird nicht ängstlich, entsetzt oder
                                                                                                                            resigniert die Augen verschließen, sich
                                                                                                                            zurückziehen oder aus der Realität zu
                                                                                                                            fliehen versuchen, sondern die Dinge
                                                                                                                            anpacken, wo es möglich ist, und tun,
                                                                                                                            was er kann.
                                                                                                                                  Vertrauen heißt, die Angst über-
                                                                                                                            winden. Die Angst vor all den Risi-
                                                                                                                            ken, Nöten und Gefahren, die uns
                                        Fürchtet euch nicht!                                                                umgeben. Die Gefahr oder das Unheil
                                                                                                                            erkennen, aber sich nicht lähmen las-

                                        Die Angst überwinden                                                                sen von der Angst. Nicht das Gefühl
                                                                                                                            von Ohnmacht und Ausgeliefertsein
                                                                                                                            Überhand gewinnen lassen und verza-
                                                                                                                            gen, sondern dagegen angehen. Ohne
                                        Von J u tta R es p on dek                                                           einen festen Grund, etwas Verlässli-
                                                                                                                            ches, das Halt und Sicherheit bietet,

                                        W
                                                      enn man über den                 Dabei sitzen alle im selben Boot.    ist das kaum möglich.
                                                      eigenen Tellerrand hin-     Wie die Jünger auf dem nächtli-                 Der Versuch, sich so weit wie
                                                      ausblickt und die Wirk-     chen See, die in den tosenden Wellen      möglich zu schützen und abzusichern,
                                        lichkeit jenseits der eigenen, kleinen,   unterzugehen drohen. Wenn das Boot        ist urmenschlich und umfasst alles,
                                        überwiegend heilen Welt wahrnimmt,        kentert, sind alle betroffen. Angst       was lebenswichtig, lieb und teuer ist.
                                        ist es nicht gerade leicht, die Zuver-    und Schrecken breiten sich aus. Nur       Das Bedürfnis nach Sicherheit und
                                        sicht zu bewahren und vertrauensvoll      einer macht sich auf, überwindet seine    Absicherung wird umso größer, je
                                        in die Zukunft zu blicken. Wir leben      Angst und begibt sich – blindlings        mehr der Mensch zu verlieren hat.
                                        nicht in rosigen Zeiten und die Pro-      vertrauend auf Jesu Wort „Fürch-          Ein ganzes Heer von Versicherun-
                                        gnosen sind düster. Tag für Tag errei-    tet euch nicht!“ – mitten hinein ins      gen wirbt hier und heute um unser
                                        chen uns Schreckensmeldungen aus          tobende Unheil.                           Vertrauen und bietet Schutz und
                                        Kriegs- und Krisengebieten, Nach-              Angst steht im Gegensatz zu          Absicherung für alle denkbaren Risi-
                                        richten von Katastrophen und Terror,      Vertrauen. Ein kleines Kind kennt         ken des modernen wohlhabenden
                                        und von der Gefährdung der Mensch-        keine Angst. Es vertraut seinen Eltern    Menschen. Wir können bzw. müs-
                                        heit und der gesamten Erde durch          rückhaltlos und lässt sich auch aus       sen unsere Autos gegen Unfälle und
                                        fortschreitenden Klimawandel und          schwindelnder Höhe bedenkenlos in         unsere Häuser und den Hausrat gegen
                                        Zerstörung der Lebensgrundlagen für       ihre Arme fallen. Es geht ganz selbst-    Feuer, Diebstahl, Sturm und Hoch-
                                        Mensch und Tier.                          verständlich davon aus, dass die Eltern   wasser versichern, unsere Reisen vor
                                              Wissenschaftler warnen seit Jahr-   es auffangen, allezeit schützen und       Rücktrittskosten, uns selbst vor den
                                        zehnten vor den globalen Folgen           bewahren und aus jeder brenzligen         Folgekosten von Krankheit, Arbeits-
                                        unablässigen Wirtschaftswachstums         Situation erretten. In seiner Angewie-    unfähigkeit und Tod.
                                        und eines maßlosen Lebensstils und        senheit bleibt ihm auch nichts anderes          Unsere Alten und Pflegebedürf-
                                        Konsumverhaltens für Natur und            übrig, und glücklicherweise macht es      tigen vertrauen wir Senioren- und
                                        Umwelt. Junge Menschen, welche die        im Normalfall vom ersten Lebenstag        Pflegeheimen an, unsere Kleinkin-
                                        Konsequenzen von all dem tragen und       an die positive Erfahrung der elterli-    der Tagesstätten und Krippen und
                                        auf einem vermüllten, ausgebeuteten       chen Geborgenheit.                        die Heranwachsenden erfahrenen
                                        und aus dem Gleichgewicht geratenen            Angst lernt der Mensch erst spä-     Pädagogen und Ausbildern. Unsere
Foto: Alex Indigo, „Climbing“, Flickr

