Corporate Design Sonderteil zum neuen - Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang Juni 2019 - Alt-Katholische Kirche
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Christen heute 2019/06 Di e A lt-K at hol i sc h e Z e i tsc h r i f t i n Deu tsc h l a n d + 63. Ja h rg a ng · J u n i 2 019 Sonderteil zum neuen Corporate Design ab Seite 20 3 Leben auf Vorschuss 10 Auf dem See 13 Dem Glauben Raum geben von Harald Klein von Jutta Respondek von Otto Holzapfel 6 Die Vertrauensvollen sind die 11 Das etwas andere Liebesgeflüster 29 Weniger ist nötig! Dummen von Max Burkhardt von Dieter Puhl von Francine Schwertfeger 12 In die Irre gehen 8 Die Angst überwinden von Lothar Steffens von Jutta Respondek
„Grüner Knopf “ für faire Kleidung Strafgerichtshof ermittelt Gutachten fordert Trendwende Entwicklungsminister Gerd weiter gegen Duterte beim Umgang mit Digitalisierung Müller (CSU) kündigte an, das Der Internationale Strafge- Digitalisierung und Nachhal- geplante Gütesiegel für fair produ- richtshof in Den Haag führt die Vor- tigkeit müssen stärker verknüpft Namen & Nachrichten zierte Kleidung, der „Grüne Knopf “, ermittlungen gegen den philippini- werden: Zu diesem Schluss kommt solle im Juli kommen. Dann wolle schen Präsidenten Rodrigo Duterte ein Gutachten „Globale Umweltver- er zunächst zehn deutsche Firmen weiter. Das geht aus einem Schreiben änderungen“ des Wissenschaftlichen vorstellen, die sagten: „Wir machen des Gerichtshofs an die „Nationale Beirats der Bundesregierung. Das mit und wir gehen als Erste an den Union der Volksanwälte“ (NUPL) Verständnis von menschlicher Ent- Markt; der Grüne Knopf, Kleidung auf den Philippinen hervor. Im soge- wicklung müsse im Zeitalter der Digi- mit diesem Nachhaltigkeitssiegel, ist nannten Anti-Drogenkrieg auf den talisierung grundlegend neu bestimmt bei uns zu kaufen.“ Der Knopf solle Philippinen sind nach offiziellen werden, heißt es darin. Kurzfristig als von staatlicher Seite kontrolliertes Polizeiangaben bislang rund 5.000 gelte es, die Digitalisierung mit den Produktionssiegel gewährleisten, dass Menschen erschossen worden. Men- 2015 vereinbarten globalen Nachhal- Kleidung sozial- und umweltverträg- schenrechtler und Kirchen auf den tigkeitszielen sowie dem Pariser Kli- lich produziert wurde, so Müller: Philippinen sprechen von weiteren maschutzabkommen in Einklang zu „Ich werbe dafür, dass der deutsche 20.000 außergerichtlichen Tötun- bringen. Der Beirat fordert die Bun- Textilhandel das nicht blockiert, son- gen, die auf das Konto von anonymen desregierung auf, sich während ihrer dern unterstützt, als klares Signal an Todesschwadronen gingen. Die NUPL EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 die Kunden.“ Der Minister kündigte hatten im vergangenen August im für ein eigenes europäisches Digitali- zugleich an, im zweiten Halbjahr 2019 Namen von acht Familien von Opfern sierungsmodell einzusetzen. Nachhal- ein Aktionsbündnis gegen Kinderar- des „Anti-Drogenkriegs“ Klage gegen tigkeit, faire Produktionsbedingun- beit, Menschenhandel und Zwangs- Duterte eingereicht. Als Reaktion gen, Privatheit und Cybersicherheit arbeit ins Leben zu rufen: „Ausbeu- kündigte Duterte die Mitgliedschaft müssten bei einem solchen Leitbild im terische Kinderarbeit zur Herstellung der Philippinen beim Internationalen Zentrum stehen. oder Gewinnung von Ressourcen Strafgerichtshof auf; der Austritt trat muss ausgeschlossen werden.“ am 17. März dieses Jahres in Kraft. Gesicht von Johannes Nach Ansicht von Völkerrechtsex- Nepomuk rekonstruiert Unmöglich? perten hat das Gericht jedoch das Wissenschaftler des Mähri- Arbeitgeberpräsident Ingo Recht, vor der Aufkündigung der Mit- schen Landesmuseums im tsche- Kramer hält die Pläne der Bundes- gliedschaft eines Landes eingeleitete chischen Brünn (Brno) haben das regierung für eine Verpflichtung zur Ermittlungen fortzusetzen. Gesicht des bekannten „Brücken- Einhaltung von Menschenrechten heiligen“ Johannes von Nepomuk in globalen Produktionsketten für Evangelisches Friedensinstitut rekonstruiert. Sie gingen bei ihrer absurd. „Hier wird eine faktische in Freiburg geplant Gesichtsrekonstruktion von äußerst Unmöglichkeit von den Unterneh- Die Gründung eines Institut detaillierten, einer Autopsie nahe mern verlangt: Sie sollen persönlich für Friedenspädagogik und Friedens- kommenden Messungen, Zeichnun- für etwas haften, das sie persönlich in arbeit hat die badische Landessynode gen und Fotografien aus dem Jahr unserer globalisierten Welt gar nicht bei ihrer Frühjahrstagung in Bad Her- 1972 aus. Auf Basis der Neurekons Titelfoto: Pionites melanocephalus, „233/365 - 10 juin 2012“, Flickr beeinflussen können“, sagte er. „Da, renalb beschlossen. Die Einrichtung truktionen hat der Bildhauer Ondrej wo ich als Unternehmer persönlich soll der Evangelischen Hochschule Bilek eine Bronzebüste mit dem Einfluss etwa auf die Produktion in Freiburg angegliedert und im kom- Gesicht des Heiligen gefertigt. Nepo- meiner Fabrik im Ausland habe, fühle menden Jahr eröffnet werden. Die muks Gesichtszüge dürften demnach ich mich selbstverständlich verpflich- Synode sieht das Institut als „wichti- deutlich rundlicher gewesen sein, als tet, nach unseren sozialen und ökolo- gen Schritt, um auch die notwendige er seit der Barockzeit auf Abertausen- gischen Standards arbeiten zu lassen“, wissenschaftliche Bearbeitung und den Skulpturen in ganz Mitteleuropa sagte Kramer weiter. „Aber nicht Begleitung der Friedensthematik zu zu sehen ist. Johannes Nepomuk dort, wo ich das gar nicht beeinflus- stärken“. wurde als Johannes Welflin oder sen kann oder als Mittelständler noch Wolfflin um 1345 in Pomuk geboren. nicht einmal überblicken kann. Das Als Domherr und Generalvikar des Kirche im Radio ist absurd“. Arbeitsminister Hubertus Erzbischofs von Prag wurde Nepo- Heil (SPD) stellte sich dagegen hinter „Positionen“ muk 1393 nach kirchenpolitischen die Pläne. „Unsere Unternehmen müs- Bayern 2 Radio Streitigkeiten auf Befehl des böhmi- sen sicherstellen, dass die Produkte, 30. Juni, 6:30 Uhr schen Königs Wenzel IV. gefoltert, die sie verkaufen, unter menschenwür- Dekan i. R. Harald Klein von der Prager Karlsbrücke gestürzt digen Arbeitsbedingungen hergestellt Rosenheim und in der Moldau ertränkt. wurden. Es geht zum Beispiel um Kin- derarbeit und Zwangsarbeit, die wir ausschließen wollen“. fortgesetzt auf Seite 31 5 2 Christen heute