                                        Planeten werden leben müssen, gehen       ter. Wenn er beginnt, Gefahren zu         Gesundheit legen wir vertrauensvoll
                                        zu Tausenden auf die Straßen und          erkennen und auch negative Erfah-         in ärztliche Hände und Kranken-
                                        demonstrieren lautstark gegen Igno-       rungen zu machen. Wenn er beginnt,        häuser; dem Taxifahrer, Lokführer
                                        ranz und Untätigkeit der politisch        aus seiner heilen kleinen Welt her-       oder Flugzeugpiloten vertrauen wir
                                        Verantwortlichen. Und es ändert sich      auszuwachsen. Wenn er merkt, dass         unser Leben an und hoffen, dass sie
                                        letztlich – nichts. Nichts Wesentli-      nicht alle es immer gut mit ihm mei-      uns wohlbehalten zum Ziel bringen.
                                        ches. Nicht genug. Viel zu wenig und      nen und dass nicht alles stimmig und      Geschäfte und Handwerker werben
                                        viel zu langsam. Denn immer noch          in Ordnung ist auf dieser Erde. Dass      um das Vertrauen ihrer Kunden und
                                        denken im Grunde alle zuerst an sich      im Gegenteil vieles bedrohlich und        danken ihnen für ihre Treue. Die Auf-
                                        selbst und ihre jeweiligen Interessen     das Leben voller Probleme, Unwäg-         zählung solcher „Vertrauensfragen“
                                        und ihr persönliches Wohlergehen.         barkeiten und Abgründe ist. Wohl          lässt sich beliebig fortsetzen.

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Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
Menschen vertrauen – und Gott               wenn die Hoffnung schwindet und              und Hoffnung verloren haben und
      All das ist gut und wichtig, es       die Angst ihn zu überwältigen droht,         ihrem Unheil hilflos ausgeliefert sind.
regelt den gesellschaftlichen und           vermag Gottes Da-Sein und Seine              Das Gottvertrauen, wie es in so zahl-
wirtschaftlichen Zusammenhalt und           starke Hand ihn zu retten, so wie Jesus      reichen Liedern, Gebeten und Psal-
beruhigt so manche Ängste und Sor-          Simon Petrus aus dem stürmischen             men zur Sprache kommt, bleibt eine
gen, aber es reicht bei weitem nicht,       See zieht, als der ihm auf den Wel-          Herausforderung angesichts dieser
um uns ein wirkliches Fundament zu          len entgegengeht und unterzugehen            Realitäten und der Fragen, die sich
geben, auf dem wir sicher stehen.           beginnt. Der Schrei des Petrus „Herr,        daraus ergeben. Es gibt keine Antwort
      Wir brauchen mehr als Versiche-       rette mich!“ ist der Schrei um Ret-          darauf. Ich kann nur meinen per-
rungen und Vertrauen in Wirtschaft,         tung vor dem Sog der Angst, die ihn          sönlichen Glauben hinterfragen und
Wissenschaft, Technik und Märkte.           zu verschlingen droht angesichts der         versuchen, mit der Antwortlosigkeit
Menschen brauchen Menschen, die             Gefahr, die ihn umgibt.                      umzugehen.
füreinander da sind: Lebenspartner,              Jesus rettet auch die anderen Jün-           Gott vertrauen heißt für mich,
die Familie, zuverlässige Freunde, gute     ger und bewahrt sie vor dem Unter-           dass auch die, die sich Gottes Obhut
Nachbarn, feste Bindungen in der            gang, indem er mit ins Boot steigt           nicht anvertrauen, weil sie Ihn viel-
Gewissheit, dass man sich aufeinan-         und der Sturm sich legt. So jedenfalls       leicht gar nicht kennen oder das
der verlassen kann, egal was kommt.         erzählt es uns die Bibel (Matthäus           Vertrauen verloren haben, mit ein-
Sie sind Halt und Stütze in guten wie       14,22-33). Das scheint mir ein tröstli-      geschlossen sind. Nur einem solchen
in schlechten Zeiten. „Du kannst auf        ches Bild zu sein. Denn ich frage mich       Gott kann ich trauen, nur in einem
mich zählen, ich werde dich nicht           immer wieder, was mit all den Ande-          solchen Gott Halt und Zuflucht
im Stich lassen“, versprechen sich          ren ist. Mit denen, die das Pech haben,      suchen. Auf einen solchen Gott hoffe
Eheleute gegenseitig bei ihrer Trau-        auf der Schattenseite des Lebens zu          ich. Ich vertraue darauf, dass dieser
ung, wenn sie sich einander an-ver-         stehen. Die wehrlos den Stürmen aus-         Ich-bin-da es gut mit allen meint.
trauen und voller Zuversicht auf ihren      gesetzt sind. Die unter Armut oder           Auch und gerade mit den Leidenden
gemeinsamen Lebensweg begeben.              Kriegen leiden oder von Naturkatas­          und Verzweifelten. Diese sind uns
Treue und Vertrauen sind die Grund-         trophen getroffen sind. Die in Flücht-       anvertraut, denn Er kann oder will sie
lagen aller menschlicher Beziehung          lingslagern vor sich hinvegetieren oder      nur mit unseren Händen retten. Wir
und jeder Partnerschaft. Doch auch          in ihrer Not ihr Leben in die Hände          müssen einander aus dem stürmischen
ein solcher Weg kann scheitern, und         von Schleppern mit seeuntüchtigen            See und dem Meer der Angst ziehen –
selbst die engste Freundschaft kann         Booten legen. Was für ein Vertrauen          in dem Wissen, dass Er uns entge-
zerbrechen. Was bleibt dann?                haben diese Menschen?! Wo ist für sie        genkommt und die Hand reicht und
      Der gläubige Mensch hat ein           der gute und helfende Gott, zu dem           durch die Stürme trägt. Ich will glau-
weiteres, tragendes Fundament, das          ich jeden Tag um Schutz und Segen            ben, dass ein verborgener Sinn hin-
ihm letzte Sicherheit gibt, wenn alles      für das Leben meiner Lieben bete?            ter allem steht und dass, so düster die
andere zerbricht. Wer in Gott veran-        Rettet und erhält Gott nur den einzel-       Prognosen für die Zukunft auch sein
kert ist, weiß sich aufgehoben in einer     nen Menschen, der das Glück hat, fest        mögen, letztlich alles zu einem gottge-
höheren All-Macht, die alles mensch-        im Glauben zu stehen und auf Ihn zu          wollten Ziel führt. Auch wenn ich es
liche Vermögen und Unvermögen               bauen? Den, der unterm Schutz des            nicht erkenne.
übersteigt. Er vertraut darauf, dass        Höchsten steht, im Schatten des All-              Glauben heißt, feststehen in dem,
Gott ihn und diese Welt mit all ihren       mächtigen geht und sich seiner Obhut         was man erhofft (Hebräerbrief 11,1).
Schrecken und Abgründen hält und            anvertraut? Den, der nur den lieben          Man erhofft das Gute und Schöne
niemals verlässt. Er ist nicht gefeit vor   Gott lässt walten und hoffet auf ihn         oder bessere Zeiten. Den guten Aus-
Gefahren und hat keine Garantie, dass       allezeit? Was wäre das für ein Gott?!        gang aus einer schwierigen Lage, das
ihn kein Unglück treffen wird, aber er           Ich kann und will nicht glauben,        Erreichen eines Ziels, den Erfolg sei-
hat einen sicheren Halt in der Gefahr       dass all die Vielen, die (vielleicht trotz   ner Mühen, Überwindung des Bösen,
und in allem Unglück.                       ihrer verzweifelten Gebete) offenbar         Frieden und Wohlergehen für alle.
      Wer Gott vertraut, wer sich im        nicht beschützt und bewahrt werden,          Den Segen Gottes, Seinen Heiligen
Glauben auf Ihn einlässt, der wird          die im Elend umkommen oder alles             Geist und Seine schützende Hand.
Ihn erfahren als der, der da ist, der       verlieren, dass sie von Gottes Vater-        Am Ende Heil und Vollendung in
Not und Leid mit ihm durchsteht             liebe und dem göttlichen Heilsplan           Ihm und Leben in Fülle. Feststehen
und ihn hindurchführt und befreit.          ausgenommen sind. Die, die uner-             in der Hoffnung des Glaubens heißt,
Wer ausgerichtet bleibt auf diesen          reicht sind vom Zuruf Jesu „Habt             gegen alle Ängste, gegen Mutlosigkeit
Ich-bin-da und in Ihm seine Zuflucht        Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch         und Verzagen, sich in der Gegenwart
sucht, kann auch Hindernisse oder           nicht!“ und gar keine Chance haben,          des all-liebenden Gottes geborgen
Abgründe überwinden und in tiefsten         sich auf Ihn einzulassen und unter           wissen und daraus die Kraft schöpfen,
Sorgen und Nöten bestehen. Er wird          Seinen Schutz zu stellen. Oder es            zu handeln, das Leben zu teilen und
zuversichtlicher durchs Leben gehen         vergeblich tun. All jene, die in Ängs-       einander beizustehen.                 ■
als jemand, der diesen Halt nicht hat.      ten und Schrecken leben, ohne sie
Und selbst wenn ihm der Mut sinkt,          überwinden zu können, und die Mut

6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 9
Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
Auf dem See

                                                                              Von J u tta R es p on dek                                     vor unseren Augen mitten auf dem See aus dem Boot und
                                                                                                                                            sprang in die Wellen, um ihm entgegenzugehen.

                                                                              I
                                                                                   ch weiss auch nicht, was meinen Bruder                         Wir waren entsetzt. War der verrückte Simon auf ein-
                                                                                   Simon geritten hat. Seine Kühnheit und seine begeis-     mal lebensmüde? Der konnte doch gar nicht schwimmen!
                                                                                   terte Liebe zum Rabbi hätten ihn beinah das Leben        Und dann bei dem Sturm – und mitten in der Nacht! Und
                                                                              gekostet. Ja, wenn der Rabbi nicht eingegriffen hätte, wäre   was für ein Unsinn mit dem Rabbi! Wie hätte der hierher-
                                                                              mein Bruder bestimmt ertrunken. Er ist aber auch über-        kommen sollen? Wir waren voller Aufregung und gerieten
                                                                              eifrig und manchmal wirklich unvernünftig, spontan und        fast in Panik. Keiner wollte hinterherspringen, um Simon
                                                                              auch ein bisschen voreilig und vorlaut. Aber der Meister      aus dem Wasser zu ziehen. Er war längst untergegangen,
                                                                              mag ihn einfach gut leiden. Simon und ich waren seine ers-    jedenfalls war er nicht mehr zu sehen.
                                                                              ten Jünger. Inzwischen sind wir zwölf Männer und einige             Was dann geschah, konnten wir in der Dunkelheit
                                                                              Frauen, die ständig mit ihm unterwegs sind. Wir haben         nicht erkennen. Wir hörten nur den Sturm heulen und
                                                                              schon viel von ihm gelernt, auch wenn wir beim besten         pfeifen und sahen das tosende Wasser und dachten, die-
                                                                              Willen nicht alles verstehen, was er uns lehren will.         ser Wahnsinnige ist nicht mehr zu retten. Was sollten wir
                                                                                    Die Tage sind oft ganz schön anstrengend. Von früh      tun? Umkehren? Ratlos blickten wir uns an, unsere Augen
                                                                              bis spät sind wir auf den Beinen und ziehen umher. Die        irrten verzweifelt umher, und dann erstarrten wir plötz-
Foto auf dieser Seite: Stuart Rankin, „Kidd Under Clouds, variant“, Flickr.