Leben auf Vorschuss Dekan i. R. Kürzlich in Paris geschehen: Da hat Gott die eigene Kathe- Harald Klein drale abbrennen lassen. Es scheint wirklich dafür kein ist Mitglied der Gemeinde Anderer verantwortlich gemacht werden zu können. Es Rosenheim war ein Zufall, ein Kurzschluss, der zum Brand geführt hat, ein typischer Stolperstein der Geschichte, an dem eben allenfalls Gott Schuld trägt. Zumindest wird auch der Frömmste nicht bestreiten, dass Gott es locker hätte verhindern können. Aber er hat es nicht getan. Soll man so jemandem vertrauen? Er hat ja auch Tschernobyl, die NS-Gräuel, Auschwitz, Kreuzzüge, das Kreuz Jesu nicht Vo n H ar ald K lein verhindert. Heißt Vertrauen nicht, dass man sich auf die Stärke und Hilfe eines Größeren wirklich verlassen kann?! Z weifellos gehört das Vertrauen zu den Total verlassen kann?! Oder ist an diesem Verständnis von ältesten und selbstverständlichsten Handlungen Vertrauen irgendetwas falsch? und Haltungen auf der Erde. Zu vertrauen, das ist so „normal“, dass wir es schon gar nicht mehr registrieren, Wo es herkommt wenn ein Politiker vor der Wahl, ein neuer Firmenchef bei Vertrauen, trauen, Treue, all diese heutigen Wörter VW, ein Werbeonkel für Kopfschmerztabletten, ein Lehrer stehen in Verbindung mit dem germanischen Wort „tero“ vor seiner Klasse, ein Bischof das in Anspruch nimmt. Fast für Baum, Eichenbaum. Im Englischen heißt es heute noch alle Beziehungen, die guten wie die zweifelhaften, fußen „tree“. Dort hat das Vertrauen seinen Ursprung. Im Ver- auf Vertrauen oder der Forderung nach Vertrauen. trauen findet man jemanden, der so stark ist wie eine Eiche. Foto: Kurt Haubrich, „2012-064-366 ... As a parent you are Auch in der Tierwelt gab und gibt es Vertrauen; Im Vertrauen lehnt man sich an eine Eiche oder bekommt man braucht sich nur das Verhalten von untergeordneten selber Halt und Festigkeit wie ein Baum. Kinder brauchen Tieren im Rudel anzuschauen oder die Treue und Fol- das, Untergebene brauchen das, Menschen im Rudel auch. gebereitschaft eines Hundes gegenüber „Frauchen“ oder Vertrauen als Abstützung beim Stärkeren oder Erfahrene- everything. Even when you are not there“, Flickr „Herrchen“. Vertrauen, wo man hinsieht. Alexander der ren, beim Mächtigeren oder Würdevolleren, das scheint Große hat es eingefordert, Kleopatra, Attila und jegliche klar und richtig. Heerführer ebenso. Päpste mit Unfehlbarkeitsanspruch Aber ist es dann nicht auch selbstverständlich, dass haben sogar „blindes“ Vertrauen gewollt. Urbild des Ver- Fremd-Vertrauen schwindet, je gleichwertiger jemand Klei- trauens ist womöglich das, welches von Kindern ihren nes wird, je selbstständiger und souveräner ein Schüler, Eltern entgegengebracht wird. Nein, sagen da andere, das eine Schülerin wird? Warum soll ich vertrauen, wenn ich Urbild des Vertrauens ist das felsenfeste Vertrauen, das allmählich selber für meine Sicherheit und Gewähr sorgen Gläubige gegenüber Gott haben. Ergebenheit, Demut, kann? Wenn Menschen sich wie im Kölner Dom ein Eisen- Nibelungentreue, bedingungsloser Glaubensgehorsam wie träger-Dach und ein Brandschutzsystem einbauen, werden der, den Abraham zeigte, als er bereit war, seinen eigenen sie nicht mehr wie in Paris auf den Feuerschutz durch Gott Sohn zu schlachten: Das ist das wahre Vertrauen. oder Maria vertrauen müssen. Ich könnte nun entgegenhalten, dass man doch Insofern könnte man zu der Überzeugung gelangen, jemandem nicht vertraut, der sein eigenes Haus anzündet. dass wir uns in einer Zeit des schwindenden Vertrauens befinden, in einer Zeit, in der Vertrauen immer weniger 6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 3
Propheten. Er, der nach alter Überlieferung schon Unmen- gen an Menschen hatte umbringen lassen auf der Suche nach dem wahren Gott, er musste nun lernen, dass Gott eben nicht im Sturm, nicht im Berg, nicht im Getöse zu finden war, sondern in einem leisen Säuseln. Das ist keine germanische Eiche, keine massive Festung, an die man sich da anlehnen könnte, das ist etwas völlig Anderes. In diesem Sinne hat auch Jesus, relativ kurze Zeit spä- ter, einen anderen Gott gepredigt als den der Macht und Stärke. Und spätestens mit seinem Kreuzweg hat er diese Predigt auch so intensiv wie nur denkbar bezeugt. Vertrauen muss etwas Anderes sein als der eigen- nützige Gewinn von Stärke. Es muss auch etwas Ande- res sein als das auswendig gelernte Vokabular eines Katechismus-Glaubens. Vertrauen ist mehr Vertrauen – so meine ich – ist immer etwas Gegen- seitiges. Vertrauen geht nicht nur in eine Richtung: vom Schwachen zum Starken. Vertrauen entsteht überhaupt erst da, wo eben das Zweiseitige gespürt und erlebt wird. Erst wo ich merke, dass jemand mir etwas schenkt, kann ich ihm Vertrauen entgegenbringen. Vielleicht ist das alte theologische Wort vom Bund etwas, das diesen Aspekt des nötig und angebracht ist. Statt gläubiger Fürbitten und Vertrauens näher beleuchtet. Wenn Vertrauen nur eine ein- Ergebenheitsbezeigungen sind heute Aufklärung und seitige Anlehnung oder Suche nach Stärke beinhaltet, dann Mitverantwortung, Überprüfung und eigenes Handeln ist es letztlich nichts Anderes als Angst oder Hilflosigkeit. gefragt. Natürlich könnten wir auch heute noch einen Aber genau so etwas hat zum Beispiel Gott letztlich nie Monarchen auf Lebenszeit zum Staatslenker ernennen gewollt. Der Gott, den Jesus gepredigt hat, will nicht aus und salben, aber eher neigen wir doch jetzt dazu, alle vier Angst heraus angebetet werden. Und auch Menschen, die Jahre nachzuprüfen, ob er noch im Sinne der Allgemein- wirklich Wert auf Vertrauen legen, wollen nicht aus Angst heit regiert, und per Wahl den Regierungsauftrag neu zu geehrt oder gemocht werden. vergeben. Vertrauen wird kritischer gesehen. Aber viel- Vertrauen besteht durch Beziehung. Vertrauen wächst leicht liegt hier auch ein großes Missverständnis vor. Und durch erlebte Begegnung. In Firmen oder Betrieben wird so möchte ich die Anfangsfrage noch einmal stellen: Was im Allgemeinen davon ausgegangen, dass Vertrauen nur ist Vertrauen? entstehen kann, wenn die Beteiligten sich mehrfach positiv begegnen und erfahren. Ein Chef, der nur bei der Weih- Wo es in Frage gestellt wird nachtsfeier sichtbar wird, kann nicht Vertrauen erwarten. In einer alten Geschichte tritt ein Mensch auf, der Vertrauen ist gegenseitige Verbindung. Auch das schon allein äußerlich einem Baum ähnelt. Er steht da, Kind, das seinen Eltern gegenübersteht, hat tatsächliches wuchtig und selbstbewusst, größer als alle andern, mit Muskeln und Waffen ausgestattet, und hat in sich das Ver- trauen seines ganzen Volkes. Er ist ein Philister; niemand wagt es, ihm entgegenzutreten. Und als dann doch so ein Winzling auftritt und ihm gegenüber Aufstellung nimmt, erntet der nur Hohn und Gelächter. Ein Mann wie eine Eiche, einer, in den jeder anwesende Philister seinen Glau- ben und seine Gefolgschaft investiert. Aber wir kennen den Ausgang der Geschichte. Elhanan erschlägt den Riesen (2. Buch Samuel 21,19). Später wird seine Tat König David Bilder aus Wikimedia Commons zugeschrieben, und nun wird ausdrücklich betont, dass der Sieger klein und unerfahren war und eine Steinschleuder einsetzte (1. Buch Samuel 17). Was verdient tatsächlich Ver- trauen? Das Baumhafte, das protzig Große ist es nicht, an das man sich als Mensch anlehnen und stützen kann. Und vielleicht ist es überhaupt kein Ziel und kein Wert, dass man selber im Leben einmal solch ein monumentaler Bro- cken werden möchte. Ebenfalls in der letzten Zeit des Alten Testaments entstand die Elias-Episode von dem Gott suchenden 4 Christen heute
Vertrauen nur, wenn es zugleich eine unglaublich dichte Erst auf dieser Basis kann dann auch das Umgekehrte Beziehung seitens der Eltern erfährt oder erfahren hat. entstehen, nämlich dass wir Gott vertrauen. Wir glau- Und letztlich ist das, was da von Seiten der Eltern ein- ben ihm das: Wir glauben, dass Gott uns liebt und ernst gebracht wird, ebenfalls Vertrauen. Denn es gibt Vertrauen nimmt. Wir glauben keine Dogmenkataloge, keine Lehr- nicht nur von „unten“ nach „oben“, sondern genauso von bücher; wir glauben zentral nur das Eine: dass Gott uns „oben“ nach „unten“, nicht nur als Merkmal der Anleh- vertraut. Und dann glauben wir auch, dass das, was über nung, sondern auch als Merkmal des Geschenks. Da unser Vermögen geht, bei ihm gut aufgehoben ist. Er wird schenkt mir jemand (oder ein Elternpaar) seine ungeteilte es nicht in die Hand nehmen, wie ein Goliath es in die Hochachtung und Wertschätzung. Da verzichtet jemand Hand genommen hätte. Gott ist eben anders, rätselhafter, auf die eigene Handlungsvollmacht und schenkt sein geheimnisvoller, liebevoller. Jesus hat das am Ostermorgen Zutrauen, indem er mir Verantwortung überlässt. Das ist erfahren. Vertrauen. Es könnte alles verändern Und siehe da, es ist genau die Form des Vertrauens, die Jesus den Menschen nahebringen wollte. Natürlich hat Jesus auch vom Vertrauen der Menschen auf Gott gespro- chen. Aber seine tiefste Botschaft war, dass Gott einem jeden von uns und einer jeden von uns das Vertrauen aus- spricht. Gott nimmt jeden Einzelnen wichtig und traut ihm oder ihr zu, ein eigenverantwortlicher Mensch zu sein. Gott traut uns. Gott übergibt uns unser Leben und schenkt uns dazu Freiheit. Wir sind nicht mehr an ein Gesetz gefesselt, sondern können aus eigener christlicher Freiheit heraus handeln und uns wertgeschätzt fühlen. In dieser Botschaft Jesu steckt das Evangelium der Men- schenwürde und der Liebe, das Jesus zu bringen gekommen war. Gott ist kein Baum, der irgendwo steht und angebetet und gefürchtet werden möchte, sondern er ist der Wind- hauch, der diese Erde erfüllen will – gerade auch durch unser persönliches Mitwirken. Gott ist der Geist, der uns erfüllt Das wirkliche Vertrauen ist nicht das, welches Stärke und genau so die Schöpfung erneuern will. sucht oder sich andere unterwirft. Das von Jesus verkün- Vertrauen ist das große Geschenk. Gott investiert es dete Vertrauen ist das der Anerkennung und Zuneigung, und wir können es auch investieren. Letztlich ist es auch das, welches sich selbst und einander vertraut. Wir leben genau dieses Geschenk, das in jeder christlichen Taufe dem auf Vorschuss, so wie im Evangelium von den Tagelöhnern Kind (oder Erwachsenen) vermittelt wird: Gott vertraut jeder einen Denar bekommt, egal wann er gekommen ist dir dein eigenes Leben und diese Welt an, Gott traut dir das und wieviel er geleistet hat. Wir leben auf Vertrauensvor- Gute zu, Gott vertraut dir. Auch wenn wir Fehler machen, schuss. Das ist Frohe Botschaft. Bauen wir mit an einer ver- wenn wir Sünder sind und Bedrängte: Gott traut uns. trauensvollen Welt. ■ Editorial Leitlinien für den einheitli- chen Auftritt der Kirche und der Gemeinden erarbeitet – Angebote, Von Ger h ar d Ruisch welche für den Internetauftritt und für gedruckte Publikationen Liebe Leserinnen und Leser, und Vertrauen: πίστις (pístis). Es der Gemeinden wie Gemeinde- A us gegebenem Anlass ist aber zugleich auch ein Grundt- briefe und Faltblätter verwendet hat dieses Heft zwei The- hema des menschlichen Lebens werden können. Die Vorstellung men: Im vorderen Teil fin- überhaupt. Ich freue mich, dass wir dieser Ideen und Leitlinien ist das den Sie das schon lange geplante Ihnen hierzu im vorderen Teil der zweite Thema dieser Juni-Ausgabe. Thema „Vertrauen“. Es ist ein Zeitschrift einige fundierte Texte Sie finden die Beiträge dazu ab der Grundthema des christlichen Glau- anbieten können. Heftmitte. bens – im Griechischen, in dem das In den vergangenen Mona- Ich wünsche Ihnen Freude Neue Testament verfasst ist, gibt es ten hat unsere Kirche mit Hilfe beim Lesen und grüße Sie herzlich, überhaupt nur ein Wort für Glaube der Agentur RMG Connect neue Ihr Gerhard Ruisch 6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 5
Handschlag rechtfertigen, alles über Gebühr erklären und eidesstattliche Versicherungen abgeben, damit das Misstrauen besänftigt wird – und man kann es doch nicht stillen. Vertrauen ist nicht alles, aber ohne Vertrauen ist alles Mist, um es frei nach Schopen- hauer zu sagen. Wer vertrauen will, muss sich trauen. Davon (mittelhochdeutsch truwen) erzählen die Bibel ebenso wie Märchen. Der Narr, der „Dummling“, jener, der mit den Zwergen (oder Tieren) spricht, gewinnt die goldene Gans. Dieses Vertrauen beruht nicht einmal auf Gegenseitigkeit. Wenn wir die Dummlinge im Märchen nehmen, so scheinen sie nicht viel von weltli- chen Dingen zu verstehen, weshalb sie verlacht werden. Aber das Glück ist mit ihnen, weil sie ein gutes Herz Die Vertrauensvollen haben. Und dann? Sie trauen sich weiterzugehen. Der Dummling, der beim Holz- sind die Dummen fällen die goldene Gans bekommt, weil er dem Männlein zu essen abge- geben hat, tritt nicht etwa mit seiner Gans den Heimweg an, er wandert Warum Intelligenz, Dummheit und Vertrauen einander bedingen los aufs Geratewohl, ohne dass uns Francine Von Fr a n cin e Schwert feger ein Beweggrund mitgeteilt wird, und Schwertfeger übernachtet in einem Gasthaus. Die V ist Mitglied ertrauen – Liebespaare. Lilien auf dem Felde, die nicht arbei- Gans lässt er unbesorgt allein, so dass der Gemeinde Hannover Urvertrauen – Säuglings- ten, auch nicht spinnen und doch die Wirtshaustöchter ihr eine Feder augen... Wie romantisch herrlicher gekleidet seien als Salomo, stehlen wollen. Sie alle bleiben kle- klingt doch, was nach ein paar Jah- weil Gott selbst das Gras kleidet, das ben, und am nächsten Morgen packt ren Erdendasein bei den meisten so morgen in den Ofen geworfen wird der Dummling unbekümmert seine sang- und klanglos zu verschwinden (Mt 6,28 ff ). Er rät folglich, sich nicht Gans und zieht weiter, mit ihm bald scheint. Beim Stichwort „Vertrauen“ um Essen und Kleidung oder den eine Schar illustrer Leute, so dass stößt man im Internet auf so denk- morgigen Tag zu sorgen, denn der er schließlich im Palast die ernste würdige Seiten wie psychotipps.com himmlische Vater wisse, wessen wir Königstochter zum Lachen bringt. und karrierebibel.de. Also scheint Ver- bedürfen. „Dem König aber gefiel der trauen nicht vom Himmel zu fallen, Und doch: Vorsorge- und Rechts- Schwiegersohn nicht“, heißt es bei den sondern muss mit guten Tipps antrai- schutzverträge aller Art gaukeln uns Grimm-Brüdern. Wieso denn nicht, niert oder zurückgewonnen wer- Sicherheit vor. Absichern heißt das möchte man fragen. Vielleicht ist den. Denn man geht davon aus, dass Stichwort heute. Die Polizei warnt vor der Dummling wirklich ein Einfalts- Foto gegenüber: Jon Roig, „IMG_0608“, Flickr alle Kleinkinder bedingungslos ver- Haustür-Trickdieben und Internet- pinsel, aber anscheinend ist es genau Foto: -Curly-, „Comfortably dumb“, Flickr trauen, bis sie das erste Mal enttäuscht betrug. Vertrauen soll höchstens im diese Einfachheit, die ihn vertrau- werden. Zwischenmenschlichen geübt werden, ensvoll zum Baum und dem Männ- Dann werden die kleinen Lebe- denn irgendwo muss man sich ja mal lein zurückkehren lässt, um Antwort wesen misstrauisch oder entwickeln fallen lassen können, oder? und Hilfe für die drei Aufgaben im Alter gar eine so genannte Verbit- Können wir überhaupt leben, des Königs zu finden. Und siehe, er terungsstörung mit allerlei unliebsa- ohne zu vertrauen? bekommt alles, was er braucht, „weil men somatischen Beschwerden. Es du barmherzig gegen mich gewesen lebt sich also offenbar gesünder mit Wer das Leben liebt, vertraut bist.“ Vertrauen. Doch das ist leichter gesagt Misstrauen ist ein schleichendes Den Gegensatz dazu haben seine als getan. Gift. Wer mit misstrauischen Men- beiden Brüder am Anfang gebildet, Das Thema durchzieht die ganze schen zusammen sein muss, wird die kein Vertrauen hatten, dass ihr Menschheitsgeschichte, denn nicht immer ein Unbehagen oder extreme Eierkuchen und Wein auch noch für umsonst erzählte schon Jesus von den Anstrengung dabei empfinden. Jeden das hungrige Männlein reichen würde, 6 Christen heute