                                                                              Leute belagern uns geradezu mit ihren Sorgen und Nöten        lich. Träumten wir? Da saß Simon Petrus doch! Er saß
                                                                              oder einfach, um den Rabbi zu hören und zu sehen. Wo          ganz hinten im Boot, triefend und zitternd vor Kälte. Wie
                                                                              wir auch hinkommen, lassen sie uns keine ruhige Minute.       um Himmels willen war er wieder ins Boot gekommen?!
                                                                              Gestern Abend war unser Meister sehr müde. Er wollte          Und – wir trauten unseren Augen nicht – neben ihm stand
                                                                              sich ausruhen und zum Gebet zurückziehen. Wir sollten         der Rabbi und sagte zu ihm: „Du Kleingläubiger, warum
                                                                              derweil mit dem Boot ans andere Seeufer fahren. Er würde      hast du gezweifelt?“
                                                                              später nachkommen und uns dort treffen.                             Seltsame Rede. Hatte Simon nicht als Einziger
                                                                                    Schon als wir ablegten, war es windig und wir sahen     geglaubt, dass der Rabbi auf uns zukäme und war in blindem
                                                                              in der Ferne dunkle Wolken aufziehen. Es ging nur lang-       Vertrauen todesmutig in den aufgewühlten See gesprungen?!
Foto gegenüber: Nayansi Jain, „Mirror“, Flickr

                                                                              sam voran, weil wir Gegenwind hatten, der von Minute          Waren nicht eher wir die Kleingläubigen und Zweifler?!
                                                                              zu Minute stärker wurde. Als wir schon weit hinausge-         Was war mit meinem Bruder im Tosen der Wellen gesche-
                                                                              fahren waren, brach das Unwetter richtig herein. Unser        hen? Und wo war mit einem Mal das Unwetter geblieben?
                                                                              Boot wurde von den Wellen hin und her geworfen und            Der Sturm hatte sich urplötzlich gelegt und das Boot lag
                                                                              wir brauchten alle unsere Kräfte und Erfahrung, um nicht      ganz ruhig auf dem See. Wir waren außer uns und konn-
                                                                              zu kentern. Wir wechselten uns ab mit der Nachtwache,         ten uns das alles nicht erklären. Es war äußerst unheimlich.
                                                                              damit jeder zwischendurch ausruhen konnte.                    Fest stand: Die Beiden waren tatsächlich bei uns im Boot.
                                                                                    Plötzlich sahen wir in der Dunkelheit etwas Helles      Der Rabbi musste meinen Bruder gerettet haben, wie auch
                                                                              auf dem aufgewühlten See. Es bewegte sich auf uns zu und      immer, und er war jetzt bei uns, wie auch immer. Wir waren
                                                                              sprach uns an. Ein Gespenst! Wir schrien vor Angst und        verwirrt, aber unendlich froh und erleichtert. Jetzt konnte
                                                                              Schrecken, nur mein Bruder Simon schien gelassen und          uns nichts mehr passieren. Ganz ergriffen fielen wir vor
                                                                              meinte: „Beruhigt euch doch, das ist der Rabbi, der da zu     unserem wundersamen Herrn und Meister nieder. Auf ihn
                                                                              uns kommt. Erkennt ihr nicht seine Stimme?“ Er rief die-      war Verlass, das hatte er uns gerade eindeutig bewiesen. Er
                                                                              ser geisterhaften Erscheinung, die er für den Rabbi hielt,    war der gottgesandte Retter, da waren wir uns einig.       ■
                                                                              etwas zu und stieg dann, ehe wir es verhindern konnten,                                                   Nach Mt 14, 22-33

      10                                                                                                                                                                       Christen heute
zerfressenen Moralpredigtordnern

Das etwas andere                                                                   ausgegraben, sondern hier und heute
                                                                                   unter: duden.de/­rechtschreibung/­
                                                                                   Egoismus.

Liebesgeflüster                                                                          Kein Wunder, dass dieses dritte
                                                                                   Bein des besagten Schemels auch
                                                                                   heute noch unter Spamverdacht in
Vo n Max Burk h a r dt                                                             einer vergitterten Archivzelle wegge-
                                                                                   sperrt wird. Und bei Spamnachrichten