und es ihm verweigerten. Die „Loser“ Daher ist eine gewisse Intelligenz Davon ausgehend, dass wir alle hacken sich in Arm und Bein und sit- nicht von Nachteil. uns nach Liebe und Vertrauen seh- zen heute noch zuhause bei Muttern... Eine Studie der Universität nen, kann eine oder einer den Anfang Oxford fand heraus, dass Menschen machen. Und das wiederum nehmen Irgendwie... mit hohem IQ mehr vertrauen. Die andere Menschen wahr und können Macht uns Vertrauen barm- Forscher um Noah Carl vermuten selbst vertrauen. Oder heißt es besser: herzig? Wer weiß, dass er/sie alles aber, dass diese nicht einfach vertrau- können sich selbst vertrauen? Denn bekommt und vom Leben geliebt ensseliger sind als der Rest, sondern eines ist klar: Wer kein Selbstwertge- wird, der liebt das Leben. Der vertraut dass sie eine intuitive Menschenkennt- fühl hat, ist unsicher. Und hier kön- darauf, dass, selbst wenn das Haus nis besitzen, mit der sie andere besser nen die Psychoseiten im Internet dann abfackelt, noch ein höherer Sinn in einschätzen können, was ihre Vertrau- auch helfen. Oder eben eine Vorstel- allem steckt und „es irgendwie immer enswürdigkeit angeht. Menschen- lung vom liebenden Gott oder Uni- weitergeht im Leben“. Das Zauber- kenntnis hat nichts mit IQ zu tun, versum oder Allem-was-ist, das uns wort ist irgendwie. Das benutzen sondern damit, mit dem Herzen zu schon vorher vertraut – zugetraut – natürlich auch Chaoten, denen andere hören und zu sehen. Im Herzen sind hat, dass wir das Leben meistern. dann aus der Patsche helfen müssen, wir mit dem Göttlichen verbunden, Irgendwie... ■ wenn sie sich wieder verfahren haben. das uns erkennen lässt, dass wir alle auf Erden Geschwister sind. Du bleibst Du trägst uns Letzte wenn alles zerbricht und kein Ausweg sich zeigt wenn aller Sinn sich verbirgt mitsamt unserem Leiden mit unseren Lasten mit unserer Trauer Sicherheit und der Schmerz in uns brennt wenn kein Trost mehr ist und der Mut uns verlässt mit unserer Todesangst Du umarmst uns in unserer Einsamkeit Vo n J u tta R esp on dek wenn unser Ende naht in unserer Gottverlassenheit und die Angst uns umfängt in unserer Sehnsucht nach Leben und Heil Du bleibst bei uns Jutta Respondek auf dem letzten Weg über alle Tode hinaus ist Mitglied der Du bist an der Schwelle geht der Atem Deiner Liebe Gemeinde Bonn wo wir loslassen müssen bis an die Enden der Erde Du hältst unsere Hand reicht der Schatten Deiner Flügel wenn unser Leben verlischt unermesslich ist Dein Erbarmen und Deine Zärtlichkeit ■ 6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 7
dem, der durch die Geborgenheit in seinem frühen Menschsein ein stabi- les Urvertrauen entwickelt und ein gesundes Selbst- und Lebensvertrauen mit auf den Weg bekommen hat. Er wird nicht ängstlich, entsetzt oder resigniert die Augen verschließen, sich zurückziehen oder aus der Realität zu fliehen versuchen, sondern die Dinge anpacken, wo es möglich ist, und tun, was er kann. Vertrauen heißt, die Angst über- winden. Die Angst vor all den Risi- ken, Nöten und Gefahren, die uns Fürchtet euch nicht! umgeben. Die Gefahr oder das Unheil erkennen, aber sich nicht lähmen las- Die Angst überwinden sen von der Angst. Nicht das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein Überhand gewinnen lassen und verza- gen, sondern dagegen angehen. Ohne Von J u tta R es p on dek einen festen Grund, etwas Verlässli- ches, das Halt und Sicherheit bietet, W enn man über den Dabei sitzen alle im selben Boot. ist das kaum möglich. eigenen Tellerrand hin- Wie die Jünger auf dem nächtli- Der Versuch, sich so weit wie ausblickt und die Wirk- chen See, die in den tosenden Wellen möglich zu schützen und abzusichern, lichkeit jenseits der eigenen, kleinen, unterzugehen drohen. Wenn das Boot ist urmenschlich und umfasst alles, überwiegend heilen Welt wahrnimmt, kentert, sind alle betroffen. Angst was lebenswichtig, lieb und teuer ist. ist es nicht gerade leicht, die Zuver- und Schrecken breiten sich aus. Nur Das Bedürfnis nach Sicherheit und sicht zu bewahren und vertrauensvoll einer macht sich auf, überwindet seine Absicherung wird umso größer, je in die Zukunft zu blicken. Wir leben Angst und begibt sich – blindlings mehr der Mensch zu verlieren hat. nicht in rosigen Zeiten und die Pro- vertrauend auf Jesu Wort „Fürch- Ein ganzes Heer von Versicherun- gnosen sind düster. Tag für Tag errei- tet euch nicht!“ – mitten hinein ins gen wirbt hier und heute um unser chen uns Schreckensmeldungen aus tobende Unheil. Vertrauen und bietet Schutz und Kriegs- und Krisengebieten, Nach- Angst steht im Gegensatz zu Absicherung für alle denkbaren Risi- richten von Katastrophen und Terror, Vertrauen. Ein kleines Kind kennt ken des modernen wohlhabenden und von der Gefährdung der Mensch- keine Angst. Es vertraut seinen Eltern Menschen. Wir können bzw. müs- heit und der gesamten Erde durch rückhaltlos und lässt sich auch aus sen unsere Autos gegen Unfälle und fortschreitenden Klimawandel und schwindelnder Höhe bedenkenlos in unsere Häuser und den Hausrat gegen Zerstörung der Lebensgrundlagen für ihre Arme fallen. Es geht ganz selbst- Feuer, Diebstahl, Sturm und Hoch- Mensch und Tier. verständlich davon aus, dass die Eltern wasser versichern, unsere Reisen vor Wissenschaftler warnen seit Jahr- es auffangen, allezeit schützen und Rücktrittskosten, uns selbst vor den zehnten vor den globalen Folgen bewahren und aus jeder brenzligen Folgekosten von Krankheit, Arbeits- unablässigen Wirtschaftswachstums Situation erretten. In seiner Angewie- unfähigkeit und Tod. und eines maßlosen Lebensstils und senheit bleibt ihm auch nichts anderes Unsere Alten und Pflegebedürf- Konsumverhaltens für Natur und übrig, und glücklicherweise macht es tigen vertrauen wir Senioren- und Umwelt. Junge Menschen, welche die im Normalfall vom ersten Lebenstag Pflegeheimen an, unsere Kleinkin- Konsequenzen von all dem tragen und an die positive Erfahrung der elterli- der Tagesstätten und Krippen und auf einem vermüllten, ausgebeuteten chen Geborgenheit. die Heranwachsenden erfahrenen und aus dem Gleichgewicht geratenen Angst lernt der Mensch erst spä- Pädagogen und Ausbildern. Unsere Foto: Alex Indigo, „Climbing“, Flickr Planeten werden leben müssen, gehen ter. Wenn er beginnt, Gefahren zu Gesundheit legen wir vertrauensvoll zu Tausenden auf die Straßen und erkennen und auch negative Erfah- in ärztliche Hände und Kranken- demonstrieren lautstark gegen Igno- rungen zu machen. Wenn er beginnt, häuser; dem Taxifahrer, Lokführer ranz und Untätigkeit der politisch aus seiner heilen kleinen Welt her- oder Flugzeugpiloten vertrauen wir Verantwortlichen. Und es ändert sich auszuwachsen. Wenn er merkt, dass unser Leben an und hoffen, dass sie letztlich – nichts. Nichts Wesentli- nicht alle es immer gut mit ihm mei- uns wohlbehalten zum Ziel bringen. ches. Nicht genug. Viel zu wenig und nen und dass nicht alles stimmig und Geschäfte und Handwerker werben viel zu langsam. Denn immer noch in Ordnung ist auf dieser Erde. Dass um das Vertrauen ihrer Kunden und denken im Grunde alle zuerst an sich im Gegenteil vieles bedrohlich und danken ihnen für ihre Treue. Die Auf- selbst und ihre jeweiligen Interessen das Leben voller Probleme, Unwäg- zählung solcher „Vertrauensfragen“ und ihr persönliches Wohlergehen. barkeiten und Abgründe ist. Wohl lässt sich beliebig fortsetzen. 8 Christen heute
Menschen vertrauen – und Gott wenn die Hoffnung schwindet und und Hoffnung verloren haben und All das ist gut und wichtig, es die Angst ihn zu überwältigen droht, ihrem Unheil hilflos ausgeliefert sind. regelt den gesellschaftlichen und vermag Gottes Da-Sein und Seine Das Gottvertrauen, wie es in so zahl- wirtschaftlichen Zusammenhalt und starke Hand ihn zu retten, so wie Jesus reichen Liedern, Gebeten und Psal- beruhigt so manche Ängste und Sor- Simon Petrus aus dem stürmischen men zur Sprache kommt, bleibt eine gen, aber es reicht bei weitem nicht, See zieht, als der ihm auf den Wel- Herausforderung angesichts dieser um uns ein wirkliches Fundament zu len entgegengeht und unterzugehen Realitäten und der Fragen, die sich geben, auf dem wir sicher stehen. beginnt. Der Schrei des Petrus „Herr, daraus ergeben. Es gibt keine Antwort Wir brauchen mehr als Versiche- rette mich!“ ist der Schrei um Ret- darauf. Ich kann nur meinen per- rungen und Vertrauen in Wirtschaft, tung vor dem Sog der Angst, die ihn sönlichen Glauben hinterfragen und Wissenschaft, Technik und Märkte. zu verschlingen droht angesichts der versuchen, mit der Antwortlosigkeit Menschen brauchen Menschen, die Gefahr, die ihn umgibt. umzugehen. füreinander da sind: Lebenspartner, Jesus rettet auch die anderen Jün- Gott vertrauen heißt für mich, die Familie, zuverlässige Freunde, gute ger und bewahrt sie vor dem Unter- dass auch die, die sich Gottes Obhut Nachbarn, feste Bindungen in der gang, indem er mit ins Boot steigt nicht anvertrauen, weil sie Ihn viel- Gewissheit, dass man sich aufeinan- und der Sturm sich legt. So jedenfalls leicht gar nicht kennen oder das der verlassen kann, egal was kommt. erzählt es uns die Bibel (Matthäus Vertrauen verloren haben, mit ein- Sie sind Halt und Stütze in guten wie 14,22-33). Das scheint mir ein tröstli- geschlossen sind. Nur einem solchen in schlechten Zeiten. „Du kannst auf ches Bild zu sein. Denn ich frage mich Gott kann ich trauen, nur in einem mich zählen, ich werde dich nicht immer wieder, was mit all den Ande- solchen Gott Halt und Zuflucht im Stich lassen“, versprechen sich ren ist. Mit denen, die das Pech haben, suchen. Auf einen solchen Gott hoffe Eheleute gegenseitig bei ihrer Trau- auf der Schattenseite des Lebens zu ich. Ich vertraue darauf, dass dieser ung, wenn sie sich einander an-ver- stehen. Die wehrlos den Stürmen aus- Ich-bin-da es gut mit allen meint. trauen und voller Zuversicht auf ihren gesetzt sind. Die unter Armut oder Auch und gerade mit den Leidenden gemeinsamen Lebensweg begeben. Kriegen leiden oder von Naturkatas und Verzweifelten. Diese sind uns Treue und Vertrauen sind die Grund- trophen getroffen sind. Die in Flücht- anvertraut, denn Er kann oder will sie lagen aller menschlicher Beziehung lingslagern vor sich hinvegetieren oder nur mit unseren Händen retten. Wir und jeder Partnerschaft. Doch auch in ihrer Not ihr Leben in die Hände müssen einander aus dem stürmischen ein solcher Weg kann scheitern, und von Schleppern mit seeuntüchtigen See und dem Meer der Angst ziehen – selbst die engste Freundschaft kann Booten legen. Was für ein Vertrauen in dem Wissen, dass Er uns entge- zerbrechen. Was bleibt dann? haben diese Menschen?! Wo ist für sie genkommt und die Hand reicht und Der gläubige Mensch hat ein der gute und helfende Gott, zu dem durch die Stürme trägt. Ich will glau- weiteres, tragendes Fundament, das ich jeden Tag um Schutz und Segen ben, dass ein verborgener Sinn hin- ihm letzte Sicherheit gibt, wenn alles für das Leben meiner Lieben bete? ter allem steht und dass, so düster die andere zerbricht. Wer in Gott veran- Rettet und erhält Gott nur den einzel- Prognosen für die Zukunft auch sein kert ist, weiß sich aufgehoben in einer nen Menschen, der das Glück hat, fest mögen, letztlich alles zu einem gottge- höheren All-Macht, die alles mensch- im Glauben zu stehen und auf Ihn zu wollten Ziel führt. Auch wenn ich es liche Vermögen und Unvermögen bauen? Den, der unterm Schutz des nicht erkenne. übersteigt. Er vertraut darauf, dass Höchsten steht, im Schatten des All- Glauben heißt, feststehen in dem, Gott ihn und diese Welt mit all ihren mächtigen geht und sich seiner Obhut was man erhofft (Hebräerbrief 11,1). Schrecken und Abgründen hält und anvertraut? Den, der nur den lieben Man erhofft das Gute und Schöne niemals verlässt. Er ist nicht gefeit vor Gott lässt walten und hoffet auf ihn oder bessere Zeiten. Den guten Aus- Gefahren und hat keine Garantie, dass allezeit? Was wäre das für ein Gott?! gang aus einer schwierigen Lage, das ihn kein Unglück treffen wird, aber er Ich kann und will nicht glauben, Erreichen eines Ziels, den Erfolg sei- hat einen sicheren Halt in der Gefahr dass all die Vielen, die (vielleicht trotz ner Mühen, Überwindung des Bösen, und in allem Unglück. ihrer verzweifelten Gebete) offenbar Frieden und Wohlergehen für alle. Wer Gott vertraut, wer sich im nicht beschützt und bewahrt werden, Den Segen Gottes, Seinen Heiligen Glauben auf Ihn einlässt, der wird die im Elend umkommen oder alles Geist und Seine schützende Hand. Ihn erfahren als der, der da ist, der verlieren, dass sie von Gottes Vater- Am Ende Heil und Vollendung in Not und Leid mit ihm durchsteht liebe und dem göttlichen Heilsplan Ihm und Leben in Fülle. Feststehen und ihn hindurchführt und befreit. ausgenommen sind. Die, die uner- in der Hoffnung des Glaubens heißt, Wer ausgerichtet bleibt auf diesen reicht sind vom Zuruf Jesu „Habt gegen alle Ängste, gegen Mutlosigkeit Ich-bin-da und in Ihm seine Zuflucht Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch und Verzagen, sich in der Gegenwart sucht, kann auch Hindernisse oder nicht!“ und gar keine Chance haben, des all-liebenden Gottes geborgen Abgründe überwinden und in tiefsten sich auf Ihn einzulassen und unter wissen und daraus die Kraft schöpfen, Sorgen und Nöten bestehen. Er wird Seinen Schutz zu stellen. Oder es zu handeln, das Leben zu teilen und zuversichtlicher durchs Leben gehen vergeblich tun. All jene, die in Ängs- einander beizustehen. ■ als jemand, der diesen Halt nicht hat. ten und Schrecken leben, ohne sie Und selbst wenn ihm der Mut sinkt, überwinden zu können, und die Mut 6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 9