W
             o finde ich dieses           „Du sollst“ in vermeintlich trauter      tut man sowieso gut daran, sie tenden-
             eher Ungewohnte? Diese       Gemeinschaft tummeln. Gegenüber          ziell nicht zu öffnen.
             im Laufe der Jahrtausende    dieser Vielzahl, die sich ausschließ-
wegrationalisierte Beziehungspflege,      lich mit dem Nebeneinander beschäf-      Das dritte Standbein
welche im Grunde genommen vorne           tigt, fällt diesem dritten Bein bloß           Dennoch mag ich nicht auf-
stehen müsste? Diese ultimative Vor-      die Bedeutung randständig zu, wenn       geben. Das Bild vom dreibeinigen
aussetzung, die mir eigentlich erst       überhaupt. Zu groß scheint die Erwar-    Schemel fasziniert mich zu sehr. Wie
dann bei anderen anzuklopfen erlaubt,     tungshaltung, welche diese vielschich-   Matthäus und Markus berichten,
wenn vor der eigenen Türe gesäubert       tigen, vom Zusammenleben geprägten       zollt auch Jesus dieser Trilogie oberste
und gepflegt ist?                         Gebote generiert, als dass noch Zeit     Priorität: Gottesliebe, Nächstenliebe
      Nein, die Gedanken gehen dies-      für die Pflege im Innern übrigbliebe.    und «wie dich selbst». Mir gefällt
mal nicht hin zu Gottesliebe, auch        Oder könnte es gar sein, dass diese      der Vergleich mit dieser Sitzunterlage.    Max Burkhardt
nicht zu Partner- bzw. Nächstenliebe,     Selbstliebe als mögliches Tabu-Thema     Ist eine Stütze viel zu kurz oder nicht    ist Mitglied
sondern zu «wie dich selbst». Wo aber     immer noch derart schleimige Fäden       mehr vorhanden, kann eine Balance,         der Gemeinde
                                                                                                                              Nordstrand
bekomme ich sachdienliche Hinweise        in Richtung Egoismus zieht, dass es      die den Namen verdient, nicht gehal-
über dieses dritte Bein des dreibeini-    dem Teufel darob graust?                 ten werden. Wohl gemerkt: Die
gen Schemels, den Gott vermutlich               Und wie es ihm graust! Ein         Selbstliebe ist dabei fest eingebunden,
nicht zufällig fast zu Beginn der Bibel   Nachschlagen im Duden zeigt es.          Tabu hin oder her. Wen wundert’s,
hinstellte? Dieser Balance-Akt in drei    Dort finde ich als Synonyme zu Ego-      dass diese Ausgewogenheit nicht bloß
Sätzen, als das höchste aller Gebote?     ismus folgende Begriffe: Eigenliebe,     anzustreben, sondern aufrechtzuer-
In der „Liebesgeflüster“-Ausgabe von      Eigennutz, Eigensucht, Ichbezogen-       halten ist. Jeden Tag neu. Seien wir
Christen heute (März 2019) finde ich      heit, Narzissmus, Selbstbesessen-        doch ehrlich: Im Grunde genommen
nur Spurenelemente. Und an dem            heit, Selbstbezogenheit, Selbstliebe,    ist der Umgang mit diesem Standbein
Ort, wo dieses dritte Bein eigent-        Selbstsucht, Selbstverliebtheit, Ich-    eine der größten Herausforderun-
lich stehen müsste, wurde es durch        sucht. Ich musste zweimal lesen, bis     gen überhaupt; diese unabdingbare
eine Übertragung von Martin Buber         mir dämmerte, dass alles im selben       Beziehungspflege, die auch mich ernst
anders ausgelegt.                         Topf schmort; sprachwissenschaftlich     nimmt und die auch mir gegenüber
      So scheint auch in unseren Brei-    begründet, versteht sich. Demzufolge     weitgehend auf Vertrauen und Wohl-
tengraden die These verbreitet, dass      werden Eigenliebe, Selbstliebe und       wollen basiert und nicht im Entfern-
diese drei angehängten Wörter „wie        damit „wie dich selbst“ wohl auch        testen mit Selbstsucht einhergeht.
dich selbst“ eher ein Schattendasein      egoistischem Handeln zugeordnet                Die Psychiatrie hat dies schon
fristen, ähnlich dem 3. Buch Mose,        sein. Nein, diese Sinnvergleiche habe    längst erkannt, kommt aber leider erst
wo sich im Umfeld des dreibeinigen        ich nicht aus alten kirchlichen Trick-   dann zum Zuge, wenn dieses Gleich-
Schemels noch weitere, unzählige          kisten oder teils vom Borkenkäfer        gewicht zu lange schon gestört ist.

6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 11
Redewendungen wie „Er/sie hat es          sind nicht in der Lage zu ihren Stärken   diese Worte leise vernehmlich in der
                    mit den Nerven zu tun“ – man glaubt       und Schwächen zu stehen, geschweige       Ich-Form sprechen; als ein Liebesge-
                    es kaum, sie kursieren heute noch –       andere realistisch einzuschätzen und      flüster der besonderen Art:
                    sind dort längst ersetzt durch Diagno-    anzunehmen.
                    sen wie Depression, Phobie, Burnout            Auch wenn dies auf den ersten        In meinen Augen bin ich schön
                    und wie sie alle heißen. Und direkt       Blick logisch erscheint, ist es aber      schöner als alle anderen
                    Betroffene erfahren es am eigenen         richtig harter Tobak. Vor allem wenn      nicht makellos aber schön
                    Leib, dass die riesigen Scherbenhau-      es darum geht, die Selbstliebe im All-
                    fen, die eine Vernachlässigung dieser     tag anzuwenden und umzusetzen. Die        Ich liebe mich
                    sehr oft verkannten Beziehungspflege      Krux dabei ist, ich kann mich in kei-     mit meiner krummen Nase
                    hinterlassen haben, äußerst mühsam        ner Weise auf andere berufen, weil ich    mit meinen Sorgenfalten
                    aufgearbeitet werden müssen, um           in diesem Bereich dahingehend gefor-      mit meiner Ungeduld
                    nicht ganz aus dem Leben zu fallen.       dert bin, mich ausschließlich mit mir     mit meinem Lachen und Weinen
                          Aber auch in kirchlichen Gefil-     zu beschäftigen. Demzufolge müsste        mit all meinen Ecken und Kanten
                    den regt sich was. Neulich war in         ein Liebesgeflüster auch mit mir allein
                    einer evangelischen Zeitschrift auf       möglich sein. Ich will es wissen, wage    Ich liebe mich
                    die Frage, ob man sich wirklich lieben    zwei Selbstversuche und ermuntere,        für meine Treue und Zuverlässigkeit
                    soll, auszugsweise folgendes zu lesen:    es mir gleich zu tun: Man nehme           für meinen Humor
                    Die Bibel fordert nicht zu Selbstliebe    zunächst das wunderbare Gedicht                 und meine Fröhlichkeit
                    auf. Sie setzt sie voraus! Denn heut-     von Jutta Respondek auf Seite 12 der      für meine Hoffnung und Zuversicht
                    zutage ist es mittlerweile eine Binsen-   erwähnten März-Ausgabe, stelle sich       für meinen Schritt mit mir
                    weisheit, dass nur diejenigen andere      vor einen großen Spiegel, richte diese
                    lieben können, wenn sie sich selber       Verse an das Spiegelbild und vergesse     In meinen Augen bin ich schön
                    annehmen. Menschen, denen jede            dabei nicht, dem Blick des Gegen-         nicht makellos aber schön
                    Selbstachtung, jedes Selbstwertgefühl     übers Stand zu halten. Wem dies zu        ich bin der wunderbarste Mensch
                    irgendwann abhandengekommen ist,          wenig tief geht, der oder die möge        geliebt und wie geschaffen für mich ■