Auf dem See Von J u tta R es p on dek vor unseren Augen mitten auf dem See aus dem Boot und sprang in die Wellen, um ihm entgegenzugehen. I ch weiss auch nicht, was meinen Bruder Wir waren entsetzt. War der verrückte Simon auf ein- Simon geritten hat. Seine Kühnheit und seine begeis- mal lebensmüde? Der konnte doch gar nicht schwimmen! terte Liebe zum Rabbi hätten ihn beinah das Leben Und dann bei dem Sturm – und mitten in der Nacht! Und gekostet. Ja, wenn der Rabbi nicht eingegriffen hätte, wäre was für ein Unsinn mit dem Rabbi! Wie hätte der hierher- mein Bruder bestimmt ertrunken. Er ist aber auch über- kommen sollen? Wir waren voller Aufregung und gerieten eifrig und manchmal wirklich unvernünftig, spontan und fast in Panik. Keiner wollte hinterherspringen, um Simon auch ein bisschen voreilig und vorlaut. Aber der Meister aus dem Wasser zu ziehen. Er war längst untergegangen, mag ihn einfach gut leiden. Simon und ich waren seine ers- jedenfalls war er nicht mehr zu sehen. ten Jünger. Inzwischen sind wir zwölf Männer und einige Was dann geschah, konnten wir in der Dunkelheit Frauen, die ständig mit ihm unterwegs sind. Wir haben nicht erkennen. Wir hörten nur den Sturm heulen und schon viel von ihm gelernt, auch wenn wir beim besten pfeifen und sahen das tosende Wasser und dachten, die- Willen nicht alles verstehen, was er uns lehren will. ser Wahnsinnige ist nicht mehr zu retten. Was sollten wir Die Tage sind oft ganz schön anstrengend. Von früh tun? Umkehren? Ratlos blickten wir uns an, unsere Augen bis spät sind wir auf den Beinen und ziehen umher. Die irrten verzweifelt umher, und dann erstarrten wir plötz- Foto auf dieser Seite: Stuart Rankin, „Kidd Under Clouds, variant“, Flickr. Leute belagern uns geradezu mit ihren Sorgen und Nöten lich. Träumten wir? Da saß Simon Petrus doch! Er saß oder einfach, um den Rabbi zu hören und zu sehen. Wo ganz hinten im Boot, triefend und zitternd vor Kälte. Wie wir auch hinkommen, lassen sie uns keine ruhige Minute. um Himmels willen war er wieder ins Boot gekommen?! Gestern Abend war unser Meister sehr müde. Er wollte Und – wir trauten unseren Augen nicht – neben ihm stand sich ausruhen und zum Gebet zurückziehen. Wir sollten der Rabbi und sagte zu ihm: „Du Kleingläubiger, warum derweil mit dem Boot ans andere Seeufer fahren. Er würde hast du gezweifelt?“ später nachkommen und uns dort treffen. Seltsame Rede. Hatte Simon nicht als Einziger Schon als wir ablegten, war es windig und wir sahen geglaubt, dass der Rabbi auf uns zukäme und war in blindem in der Ferne dunkle Wolken aufziehen. Es ging nur lang- Vertrauen todesmutig in den aufgewühlten See gesprungen?! Foto gegenüber: Nayansi Jain, „Mirror“, Flickr sam voran, weil wir Gegenwind hatten, der von Minute Waren nicht eher wir die Kleingläubigen und Zweifler?! zu Minute stärker wurde. Als wir schon weit hinausge- Was war mit meinem Bruder im Tosen der Wellen gesche- fahren waren, brach das Unwetter richtig herein. Unser hen? Und wo war mit einem Mal das Unwetter geblieben? Boot wurde von den Wellen hin und her geworfen und Der Sturm hatte sich urplötzlich gelegt und das Boot lag wir brauchten alle unsere Kräfte und Erfahrung, um nicht ganz ruhig auf dem See. Wir waren außer uns und konn- zu kentern. Wir wechselten uns ab mit der Nachtwache, ten uns das alles nicht erklären. Es war äußerst unheimlich. damit jeder zwischendurch ausruhen konnte. Fest stand: Die Beiden waren tatsächlich bei uns im Boot. Plötzlich sahen wir in der Dunkelheit etwas Helles Der Rabbi musste meinen Bruder gerettet haben, wie auch auf dem aufgewühlten See. Es bewegte sich auf uns zu und immer, und er war jetzt bei uns, wie auch immer. Wir waren sprach uns an. Ein Gespenst! Wir schrien vor Angst und verwirrt, aber unendlich froh und erleichtert. Jetzt konnte Schrecken, nur mein Bruder Simon schien gelassen und uns nichts mehr passieren. Ganz ergriffen fielen wir vor meinte: „Beruhigt euch doch, das ist der Rabbi, der da zu unserem wundersamen Herrn und Meister nieder. Auf ihn uns kommt. Erkennt ihr nicht seine Stimme?“ Er rief die- war Verlass, das hatte er uns gerade eindeutig bewiesen. Er ser geisterhaften Erscheinung, die er für den Rabbi hielt, war der gottgesandte Retter, da waren wir uns einig. ■ etwas zu und stieg dann, ehe wir es verhindern konnten, Nach Mt 14, 22-33 10 Christen heute
zerfressenen Moralpredigtordnern Das etwas andere ausgegraben, sondern hier und heute unter: duden.de/rechtschreibung/ Egoismus. Liebesgeflüster Kein Wunder, dass dieses dritte Bein des besagten Schemels auch heute noch unter Spamverdacht in Vo n Max Burk h a r dt einer vergitterten Archivzelle wegge- sperrt wird. Und bei Spamnachrichten W o finde ich dieses „Du sollst“ in vermeintlich trauter tut man sowieso gut daran, sie tenden- eher Ungewohnte? Diese Gemeinschaft tummeln. Gegenüber ziell nicht zu öffnen. im Laufe der Jahrtausende dieser Vielzahl, die sich ausschließ- wegrationalisierte Beziehungspflege, lich mit dem Nebeneinander beschäf- Das dritte Standbein welche im Grunde genommen vorne tigt, fällt diesem dritten Bein bloß Dennoch mag ich nicht auf- stehen müsste? Diese ultimative Vor- die Bedeutung randständig zu, wenn geben. Das Bild vom dreibeinigen aussetzung, die mir eigentlich erst überhaupt. Zu groß scheint die Erwar- Schemel fasziniert mich zu sehr. Wie dann bei anderen anzuklopfen erlaubt, tungshaltung, welche diese vielschich- Matthäus und Markus berichten, wenn vor der eigenen Türe gesäubert tigen, vom Zusammenleben geprägten zollt auch Jesus dieser Trilogie oberste und gepflegt ist? Gebote generiert, als dass noch Zeit Priorität: Gottesliebe, Nächstenliebe Nein, die Gedanken gehen dies- für die Pflege im Innern übrigbliebe. und «wie dich selbst». Mir gefällt mal nicht hin zu Gottesliebe, auch Oder könnte es gar sein, dass diese der Vergleich mit dieser Sitzunterlage. Max Burkhardt nicht zu Partner- bzw. Nächstenliebe, Selbstliebe als mögliches Tabu-Thema Ist eine Stütze viel zu kurz oder nicht ist Mitglied sondern zu «wie dich selbst». Wo aber immer noch derart schleimige Fäden mehr vorhanden, kann eine Balance, der Gemeinde Nordstrand bekomme ich sachdienliche Hinweise in Richtung Egoismus zieht, dass es die den Namen verdient, nicht gehal- über dieses dritte Bein des dreibeini- dem Teufel darob graust? ten werden. Wohl gemerkt: Die gen Schemels, den Gott vermutlich Und wie es ihm graust! Ein Selbstliebe ist dabei fest eingebunden, nicht zufällig fast zu Beginn der Bibel Nachschlagen im Duden zeigt es. Tabu hin oder her. Wen wundert’s, hinstellte? Dieser Balance-Akt in drei Dort finde ich als Synonyme zu Ego- dass diese Ausgewogenheit nicht bloß Sätzen, als das höchste aller Gebote? ismus folgende Begriffe: Eigenliebe, anzustreben, sondern aufrechtzuer- In der „Liebesgeflüster“-Ausgabe von Eigennutz, Eigensucht, Ichbezogen- halten ist. Jeden Tag neu. Seien wir Christen heute (März 2019) finde ich heit, Narzissmus, Selbstbesessen- doch ehrlich: Im Grunde genommen nur Spurenelemente. Und an dem heit, Selbstbezogenheit, Selbstliebe, ist der Umgang mit diesem Standbein Ort, wo dieses dritte Bein eigent- Selbstsucht, Selbstverliebtheit, Ich- eine der größten Herausforderun- lich stehen müsste, wurde es durch sucht. Ich musste zweimal lesen, bis gen überhaupt; diese unabdingbare eine Übertragung von Martin Buber mir dämmerte, dass alles im selben Beziehungspflege, die auch mich ernst anders ausgelegt. Topf schmort; sprachwissenschaftlich nimmt und die auch mir gegenüber So scheint auch in unseren Brei- begründet, versteht sich. Demzufolge weitgehend auf Vertrauen und Wohl- tengraden die These verbreitet, dass werden Eigenliebe, Selbstliebe und wollen basiert und nicht im Entfern- diese drei angehängten Wörter „wie damit „wie dich selbst“ wohl auch testen mit Selbstsucht einhergeht. dich selbst“ eher ein Schattendasein egoistischem Handeln zugeordnet Die Psychiatrie hat dies schon fristen, ähnlich dem 3. Buch Mose, sein. Nein, diese Sinnvergleiche habe längst erkannt, kommt aber leider erst wo sich im Umfeld des dreibeinigen ich nicht aus alten kirchlichen Trick- dann zum Zuge, wenn dieses Gleich- Schemels noch weitere, unzählige kisten oder teils vom Borkenkäfer gewicht zu lange schon gestört ist. 6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 11