                                                                                        In dem kleinen Nationalparkbüro im Ort ließ ich
                                                                                   mir von einer sehr freundlichen Rancherin die verschie-
                                                                                   denen Wege und Sehenswürdigkeiten erklären. Vor einem
                                                                                   bestimmten Abschnitt wurde ich nachdrücklich gewarnt:
                                                                                   Sie wüsste nicht warum, aber auf den sieben oder acht
                                                                                   Kilometern dieses Weges würden die Leute sich regelmäßig
                                                                                   verirren. Und dabei wäre der Weg nicht allzu schwierig und
                                                                                   zudem gut markiert. Es sei ihr und ihren Kollegen schleier-
                                                                                   haft, warum sich die Leute gerade dort verirrten.
                                                                                        In den nächsten Tagen konnte ich mich davon über-
                                                                                   zeugen, dass die Markierungen tatsächlich zu erkennen
                                                                                   und die Wege in der Regel gut zu finden waren. Eine etwas
                                                                                   anstrengendere Tour machte ich alleine und dabei hatte
                                                                                   ich genügend Zeit, darüber nachzudenken, warum man
                                                                                   in die Irre geht. Ein paar Mal kam ich in der Tat vom Weg
                                                                                   ab, was nicht sonderlich schlimm war, denn ich merkte das
                                                                                   zum Glück rechtzeitig und ging einfach ein Stück zurück

                    In die Irre gehen
 Lothar Steffens
 ist Mitglied der                                                                  zur letzten Markierung. Aber das passierte mir nur, wenn
Gemeinde Berlin                                                                    ich unbekümmert wurde und nicht mehr auf die Richtung
                                                                                   achtete. Anders herum: Immer dann, wenn ich zweifelte,
                                                                                   blieb ich wachsam und auf dem Weg. Ich nannte das Phä-
                    Von L ot h a r St effen s                                      nomen zum Spaß das Steffenssche Pfadfinder-Theorem:
                                                                                   Wer zweifelt, geht nicht verloren. Und kurioserweise, wie

                    I
                        n der Nähe der Stadt Zadar in Kroatien gibt                ich später erfuhr, scheint das auch noch anderen Leuten so
                        es einen Nationalpark im Velebit-Gebirge, den Pakleni-     zu gehen.
                        ca-Nationalpark. Bekannt wurde die Gegend, weil dort            Wie nun, wenn das auch im Glauben so funktioniert?
                    in den sechziger Jahren einige der Winnetou-Filme gedreht      Ich meine, wie oft bin ich im Zweifel über irgendeinen
                    wurden. Im Park lässt sich ausgezeichnet klettern (wenn        Glaubensgrundsatz? Die jungfräuliche Geburt? Die Wun-
                    man das kann) und es gibt eine Reihe von Wandertouren          derheilungen? Kam da wirklich eine Taube angeflogen?
                    mit ganz unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden.                    Im Grunde genommen kann man ja jede Bibelstelle,
                                                                                   jedes Jesuswort anzweifeln. Und wenn ich etwas lese, frage

      12                                                                                                             Christen heute
ich mich ziemlich oft, ob das ein Zitat sein kann oder ob      heiligen Schrift (und mit Sekundärliteratur) und denke
es nachösterlich eingefügt wurde. Also: Kann ich das glau-     darüber nach, versuche zu verstehen. Die Bibel benutze ich
ben? Und dabei hilft es kein bisschen, wenn die Predigt bei    dabei als Navigationshilfe, wie eine Landkarte. Ich denke,
Matthäus auf dem Berg stattfindet und bei Lukas in der         im Kern geht es darum, den Zweifel nicht als lästiges Übel,
Ebene. Zum Beispiel.                                           sondern als einen notwendigen Schritt auf dem Weg zum
     Seit ich nun mein Theorem gefunden habe, kann             Glauben zu begreifen, gleichzeitig aber Gott um Führung
ich mich an etwas festhalten. Ich zweifle – ja, das tue ich,   zu bitten, so wie der Vater des stummen Jungen: „Herr, ich
andererseits beschäftige ich mich dadurch intensiv mit der     glaube, hilf meinem Unglauben.“                          ■

                                                                                   Raum und Wahrnehmung                      Jan Nissen ist
                                                                                        Ein Ansatz der Raumsoziolo-          Stadtplaner

Dem Glauben                                                                        gie besagt, dass Räume erst durch die
                                                                                   Handlungen der Menschen entste-
                                                                                   hen. Demzufolge schaffen wir, wenn
                                                                                                                             und lehrt an
                                                                                                                             der Hochschule
                                                                                                                             Neubrandenburg.

Raum geben
                                                                                                                             Er ist Mitglied der
                                                                                   wir Gottesdienst feiern, gemeinsam        Gemeinde Berlin
                                                                                   unsere Kirche. Für mich ein schönes
                                                                                   Verständnis, weil nicht Steine, son-
                                                                                   dern Menschen im Mittelpunkt ste-
                                                                                   hen und es lebendig, wandelbar ist.
                                                                                   Es passt auch zur Zusage Jesu, überall
                                                                                   dort unter uns zu sein, wo zwei, oder
                                                                                   drei in seinem Namen versammelt
                                                                                   sind, nicht nur an einem singulären,
                                                                                   allerheiligsten Ort.
                                                                                        Dieser göttlichen Nähe wollte
                                                                                   man sich immer sicher sein und schuf
                                                                                   in vielleicht allen Religionen Stätten,
                                                                                   die etwas Besonderes, etwas aus dem
                                                                                   Alltäglichen, dem Profanen Heraus-
                                                                                   gehobenes darstellen. Das manifes-
                                                                                   tiert sich in ausgewähltem Material,
                                                                                   der Lage, der Bauweise der sakralen
                                                                                   Räume. Sie sollen den Stellenwert des
                                                                                   Glaubens einer Gesellschaft wider-
                                                                                   spiegeln und: Sie sind Zeichen von
                                                                                   Macht. Und, auch wenn für eine
                                                                                   Mehrheit der Bevölkerung Kirche
                                                                                   keine Rolle mehr spielt, diese Zeug-
                                                                                   nisse bleiben. Sie prägen das Bild der
                                                                                   Stadt und sind nach wie vor Symbole
                                                                                   der Identifikation. Das gilt für Rom
                                                                                   unter der Kuppel schlechthin, meine
                                                                                   Heimatstadt Hamburg, wo die Türme
                                                                                   der fünf Hauptkirchen die „Stadt-
                                                                                   krone“ bilden, und auch für Berlin,
                                                                                   wo inzwischen ein Potpourri an kon-
                                                                                   fessionellen Bauten die religiöse Viel-
                                                                                   falt widerspiegelt.
                                                                                                                                    Fotos: Aus Wikimedia Commons

                                                                                   Räume, die mich nicht loslassen
Vo n Jan N issen                                                                        Mich haben diese Sakralbauten
                                                                                   immer fasziniert, ganz gleich, ob es

M
            it einem leisen „Klack“        Eindruck von Vertrautheit erhärtet      kleine Kapellen oder Dome waren,
            öffnet sich die Tür zu unse-   sich, wenn ich die Wärme spüre, die     schon als Kind bin ich selten an ihnen
            rer Hauskirche, das pein-      hellen, freundlichen Farben sehe, den   vorbeigegangen, ohne neugierig hin-
lich laut, wenn ich verspätet komme,       Geruch von Kerzen oder Weihrauch        einschauen zu wollen – oft aber waren
aber immer ein Zeichen dafür ist,          in der Nase habe und das Knarzen des    Türen leider verschlossen; ich habe
dass ich nach Hause komme. Dieser          Bodens höre.                            wirklich hartnäckig alle zu öffnen

6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 13
versucht. Überwiegend in protes-           nur noch selten angefragte) Königs-        Gottesnähe, über den Raum und
                       tantisch geprägten Regionen oder           disziplin des Fachs. Meine Liebe zu        seine Elemente als Bekenntnis und
                       touristisch wenig bedeutsamen Städ-        diesen Bauwerken beschränkt sich           theologisches Lehrstück, über das
                       ten waren die Kirchen schlicht nur         dabei nicht nur auf möglichst histo-       Verständnis von Nachfolge Christi
                       zum Gottesdienst geöffnet. Übrigens        rische Gotteshäuser, manchmal im           und Gemeinde. Und auch wenn sich
                       erwartete ich nicht Prunk, Blattgold       Gegenteil: Mit Begeisterung zeige          mancher Bau anschickt ein Bild des
                       oder überwältigende Größe in den           ich anderen auch moderne Bau-              Himmels zu verkörpern, Schutz und
                       Kirchen, eigentlich begeistert mich        ten. In diesem Zusammenhang habe           Heil zu verheißen, vielleicht wahrlich
                       bis heute der Raum als solcher, und        ich gelernt, welche theologischen          ein „Haus Gottes“ zu sein, so sind sie
                       auch wenn mich Orte wie der Kölner         Ansätze hinter verschiedenen Raum-         im Kern doch für die Feier von Got-
                       Dom beeindrucken (wen nicht?), so          konzepten stehen, wie sich Nutzun-         tesdiensten bestimmt, erfahren ihre
                       halte ich ihn dennoch nicht für die        gen und Räume veränderten und              Bestimmung also nur durch die Hand-
                       schönste Kirche der Stadt, und aus-        weshalb manche räumlichen Unter-           lung von Menschen.
                       gerechnet im bombastischen Berliner        schiede mit der Konfession, andere              Gleich, wo: In Gemeinschaft
                       Dom am Lustgarten bin ich tatsäch-         eher mit dem Alter des Gebäudes            einen Gottesdienst zu feiern, schafft
                       lich noch nie gewesen.                     zusammenhängen.                            einen inklusiven Raum, denn wir glau-
                            Meine Großmutter hielt mein                                                      ben an spirituelle Gemeinschaft, die
                       Interesse an Kirchen wohl für Fröm-        Der Raum als Glaubensbekenntnis            keine physischen, zeitlichen Grenzen
                       migkeit, tatsächlich begann ich mich            Ich komme nach wie vor aus            kennt und über unser Verstehen hin-
                       vor allem für Architektur zu inte-         dem Staunen nicht heraus: über die         ausgeht. Für diesen Raum kann jeder
                       ressieren und halte die Gestaltung         Vielfalt der Ausdrucksformen, über         sakrale Raum nur eine Annäherung,
                       von Sakralräumen für die (leider           die mannigfachen Auffassungen von          ein weltliches Symbol sein.          ■