Redewendungen wie „Er/sie hat es sind nicht in der Lage zu ihren Stärken diese Worte leise vernehmlich in der mit den Nerven zu tun“ – man glaubt und Schwächen zu stehen, geschweige Ich-Form sprechen; als ein Liebesge- es kaum, sie kursieren heute noch – andere realistisch einzuschätzen und flüster der besonderen Art: sind dort längst ersetzt durch Diagno- anzunehmen. sen wie Depression, Phobie, Burnout Auch wenn dies auf den ersten In meinen Augen bin ich schön und wie sie alle heißen. Und direkt Blick logisch erscheint, ist es aber schöner als alle anderen Betroffene erfahren es am eigenen richtig harter Tobak. Vor allem wenn nicht makellos aber schön Leib, dass die riesigen Scherbenhau- es darum geht, die Selbstliebe im All- fen, die eine Vernachlässigung dieser tag anzuwenden und umzusetzen. Die Ich liebe mich sehr oft verkannten Beziehungspflege Krux dabei ist, ich kann mich in kei- mit meiner krummen Nase hinterlassen haben, äußerst mühsam ner Weise auf andere berufen, weil ich mit meinen Sorgenfalten aufgearbeitet werden müssen, um in diesem Bereich dahingehend gefor- mit meiner Ungeduld nicht ganz aus dem Leben zu fallen. dert bin, mich ausschließlich mit mir mit meinem Lachen und Weinen Aber auch in kirchlichen Gefil- zu beschäftigen. Demzufolge müsste mit all meinen Ecken und Kanten den regt sich was. Neulich war in ein Liebesgeflüster auch mit mir allein einer evangelischen Zeitschrift auf möglich sein. Ich will es wissen, wage Ich liebe mich die Frage, ob man sich wirklich lieben zwei Selbstversuche und ermuntere, für meine Treue und Zuverlässigkeit soll, auszugsweise folgendes zu lesen: es mir gleich zu tun: Man nehme für meinen Humor Die Bibel fordert nicht zu Selbstliebe zunächst das wunderbare Gedicht und meine Fröhlichkeit auf. Sie setzt sie voraus! Denn heut- von Jutta Respondek auf Seite 12 der für meine Hoffnung und Zuversicht zutage ist es mittlerweile eine Binsen- erwähnten März-Ausgabe, stelle sich für meinen Schritt mit mir weisheit, dass nur diejenigen andere vor einen großen Spiegel, richte diese lieben können, wenn sie sich selber Verse an das Spiegelbild und vergesse In meinen Augen bin ich schön annehmen. Menschen, denen jede dabei nicht, dem Blick des Gegen- nicht makellos aber schön Selbstachtung, jedes Selbstwertgefühl übers Stand zu halten. Wem dies zu ich bin der wunderbarste Mensch irgendwann abhandengekommen ist, wenig tief geht, der oder die möge geliebt und wie geschaffen für mich ■ In dem kleinen Nationalparkbüro im Ort ließ ich mir von einer sehr freundlichen Rancherin die verschie- denen Wege und Sehenswürdigkeiten erklären. Vor einem bestimmten Abschnitt wurde ich nachdrücklich gewarnt: Sie wüsste nicht warum, aber auf den sieben oder acht Kilometern dieses Weges würden die Leute sich regelmäßig verirren. Und dabei wäre der Weg nicht allzu schwierig und zudem gut markiert. Es sei ihr und ihren Kollegen schleier- haft, warum sich die Leute gerade dort verirrten. In den nächsten Tagen konnte ich mich davon über- zeugen, dass die Markierungen tatsächlich zu erkennen und die Wege in der Regel gut zu finden waren. Eine etwas anstrengendere Tour machte ich alleine und dabei hatte ich genügend Zeit, darüber nachzudenken, warum man in die Irre geht. Ein paar Mal kam ich in der Tat vom Weg ab, was nicht sonderlich schlimm war, denn ich merkte das zum Glück rechtzeitig und ging einfach ein Stück zurück In die Irre gehen Lothar Steffens ist Mitglied der zur letzten Markierung. Aber das passierte mir nur, wenn Gemeinde Berlin ich unbekümmert wurde und nicht mehr auf die Richtung achtete. Anders herum: Immer dann, wenn ich zweifelte, blieb ich wachsam und auf dem Weg. Ich nannte das Phä- Von L ot h a r St effen s nomen zum Spaß das Steffenssche Pfadfinder-Theorem: Wer zweifelt, geht nicht verloren. Und kurioserweise, wie I n der Nähe der Stadt Zadar in Kroatien gibt ich später erfuhr, scheint das auch noch anderen Leuten so es einen Nationalpark im Velebit-Gebirge, den Pakleni- zu gehen. ca-Nationalpark. Bekannt wurde die Gegend, weil dort Wie nun, wenn das auch im Glauben so funktioniert? in den sechziger Jahren einige der Winnetou-Filme gedreht Ich meine, wie oft bin ich im Zweifel über irgendeinen wurden. Im Park lässt sich ausgezeichnet klettern (wenn Glaubensgrundsatz? Die jungfräuliche Geburt? Die Wun- man das kann) und es gibt eine Reihe von Wandertouren derheilungen? Kam da wirklich eine Taube angeflogen? mit ganz unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Im Grunde genommen kann man ja jede Bibelstelle, jedes Jesuswort anzweifeln. Und wenn ich etwas lese, frage 12 Christen heute
ich mich ziemlich oft, ob das ein Zitat sein kann oder ob heiligen Schrift (und mit Sekundärliteratur) und denke es nachösterlich eingefügt wurde. Also: Kann ich das glau- darüber nach, versuche zu verstehen. Die Bibel benutze ich ben? Und dabei hilft es kein bisschen, wenn die Predigt bei dabei als Navigationshilfe, wie eine Landkarte. Ich denke, Matthäus auf dem Berg stattfindet und bei Lukas in der im Kern geht es darum, den Zweifel nicht als lästiges Übel, Ebene. Zum Beispiel. sondern als einen notwendigen Schritt auf dem Weg zum Seit ich nun mein Theorem gefunden habe, kann Glauben zu begreifen, gleichzeitig aber Gott um Führung ich mich an etwas festhalten. Ich zweifle – ja, das tue ich, zu bitten, so wie der Vater des stummen Jungen: „Herr, ich andererseits beschäftige ich mich dadurch intensiv mit der glaube, hilf meinem Unglauben.