                                                                                        Russisch heißt der Titel genauer „Verbrechen und Strafe“

                       Tschulligung                                                     oder „Übertretung und Zurechtweisung“, also im eher
                                                                                        juristischen Sinn, während der deutsche Titel moralisch
                                                                                        orientiert ist. – Wenn auch wir stärker an diesen Wortge-
                                                                                        brauch denken, dass wir nämlich sozusagen eine „recht-
                       Zur Frage nach der Schuld                                        liche“ Verpflichtung haben, die Frage nach der Schuld zu
                       Von Otto Hol z a p fel                                           klären, dann trifft uns das vielleicht härter und ernster, als
                                                                                        wenn wir uns nur eine „moralische“ Pflicht vorstellen. Im

                       E
                              s geht uns so leicht über die Lippen, und es              Privatrecht spricht man von der „Leistungspflicht“ eines
                              gilt als einfachste Form von Höflichkeit: „Tschulli-      Schuldners, im Strafrecht ist die Schuld ein Kriterium zur
                              gung!“ Wenn wir fast über eine andere Person stol-        juristischen Beurteilung einer Tat. Ein Täter muss „schuld-
       Prof. em. Dr.   pern (oder sie stolpern lassen), wenn wir ihr die Tür vor        fähig“ sein, um bestraft zu werden. Das Wissen, Schuld zu
   Otto Holzapfel      der Nase zufallen lassen... Bewusst ist uns dabei sicherlich     haben, und die Fähigkeit, sich Schuld einzugestehen, gehö-
   ist regelmäßiger    nicht, dass wir um Entschuldigung bitten, dass wir den           ren also zur Persönlichkeitsbildung.
Gast der Gemeinde
            Freiburg   anderen Menschen, dem wir (für ihn) unangenehm über
                       den Weg laufen, erst um Entschuldigung bitten. Natürlich         Ein Lied im Gottesdienst
                       eilen wir weiter, ohne abzuwarten, ob uns diese Schuld                Wir begegnen diesem Wort „Schuld“ an jedem
                       auch erlassen wird. Ist uns bereits auf dieser untersten Stufe   Sonntag im Gottesdienst. Wir hören „Kyrie eleison“ und
                       der Konfrontation eigentlich egal, auf jeden Fall völlig         antworten „Herr, erbarme dich.“ Wir sprechen im Vater-
                       unbedeutend, wie wir damit umgehen, dass wir „Schuld“            unser die schwerwiegende Zeile „…Und vergib uns unsere
                       auf uns laden und dass es an dem Geschädigten ist, uns zu        Schuld“. Wir kennen aus römisch-katholischer Tradition
                       ent-schuldigen? Was ist das überhaupt: Schuld?                   das lateinische Schuldbekenntnis „Confiteor… mea culpa,
                            Ein etymologisches Wörterbuch erläutert, dass               mea maxima culpa / Ich bekenne… […] Ich habe gesündigt
                       „Schuld“ früher eine rechtliche Verpflichtung zu einer           in Gedanken, Worten und Werken: durch meine Schuld, …
                       Leistung bedeutete. Althochdeutsch meint es dann schon           durch meine große Schuld.“ Aber ich sehe die Gefahr, das
                       eine „Verpflichtung zur Buße“, und daraus erwächst dann          als moralische Geste zum Ritual werden zu lassen, welches
                       die Bedeutung „Vergehen“, „Übeltat“, „Sünde“ auch im             von der Konsequenz, selbst und aktiv an der Begleichung
                       religiösen Bereich. Daneben verblasst der ursprüngliche          der Schuld zu arbeiten, eher ablenkt.
                       Sinn, nämlich „Ursache“ für etwas Schädliches. Entschul-              Ein Lied, das wir im Gottesdienst vielleicht zu selten
                       digen ist also freisprechen von einer Schuld, und das, so der    singen, drückt meines Erachtens auf wunderbare Weise
                       eigentliche Sinn, erhoffen wir von dem anderen, das kön-         aus, wie wir die beiden Aspekte zusammenbringen können:
                       nen wir nicht selbst bewerkstelligen.                            unser gestörtes Verhältnis zum anderen, demgegenüber wir
                            Neben „Sünde“ denken wir hier vielleicht unwillkür-         schuldig geworden sind, und unser gestörtes Verhältnis zu
                       lich an den russischen Romantitel „Schuld und Sühne“             Gott, demgegenüber es uns, falls wir das ernst nehmen, so
                       von Fjodor Dostojewski, der 1866 erschien. Aber auf              schwer fällt, Schuld einzugestehen:

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