“ ■ Raum und Wahrnehmung Jan Nissen ist Ein Ansatz der Raumsoziolo- Stadtplaner Dem Glauben gie besagt, dass Räume erst durch die Handlungen der Menschen entste- hen. Demzufolge schaffen wir, wenn und lehrt an der Hochschule Neubrandenburg. Raum geben Er ist Mitglied der wir Gottesdienst feiern, gemeinsam Gemeinde Berlin unsere Kirche. Für mich ein schönes Verständnis, weil nicht Steine, son- dern Menschen im Mittelpunkt ste- hen und es lebendig, wandelbar ist. Es passt auch zur Zusage Jesu, überall dort unter uns zu sein, wo zwei, oder drei in seinem Namen versammelt sind, nicht nur an einem singulären, allerheiligsten Ort. Dieser göttlichen Nähe wollte man sich immer sicher sein und schuf in vielleicht allen Religionen Stätten, die etwas Besonderes, etwas aus dem Alltäglichen, dem Profanen Heraus- gehobenes darstellen. Das manifes- tiert sich in ausgewähltem Material, der Lage, der Bauweise der sakralen Räume. Sie sollen den Stellenwert des Glaubens einer Gesellschaft wider- spiegeln und: Sie sind Zeichen von Macht. Und, auch wenn für eine Mehrheit der Bevölkerung Kirche keine Rolle mehr spielt, diese Zeug- nisse bleiben. Sie prägen das Bild der Stadt und sind nach wie vor Symbole der Identifikation. Das gilt für Rom unter der Kuppel schlechthin, meine Heimatstadt Hamburg, wo die Türme der fünf Hauptkirchen die „Stadt- krone“ bilden, und auch für Berlin, wo inzwischen ein Potpourri an kon- fessionellen Bauten die religiöse Viel- falt widerspiegelt. Fotos: Aus Wikimedia Commons Räume, die mich nicht loslassen Vo n Jan N issen Mich haben diese Sakralbauten immer fasziniert, ganz gleich, ob es M it einem leisen „Klack“ Eindruck von Vertrautheit erhärtet kleine Kapellen oder Dome waren, öffnet sich die Tür zu unse- sich, wenn ich die Wärme spüre, die schon als Kind bin ich selten an ihnen rer Hauskirche, das pein- hellen, freundlichen Farben sehe, den vorbeigegangen, ohne neugierig hin- lich laut, wenn ich verspätet komme, Geruch von Kerzen oder Weihrauch einschauen zu wollen – oft aber waren aber immer ein Zeichen dafür ist, in der Nase habe und das Knarzen des Türen leider verschlossen; ich habe dass ich nach Hause komme. Dieser Bodens höre. wirklich hartnäckig alle zu öffnen 6 3 . J a h r g a n g + J u n i 2 0 1 9 13
versucht. Überwiegend in protes- nur noch selten angefragte) Königs- Gottesnähe, über den Raum und tantisch geprägten Regionen oder disziplin des Fachs. Meine Liebe zu seine Elemente als Bekenntnis und touristisch wenig bedeutsamen Städ- diesen Bauwerken beschränkt sich theologisches Lehrstück, über das ten waren die Kirchen schlicht nur dabei nicht nur auf möglichst histo- Verständnis von Nachfolge Christi zum Gottesdienst geöffnet. Übrigens rische Gotteshäuser, manchmal im und Gemeinde. Und auch wenn sich erwartete ich nicht Prunk, Blattgold Gegenteil: Mit Begeisterung zeige mancher Bau anschickt ein Bild des oder überwältigende Größe in den ich anderen auch moderne Bau- Himmels zu verkörpern, Schutz und Kirchen, eigentlich begeistert mich ten. In diesem Zusammenhang habe Heil zu verheißen, vielleicht wahrlich bis heute der Raum als solcher, und ich gelernt, welche theologischen ein „Haus Gottes“ zu sein, so sind sie auch wenn mich Orte wie der Kölner Ansätze hinter verschiedenen Raum- im Kern doch für die Feier von Got- Dom beeindrucken (wen nicht?), so konzepten stehen, wie sich Nutzun- tesdiensten bestimmt, erfahren ihre halte ich ihn dennoch nicht für die gen und Räume veränderten und Bestimmung also nur durch die Hand- schönste Kirche der Stadt, und aus- weshalb manche räumlichen Unter- lung von Menschen. gerechnet im bombastischen Berliner schiede mit der Konfession, andere Gleich, wo: In Gemeinschaft Dom am Lustgarten bin ich tatsäch- eher mit dem Alter des Gebäudes einen Gottesdienst zu feiern, schafft lich noch nie gewesen. zusammenhängen. einen inklusiven Raum, denn wir glau- Meine Großmutter hielt mein ben an spirituelle Gemeinschaft, die Interesse an Kirchen wohl für Fröm- Der Raum als Glaubensbekenntnis keine physischen, zeitlichen Grenzen migkeit, tatsächlich begann ich mich Ich komme nach wie vor aus kennt und über unser Verstehen hin- vor allem für Architektur zu inte- dem Staunen nicht heraus: über die ausgeht. Für diesen Raum kann jeder ressieren und halte die Gestaltung Vielfalt der Ausdrucksformen, über sakrale Raum nur eine Annäherung, von Sakralräumen für die (leider die mannigfachen Auffassungen von ein weltliches Symbol sein. ■ Russisch heißt der Titel genauer „Verbrechen und Strafe“ Tschulligung oder „Übertretung und Zurechtweisung“, also im eher juristischen Sinn, während der deutsche Titel moralisch orientiert ist. – Wenn auch wir stärker an diesen Wortge- brauch denken, dass wir nämlich sozusagen eine „recht- Zur Frage nach der Schuld liche“ Verpflichtung haben, die Frage nach der Schuld zu Von Otto Hol z a p fel klären, dann trifft uns das vielleicht härter und ernster, als wenn wir uns nur eine „moralische“ Pflicht vorstellen. Im E s geht uns so leicht über die Lippen, und es Privatrecht spricht man von der „Leistungspflicht“ eines gilt als einfachste Form von Höflichkeit: „Tschulli- Schuldners, im Strafrecht ist die Schuld ein Kriterium zur gung!“ Wenn wir fast über eine andere Person stol- juristischen Beurteilung einer Tat. Ein Täter muss „schuld- Prof. em. Dr. pern (oder sie stolpern lassen), wenn wir ihr die Tür vor fähig“ sein, um bestraft zu werden. Das Wissen, Schuld zu Otto Holzapfel der Nase zufallen lassen... Bewusst ist uns dabei sicherlich haben, und die Fähigkeit, sich Schuld einzugestehen, gehö- ist regelmäßiger nicht, dass wir um Entschuldigung bitten, dass wir den ren also zur Persönlichkeitsbildung. Gast der Gemeinde Freiburg anderen Menschen, dem wir (für ihn) unangenehm über den Weg laufen, erst um Entschuldigung bitten. Natürlich Ein Lied im Gottesdienst eilen wir weiter, ohne abzuwarten, ob uns diese Schuld Wir begegnen diesem Wort „Schuld“ an jedem auch erlassen wird. Ist uns bereits auf dieser untersten Stufe Sonntag im Gottesdienst. Wir hören „Kyrie eleison“ und der Konfrontation eigentlich egal, auf jeden Fall völlig antworten „Herr, erbarme dich.“ Wir sprechen im Vater- unbedeutend, wie wir damit umgehen, dass wir „Schuld“ unser die schwerwiegende Zeile „…Und vergib uns unsere auf uns laden und dass es an dem Geschädigten ist, uns zu Schuld“. Wir kennen aus römisch-katholischer Tradition ent-schuldigen? Was ist das überhaupt: Schuld? das lateinische Schuldbekenntnis „Confiteor… mea culpa, Ein etymologisches Wörterbuch erläutert, dass mea maxima culpa / Ich bekenne… […] Ich habe gesündigt „Schuld“ früher eine rechtliche Verpflichtung zu einer in Gedanken, Worten und Werken: durch meine Schuld, … Leistung bedeutete. Althochdeutsch meint es dann schon durch meine große Schuld.“ Aber ich sehe die Gefahr, das eine „Verpflichtung zur Buße“, und daraus erwächst dann als moralische Geste zum Ritual werden zu lassen, welches die Bedeutung „Vergehen“, „Übeltat“, „Sünde“ auch im von der Konsequenz, selbst und aktiv an der Begleichung religiösen Bereich. Daneben verblasst der ursprüngliche der Schuld zu arbeiten, eher ablenkt. Sinn, nämlich „Ursache“ für etwas Schädliches. Entschul- Ein Lied, das wir im Gottesdienst vielleicht zu selten digen ist also freisprechen von einer Schuld, und das, so der singen, drückt meines Erachtens auf wunderbare Weise eigentliche Sinn, erhoffen wir von dem anderen, das kön- aus, wie wir die beiden Aspekte zusammenbringen können: nen wir nicht selbst bewerkstelligen. unser gestörtes Verhältnis zum anderen, demgegenüber wir Neben „Sünde“ denken wir hier vielleicht unwillkür- schuldig geworden sind, und unser gestörtes Verhältnis zu lich an den russischen Romantitel „Schuld und Sühne“ Gott, demgegenüber es uns, falls wir das ernst nehmen, so von Fjodor Dostojewski, der 1866 erschien. Aber auf schwer fällt, Schuld einzugestehen: 14 Christen heute
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